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Fantasia

Am 31. März 1905 landete Wilhelm II. zu zweistündigem Aufenthalt in Tanger.

Zwei kurze Stunden nur hat der deutsche Kaiser in der alten Küstenfeste Tanger geweilt, die einst die Hauptstadt der Römerprovinz Tingitana war und jetzt der Seehandelsplatz des scherifischen Reiches ist. Drei Tage vorher war den Muselmanen und Kafiren feierlich verkündet worden, der Aufenthalt Wilhelms des Zweiten, der von Lissabon aus dem entworfenen Festprogramm zugestimmt habe, werde mindestens fünf Stunden dauern. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Nie hatte man Tandscha, die schmutzige Schöne, in solchem Glänze gesehen. Die Straßen gereinigt, die Berberhäuser entkrustet, die Balkone mit Sammet und Seide rot und grün ausgeputzt. Neben der roten Flagge und dem Wappen Marokkos, dem Silberschild mit dem roten Löwen und dem Halbmond im grünen Feld, die deutschen Farben; auf das Weiß mühsam von ungeübter Hand manchmal das Wort »Willkommen!« gepinselt. Freude, gespannte Erwartung in allen Mienen. Jeder hatte sich's was kosten lassen; mancher mehr, als er nach seinem Vermögen durfte. Das war man dem großen Tag schuldig. Zum erstenmal betritt ein Kaiser die Trümmerstätte des alten Mauretanien. Der Freund des Sultans im Osten kommt, den Sultan des Westens zu grüßen; der Schützer des Großherrn der Levante reicht dem Gebieter im Maghreb el Aksa die Hand.

Früh schon ist es auf der Lände, dem Wharf der internationalen Seemännersprache lebendig. Mit großem Gefolge nahen die Würdenträger des Sultanats, in Gala die Vertreter der fremden Mächte. Frankreichs Gesandter, Herr Saint-René Taillandier, ist in Fez, Hauptmann Fournié, der Kommandant der Truppen von Tanga, noch von der Pflicht in der Einzugsstraße zurückgehalten. Im weißen Burnus, mit majestätisch lächelndem Bronzegesicht, nimmt der Pascha von Tanger die Huldigungen des Volkes entgegen und tritt erst in den Schatten, als ein noch helleres Gestirn das Ufer bestrahlt. Si Abd el Malek Mully Hassan, der Oheim, den der Sultan zur Begrüßung des Kaisers aus Fez gesandt hat, ist erschienen. Schon werden auch die Geschenke des Herrschers aus der Stadt verladen, Berberhengste, Ochsen, Hammel, Hühner, Gemüse, Eier, Früchte und Blumen. Und endlich, gegen Neun, läßt das von der Sehnsucht erhoffte Schiff, das den Kaiser trägt, die Ankerkette niederrasseln. Französische Kreuzer senden ihm den ersten Flaggengruß und Kanonensalut. Die veralteten Kruppgeschütze der Küstenbatterien folgen mit heiserem Gedröhne. Nun wird der Kaiser landen. Noch nicht. Der deutsche Geschäftsträger meldet sich an Bord bei seinem Herrn. Und am Ufer wird geflüstert: Heute früh ist ein langes Telegramm aus Berlin gekommen; die Rede, die der Kanzler gestern im Reichstag gehalten hat und die der Kaiser erst lesen muß. Wieder verstreicht eine Stunde. Hindert der hohe Seegang die Landung? Die Sonne neigt dem Mittag zu und hüllt sich in graue Schleier. Da künden helle Fanfaren der marokkanischen Militärkapelle die Ankunft des Kaisers. Jubelrufe. Von Terrassen und Dächern herab tönt das schrille Geschrei weiß vermummter Frauen. Abd el Malek sagt sein Sprüchlein. Der Kaiser dankt, spricht fünf Minuten zu den Häuptern der deutschen Kolonie, grüßt flüchtig die versammelten Diplomaten und muselmanischen Edlen und besteigt einen Schimmelhengst. Eine Französin drängt vor und wirft ein Bouquet in den Farben der Trikolore mit langer Trauerschleife. Der Strauß streift den Pferdekopf, das Tier bäumt sich und hastig ordnet sich der Zug. Es ist spät geworden; um so später wird das Kaiserschiff den Anker lichten. Ihre fünf Stunden sind den Leuten des Maghzen ja sicher.

In scharfem Trab geht's an dicht besetzten Tribünen vorbei, durch Ehrenpforten, über grellbunte Orientblumen hinweg, bis ans Haus der deutschen Gesandtschaft. Hier wird der Oheim des Sultans noch einmal empfangen, der französische Hauptmann Fournié in ein huldvolles Gespräch gezogen, einzelnen Diplomaten ein freundliches Wort gesagt. Dann im selben Tempo nach der Landungsbrücke zurück, ins Boot, an Bord, und mit ganzer Kraft gen Gibraltar. Der Aufenthalt in Tanger hatte nur zwei Stunden gedauert. In vielen deutschen Zeitungen standen falsche Berichte. Der Kaiser hat die Kaaba, das Stadtschloß nicht betreten, die Wohnräume, die der Sultan ihm bereitet hatte, nicht eines Blickes gewürdigt, den Besuch des Prinzen Abd el Malek, allen Zeremonilwächtern zum Entsetzen, nicht erwidert, keinen Fuß in das Goldbrokat-Zelt gesetzt, in dem der Tee serviert werden sollte.

Die jüdischen Ehrenjungfrauen, die ihn in Feiertagspracht vor dem Bazar erwarteten, haben ihn gar nicht, die in der Einzugsstraße zusammengepferchten Muslimin kaum sekundenlang gesehen, die wallenden Gewänder der scherifischen Eskorte verbargen den rasch Reitenden dem Auge. Von dem Festprogramm war fast nichts übrig geblieben. Vergebens hatten die Reiterstämme sich die Mühe weiter Wege gemacht; sie kamen nicht dazu, dem Kaiser der Weißen ihre Centauren- und Schützenkunst zu zeigen. Die Fantasia, die dem Tag erst die rechte Weihe geben sollte, wurde abgesagt.

Das Wesen der Fantasia ist unter nordischem Himmel schwer zu erklären. Sahet Ihr eine Alme tanzen, den gastlichen Tisch eines Mohammedaners, das üppige Haar eines arabischen Mädchens mit Blumen geschmückt, Reiter, die nach dem Rhythmus lustiger Musik ihre Rosse tummelten? Festaufzüge, Tänze, Gesänge, Kampfspiele: das alles ist dem Orientalen Fantasia. Alles, was uns Theater, Konzerte, Bälle, Gesangvereine, Korso und Kränzchen bieten. Was über des Lebens Notdurft hinausgeht.

Was »keinen Zweck« hat. Im Orient ist es eins der wichtigsten Wörter, ersetzt es darbenden Sinnen die ganze politische Phraseologie. Und der Kaisertag sollte eine Fantasia bringen, wie Tanger noch keine sah. Reiterspiele, Kunstschützenvorstellung, ein ganzes Pulverfest. Die Enttäuschung war groß. Am Ende war es gar nicht nötig gewesen, so viel Geld für den einen Tag auszugeben. Der Kaiser sah nicht die Stadt, die Stadt nicht den Kaiser. Und Vieh, Gemüse und Früchte erfreuten wohl nur die Hamburgische Aktiengesellschaft, die den deutschen Kaiser im Mittelmeer speist.

Der »Empfang« ist also nicht so großartig geworden, wie er nach der Absicht der Marokkaner und Spanier werden sollte. Die politische Bedeutung des Besuches aber darf man nicht unterschätzen. Wilhelm hat in Tanger gesagt, er sehe in dem Sultan den unabhängigen, in seiner Macht unbeschränkten Herrn eines freien Landes, das allen fremden Staaten gleiches Recht gewähre und jeden Anspruch auf Privilegien entschlossen zurückweise; und er hat den greisen Abd el Malek ersucht, den Neffen in Fez zu äußerster Vorsicht bei der Durchführung der schon recht spärlich geplanten Reformen zu mahnen.

Wir wollen uns bei psychologischen Untersuchungen nicht aufhalten, nicht die Frage prüfen, wie es geschehen konnte, daß der Monarch, der sich selbst in politischen Reden mit so heftigem Ton stets zum Evangelium bekennt und oft nur im Christen Menschenwürde und Kriegerkraft zu finden schien, nun auch dem Sultan des Westens liebreich die Arme öffnet und in einem christenfeindlichen Lande, das mehr als einmal im Lauf der Geschichte mit unbestreitbarem Recht der Hort islamitischer Unduldsamkeit genannt worden ist, gegen die europäischen Reformversuche und für den gewordenen Zustand Partei ergreift. Für einen unhaltbaren Zustand. Die Macht des Sultans erstreckt sich nur über die Hälfte seines Reichsgebietes; nur im Beled el Maghzen wird ihm Steuer gezahlt und Wehrdienst geleistet und auch hier ist er von Bu Hamara hart bedrängt. Im Atlas, in der Sahara, in dem weiten Land südlich von Udja, am Meer sogar zwischen Melilla und Tetuan ist er machtlos. Die scherifische Regierung tut nichts für das Land und ist so schwach, daß sie mit ansehnlichen Räubern paktieren muß; der Räuberhauptmann, der im vorigen Jahr den Amerikaner Perdicaris gefangen hielt, ist eine Leuchte in der Provinzialverwaltung geworden und war einen Augenblick zur offiziellen Mitwirkung beim Empfang des Deutschen Kaisers ausersehen.

In Helmolts Weltgeschichte sagt Graf Wilczek: »Noch heute, wie vor Jahrhunderten, steht Marokko, gleich einem fanatischen Bettelpriester, der auf seine Armut und auf seine Lumpen stolz ist, den blühenden Staaten Europas gegenüber Ungastlich sind seine Küsten, ist sein Volk, und nur widerwillig läßt es sich von seinen mächtigen Nachbarn zur oberflächlichen Anerkennung völkerrechtlicher Grundsätze bewegen.« Das ist der Zustand, den der Deutsche Kaiser gegen den Willen der Nachbarn erhalten möchte. Fast schon allzu kühn scheinen ihm die kümmerlichen Reformen, die der Sultan nach langer Bedrängnis versprochen hat; er will bremsen, nicht treiben. Die seltsame Wahl dieses Standpunktes ist öffentlich heute noch nicht leicht zu erklären. Dem Politiker muß die Tatsache genügen, daß der Kaiser den Sultan stützt und den Entschluß gezeigt hat, den franko-britischen Vertrag vom 8. April 1904 nicht anzuerkennen. Jedes Wort, das er in der marokkanischen Küstenstadt sprach, richtet sich gegen diesen Vertrag. Deshalb dürfen wir uns auch nicht wundern, daß die Engländer sagen, der Neffe ihres Königs hätte besser getan, nach solcher Demonstration Gibraltar zu meiden und daß Eduards Frau ein paar Stunden vor der Ankunft des Hohenzollern die britische Mittelmeerfestung verließ, wo der französische Kreuzer Du Chayala sie begrüßt hatte.

Vor dem Kaiser hatte der Kanzler gesprochen. Kurz und korrekt. Er war von dem Abgeordneten Bebel provoziert worden und sagte: »Wir wollen in Marokko keine territorialen Vorteile. Der Besuch des Kaisers kann nur da beunruhigen, wo man die Absicht hegt, die Integrität oder die Unabhängigkeit Marokkos zu schmälern. Unser Handel muß in Marokko dieselben Rechte haben wie der Handel aller anderen Nationen. Wenn der Versuch gemacht wird, die völkerrechtliche Stellung oder die wirtschaftliche Entwicklung Marokkos zu ändern oder die unserem Handel offene Tür zu kontrollieren, dann müssen wir mit erhöhter Wachsamkeit unser Interesse wahrnehmen. Wir werden darüber zunächst mit dem Sultan verhandeln.« Das ungefähr löst sich als Kern aus der Hülse. Die Tonart nicht gerade schroff, doch auch nicht so sanft, wie nach dem erstes. Sturmgeheul die Weise der Offiziösen. Kein Wunder: Herr Theophil Delcassé hatte die höflichen Beteuerungen, die seine im Senat gehaltene Rede uns am Tage der Aprilnarren brachte, noch nicht von sich gegeben. Graf Bülow gürtete sich also mit würdigem Ernst und ließ sich, wider alle Feuilletonistengewohnheit, sogar eine sichere Wirkung auf Zwerchfell und Muskeln der ehrenwerten Volksvertreter entgehen. Wenn er die Artikel französischer und deutscher Sozialdemokraten verlesen hätte, wäre unter »stürmischer Heiterkeit« erwiesen worden, daß Jaurès und Genosse« sagen: Bülow triumphiert und Delcassé ist jämmerlich blamiert, während Bebel und Genossen Bülow blamiert und Delcassé als Triumphator sehen. Wer recht hat? Weder der Mönch noch der Rabbi, wie mir scheint. Herr Delcassé hätte klüger gehandelt, wenn er den Text des Vertrages offiziell der Berliner Regierung übermittelt und ihre Zustimmung erbeten hätte; seit dem zwölften April 1904 mußte er aber glauben, daß man in Berlin gegen den Vertrag nicht das geringste einzuwenden habe. Denn an diesem Tag hatte der Kanzler im Reichstag erklärt, der Vertrag bedrohe keine dritte Macht. Deutschland habe in Marokko nur wirtschaftliche Interessen, für die es nichts zu fürchten brauche, und könne zufrieden sein, wenn im Sultanat Ruhe und Ordnung geschaffen werde. Das war ein Fehler und mit Verlaub kein viel kleinerer als der Delcassés. Der Kanzler mußte einfach sagen: »Ich kenne den, wie in der Presse behauptet wird, zwischen England und Frankreich geschlossenen Vertrag nicht aus amtlichen Mitteilungen, er existiert also für mich nicht und ich bin nicht hier, um über Gerüchte zu reden.« Nur dann hätte er ein Recht zur Klage gehabt, wenn ihm auch danach der Text des Vertrages nicht von Paris oder London aus (für beide Orte galt dieselbe Verpflichtung) mitgeteilt worden wäre. Die Fragen professioneller Höflichkeit oder internationalen Anstandes, die seit Wochen nun aufgebauscht werden, sind im Grunde aber sehr unbeträchtlich. Die Rede am zwölften April 1904 beweist, daß Graf Bülow den vier Tage vorher unterzeichneten Vertrag ohne Spitze, dem deutschen Interesse nicht gefährlich fand. An dieser Auffassung war ein Zweifel nicht möglich und sie ist ihm hundertmal vorgeworfen worden. Jetzt erst, nach der den Russen ungünstigen Wendung des Asiatenkrieges, hat er sein Urteil geändert.

Das bestreitet er freilich und klagt, mit wehmütiger Höflichkeit, die Franzosen veränderter Tendenzen an. Kein Staatsmann ist verpflichtet, im Parlament den Schrein seines Herzens zu öffnen. Die Bewunderer des Grafen Bülow, die ihm auch diesmal blind glauben, machen aber ihren Helden doch gar zu klein. Er ist bei Bismarck in eine zu gute Diplomatenschule gegangen, um nicht zu wissen, was in solchem Falle die Übernahme der Pflicht, Ruhe zu stiften, bedeutet. Pénétration pacifique heißt's auf Phrasenfranzösisch; auf Amtsdeutsch Protektorat. England hat den Franzosen Marokko überlassen. Warum? Weil die britischen Politiker der splendid isolation müde waren, die Gefahr einer französisch-deutschen Annäherung fürchteten und in dem Bündnis mit Frankreich, das den erschöpften Zarenstaat langsam nachschleppen und einen neuen Dreibund vorbereiten konnte, einen mit hohem Preis nicht zu teuer bezahlten Vorteil witterten. Und der Preis war nicht einmal hoch. Der marokkanische Zustand ist unhaltbar und gründliche Besserung nur zu erwarten, wenn das Sultanat unter europäische Herrschaft kommt. England, das in Afrika Ägypten, den ungeheuren Sudan, den ganzen Süden, in Ost und West große Gebiete und hohe Hypotheken hat, kann schließlich nicht alles schlucken, braucht, als Herr von Gibraltar, Marokko auch nicht. Spanien zählt als Kolonialmacht nicht mehr mit. Frankreich, das schon warm in den alten Barbareskenstaaten sitzt und am meisten unter den marokkanischen Wirren leidet, ist der nächste Anwärter. Mag es sein Heil am Atlas versuchen. Leicht ist die Aufgabe nicht zu bewältigen; das spanische Heer, das nur mit äußerster Anstrengung von Ceuta bis nach Tetuan vorzudringen vermochte, hat 1859, als es die Belästigung der Küstenpresidios rächen wollte, stöhnend erfahren, wie schwer gegen den Fanatismus der Berber und Araber aufzukommen ist. Solange Frankreich in Nordafrika um sein Lebensrecht zu kämpfen hat, ist es auf freundschaftliche Beziehungen zu England angewiesen. Und erreicht es sein Ziel, dann holt der britische Kaufmann in den dreißig Jahren verbürgter Handelsfreiheit aus dem kultivierten Land mehr als in Jahrhunderten aus der Schandwirtschaft des Scherifenreiches. Frankreich wartete züchtig ein Jährchen und begann dann, weil die Frucht noch nicht vom Zweig fiel, das Bäumchen zu schütteln. Allzu sanft vielleicht. Die Republik wurde in Tanger nicht vom Genie bedient; ihres Handelns Ziel war aber genau so wie man erwarten mußte und wie sicherlich auch des Reichskanzlers Exzellenz es erwartet hatte.

Von der algerischen Grenze her rückte die colonne mobile du Chott Ghabri langsam vor. Zuaven, berittene Infanteristen der Fremdenlegion, Spahis, irreguläre Eingeborenenkavallerie, im ganzen noch nicht zweitausend Mann, denen eine größere Macht folgen sollte. Nach dem Bericht eines Veteranen, dessen Briefe im »Figaro« veröffentlicht wurden, war die Expedition ungefähr so sorgfältig vorbereitet wie der mandschurische Feldzug der Russen. Von der Basis bis zur Front nicht eine einzige Etappe. Für zweitausend dem Klimafieber und Typhus ausgesetzte Soldaten ein Arzt und ein kaum für die ersten Tage ausreichender Vorrat an Arznei. Mangel an Nahrung; als Getränk unfiltriertes Sumpfwasser. Für Hitze (bis 40) und Kälte bis 10 Grad Réaumur, dieselbe Montur. Wenn das ganze algerische Corps von diesem Geist geleitet ist, sind die Tage Mac Mahons und Chanzys spurlos vorübergegangen. Als die nicht sehr mobile Kolonne, deren Zustand dem Maghzen bekannt sein mußte, nach langen Monaten endlich ein Stückchen vorwärts gekommen war, glaubte Herr Saint-René Taillandier, seine Staatsaktion beginnen zu können. Die sanftmütige Geduld der Franzosen wurde allmählich schon bespöttelt. Der Marokkaner hatte die Furcht vor den Söhnen der Joinville und Bugeaud verlernt. Wenn nicht schnell etwas geschah, war der alte Respekt für immer fort. Der Gesandte, der (unglaublich, aber wahr) der Regierung des Maghzen den Aprilvertrag nicht mitgeteilt hatte, erzwang eine Einladung nach Fez und brachte, außer Geschenken (unter denen ein Zuckerhut deutscher Provenienz gewesen sein soll), dem Sultan auch einen fertigen Reformplan mit, der das Heer, die Finanzen und Zölle, die Landesverwaltung französischer Leitung unterstellen will. Nicht wenig auf einen Hieb. Der Sultan war entsetzt, die Würdenträger gerieten in helle Wut. Als Herr Saint-René Taillandier die von Frankreich dem Sultanat gewährte Anleihe erwähnte, wurde ihm die sofortige Rückzahlung angeboten. Als er, der im Namen aller europäischen Großmächte das Wort zu führen behauptete, von dem franko-britischen und franko-spanischen Vertrag sprach, wurde ihm erwidert, diese Verträge, deren Wortlaut man nicht einmal amtlich gemeldet habe, seien für Marokko nicht vorhanden. So leidenschaftlich regte sich der Haß, daß die Franzosen sich kaum auf die Straßen der Residenz wagten. Und von Fez züngelte das Feuer islamitischen Zornes bis in die Küstenstädte. Frankreich mußte seine Macht zeigen oder es hatte die erste Partie im Spiel verloren. Was tun? Bu-Hamara und die kleineren Rebellen unterstützen; Udja besetzen, das ganze Mittelmeergeschwader vor Tanger sammeln: jeder neue Tag brachte einen neuen Vorschlag; der Sultan, der nur ein Häuflein gedrillter Mannschaft und kein modernes Geschütz hat, ist wehrlos. Soweit waren die Dinge gediehen, als der Kanzler die Offiziösen in Berlin mobil machte und der Kaiser seinen Besuch ansagte.

Auch der ist nun Ereignis geworden. Un beau navire à la riche carène hat die Reede von Tanger verlassen. Was nun?

Im vorigen Jahr war Marokko uns Hekuba; jetzt muß Michel es wie ein vom wilden Hans Lüderlich geängstigtes Bräutchen betreuen. April 1904: ein Kamel. April 1905: ein Wiesel. Die jäheste Wendung wird von dem Eifer konkurrierender Meinungsfabriken blitzschnell mitgemacht, andächtig immer der Magus aus Klein-Flottbeck gelobt und dem Zweck des Wendungsmanövers niemals nachgefragt.

Und doch stellt nüchterne Vernunft nur diese Frage. Was wollen wir eigentlich in Marokko? Nicht Territorialbesitz; also auch keinen Hafen, keinen Flottenstützpunkt (der am Ende, ohne Riesenleistung, heute noch zu erlangen wäre). Wozu dann der Lärm? Um dem Handel des anderen Recht zu wahren und der Welt zu zeigen, daß auch der Sultan des Westens für das Deutsche Reich noch nicht zu den totkranken Männern zählt?

Deutschland hat seit fünfzehn Jahren den Anspruch erworben, kommerziell in Marokko genau so gut behandelt zu werden wie die meist begünstigte Nation; und der Vertrag, der dieses Recht sichert, ist bisher nicht gekündigt. Da das Sultanat einstweilen nicht unter Vormundschaft steht, entspricht auch die Tatsache, daß eine europäische Regierung durch ihren Gesandten in Fez unmittelbar mit dem Maghzen verhandelt, nur der völkerrechtlichen Norm. Noch steht die Tür offen und jeder, der sie einrennen will, läuft in seiner Hast nur ins Leere. Ist's auf eine Demütigung Frankreichs abgesehen? Die kann nach den seit 1871 gesammelten Erfahrungen in Deutschland kein verantwortlicher Politiker wünschen, am wenigsten einer, der jahrelang an den oft übereifrigen, oft belächelten Versuchen mitgewirkt hat, Mariannens Arm mit Rosenketten zu fesseln, Mariannens Liebe durch Werberinbrunst zu erzwingen. Oder langt die Absicht weiter? Wenn Deutschland weder selbst zugreifen noch einer anderen Europäermacht gestatten will, Marokko zu modernisieren, leistet es seinem Handel einen schlechten Dienst. Berber und Araber werden die Schätze des Landes nicht heben, weder Brücken noch Eisenbahnen bauen, weder Bergwerke noch elektrische Anlagen schaffen. Wie Ägypten, Algerien, Tunis, wie alle islamitischen Länder, kann auch Marokko nur von Weißen zu gesunder Wirtschaftsblüte entwickelt werden.

Um auszusprechen, was der Aussprache nicht erst bedurfte, kann Wilhelm der Zweite nicht bei hohem Seegang nach Tanger gefahren sein. Wenn Graf Bülow dem Kollegen Delcassé eine Lektion erteilen und sich dann artig mit ihm verständigen wollte, durfte er nicht den Kaiser ins Plänkeltreffen schicken. Der zweistündige Besuch hat genügt, um den leidenschaftlichen Fanatismus des Islams in Fieberhitze zu steigern und den Widerstand des Sultans gegen jeden Reformplan zu stärken. Das durfte nur geschehen, wenn Deutschland zum äußersten entschlossen war: für die Unabhängigkeit Marokkos im Notfall ohne Verbündete gegen Franzosen und Briten das Schwert zu ziehen. Folgt dem großen Aufwand jetzt nicht eine Tat, sondern kleine handelspolitische Schachermachei, dann ist der islamitischen Welt nur die Zwietracht der weißen Völker entschleiert, in England und Frankreich nur neues Mißtrauen gegen das Trachten der Deutschen gesät worden, die zwar Frieden halten, aber das Salz der Erde säen und die Weltherrschaft der Hohenzollern erreichen wollen. Schon fürchtet man hier, hofft man dort diesen Ausgang. Am selben Tag ist in London, Paris und Petersburg dasselbe Wort gesprochen worden: coup de théâtre. Ein böses Wort, das früher, wenn von deutscher Politik geredet wurde, auf keine Lippe trat. Paßt nur auf, heißt's: auch diesmal wird nichts Ernstes daraus; auch dem alten Krüger ist die Unabhängigkeit seines Landes zugesichert und der gelben Rasse mit gepanzerter Faust gedroht worden: nachher hat man sich's weislich überlegt. Diese Erinnerungen wärmen das deutsche Gemüt nicht. Wir müssen warten und hoffen, daß die Fantasia nicht nur für Tanger abgesagt worden ist.


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