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Dies irae

Momentaufnahmen

Dezember 1846. Nach dem Besuch eines zur Hofgesellschaft gehörigen Herrn schreibt Varnhagen in sein Tagebuch: »Der vorige König, hieß es, habe einen Premierminister nicht nötig gehabt. Der habe seine Größe erst gezeigt, als Hardenberg gestorben war. Wenn dieser am Leben geblieben und Humboldt, Boyen, Beyme, Gneisenau, Grolmann nicht entfernt worden wären (die alle den König in der Enge halten wollten), würde der König sich nie in der Größe haben zeigen können, die er nachher entwickelte. Dies Wort ›Größe‹ muß hier sehr auffallen und ist wohl in keiner Weise vom vorigen König gültig; auch das Tatsächliche ist ganz falsch aufgefaßt. Der König hat sich vom Staatskanzler nur bedingt leiten lassen, hat ihn nach außen und innen gehemmt; und nach Hardenbergs Tod ging alles erst recht schwach. Da begann die Mediokrität und die Kamarilla, die Angst und Verlegenheit bei jedem bedeutenden Ereignis, da kamen die Ränke des Herzogs Karl von Mecklenburg-Strelitz, die Einwirkung Witzlebens, die Staatsführung Lottums, die Tätigkeit des Kronprinzen und seiner Leute. Der vorige König hatte sehr ehrenwerte Eigenschaften, aber keine, die das Beiwort ›groß‹ vertragen kann!« Drei Jahre vorher hatte, zum ersten Mal seit Jahrhunderten, ein König von Frankreich in seinem Schloß den englischen Hof empfangen. Zwischen den Völkern des Westens schien der alte Haß erloschen. Und über den Staat Friedrich Wilhelms (der mit einem Bülow das internationale Geschäft besorgte) schrieb Treitschke: »Preußen stand in der diplomatischen Welt so einsam wie seit Jahren nicht. Sein König hatte verstanden, in kurzer Zeit die alten Freunde Österreich und Rußland mit Mißtrauen zu erfüllen; er hatte mit seinen Freundschaftwerbungen in England wenig Anklang gefunden und bald merkte man, daß Preußen jetzt auch an den kleinen deutschen Höfen weniger geachtet war als einst unter dem alten König. Die ruhige Würde des Vaters erweckte Vertrauen, die bewegliche Geschäftigkeit des Sohnes Zweifel und Argwohn.«

Juli 1906. Die Kronprinzessin hat ihrem Mann einen Knaben geboren. Den Kaiser, der auch diesmal der erste Gratulant sein möchte, hat auf der Hochsommerreise die frohe Kunde noch nicht erreicht. Als er in Bergen landet, kommt Herr Oskar Stuebel, der beim norwegischen König beglaubigte Gesandte des Deutschen Reiches, mit dem Konsul Mohr an Bord der »Hamburg«. Herr Stuebel, der an dem Abschluß schlechter Verträge und an mancher anderen tropischen Torheit mitschuldig ist, hat, seit die Kolonialskandale die Welt mit Lärm und Gestank erfüllen, den Monarchen nicht mehr gesehen und am furchtbaren Tag des Gerichts nun das Köpfchen verloren. Trotz der Vorbildung als Mathematiker und Jurist zittert er vor der ersten Begegnung mit dem Allmächtigen, der ihn selig sprechen und verdammen kann. Wird aber gnädig empfangen und, mit seinem Begleiter, zur Mahlzeit geladen. Als das Tischgespräch einen Augenblick stockt, sagt der Konsul: »Der reiche Fahnenschmuck der Stadt wird Eurer Majestät gezeigt haben, welchen Anteil die Bevölkerung an der Geburt Allerhöchst Ihres Enkels nimmt …« Der Kaiser schlägt mit der Faust auf den Tisch, daß die Teller und Gläser klirren. »Enkel? … Eulenburg!« Und zu dem neben ihm sitzenden Gesandten: »Mann! Und das erfahre ich erst jetzt?« Alles blickt entsetzt auf den armen Oskar. Der ist weiß wie das Tafeltuch, schlottert in seinem Galakleid und stammelt endlich: »An Land liegen auch schon sehr viele Depeschen.« Wilhelm wird dunkelrot, springt auf, befiehlt allen, sitzen zu bleiben, läuft in sein Rauchzimmer und dämpft bei der Zigarette langsam den Zorn. In aller Hast muß ein Bote die Depeschen holen. Ungefähr vierhundert sind's; noch nicht einmal sortiert. Obenauf liegt der Glückwunsch, den Freund Abdul Hamid geschickt hat. Die Höflingschar im Kreise bebt noch von der Erregung. Doch der Kaiser ist schon wieder bei gutem Humor, nimmt ein Depeschenformular und schreibt schnell an den Kronprinzen: »Erfahre soeben durch den Sultan, daß Dir ein Sohn geboren ist.« Und so weiter. Würdigt Herrn Stuebel aber keines Blickes mehr und läßt keinen Zweifel darüber, daß diesem Mann das Todesurteil geschrieben und unterzeichnet ist. Der Unselige muß an Bord bleiben. Niemand spricht mit ihm. Allen ist er Luft. Und während das Schiff nordwärts schlingert, dann stampft, hat er zum Nachdenken Muße und lernt erkennen, daß die eine Versäumnis ihm mehr geschadet hat als alle Sünden, die er als Direktor der Kolonialabteilung ungesühnt ließ.

September 1906. Wartesalon in Potsdam. Herr von Podbielski, der öffentlich übler Geschäfte verdächtigte Minister für Landwirtschaft, ist, wie seine preußischen Kollegen, zur Tafel geladen. Wie wird er behandelt werden? Am achtzehnten August hat in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung gestanden, der Minister habe den Fürsten Bülow gebeten, »seinen Wunsch nach Entlassung aus dem Staatsdienst an Allerhöchster Stelle zu unterbreiten«. Die Richtigkeit dieser Angabe hat Podbielski bestritten; er habe dem Ministerpräsidenten nur geschrieben, er würde lieber aus dem Staatsdienst scheiden als in seinen Jahren sich noch länger mit »Schmutz bewerfen lassen«. Antwort in der Norddeutschen: der König habe, auf Antrag des Ministerpräsidenten, erklärt, er sei zur Zeit noch nicht in der Lage, über die Entlassung des Ministers »eine definitive Entschließung zu fassen«. Und der dem Tod Geweihte steht nun, all in seiner Munterkeit, mitten im Wartesalon. Steht, mit seiner Frau, fröstelnd bald in einer Eiszone. Vorsicht empfiehlt, das gescholtene Paar zu meiden. Die Korrekten beschränken sich auf kühlen Gruß und hüten die Zunge. Da tritt der Ministerpräsident ein, geht sofort auf das vereinsamte Paar zu, begrüßt es mit herzlichen Worten, kehrt nach dem Rundgang noch einmal zu ihm zurück und sagt, so laut, daß mindestens zwei Dutzend Exzellenzen es hören müssen, das Zeitungsgerede sei unsinnig und er lege Wert darauf, auch hier zu erklären, daß er sich mit dem Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten heute noch, wie einst im unholden Mai des Tarifkrieges, solidarisch fühle. Die Luft erwärmt sich; und der eben noch Gemiedene kann manche Männerhand schütteln. Die Ansprache (deren unzweideutiger Sinn war, die Durchlaucht stehe und falle mit Seiner Exzellenz) dringt nicht ins Freie. Offiziöse melden, die »definitive Entschließung« könne erst kommen, wenn das Ergebnis der eingeleiteten Untersuchung bekannt sei. Das Verfahren wird eingestellt. Herr von Podbielski nach Rominten geladen. Die Entscheidung ist also gefallen? »Unwürdig«, spricht Burleigh, »ist's der Majestät, das Haupt zu sehen, das dem Tod geweiht ist«; und: »Gnade bringt die königliche Nähe«. Also gerettet? Gerichtet. Der Minister wird entlassen. Den Schwarzen Adler bekommt er einstweilen nicht, weil die Verleihung allzu oft öffentlich vorausgesagt ward. Er ist diskret, verschließt die zärtlichen Briefe des durchlauchtigen Kollegen in seinen Schreibtisch und sagt nicht, wessen Wohlwollen ihm den unklugen Rat gab, seinen Anteil am Kapital der Firma Von Tippelskirch & Co. der Ehegefährtin zu zedieren.

Öffentliche Meinung

Leipziger Tageblatt: »Es ist vorbei mit dem geruhigen Hoffen und mit dem Ergeben in den höheren Willen. Die kommenden Jahre müssen und werden im Zeichen eines schweren Kampfes stehen: um die Konstitution. Und es ist schlimm und gewiß nicht den Aufgaben des Reiches förderlich, daß dieser Kampf, der bis an die äußerste Grenze der Zulässigkeit vertagt worden ist, gegen die Spitze des Reiches, gegen die Krone geführt werden muß.« Nationalzeitung: »Für die nationalliberale Partei kann die Parole nur lauten: Der Regierung, wie sie jetzt ist, und dem System, nach dem wir jetzt regiert werden, keinen Pfennig mehr. Die Unstetigkeit und Sprunghaftigkeit unserer Politik, die nachgerade auch für den Blödesten mit Händen zu greifen ist, ist die Ursache der allgemeinen Beunruhigung, die der Abgeordnete Bassermann zum Gegenstand seiner Interpellation gemacht hat.« Kreuzzeitung: »Uns alle beherrscht jetzt das Gefühl, daß wir vielleicht kritischen Tagen entgegengehen, und darum ist es wohl erklärlich, wenn das Volk vielfach mit einer gewissen nervösen Bedenklichkeit auf den Herrscher blickt. Wir schließen uns offen dem Wunsche an, daß unser König und Herr die psychologische Berechtigung dieser Stimmung anerkennen möge.« Leipziger Neueste Nachrichten: »In allen Kreisen unseres Vaterlandes herrscht eine tiefe Mißstimmung. Was Fürst Bülow sagte, war teils selbstverständlich, teils überflüssig und, abgesehen von neuen Anekdoten, nur eine Wiederholung des oft Gesagten und von uns schon oft Gehörten.« Hamburger Nachrichten: »Wir haben die bekannten Phrasen zu hören bekommen. Wir haben den Eindruck, daß dieser ganzen Politik der nötige Ernst fehlt, daß alles nach wie vor auf Beruhigung und Beschönigung hinausläuft.« Die Post: »Es erscheint als ein Gebot der Staatsklugheit, sorgsam darüber zu wachen, daß alles vermieden wird, was die Befürchtung eines persönlichen Regimentes im mehr absolutistischen Sinn nähren könnte.« Kölnische Volkszeitung: »Die diplomatische Isolierung Deutschlands ist das Pentagramma, das uns Pein macht.« Der Reichsbote: »Die Minister müßten den Kaiser davon überzeugen, daß es richtiger ist, nicht so impulsiv in die Öffentlichkeit zu treten; vielleicht gelänge es ihnen auch, den Kaiser von den allzu vielen Reisen mit ihren Festlichkeiten abzuhalten.« All diese Sätze sind im November 1906 gedruckt worden. »Die widrigste Schmeichelei hat sich an den Kaiser gedrängt und ihm beinah unmöglich gemacht, die wahre Stimmung zu erkennen. Der Mangel an Aufrichtigkeit, dem er überall begegnet, hindert den Kaiser (oder erschwert ihm mindestens), seine Erziehung zu vollenden.« Das wurde am letzten Tag des Jahres 1892 in der »Zukunft« gesagt. (Anklage wegen Majestätbeleidigung, Freisprechung.)

siehe Bildunterschrift

Delcassé

Was damals schon viele empfanden, erkannten, ist nach drei Lustren erst zu offenem, widerhallendem Ausdruck gelangt. Warum so spät? Weil in diesen Jahren mehr Geld verdient worden ist, als die kühnste Hoffnung zu träumen gewagt hatte. Nur in der Ära des »Aufschwunges« konnten wir erleben, was wir erlebt haben. Mancher Blinde glaubte, das rasche Wachstum des Wohlstandes sei der neo-wilhelminischen Politik zu danken. Weil ein paar Industrielle, Techniker, Großhändler an den Kaiserhof kamen, hieß es, das Reich, das alte Preußen sogar werde nun endlich modernisiert. Die so sprachen, bedachten nicht, daß die Gnade nicht Lebensleistungen belohnte. Sonst hätten die Schöpfer und Förderer der rheinisch-westfälischen Industrie, die starken Forscher, Finder und Künstler nicht in der Sonne gefehlt. Wer sich von einem Oberhofmeister, einem Minister, Ministerialdirektor oder deren Agenten zu »Stiftungen« anregen ließ, mit der Feder, dem Pinsel oder Meißel gefällig war und da aushalf, wo die Staatsmittel versagten, durfte im rosigen Licht atmen. Andere, die für die res publica mehr getan hatten, blieben im Dunkel. Die Mehrheit der Besitzenden wollte nicht darauf achten. »Die letzte Rede gefällt Euch nicht? Uns auch nicht. Doch, was schadet sie schließlich? Reden verhallen. Macht kein Ereignis daraus! Ihr stört uns nur den Profit. Seht Ihr denn nicht, wie sich die Lebenshaltung des Deutschen von Jahr zu Jahr hebt? Das ist die Hauptsache. Enrichissez-vous; und laßt uns in Ruhe arbeiten.« In der Bourgeoisie flackerte kaum noch ein Fünkchen politischer Leidenschaft auf. »Dankt Gott mit jedem Morgen, daß Ihr nicht braucht fürs Römische Reich zu sorgen!« Daß Ihr auf fruchtbarem Boden für Eure Kinder säen und ernten könnt. Und laßt Euch von Leuten, die nichts Besseres gelernt haben und drum Politiker wurden, nicht das reichlich rentierende Leben vergällen. Vor zehn Jahren, nach Wilhelms Depesche an Krüger, kam die Zuversicht ins Wanken. Nur für kurze Zeit. Der Britengroll hat uns viel Geld gekostet; doch wir verdienten so viel, daß wir's verschmerzen konnten.

Erst das Jahr des marokkanischen Haders brachte Klarheit. Kriegsgefahr. Die Anfänge einer Trustbildung, die den deutschen Imperialismus bedroht, unserer Wirtschaft die Ausdehnungsmöglichkeit schmälert. Nun merkte man, daß Reden nicht immer so ungefährlich sind, wie sie scheinen. Daß Deutschland draußen wie ein Zartum beurteilt werde, in dem ein Wille alles bestimmt und leitet. Merkte allmählich auch, daß Wohl und Wehe nationaler Wirtschaft nicht von Zolltarifpositionen abhängt (deren Härte eine kluge Frachtpolitik mildern, deren engem Bereich die Industrie entschlüpfen kann) und mit den caprivischen Verträgen nicht die Hoffnung auf Gewinn bestattet werden muß. Ein Luftzug, der in die glimmenden Kohlen fuhr: und der Unmut schäumte auf. Als das Geld knapp wurde, war's so weit. Zum erstenmal war monatelang wieder kein Profit einzuheimsen; verloren die zum Verkauf ihrer Wertpapiere Genötigten große Summen. Und fanden nun, dem Reich ziehe eine Lebensgefahr herauf. Die »Hochkonjunktur« hatte dem neuen Kurs den glorreichen Sommer beschert; der hohe Bankdiskont brachte ihm den Winter des Mißvergnügens.

Wird er dauern? Die Industrie ist noch mit Aufträgen überhäuft und den Landwirten geht es besser als seit Jahrzehnten. Eine ruhige Politik, die nicht provoziert, nicht schwächlich zurückweicht, könnte die Unzufriedenheit noch dämmen. Was (unwiederbringlich oder wenigstens für Menschenalter hinaus) verloren ist, wird erst später erkannt werden. Das Winterstürmchen, das jetzt durchs deutsche Land heult, wird verbrausen, sobald wieder eine lustige Hausse auf dem Kurszettel steht.

Das neue System

Wer ein Geschäftsunternehmen leitet, muß dafür sorgen, daß es auch schlechte Zeiten ohne Lebensgefahr überdauern kann; muß abschreiben, Reserven häufen, einen Teil des Überschusses dem gierigen Blick der Aktionäre verbergen. Wer ein Reich regiert, muß sich täglich fragen: Wird das Volk, wird mindestens die Mehrheit der am Reichsbestand Interessierten mich in mageren Jahren noch lieben, den an der Spitze eines ruhmlos geschlagenen Heeres Heimkehrenden noch achten, noch dulden, und kann ich, wenn Haß mich wütend umdräut, mit reinem Gewissen behaupten, immer der Pflicht treu gewesen zu sein? Den Sinn des Grafen, des Fürsten Bülow haben so bange Fragen niemals bekümmert.

Ein Reichskanzler soll handeln, wie gewissenhaft erwogene Pflicht ihm befiehlt, nicht fragen, ob das Parterre klatscht oder zischt, und aus dem Amt scheiden, wenn er das Reichsguthaben nicht zu mehren vermag. Fürst Bülow glaubt, zu handeln, wenn er redet, und einen Sieg erfochten zu haben, wenn ihm applaudiert wird. Er kann ohne lautes Lob nicht leben und verwechselt Applaus und Wirkung. Beifall kann jeder erlangen, der Geld oder Gunst zu vergeben hat. Wirkung läßt sich nicht erkaufen. Ein Minister, der alle Thronenden, alle in der Heimat und in der Fremde Mächtigen mit süßer Speise bewirtet, ist höflichen Dankes sicher. Eines Tages aber findet er, wie der Polizeikommissar, von dem Tocqueville spricht, irgendwo eine Tafel mit der Inschrift: »Notre gouvernement est comme une messe de morts; point de Gloria, point de Crédo, un long Offertoire et, à la fin, pas de Bénédicité.« So weit ist's nun beinah schon.

Die beiden Reden, die er am vierzehnten November gehalten hat, waren schlecht; fanden im Reichstag keinen starken Nachhall und wurden in der Presse nur von den Zuverlässigsten gelobt. Alles war auf den Applaus berechnet; auf den Applaus aus den verschiedensten Gegenden. Und was man hörte, klang dünn.

Seltsame Lehre. »Ich habe jungen Diplomaten geraten, sie sollten sich den Alkibiades zum Vorbild nehmen, der bei den Athenern in Geist machte, mit den Spartanern Schwarze Suppe aß und bei den Persern lange Gewänder trug.« (Gibt's kein moderneres Vorbild? Vor meines Geistes Auge steht ein Diplomat, der bei den Agrariern für den Schutz der Scholle erglüht, mit Liberalen für Bamberger schwärmt, mit Journalisten über Baudelaire plaudert; und auf Wunsch sogar fromm sein kann.) Als Dessertwitz mag's gehen; als ernsthaft gemeinter Rat ist's nicht diskutabel. »Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen.« Jede mündige Nation würde den Fremdling verachten, der sich, ihr zu gefallen, in das Kleid ihres Wesens mummt. Unsere Diplomatie ist schon jetzt nicht gerade der Stolz und die Wonne des Reiches; sie würde auf dem ganzen Erdball lächerlich, wenn sie sich in die mimicry bequemte, die ihr der Kanzler empfiehlt. Das englische Diplomatengeschäft bringt ansehnlichen Ertrag; keinem Briten aber ist je eingefallen, den Teutonen, Franzmann, Moskowiter, Hidalgo oder Chinesen zu mimen. Daß Fürst Bülow an seinem Personal einiges auszusetzen findet, ist erfreulich. Vielleicht entschließt er sich bald zu einem Revierement. Nützen wird's aber nur, wenn er erreichen kann, daß der Kaiser nicht mehr mit den in Berlin beglaubigten Diplomaten unter vier Augen die Geschäfte bespricht. Sonst könnte auch ein mit allem Komfort der Neuzeit ausgestatteter Bismarck uns als Botschafter nicht viel nützen. Denn auch er müßte von dem Minister, mit dem er verhandeln soll, oft hören: »Sehr schön, Exzellenz; doch Ihr Kaiser hat dem Chef unserer Mission ganz anderes gesagt und verheißen.« Gegen den Träger der Kaiserkrone käme selbst das Genie nicht auf. Der Kanzler weiß, wie oft diese Schwierigkeit das Vertrauen geschmälert und anderes Unheil gezeugt hat.

Nach dem stenographierten Bericht hat er neulich gesagt: »Bei uns in Deutschland sind die Minister nicht Organe des Parlamentes und seiner Mehrheit, sondern sie sind die Vertrauensmänner der Krone; die Regierungsanordnungen, die ergehen, sind nicht die Anordnungen eines tatsächlich von dem Monarchen unabhängigen und von der jeweiligen Mehrheit abhängigen Ministers, sondern es sind die Regierungsanordnungen des Monarchen.« Da er vom Reich und vom Kaiser sprach, ist drauf zu erwidern, daß der positive Teil dieses Satzes kein richtiges Wort enthält. Das Reich wird nicht von einem Monarchen regiert und hat nur einen Minister: den Kanzler, ohne dessen Zustimmung der Kaiser nichts anordnen kann. Das weiß der Kameralstudent im ersten Semester. Nett, daß der Reichstag sich solche Geschichten erzählen läßt, ohne zu rufen: »Das sind ja Kinderstubenmärchen, lieber Herr Kanzler!«

Iudex ergo cum sedebit,
Quidquid latet adparebit,
Nil insultum remanebit.

So sollte es kommen. Kam aber anders. Der Reichstag war sanft. Kein böses Wort kränkte den artigen Kanzler. Er ist glimpflich behandelt worden. Hat immer wieder gehört: Unsere Lage ist höchst unbehaglich; Du aber, Freund, bist nicht schuld daran. Wer, Hohes Haus, trägt denn nun die Schuld, wenn der allein Verantwortliche auf allen Seiten entlastet wird? Ist die Reichsverfassung nach stiller Übereinkunft »fortgebildet« worden? Nein? Dann weiß ich kein schlimmeres Ende des Grolltages als eins, das den Kanzler unversehrt läßt und den Kaiser uns ohne Schild und Schirm in der Feuerlinie zeigt.


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