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Brachmond

Dritte Beratung des Reichshaushaltgesetzes. Der Abgeordnete Bassermann hat, in sehr sanftem Ton, gesagt, er teile die weithin verbreitete Meinung, daß unsere politische Lage sich nicht gebessert, sondern verschlechtert habe, und müsse fragen, »wie hoch heute die politische Bedeutung des Dreibundes eingeschätzt werden könne«. Herr von Tschirschky und Bögendorff, Wirklicher Geheimer Rat, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, macht sich während der Rede Notizen, war auf solche Frage aber wohl vorbereitet: denn er hat ein beschriebenes Zettelchen mitgebracht. Danach greift er nun, erhebt sich vom Sitz und spricht: »Der Herr Abgeordnete hat zunächst von dem Telegramm Seiner Majestät des Kaisers an den Grafen Goluchowski gesprochen. Es ist selbstverständlich, daß dieses Telegramm an den auswärtigen Minister Österreich-Ungarns von der Stelle aus gerichtet wurde, die in erster Reihe berufen ist, das Deutsche Reich dem Ausland gegenüber zu vertreten. Wenn Seine Majestät für diese Mitteilung die Form eines persönlichen Telegrammes gewählt hat, so ist er dazu ebenso berechtigt wie jeder andere Staatsbürger, dem das Recht der freien Meinungäußerung zusteht. Der Herr Reichskanzler trägt gern die Verantwortung für den Inhalt dieser Depesche; allerdings nicht für das, was vielfach in diese Depesche hineininterpretiert worden ist.« Noch lacht niemand. Der Mann redet ja zum erstenmal im Reichstag und ist vielleicht befangen. Was er da vorbringt, bleibt freilich unter jedem halbwegs achtbaren Niveau. Nicht »selbstverständlich«, sondern höchst ungewöhnlich ist, daß der Deutsche Kaiser, kein Reichsmonarch, sondern der einem ewigen Bunde deutscher Fürsten präsidierende primus inter pares, dem Minister einer fremden Großmacht öffentlich Lob spendet und Gegendienst zusagt. Daß er, dessen Kanzler gerufen hatte, in Algesiras solle es weder Sieger noch Besiegte geben, die Konferenz einer Mensur vergleicht und an den Grafen Agenor Goluchowski telegraphiert: »Sie haben sich als brillanter Sekundant auf der Mensur erwiesen und können gleichen Dienstes im gleichen Fall auch von mir gewiß sein.« Sich dem Minister also koordiniert. Ihm implicite zu verstehen gibt: »Drüben führen Sie die Geschäfte, hier führe ich sie.« Ungewöhnlich und sehr zu bedauern. Das Recht der freien Meinungäußerung wird dem Kaiser nicht bestritten; um dieses Recht handelt sich's hier gar nicht. Wenn der Staatsbürger seine Meinung ausspricht, tut er's auf eigene Gefahr und sein rasch verhallendes Wort bindet den Nachbar nicht. Ein lautes Wort des Kaisers gleicht in seiner Wirkung einer Tat und engagiert das Reich. Diese Möglichkeit wollten die Redaktoren der Reichsverfassung ihm nicht gewähren. Im vierten Abschnitt, der die Überschrift »Präsidium« (nicht »Kaiser«) trägt, wird bestimmt, daß die Leitung der Geschäfte dem Kanzler zusteht und die Anordnungen des Kaisers, der das Reich »völkerrechtlich« (also nicht etwa im Verkehr mit irgendeinem Goluchowski) zu vertreten hat, »zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen.« Das soll heißen: Ohne vorher erlangte Zustimmung des für die Geschäftsleitung verantwortlichen Kanzlers darf das Präsidium keinen Schritt tun, durch den die Geschäftslage irgendwie verändert werden kann. Daß der Kanzler für alles vom Kaiser Getane die Verantwortlichkeit übernimmt, wissen wir längst; aber auch, daß er diese Pflicht (dafür hält es sein bequemer Wahn) oft bestöhnt: und glauben deshalb nicht, daß er sie immer »gern« erfüllt. Doch gern oder ungern: er paßt sich dem Bedürfnis an und sucht, wie ein Manager oder Großwesir, alles schnell oder sacht wieder ins Reine zu bringen. Läßt die Journalisten zu sich kommen, gibt »authentische Interpretationen« oder erklärt, der Kaiser sei kein Philister; womit für die fürstliche Fähigkeit, Größe in Ruhe darzustellen, dem idealen Herrschertypus ähnlich zu werden, doch am Ende noch nichts bewiesen ist. Mag er sich in der Mitleid erregenden Rolle des souffre-douleur en titre wohlfühlen: wir stellen ihm eine andere Aufgabe. Fordern, daß er vorher gefragt werde, nicht nur unabänderlich Geschehenes mit seiner Verantwortlichkeit decke, und tadeln, daß auch im Fall Goluchowski wieder impulsivem Handeln die von der Verfassung geheischte Zustimmung des Geschäftsführers erst nachhinkte.

Weiter. Erwiesen soll werden, daß in die Depesche etwas »hineininterpretiert worden ist«. »Der Kaiserlichen Regierung ist nicht fremd geblieben, daß ausländische Blätter nicht müde geworden sind, davon zu sprechen, daß der Dreibund eine Lockerung erfahren habe. Wie so oft im Leben, ist auch bei dieser Frage gewiß der Wunsch mit der Vater des Gedankens gewesen.« (Ich gebe den Wortlaut des amtlichen, stenographierten und korrigierten Berichtes; und bitte, auf den Stil des neuen Herrn zu achten. Nicht von einer »Frage« will er sprechen, sondern von einer Feststellung; und nicht sagen, daß »so oft im Leben« ein Kind zwei oder noch mehr Väter hat, sondern Bolingbrokes Wort von dem Gedanken zeugenden Wunsch zitieren, die in den Sprachgebrauch übernommene Variante des demosthenischen Satzes: »Jeder hält leicht für wahr, was er als Wahrheit erwiesen wünscht.« Kann ein Mann, der in vorbereiteter Rede so unklar spricht, klar denken? Ohé, les psychologues!) »Es ist selbstverständlich (schon wieder) die Pflicht des verantwortlichen Leiters der deutschen Politik« (der aber nicht »in erster Reihe berufen ist, das Reich dem Ausland gegenüber zu vertreten«), »solche Strömungen, die sich in verschiedenen Staaten geltend machen und durch die Presse vielleicht in etwas verschärfter Form (die Strömungen) zur Darstellung gelangen, genau im Auge zu behalten, sie auf ihren richtigen Wert hin zu prüfen und sie (noch immer die Strömungen) in den Kalkül der Politik einzustellen.« (Wenn dieser Wortschwall einen Sinn hat, dann diesen: In vielen Staaten wünscht man die Lockerung des Dreibundes und in diesem Wunsch sehen wir, trotzdem er noch nicht erfüllt ist, den Ausdruck einer beachtenswerten Stimmung. Riesig diplomatisch, nicht wahr? Ja; und wenn's regnet, wird's naß.) »Dieses vorausgeschickt, erkläre ich, daß die Regierungen der drei Staaten nach wie vor fest auf dem Boden des Dreibundes stehen. Insbesondere habe ich von dem Italienischen Botschafter, der kürzlich aus Rom zurückgekehrt ist, die bündigsten Erklärungen im Auftrag seiner Regierung in dieser Richtung empfangen.« (Das ist nun eigentlich schon sensationell, wie die Zeitungschreiber gern sagen. Die Regierungen der drei Staaten sind also noch nicht zu offenem Vertragsbruch entschlossen; und Graf Lanza hat aus Rom nicht die Meldung nach Berlin gebracht, Italien wolle das von seinem König besiegelte Bündnis zwei Jahre vor der Ablaufsfrist als nicht mehr gültig betrachten. Hat vielleicht sogar angedeutet und sicher gedacht: Wenn euch heute, trotz unseren Separatverständigungen mit England, Frankreich, Rußland, Spanien und Österreich-Ungarn, das Bündnis noch wertvoll dünkt, so mag's dabei bleiben; wir empfinden den Vertrag nicht mehr als Last und haben drum kein Interesse daran, ihn rasch loszuwerden. Sensationell. Ein Abgeordneter ruft denn auch: »Hört! Hört!« Und kein einziger lacht.) »Die bevorstehende Kaiserreise nach Schönbrunn ist der persönlichen Empfindung Seiner Majestät des Kaisers für das ehrwürdige Haupt der habsburgischen Dynastie entsprungen und es gehört ein außergewöhnliches Maß von Übelwollen und eine besondere Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse dazu, wenn man dieser Reise Zwecke unterschiebt, die Seiner Majestät dem Kaiser vollständig fern liegen und auch dem Geist der deutschen Politik zuwider sind. Man hat dieser Reise einmal eine Spitze gegen Italien geben wollen, dann sie als gegen England gerichtet geschildert. Die Verkennung des Zweckes und Zieles dieser Reise ist in dem einen Fall so falsch und willkürlich wie in dem anderen.« (Die Verkennung ist falsch und willkürlich. Ein Tertianer bekäme für solchen Unsinn einen Tadel und würde derb am Ohrläppchen gezerrt; ein Staatssekretär kann ihn im offiziellen Bericht stehen lassen. An nescis, mi fili, quantilla prudentia regatur orbis?) »Wir haben gar keine Veranlassung zu irgendeiner Demonstration gegenüber einem dieser Länder. Österreich-Ungarn sowohl wie Italien stehen in sehr freundschaftlichen Beziehungen zu England; wir begrüßen diese Beziehungen ohne Hintergedanken. Die Kaiserliche Regierung erblickt nach wie vor die Basis ihrer Politik in dem mitteleuropäischen Bündnis sowie in der Pflege freundschaftlicher Beziehungen zu allen Staaten. Sie wird mit Selbstvertrauen und auf eigenen Füßen stehend ihren Weg weitergehen, ohne sich durch noch so geschickte Preßmanöver oder sonstige ungerechte Anfeindungen aus ihrer Bahn drängen zu lassen.« Vorangegangen war die Behauptung, durch die britisch-russische Verständigung werde das deutsche Interesse nicht berührt (genau dasselbe hat der Kanzler vor zwei Jahren im Reichstag von der franko-britischen entente cordiale behauptet, die uns dann vor die Gefahr eines ohne Bundesgenossen gegen zwei Fronten zu führenden Krieges stellte); und der Ausdruck der Freude darüber, daß deutsche Bürgermeister und Stadtverordnete in England »so warm aufgenommen worden sind«. Das war alles, was der auf Nordlandfahrten geschulte Chef des Auswärtigen Amtes über die internationale Politik, in deren Bezirk er den Kanzler vertritt, dem Reichstag zu sagen hatte.

Er wurde nicht ausgelacht. Der Reichstag ließ ihn ruhig zu Ende reden. Glaubte vielleicht, was ihm da vorgestottert ward? Nein. Allen, die diese Botschaft hörten, fehlte der Glaube. Doch keiner hatte den Mut, von allen nicht einer, aufzustehen und also zu sprechen: »Wenn wir die Verbündeten Regierungen hier, nach Recht und Pflicht, interpellieren, wollen wir nicht, wie neugierige Kinder, mit schnell zusammengestoppelten Mären abgespeist sein; nicht eine Beschwichtigung heimtragen, die jeder Dutzendredakteur noch im Maschinensaal leisten könnte. Der Staatssekretär hat das Recht, die Auskunft zu weigern; der Neuling durfte uns aber nicht wie Unmündige oder Narren behandeln. Von all seinen Sätzen klingt nur einer uns glaublich: der vom Selbstvertrauen der Kaiserlichen Regierung. Auf nützliche Tat kann dieses Selbstvertrauen sich nicht stützen; und der Herr mag sich merken, daß ihm und seinen Kollegen die anderen Seelen nicht blind vertrauen. Daß jeder Wache im Reich die Lage als mindestens unbehaglich empfindet. Nach allem, was wir erlebt haben, wirkt die Wortsammlung des Staatssekretärs wie hochmütige Verhöhnung der Nation und ihrer Vertreter. Im Herbst, im Winter, noch im Frühling wurde gejammert; jetzt wird, zur Abwechslung, wieder einmal jubiliert. Damals hieß es, die Beziehungen zu den Großmächten seien korrekt; heute werden sie freundschaftlich genannt. Und doch hat für uns auf dem Erdrund sich nichts zum Guten gewandelt; eher, in Rußland, Österreich, Italien und der islamischen Welt, zum Schlechten. Wir sind genau so vereinsamt wie im November und im April. Daß die Briten artiger geworden sind, beweist nur, wie nah sie sich ihrem Ziel fühlen. Mit Fug fühlen können. Sie sind in Ostasien Europens Vormacht, haben in Ost und West dem Kalifenvolke gezeigt, daß sie mehr vermögen als, trotz der Protektorengebärde, das Deutsche Reich, und ein System von Bündnissen erdacht und bereitet, in dem einstweilen kein Platz für uns ist und das den Zweck hat, ohne allzu großes eigenes Risiko Deutschlands Expansion auf allen Seiten zu hemmen. Germania muß sich klein machen, wenn sie in dieses Nest schlüpfen will. Der Brite kann lachen; und höflich sein. Er hat uns der Brunnenvergiftung geziehen, jeden unserer Schritte verdächtigt, uns überall Feindschaft geworben, das Haupt unseres Reiches verspottet und offen brüskiert; und auf den ersten huldvollen Wink sinken wir ihm nun zärtlich ans Herz und jauchzen, weil er deutsche Kommunalschwätzer und Journalschreiber an üppiger Tafel füttert. Meint der Staatssekretär, daß auf diesem Weg die Achtung zu ernten ist, die der Kanalvetter dem fatherland noch immer versagt hat? Meint er, daß drüben der cockney, der man in the street nicht lächelt, wenn wir ihm vorlügen, Österreichs und Italiens ›sehr freundliche Beziehungen zu England‹ werden von uns ›ohne Hintergedanken begrüßt‹? Hält er die Beteuerungen des Italienischen Botschafters, die doch gar nicht zu umgehen waren, wirklich der Rede für wert? Dann hat er den Diplomatenkurs ohne Nutzen durchschmarutzt. Oder spricht er wider besseres Wissen und hofft, draußen werde man seiner Legende glauben? Dann unterschätzt er die Leute, mit denen er arbeiten soll, ganz sträflich. Die glauben nicht, daß in die Mensurdepesche etwas ›hineininterpretiert worden ist‹, daß sie und die ihr folgende Reise nicht als Demonstration gegen Italien gedacht war. Die wissen, daß der Kaiser seit der Doggerbanknacht höchst heftig über Englands Handeln, seit den Tagen von Algesiras höchst unfreundlich über Italiens, Rußlands, Spaniens Haltung gesprochen hat. Die gönnen uns gern die ertraglosen Dreibundreste und wünschen sich gar nichts Besseres als die Gewißheit, daß ›die Kaiserliche Regierung nach wie vor die Basis ihrer Politik in dem mitteleuropäischen Bündnis erblickt.‹ Dann sehen sie uns ohne ihnen gefährliche Sozietät und können ruhig ihr Netz weiterspinnen. So ist's um uns bestellt. Und wenn der Staatssekretär wieder hierher kommt, soll er zu uns reden, wie erwachsene, zur Mitwirkung am Staatsgeschäft berufene Menschen es von einem Beamten fordern dürfen, der dem ihnen verantwortlichen Kanzler untergeben ist. Was er heute vorgebracht hat, ist mit den Druckkosten viel zu teuer bezahlt.«

Keiner hat so gesprochen. Und alle denken doch so. Alle, denen in hastiger Rednerei des Denkens Faden noch nicht gerissen ist. Warum schweigen sie? Weil's ihnen an Fleiß fehlt. Weil sie sich nie ernsthaft mit internationaler Politik beschäftigt haben. Nichts anderes aber ist im Deutschen Reich heute so wichtig. Lassen Sie allen Krimskrams von den utilités besorgen und kümmern Sie sich, Herr Bassermann, Herr Baron Heyl zu Herrnsheim, zunächst mal ein Jahr lang nur um die aus der Summe der Möglichkeiten kühl zu errechnende Notwendigkeit deutscher Reichsmachtpolitik. Sie werden staunen, wenn Sie erfahren, wieviel da schon unwiederbringlich verloren ist und was Tag vor Tag noch von Unfähigkeit und skrupellosem Leichtsinn versäumt wird. Nicht alles kann man, unter der Herrschaft eines bis zu völliger Lächerlichkeit veralteten, von Nikolais Asiatenstaat überholten Preßgesetzes drucken; selbst der Furchtloseste nicht die Hälfte dessen, was er knirschend vernimmt. Sie können's aussprechen; ohne sich den Wirkensraum dadurch zu schmälern, nur Sie, die Immunen. Warum tun Sie's nicht? Ducken Sie sich vor jedem netten Kerlchen, das mit Ach und Krach durch die Examina bugsiert ward, dann irgendwo in Gesandtschaften gelungert hat und höchstens zum Agentendienst zwischen zwei Staatsmännern taugt, nie aber seinem Hirn einen Schöpfergedanken entband? Weil Sie nicht zur Zunft gehören, also die Akten nicht kennen? Pitt, D'Israeli, Chamberlain, Lansdowne, Fritz von Preußen, Stein, Bonaparte, Washington, Thiers, Pecci, Mac Kinley waren nie zünftige Diplomaten; Witte, Delcassé, Bourgeois sinds nicht; Talleyrand wars drei Monate, Bismarck drei Jahre, ehe sie an die Staatsspitze traten. Die Fabel von der kaum in Dezennien erlernbaren Geheimkunst darf Sie nicht schrecken. Die ist nur zu Schutz und Verbrämung privilegierter Dummheit erfunden. Die paar Metierkniffe, die der Kritiker kennen muß, haben Sie schnell weg; auch, daß zwischen dem Staatsmann und dem Diplomaten der Unterschied nicht geringer ist als zwischen dem Großindustriellen und dem Geschäftsvermittler, zwischen dem Großbankdirektor und dem Finanzagenten oder Promotor. Verlernen Sie endlich die Ehrfurcht vor den winzigen Agenten, die als Zigarrenhändler in einem Eckladen Bankerott machen würden und die das tüchtigste, arbeitsamste Volk Europas in den Sumpf geschwatzt haben! Lachen Sie ihnen ins Gesicht, wenn sie sich mit einer Mysterienkenntnis spreizen, die uns noch kein Markstück eingebracht hat. Eine Krone ist zu erkämpfen. Fast mühelos. Wer im Haus des Reiches heute das Letzte, die grausamste Wahrheit sagt, das Schmählichste entschleiert, ist im deutschen Lande der populärste, der stärkste Mann.

Aller Augen warten auf ihn. Jeder fühlt, daß die Sündenschuld endlich ans Licht muß. Und keiner langt nach der Krone. Täglich wird der Reichstag gescholten. Weil er Notwendiges weigert, Unnützliches passieren läßt. Nachplärrt, was die Zeitungsschreiber wochenlang vorgebetet haben. Und weil ihm die Genies fehlen, die Riesen, die das Volk ihm, das scheltende, doch züchten und liefern müßte. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Wurzel des Übels tiefer liegt. Im Reichstag sitzen gescheite und redliche Männer, die etwas leisten könnten. Weshalb finden wir, wenn monatelang gedroschen worden ist, die Tenne leer? Weil dieser Reichstag nicht zur Regierung berufen, sondern nur als Ornament gedacht ist. Weil die Regierenden sich bemühen, ihn schmeichelnd zu überlisten, und er selbst in technischem Kleinkram, in Paragraphenflickerei, die jeder Geheimrat besser besorgt, seine Aufgabe sieht. Weil der Wille zur Macht ihm versiegt ist. Die Änderung oder Ablehnung eines Gesetzes, nach Jahren vielleicht die bundesrätliche Zustimmung zu einem Initiativantrag: das kann er erreichen; mehr nicht. Keinen Kanzler noch Staatssekretär stürzen; seiner Majorität nie die Wirkensmöglichkeit erobern. »Wenn die Kerle sich ausgeschimpft haben, sind sie wieder still«; und die Karre rumpelt, als sei nichts geschehen, ein Stückchen weiter bergab. Wer mag für solchen Preis das Leben einsetzen? Wer sich mutwillig die Exzellenten verfeinden, die er nicht vom Thrönchen stoßen kann? Da sie bleiben, so lange es dem Kaiser paßt, stellt man sich zu ihnen lieber auf leidlichen Fuß und bekümmert sich eifriger um ihre Umgangsformen als um ihre Leistungsfähigkeit. Dieser Reichstag hat kein Ziel vor, keinen Willen zur Herrschaft in sich; er ist zum Disputierkränzchen geworden und drischt in jedem Herbst dasselbe Stroh. In England, Frankreich, Italien, Spanien, Ungarn, Belgien, Skandinavien, in Österreich und den Balkanstaaten sogar regiert das Parlament, in Rußland heißt es Konventsrechte; in Deutschland redet es den Regierenden ins Handwerk drein und knickert ihnen unklug die Pfennige ab. There's the respect that makes calamity of so long life. Dieser Zustand darf nicht noch länger dauern. Das nächste Ziel politischen Trachtens muß die Sicherung des parliamentary government nach britischem Muster sein.

Alle Bedenken, die dagegen sprachen, müssen in der Not jetzt verstummen. Die Entwicklungsstufe, die Lothar Bucher uns mit seinem höllisch klugen Buch über den Parlamentarismus verekeln wollte, läßt sich nicht überspringen. Die schwere Probe muß auch von uns, zuletzt unter allen europäischen Völkern, gewagt werden; und ängstet uns heute nicht mehr. Schlimmeren Verlust, als die sechzehn Jahre seit 1890 dem Reich gebracht haben, könnte auch diese Probierzeit kaum bringen. Die großen Staatsbürgerklassen und Berufsgruppen dürften sich nicht mehr gleichgültig von allem politischen Getriebe fern halten: denn sie müßten ihr Interesse gegen ein feindliches durchzusetzen versuchen. Minister und Staatssekretäre dürften frei dem Drang ihrer Überzeugung folgen: denn ihr Lebensschicksal hinge nicht mehr am Wink eines einzigen und sie schritten vom Bundesratstisch in den Abgeordnetenraum, nicht in die Verbannung. Aus dem Kryptoabsolutismus kämen wir in die Demokratie. Da die Gewalt nur dem Starken erreichbar ist, werden rasch große Parteien entstehen. Die Klassen ihre Kräfte regen und messen. Die Fraktionen darauf gefaßt sein, morgen zur Ausführung des Programms berufen zu werden, das sie gestern noch opponierend verfochten. Die Führer der einander in der Herrschaft ablösenden Scharen die Interna der Reichsgeschäfte kennen lernen und allmählich so ein politisches Personal ausbilden, das weiß, worauf es ankommt, und den Gang der Maschine sachkundig kontrollieren kann. Auch das Zentrum müßte zeigen, daß es sich im Land Luthers nicht nur als heimlich regierende Partei zu behaupten, sondern für sein Handeln und Hindern die Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen vermag. Und die Sozialdemokratie würde durch die Hoffnung, als Teil einer Koalition und eines Tages vielleicht gar aus eigener Kraft die wichtigsten Wünsche des Proletariates erfüllen zu können, gezwungen, den geschäftigen Müßiggang eines Sektenlebens aufzugeben, den gilbenden Papierwall des Kommunistischen Manifestes zu räumen und den Weg der Lassalle, Seddon und Burns, Millerand und Jaurès zu gehen. Allzu lange gebundene Kräfte würden entfesselt und zu nützlicher Arbeit dem Reich dienstbar gemacht. Dann würde man sehen, daß Deutschland an politischen Talenten nicht so arm ist, wie die Toren wähnen, die ein Bülow unersetzlich dünkt. Dann würde nicht jede glatthäutige Exzellenz wie ein Wundertier angestaunt, nicht immer wieder ein Tänzer ans Pult des Rechners gestellt; wäre ein Unterstaatssekretariat oder Präsidium nicht länger die herrlichste Krönung eines parlamentarischen Lebens. Heute kommen die brauchbarsten Kräfte der Nation im Reichsgeschäft niemals zur Geltung. Besetzt der Wille eines Sterblichen, der nicht allwissend, nicht allsichtig ist und das Volksbedürfnis nicht kennen kann, die wichtigsten Posten mit den Sprossen der dünnen Schicht, die sein Auge noch zu erreichen vermag. Über euch, die jeder Witzbold sich zur Scheibe wählt, glänzt der gnädig geduzte Kanzler als providentieller Mann. Wenn ihr hundertmal Ja gesagt, sagt ihr, in Wut und Scham, sicher an falscher Stelle Nein. Und wagt nicht einmal, zu lachen, wenn Herr von Tschirschky und Bögendorff euch die Leviten liest.

Dieser Staatssekretär hat den Kaiser nach Österreich begleitet. Als Vertreter des Auswärtigen Amtes; wie einst, wenn's von Hamburg nach Nordland ging. Der Aufenthalt im Habsburgerreich war nicht lang. Anderthalb Tage; davon waren noch die Besuche beim Fürsten zu Fürstenberg und beim Grafen Wilczek, bei Erzherzogen und Ministern abzuziehen: für Franz Joseph blieb also nicht viel. Daß Wilhelm nicht eingeladen worden sei, sondern sich selbst angesagt habe und man seinem Besuch keine politische Bedeutung zuschreiben dürfe, hatten Goluchowskis Knappen auf Allerhöchsten Befehl früh gemeldet. Kein Empfang in Wien; in weitem Bogen gings um die Stadt nach Schönbrunn. Aber die Begrüßung war »überaus herzlich: zwei Küsse, dann noch ein dritter; und die Hände der beiden Kaiser ruhten während der ganzen Zeit fest ineinander.« (Wenn ich den Lokalanzeiger richtig verstanden habe, bis das Dackelpaar des Kaisers aus dem Salonwagen geklettert war.) Das Tor der Hofburg blieb dem Gast verschlossen. Frühstück in der Deutschen Botschaft. Weder Parade noch Tafelreden. Das war der Besuch, den unsere Offiziösen mit dem Jubelruf angekündet hatten: »Nach den unruhigen Tagen der Marokko-Konferenz soll ein neuer, weithin sichtbarer Beweis von dem unverrückbaren Bestande des deutsch-österreichischen Bündnisses gegeben werden.«

Aus der Deutschen Botschaft schickten die beiden Kaiser an den König von Italien die folgende Depesche: »Réunis à deux, nous envoyons à notre troisième et fidèle allié l'expression de notre amitié inaltérable.« Auch wenn Franz Josephs Name nicht hinter dem des jüngeren Kaisers stünde, könnte niemand bezweifeln, daß diese Depesche das Werk Wilhelms war. Der Stil (notre troisième allié: der Ausdruck wäre nur richtig gewählt, wenn die Kaiser außer Italien noch zwei andere Bundesgenossen hätten) zeigt, wie rasch der Gruß niedergeschrieben wurde. Die (an Franz Joseph, den zweiten Unterzeichner, adressierte) Antwort des Königs war steif und kühl. »Je partage la satisfaction de Votre Majesté et celle de Sa Majesté l'Empereur Allemand sur Votre réunion et je prie les deux alliés d'accepter, avec mes remerciements pour leur aimable dépêche, l'assurance de ma fidèle et inalterable amitié.« Weniger war in den Schranken dynastischer Sitte nicht zu leisten. Der ohne Kurialien als treuer Bundesgenosse Angeredete wählt für die Erwiderung die zeremonienmeisterliche Form, tritt nicht als Dritter in den Bund, bezeugt nur, wie unter Monarchen noch am Tag vor der Kriegserklärung üblich ist, die unwandelbar treue Freundschaft. Wilhelm wollte sagen: »Wir drei sind innig verbündet!« Victor Emanuel antwortet: »Ich danke Euren Majestäten für die liebenswürdige Depesche, freue mich Ihres Beisammenseins und versichere die beiden verbündeten Herrscher meiner unwandelbaren treuen Freundschaft.« Antwortet so auf ein Telegramm, dessen Wortlaut doch ein Bekenntnis zum Dreibund herausforderte. War dieses Telegramm nötig? Hat Fürst Bülow, hat Herr von Tschirschky es vor der Absendung gekannt? Und finden sie, daß es dem Ansehen des Reiches und des Kaisers genützt hat? … Als Viktor Emanuel sich sträubte, Wilhelm die Gelegenheit zur Aussprache mit Loubet zu schaffen: Verstimmung. Als Italien in Algesiras sein Interesse, nicht unseres wahrnahm: Enttäuschung, die sich heftig äußert. Nur wer auf der Mensur sekundiert hat, ist ein »treuer Bundesgenosse«. Nun wird auch dem Italiener, den unsere offiziöse Presse inzwischen laut gescholten und leise gedroht hat (als Revanchedrohung ist sogar der letzte Satz der Mensurdepesche gedeutet worden), diese Ehrenqualität wieder zuerkannt. Der dankt aber höflich und zieht sich zurück. »Eine peinlichere, schlimmere und schiefere Stellung ist kaum zu denken als die eines Herrschers, der im politischen Leben einer konstitutionellen Monarchie tätig Partei ergriffe. Die Sicherheit und die Würde solches Monarchen fordert, daß er den in der Arena auszufechtenden Kämpfen fern bleibe.« Diese Sätze Leckys hat der Staatssekretär gewiß schon in Schönbrunn zitiert. Nein? Dann hat's der in Norderney durch einen Besuch seines Kaisers geehrte Kanzler getan. Und, mit der rückhaltlosen Offenheit, die ihn so gut kleidet, hinzugefügt, daß die Gefahr wachsen muß, wenn der von keiner Verantwortlichkeit belastete Herr das Gebiet internationaler Politik betritt. »Je ne suis pas assez fin politique pour accorder ensemble un contraste de menaces et de soumissions. Je suis jeune; je suivrais peut-être l'impétuosité de mon tempérament; toutefois je ne ferais pas les choses à demi.« Fritz schrieb's 1738 an Grumbkow. Ein gutes Programm; mit dem Schlesien erobert wurde. Uns bleibt Österreich-Ungarn; und der Weltfriede.

So sieht der Abschluß aus. Um ihn zu erreichen, ist der amtliche Apparat zwei Monate lang zum äußersten angestrengt worden. Wir sind auf demselben Fleck wie vor der Mensurdepesche; in bestem Fall wieder auf demselben Fleck. Quousque tandem? Wir haben den Dreibund, den selbst der Todfeind uns gönnt, und haben den Frieden mit einem System von Bündnissen, das den mutigsten Kanzler mit dem cauchemar des coalitions plagen könnte. Und diesen Frieden danken wir … Fürst Bülow, sprach der Kaiser beim Regattafest, hat an diesem Friedenswerk die größte Arbeit geleistet und »im Lenken des Reiches gewirkt«. Wilhelm verzichtet weise auf den Ruhm, seinen Landsleuten die Herrlichkeit beschert zu haben, die sie jetzt erleben.

Ultimo

Im Jahr 1895 wurde der Nord-Ostsee-Kanal dem Verkehr eröffnet. Feierlich, wie die große Sache es wollte. Daß der Kanal nicht fertig war, durfte kein Grund sein, die Eröffnung zu verschieben. Fertig war weder das Berliner Hofschauspielhaus noch der Teltow-Kanal, als sie eingeweiht wurden; noch lange nicht fertig. Geduld ist nun einmal nicht mehr unsere starke Seite. Will die Frucht nicht rasch reifen, so hält man die Lampe darunter. Sputet der Baumeister sich nicht nach Gebühr, so muß er uns für ein paar Tage wenigstens ein Gipsstuckvergnügen bereiten. Das kostet Geld? Ja, liebe Leute, selbst der Tod ist nicht umsonst. Und im Juni 1895 wollten wir ein Weltfriedensfest feiern. Nach dem Muster Ismails, der 1869 den Suez-Kanal mit einer Protzenfeier im üppigsten Orientalenstil eingeweiht hatte. Damals, nachdem der preußische Kronprinz von der Kaiserin Eugenie in Kairo ungemein huldvoll behandelt worden war, schien der Friede so sicher, daß der Abgeordnete Virchow den Antrag stellte, die Militärausgaben des Norddeutschen Bundes zu verringern. Acht Monate danach mußte Graf Bismarck dem Parlament verkünden, der französische Geschäftsträger habe ihm die Kriegserklärung überreicht. Vestigia terrent? Unsinn; Aesop und Horaz waren nie Politiker und Holtenau ist nicht die Höhle des Löwen. Wir laden die Völker der Erde zum Fest; und wenn alle Einzelheiten des Programmes geordnet und die Einladungen angenommen sind, kann uns der Reichstag das zur Kostendeckung nötige Sümmchen (1 700 000 Mark) nicht weigern. Tat es auch nicht. Zwar hatte Pasteur den Orden Pour le Mérite abgelehnt, hatten die Russen zur Bedingung gemacht, daß Deutschland die Anfänge ihrer Aktion gegen Japan unterstütze. Doch die Einladung war überall angenommen worden. Der Kaiser rief: und alle, alle kamen. Nicht alle gern. Im Senat der Französischen Republik sagte der Minister Hanotaux: »Wir gehen nach Kiel, weil wir hingehen müssen, nicht Nein sagen können, bleiben aber die Alten.« Im Figaro sprach Herr Saint-Genest, die französischen Seeleute machten, la mort dans l'âme, wider Wunsch und Willen das Fest mit. Einerlei. Die Hamburger wandten etliche Hunderttausende dran, aus Gips, Zement, Drahtgeflecht, bepinselter Leinwand und Pfählen im inneren Alsterbassin eine Insel zu schaffen, unter deren Leuchtturm, zwischen Treibhausgewächsen und buntem Glühlicht, die fürstlichen Gäste Kaffee trinken könnten. Sie täuschten, mit Pappe, Leinwand und Opernregiekünsten, den Gästen auch ein fertiges Rathaus vor. Und als man den künstlich hergestellten Kommunalpalast und das künstlich getürmte Inselwunder bestaunt hatte, ging's auf ein für den Festtag gekünsteltes Schiff. Großfürst Alexej hielt sich mit finsterer Miene im Sternenchor des Kaisers und war froh, wenn er mit dem Admiral Ménard intim plaudern konnte. Admiral Skrydlow lud die Vertreter der nation alliée et amie an Bord seines Schiffes und sprach in einer Tischrede die Hoffnung aus, den Tag zu erleben, an dem die Kieler Föhrde russische und französische Geschwader zu anderem Zweck vereinigt sehen werde. Von alledem erfuhren wir nichts. Der Presse war ein Salondampfer kostenlos überlassen worden. Fahrt, Herberge, Verpflegung: alles gratis. Am Fallreep empfing jeder Journalist eine mit Importen gefüllte Zigarrentasche und ein Scheckbuch, das ihm den Anspruch auf fünfzig Flaschen guten Weines, stillen und schäumenden, gab. Nur natürlich, daß dem Weltfriedensfest kein rauher Kritiker erstand. Das Deutsche Reich ist der Liebling aller Nationen, das Fest ein weltgeschichtliches Ereignis, der Kanal, der den Umweg um Kattegat und Skagerak spart, ein miraculum mundi, ein herrlich vollendetes Werk. So sprach die Öffentliche Meinung. Der Kaiser hatte bei einer Regatta in der Sandownbai gesagt: »Deutschland besitzt eine seinen Bedürfnissen entsprechende Armee; wenn die britische Nation eine ihren Bedürfnissen entsprechende Flotte hat, so wird dies von Europa im allgemeinen als ein höchst wichtiger Faktor für die Aufrechterhaltung des Friedens betrachtet werden.« Beim Kanalfest sprach er: »Meere trennen nicht. Meere verbinden. Die verbindenden Meere werden verbunden durch dieses neue Glied zum Segen und Frieden der Völker. Die Teilnahme an unserer Feier seitens der Mächte, deren Vertreter wir unter uns sehen und deren herrliche Schiffe wir heute bewundert haben, begrüße ich um so lebhafter, je mehr ich darin die volle Würdigung unserer auf Aufrechterhaltung des Friedens gerichteten Bestrebungen zu erblicken das Recht habe.« Und an Bord des britischen Admiralsschiffes: »Sobald die Nachricht einlief, daß die Königin beschlossen habe, die Kanalflotte zur Eröffnungsfeier zu entsenden, sandte ich diese Depesche durch den Telegraphen an meine Offiziere; und überall wurde die Nachricht mit herzlicher Freude aufgenommen. So lange unsere Flotte existiert, haben wir uns stets bemüht, unsere Ideen nach den Ihrigen zu formen und in jeder Weise von Ihnen zu lernen. Einer der schönsten Tage meines Lebens, die ich nicht vergessen werde, solange ich lebe, war jener Tag, als ich die Mittelmeerflotte inspizierte, an Bord des Dreadnought stieg und meine Flagge zum erstenmal aufgehißt wurde. Ich bin aber nicht nur der Admiral, sondern auch der Enkel der mächtigen Königin von England.« Diese Worte wurden am 26. Juni 1895 gesprochen. Im August war der Kaiser in Cowes und wurde von der britischen Presse sehr unfreundlich begrüßt. Fünf Monate danach telegraphierte er an den Präsidenten der Südafrikanischen Republik: »Ich spreche Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch aus, daß es Ihnen, ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren, mit Ihrem Volke gelungen ist, in eigener Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen, welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen sind, den Frieden wiederherzustellen und die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu wahren.« In der »Zukunft« wurde damals gefragt: »Warum ist das Telegramm nicht vom Kanzler abgeschickt worden, der politische Entschlüsse zu verantworten hat und im Reich der kaiserliche Minister ist? Dann könnte man es ohne ängstliche Rücksicht kritisieren, dann träfen die Vorwürfe und Schmähungen nur den Kanzler und dem Deutschen bliebe der widrige Anblick erspart, daß die Person des Kaisers, der nach außen die Volkheit zu repräsentieren hat, jetzt von den unanständigsten Vermutungen umsponnen wird.«

siehe Bildunterschrift

Eduard VII. und der Kaiser

Elf Jahre nach der Eröffnung mußten, zur Verbreiterung des Kanals, zweihundert Millionen aufgewendet werden; und wir hörten, jeder halbwegs fähige Techniker habe längst gewußt, daß der Kanal die Aufgabe, die ihm zugedacht ward, nicht bewältigen könne. Doch das Weihefest war ein weltgeschichtliches Ereignis.

Eine andere Erinnerung. Um die dem Christen heiligsten Stätten zu sehen, reiste der Kaiser ins Osmanenreich. In Bethlehem sprach er: »Unter allen möglichen Vorspiegelungen reißt man ein Stück nach dem anderen von den Mohammedanern los, wozu man gar keine Berechtigung hat.« In Damaskus, am Grab des Christenverfolgers Salah ed Din: »Bewegt von dem Gedanken, an der Stelle zu stehen, wo einer der ritterlichsten Herrscher aller Zeiten, der große Sultan Saladin, geweilt hat, ein Ritter ohne Furcht und Tadel, der oft seine Gegner die rechte Art des Rittertums lehren mußte, ergreife ich mit Freude die Gelegenheit, vor allen Dingen dem Sultan Abd ul Hamid für seine Gastfreundschaft zu danken. Möge der Sultan und mögen die dreihundert Millionen Mohammedaner, welche, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Khalifen verehren, versichert sein, daß zu allen Zeiten der Deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.« Beim Einzug in die festlich geschmückte Haupt- und Residenzstadt Berlin: »Überall, wohin wir kamen, auf allen Meeren, in allen Ländern und in allen Städten hat der deutsche Name jetzt einen Klang, wie er ihn noch niemals vorher hatte. Überall ist er geachtet und geschätzt wie nie zuvor.« Auf dem schmalen Seraskerturm hatte neben der Halbmondflagge zum erstenmal wieder die schwarz-weiß-rote Fahne geweht. Feierlich war der Kaiser in Jerusalem eingezogen. Am Grabmal des Salah ed Din, der Lusignan schlug und Richard Löwenherz sogar die palästinische Wohnung des Friedens verrammelte, hatte er einen Kranz niedergelegt. Jeder Türke, der diese Vorgänge sah, jeder Araber, in dessen Ohr Wilhelms Wort drang, war seitdem sicher: Hinter dem Padischah steht der mächtige Imperator el Alemania. Mußte sicher sein. Wenn er von der »innigen Freundschaft« hörte, die den Kaiser dem Sultan verbinden solle, senkte er freilich nur die Lider und hielt den schwatzenden Giaur für einen Narren. Der Orientale ist kein Ideologe, kein sentimentalischer Schwärmer. Innige Freundschaft! Um eine Tischdecke, einen Teppich wird einen halben Tag lang gefeilscht. »Billig hat der blonde Imperator seine Freundschaft gewiß nicht gegeben; noch um hohen Preis aber ist sie uns nicht zu teuer. England, Frankreich, Rußland, Österreich, die Magyaren selbst mit dem Plan ihres Balkanbundes können uns nichts mehr anhaben. Deutschland hilft uns aus jeder Not.« Glaubten es nicht auch Deutsche? Die Intimität mit dem Osmanenreich, dachten sie, ist nicht ungefährlich; sie kann uns in Konflikt mit Rußland und den Westmächten bringen. Dafür aber bekommen wir im Herrschaftgebiete des Sultans Handelsprivilegien von höchstem Wert und sind in der islamischen Welt wirklich voran; und bleiben es auf unabsehbare Zeit.

So sprach, nach dem Festrausch der Kaiserrede, die Hoffnung. Nicht lange danach sagte, in einer Stunde nüchterner Selbsterkenntnis, Freiherr Marschall von Bieberstein, Deutschlands Botschafter am Goldenen Horn, bei einem Patriotenfest im Deutschen Handwerkerverein: »Was wir hier im Orient erreicht haben, verdanken wir nicht großen, geheimen diplomatischen Künsten und Schachzügen, sondern der Tüchtigkeit und Arbeit deutscher Handwerker, Techniker und Kaufleute.« Er hat nie wahrer gesprochen. Nur hinzuzufügen vergessen, daß wir überhaupt nichts Beträchtliches erreicht haben. Kein Privileg. Unter den blödsinnigen Scherereien, die fast das einzige Lebenszeichen türkischer »Verwaltung« sind, leidet der deutsche Kaufmann genau so wie jeder andere. Nicht einmal ein nützliches Prestige. Die Orientalen, die ihre Kraftwörter gern aus dem Bezirk physiologischer Vorgänge holen, haben oft, hohe Würdenträger sogar, vor dem Ohr deutscher Rechtsucher erklärt, daß sie auf den Botschafter und die Konsuln des Deutschen Reiches … pfeifen; in solemniter gewährten Audienzen. Das klingt dem Europäer schlimmer, als es gemeint ist; verrät aber nichts von besonderer Hochachtung. In dem Botschafter sehen die Muslimin im Grunde nur einen mit tönendem Titel geputzten Vertreter der Firma Krupp, der mit allen Mitteln Profite machen will; und da er den Auftrag hat, unter allen Umständen doucement vorzugehen, bleiben seine Reklamationen noch länger unerledigt als die anderer Missionchefs. Der Deutsche erlangt, was man seiner Tüchtigkeit schließlich nicht weigern kann. Vornan sind wir nur, wo es sich um Ordensverleihungen handelt; und diesen Vorsprung gönnt uns die Konkurrenz. Bleibt die Bagdadbahn. Unbestreitbar ein Produkt der Kaiserrede. Am 1. Dezember 1898 kehrte Wilhelm nach Berlin zurück. Am Tag vor der Weihnacht des Jahres 1899 unterzeichneten in Konstantinopel Zihni-Pascha und Georg von Siemens den Präliminarvertrag, durch den die Société du chemin de fer ottoman d'Anatolie das Recht erhielt, die Eisenbahn von Konia nach Bagdad und Basra zu bauen. Seitdem ist dieser Bahnbau der Pivot deutscher Orientpolitik. Der gescheite und erfahrene Generalkonsul Stemrich hatte nach fünfzehnmonatiger Inspektion der Strecke erklärt, die Bahn werde nicht rentieren. Der Kaiser aber dem bedenklichen Sultan erklärt: Ich baue sie Dir. Hundert Schreiber priesen, wie vorher den Nord-Ostsee-Kanal, das neue »unvergleichliche Kulturwerk«. Wird es besser rentieren als der Kanal? Dieser Eisenstrang würde nicht nur die Verbindung mit Shantung (Kiautschau) sichern, sondern auch einen trockenen Weg nach Indien öffnen. Er gefährdet das Interesse Rußlands, das ein eisfreies Meer braucht und, seit es auf Südostasien verzichten mußte, den Blick sehnsüchtig auf den Persischen Meerbusen richtet. Das politische und wirtschaftliche Interesse; denn Mesopotamien wäre, schon mit Korn und Naphtha, den russischen Exportwünschen ein furchtbarer Konkurrent. Und daß weder Frankreich noch England dieser Entwickelung müßig zuschauen kann, braucht nicht bewiesen zu werden. Frankreich hat das Händchen im Syndikat und stellt einstweilen der Anatolischen Bahn den Generaldirektor. England hat während des Burenkrieges, als wir die Gelegenheit, die Mähne des Leun zu stutzen, versäumten, zugesagt, es werde uns auf dem Weg nach Bagdad keine Schwierigkeit machen. Long ago; und Bagdad ist noch nicht Basra. Baut nur, dachte der Brite: wenn euch, ein gutes Stück vor dem Persischen Meerbusen, der Atem ausgeht, kommt meine Zeit. Wir blieben sorglos. Hatten ja Abd ul Hamid für uns.

Abd ul Hamid mag Wilhelms Freund geblieben sein. Auch mit dieser Möglichkeit haben die Londoner Staatsmänner, denen unsere Orientpolitik die Richtung vorschrieb, gerechnet. Der Sultan (dem kein Verständiger über den Weg traut und der am Ende doch hundertmal mehr Menschen gemordet hat als der schwärzeste Hintertreppen-Trepow) ist noch immer eine Macht; ist's als Kalif, als geistliches Oberhaupt aller Muslimin. Ist's aber nur, so lange er über Mekka und Medina, die Heiligen Stätten islamischen Glaubens, herrscht. Sitzt da ein von Englands Gnaden regierender Scheich, dann ist der Mann im Yildiz Kiosk nur noch der Herr über die Osmanen des inneren anatolischen Gebietes, der (von den Jungtürken bedrohte) Khan eines an Leib und Seele entarteten Volkes, das Unfruchtbarkeit und endemische Syphilis sicherem Untergang weihen. Dann mag er dem Deutschen Kaiser der treuste Busenfreund sein: Britannien hat gegen solche Intimität nichts einzuwenden. Um den Sultan zu schwächen, hat es ihm an drei Stellen die Flanke verwundet. Statt ohne vorbedachten Plan nach Marokko zu laufen und den Muslimin zu zeigen, daß all unser Gerede den »souverainen« Sultan nicht vor Kuratel und Polizeiaufsicht schützen kann, mußten wir uns mit Frankreich über Kleinasien verständigen und dafür sorgen, daß den Schlauköpfen von Albion nicht der Gedanke kommen könne: Jetzt sind sie drüben schlecht genug behandelt worden, sind mürb und werden uns für ein freundliches Lächeln keinen irgend erfüllbaren Wunsch weigern. Wir mußten, wenn wir uns in der Welt Mohammeds als Vormacht behaupten wollten, auch ungefähr wenigstens die Psyche des Orientalen kennen. Der hat, wenn er am Wort eines Franken erst zu zweifeln anfing, auch schon zu zweifeln aufgehört; und hier schien das Wort eines Kaisers verpfändet. Den gewinnt man nicht mit schönen Redensarten von Freundschaft und Bruderliebe. Der haßt den Christen inbrünstig, handelt, wo ein lohnender Profit winkt, aber gern mit ihm und scheut sich ebensowenig wie der Berliner Antisemit, der zu Wertheim, Tietz oder Jandorf rennt, dem billig verkaufenden Todfeinde die Tasche zu füllen. Wir haben alle Großmächte gegen uns und höchstens noch den Sultan als Hort. Der aber wird sich entweder bei Eduard einschmeicheln oder nicht mehr lange Khalif sein. Und ein Mann, der Elektrizitätsanlagen verbietet, weil er wähnt, Dynamo sei ungefähr dasselbe wie Dynamit, ist immerhin ein nicht ganz zeitgemäßer Freund.

Doch wir hatten Feste, Reden, spectacula jeder Art, ganz wie beim Kanal; und können ohne solche Sensation nun einmal nicht leben. Ist kein Triumphgesang anzustimmen, so doch ein Klagelied. Der Erdkreis liebt uns zärtlich und huldigt dem deutschen Namen; oder: Wir sind höchst schmählich verkannt und von wühlendem Haß umlauert. Nur nicht schweigen, nicht, wie andere Nationen, mal für ein Weilchen vergessen sein … Die Rechnung kommt, la douloureuse, die kein Auge gern sieht.


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