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Sechs Tage hat, nach langwieriger Beratung in der Kommission, die Erörterung des franko-deutschen Vertrages vom 4 November 1911 im Senat der französischen Republik gedauert. Am 10. Februar ist der Vertrag (mit 212 gegen 80 Stimmen) auch in zweiter Instanz endlich angenommen worden. Von den im Palais Luxembourg gehaltenen Reden drang kaum ein mattes Echo in deutsche Ohren. Den Offiziösen paßte der Inhalt nicht in den Kram; die Liberalen brauchten alle Zeit, allen Raum, um die herrlichen »Siege der Linken« zu verzeichnen. Manches darf aber auch bei uns nicht ungehört verhallen. Daß der Vertrag den Franzosen viel größeren Vorteil bringt als dem Deutschen Reich, ward nirgends bestritten. Viele meinen, daß dieser Profit noch billiger zu haben war; und die Schwachheit des Herrn Caillaux, der sich, so lange ein deutsches Kriegsschiff vor Agadir lag, in Verhandlungen einließ, wird in den beiden Kammern verurteilt. Die wichtigsten Reden waren die der Herren Pichon, Ribot, Poincaré, Clemenceau. Herr Stephen Pichon, der uns freundlichste Leiter des internationalen Geschäftes, den die Republik seit Hanotaux hatte, mußte die Wohnung am Quai d'Orsay räumen, weil das Berliner Torengeschrei über die »Potsdamer Errungenschaft« (eines ertraglosen Paktes mit Rußland) ihn dem Vertrauen der Kammern entwurzelte. Aus der Rede, die seine Ablehnung des Novembervertrages begründen sollte: »Der Vertrag vom 9. Februar 1909 war der Lohn des zähen Beharrens in unserem Recht. Er gab uns, wie auch Fürst Bülow ausdrücklich anerkannt hat, Marokko. Er war kein endgültiger Abschluß; doch er sicherte uns die ruhige Entwickelung und hatte uns nichts gekostet. Später hat Deutschland Forderungen gestellt, die mit diesem Vertrag unvereinbar waren. Wir mußten auf seinem Boden bleiben und durften keine Kompensation gewähren. Im April 1911 rief uns der Sultan nach Fez. Alle Konsuln hielten den Marsch für unvermeidlich; auch der deutsche Konsul sprach sich in diesem Sinn aus. Die Instruktionen, die General Moinier erhielt, wurden allen Mächten mitgeteilt und genau ausgeführt. Trotzdem behauptete dann Herr von Kiderlen, wir seien über die Grenze unserer Rechte hinausgegangen, und sagte in Kissingen zum Botschafter Cambon: ›Bringen Sie uns etwas aus Paris mit.‹ Während die beiden Regierungen die Möglichkeit der Verständigung suchten, überraschte uns der Streich von Agadir. Von Unruhen in und bei diesem Hafen konnte im Ernst nicht die Rede sein. Ich bedaure, daß wir uns unter dem Druck einer Drohung überhaupt zu Gesprächen hergegeben haben; unsere Pflicht war, zunächst diese Drohung abzuwehren und die Verhandlung in Gemeinschaft mit allen Signatarmächten der Algesirasakte zu führen. Ein paar Tage nach der bekannten Rede des Schatzkanzlers Lloyd George hat Deutschland dem Londoner Kabinett angezeigt, daß es nicht daran denke, in Agadir Truppen zu landen. Jetzt? Auch der neue Vertrag ist nur ein Kompromiß und eine Etappe auf unserem Weg. Deutschland verzichtet auf Rechte, die wir ihm niemals gewährt haben. In einem Vertrag, der uns unter Drohung abverlangt wurde, sehe ich eine Demütigung und kann ihm deshalb nicht zustimmen.« Herr Ribot: »Wir können den Vertrag nicht ablehnen; was er uns gibt, ist nicht wenig. Derselbe Kaiser, der sich vor sieben Jahren für die Unabhängigkeit Marokkos verbürgt hat, muß jetzt unser Protektoratsrecht auf Marokko anerkennen. Aber wenn ich, als das deutsche Kriegsschiff nach Agadir geschickt wurde, Minister der auswärtigen Angelegenheiten gewesen wäre, hätte ich Herrn Cambon nicht erlaubt, nach Berlin zurückzukehren.« Ministerpräsident Poincaré: »Man hat gesagt, im Kongo sei unser Gebiet von den deutschen Fühlhörnern bedroht. Das ist nicht richtig: die deutsch gewordenen Landstreifen sind auf allen Seiten von unserem Kolonialbesitz eingeschlossen. Wenn es nicht so wäre, würde ich, als Freund herzlichen Einvernehmens mit Belgien, den Vertrag hier nicht verteidigen. Man hat gerügt, daß wir verpflichtet seien, in Marokko den Wettbewerb um die öffentlichen Arbeiten allen Nationen zu denselben Bedingungen zu ermöglichen. Dabei wurde nur das wesentlichste nicht erwähnt: das Recht der (von uns kontrollierten) marokkanischen Regierung, die großen Arbeiten, den Bau von Eisenbahnen, Häfen, Telegraphenlinien und ähnliches, nach ihrem Belieben zu vergeben, sie also auch französischen Gesellschaften anzuvertrauen. Werden unsere alten und neuen Rechte jemals bestritten, dann werden wir keine Schwäche zeigen, sondern so deutlich und in so festem Ton sprechen, daß man uns hören wird.« Herr Clemenceau: »Der Vertrag ähnelt dem trojanischen Pferd; als ein Friedenspfand wird er gepriesen und aus seinem Inhalt klingt mir doch Waffengeklirr ins Ohr. Wir mußten nach Fez gehen. Ich hatte gezweifelt, bin aber durch die Akten überzeugt worden. Es wäre eine Schande gewesen, wenn Frankreich, aus Furcht vor deutschem Einspruch, das Notwendige nicht getan hätte. So lange ein deutsches Kriegsschiff vor Agadir lag, durften wir nicht verhandeln. Darin stimme ich mit den Herren Pichon und Ribot überein. Wir mußten uns in das Februarabkommen vom Jahr 1909 verschanzen, den deutschen Eingriff mit aller Kraft abwehren und Europa als Schiedsrichter anrufen. Der deutsche Geist ist anders als unserer. Das Verhältnis ist schwierig geworden, weil Deutschland sich durch seinen Sieg zur Herrschaft berechtigt glaubt und wir nicht zugeben können, daß unsere Niederlage uns in Vasallentum zwinge. Als Jules Favre (er hat mir es erzählt) in Versailles den Bundeskanzler beschworen hatte, die deutschen Truppen nicht in Paris einziehen zu lassen und sich mit dem Ruhm, unsere Hauptstadt zur Übergabe genötigt zu haben, zu begnügen, antwortete Bismarck: ›Ruhm? Das Wort hat bei uns keinen Kurs. Deutschland hat uns besiegt, nicht unterworfen. Die Lebenden halten den Toten die Treue. Wir haben in der Welt noch manches zu tun und zu sagen. Wenn dem Mut, dem Feuer, der bewundernswerten Energie, von denen das Land uns täglich Proben zeigt, Selbstzucht und kühle Überlegung sich gesellen, ist uns die Rache gewiß. Menschen, die nicht besiegt sein wollen, die ihr Leben dem Vaterland als Opfer hinwerfen, sind unbesieglich. Und an dem Tag, der den Marschbefehl bringt, werden dieselben Leute, die sich jetzt von verblendeten Schwätzern gegen das Vaterland aufhetzen lassen, Gewehre verlangen. Unsere Pflicht ist, den Vertrag abzulehnen. Ist Deutschland dann unzufrieden: nun, so mag Deutschland unzufrieden sein.‹
Was ich seit acht Monaten vorausgesagt hatte, ist Ereignis geworden. Wir haben ein schlechtes Geschäft gemacht, den Franzosen, die der Panthersprung demütigen sollte, in neue beträchtliche Machtmehrung geholfen, dem Islam uns, als unzuverlässige Freunde, entwertet und Methoden angewandt, deren Spur wir längst lieber in Dunkel bürgen.
Liest Herr von Bethmann französische Zeitungen? Weiß er, welches Echo der Rat des »Matin«, durch Spenden der Kommunen und der Presse Frankreichs Luftflotte rasch zu stärken, geweckt hat? Die Minister Poincaré, Millerand, Delcassé (»développer l'aviation, c'est grandir la France«) spenden lauten Beifall. Aus allen Lagern tönt's: »Wir müssen uns, um jeden Preis, die Herrschaft im Luftreich sichern. Wir dürfen weder warten, bis Deutschland auch da vorwärts gekommen ist, noch blind der Regierung vertrauen, die für alles Nötige und Mögliche in ihrer Weisheit schon sorgen werde. Aus eigener Kraft und aus eigenem Willen muß Frankreichs Volk sich so wehrfähig machen, wie es irgend vermag.« Von allen Seiten strömt das Geld herbei und ein Patriotenrausch verbündet die Gegner von gestern. Die Soldaten werden auf jeder Straße bejubelt und aus abertausend Kehlen kam, am vorigen Sonnabend, auf dem Boulevard Saint-Michel und vor dem Denkmal der Stadt Straßburg der Ruf: »Wir müssen den Elsaß haben!« Sind solche Vorgänge nicht am Ende fast eben so wichtig wie der Zank und Stank unserer ehrenwerten Fraktionen?
Seit Viscount Haldane in Berlin war, wird verhandelt. Wenn in der Wilhelmstraße ein Mann von Autorität und Weitsicht säße, hätte er die Fraktionen und Redaktionen gebeten, den großen Gegenstand einstweilen nicht anzurühren. Da dieser starke Kopf fehlt, muß der einzelne sich fragen, ob er die Geschäftsstörung vor seinen Landsleuten verantworten könne. Wir wollen noch nicht auf offenem Markt untersuchen, welche Umstände und Fährnisse den Briten ein agreement mit dem Deutschen Reich empfehlen. Nicht länger die falsche (dem Deutschen Kaiser mit Daten und Ziffern als falsch erwiesene) Behauptung herumtragen, England habe im Spätsommer eine Überrumpelung unserer Flotte geplant. Wir wollen auch nicht kindisch wüten, weil der Marinesekretär Winston Churchill in einer Rede, die in unfreundlichem Ton, doch mit höchstem Respekt von Deutschland sprach, einen unschicklichen Ausdruck angewandt hat. (Er wollte sagen: »Für England ist die Flotte unentbehrliche Lebensbürgschaft, für Deutschland, dem sein Landheer den Besitzstand sichert, ein Mittel zur Machtmehrung. Ohne unüberwindliche Flotte müßte England verzwergen und verhungern; bliebe Deutschland noch, was es heute ist. Deshalb darf der Deutsche in unserem Entschluß, ihn im Kriegsschiffbau fortan stets um das Doppelte zu überbieten, nicht feindselige Absicht wittern.«) Wir wollen noch warten. In der ersten Januarwoche, ehe Grey den Kollegen Haidane für den letzten Versuch friedlicher Einigung warb, habe ich tapfer-geduldige Politik empfohlen. »Nicht schimpfen, still sitzen und den Herrn Vetter an sich kommen lassen. Der weiß jetzt schon allerlei. Daß in der Zeit der Mandschuliquidation, die zu früher Anmeldung britischer Erbansprüche zwingt, die Pflicht, die tüchtigsten Geschwader in der Nordsee zu halten, zu schwer erträglicher Last werden kann; daß im Mittelmeer den Lateinern eine Macht erwächst, der England eines Tages jeden Wunsch erfüllen muß; daß der Verzicht auf Hauptgrundsätze britischer Politik (keine Europäermacht an der Straße von Gibraltar; kein russischer Vormarsch in der Richtung auf Afghanistan; keine Grenzgemeinschaft mit einem Reich, das über ein großes Landheer verfügt) ihm durch den Hader mit Deutschland abgenötigt worden ist; daß er die Gelegenheit zu sicherer Vernichtung der deutschen Flotte versäumt hat. Er sehnt sich nach Verständigung; möchte nicht, wie auch nach ihm günstigem Kriegsverlauf unvermeidlich wäre, geschwächt vor dem schadenfroh leuchtenden Auge der Yankees stehen; und zweifelt, ob die Russen, die er verhätscheln muß, nach ihrer Genesung ihm helfen würden. Könnte er mit den fünfundsechzig Millionen Deutschen paktieren: er ließe sich's gern was kosten. Wir haben auf dem Weg von Kapstadt nach Kairo und hinter dem letzten Kahn des geltenden Marineprogramms Wichtiges zu bieten und fänden als Forderer der Walfischbai, zuverlässiger Kohlenstationen und bewohnbaren Siedlungsbodens heute in London Gehör.« Utopierwahn: rief man mir damals zu; vier Wochen danach kam die Bestätigung über den Kanal. »Kein Mittel darf unversucht bleiben, ehe zu dem Krieg zweier germanischen Vormächte der Entschluß fest wird.« Die Wiederholung solcher Sätze kann nicht schaden.
Nicht wir, ließ Herr von Bethmann verkünden, haben die Verhandlung gewünscht; die Anregung ist aus England gekommen. Dreimal lasen wir's. Schämten uns dreimal der Unmanier, die Grobheit mit Kraft verwechselt und einem gestern allzu hastig bekränzten Gast nachkreischt: »Ich muß aber konstatieren, daß ich Sie nicht eingeladen habe!« Der Dutzendbeamte, der selig strahlt, wenn er in die Norddeutsche setzen kann, daß wieder drei Herzoge, vier Fürsten und ein Ordenspediteur bei ihm gespeist haben, müßte über Serviettenringe und Taktfehler endlich hinaus sein. Herr Asquith hat, ohne die Stimme zu heben, erwidert: »Uns war angedeutet worden, daß der Besuch eines englischen Ministers in Berlin nicht unwillkommen sein würde.« Einerlei. Wir stehen vor ernster Entscheidung, die Europens Antlitz glätten oder noch tiefer furchen kann.