Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

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Als sich Theonie und Tankred am nächsten Tage beim zweiten Frühstück zusammenfanden, – Theonie war beim ersten nicht erschienen, – brachte letzterer nach flüchtiger Erkundigung über ihr Befinden das Gespräch auf Grete von der Linden und die Familie von Tressen.

»Meine Eltern haben mit unsern Nachbarn nicht viel verkehrt; mit Tressens, die sich zudem meist in der Stadt aufhalten, fast gar nicht. Grete von der Linden kenne ich wenig; es heißt, daß sie herrschsüchtig und für ihre Jahre überreif sein soll. Ich fand sie immer auffallend schön und auch liebenswürdig, aber, wie gesagt, andere urteilen anders.«

»Und ihre Eltern?«

»Herr von Tressen ist ein Lebemann und jedenfalls ein sehr gutmütiger Herr; aus Frau von Tressen ist eigentlich noch niemand klug geworden. Sie gehört zu den Menschen, über deren wirkliches Wesen man sich zeitlebens den Kopf zerbricht.

In einem Punkt gleicht sie ihrem Gatten durchaus, sie liebt Amüsement und Wohlleben, und das Wort Sparsamkeit steht nicht in ihrem Lexikon. So äußerte sich wiederholt meine Mutter, die übrigens Frau von Tressen trotz ihrer Fehler sehr schätzte und ihre ehrenwerten Gesinnungen lobte.«

»Weißt Du etwas von den Geldverhältnissen drüben?«

»Ja, man sagt, Herr von Tressen habe das ihm von seiner Frau mitgebrachte Vermögen bis auf den letzten Pfennig verthan, und beide lebten schon seit Jahren von Gretes Einkünften. Bis Grete ein bestimmtes Alter erreicht hatte, soll die Mutter auch testamentarisch Nutznießerin gewesen sein, seitdem aber keine Ansprüche mehr haben.«

»Ganz recht. Gleiches deutete schon der Verwalter Hederich an. – Wie beurteilt man ihn denn?«

»Man nennt ihn in der Umgegend ›Drum und dran‹, weil er diese Worte stets an passender und unpassender Stelle gebraucht. Er ist ein einfacher aber sehr braver und von aller Welt geachteter Mann. Mein Vater hielt große Stücke auf ihn.«

Nun trat eine Pause ein. Tankred dachte darüber nach, wie geschäftsmäßig Theonie das alles gesprochen habe, wie kühl und temperamentlos sie nicht nur ihm begegne, sondern sich überhaupt gegen die Menschen zu verhalten scheine.

Ihn ergriff plötzlich das Verlangen, sie zu zwingen, sich ihm gegenüber wärmer zu geben, oder er wollte ihr durch Kränkungen vergelten, daß sie es wagte, ihn gleichsam wie Luft zu behandeln. Alles Schlechte stieg in dieser gemeinen Seele wechselnd auf. Nichts erboste ihn in seiner Eitelkeit so sehr, als daß andere Menschen ihn durchschauten. Er wollte, obgleich er die Selbsterkenntnis besaß, daß er keine Achtung verdiene, doch als Ehrenmann gelten, angesehen, bewundert werden. Aber während bei andern Menschen aus der Eitelkeit Ehrgeiz entspringt und sie zu Thaten anspornt, scheiterte Tankred von Brecken an seiner übermäßigen, mit Trägheit gepaarten Genuß- und Bequemlichkeitssucht. Mühelos materiell genießen, stand allein auf seiner Fahne geschrieben; um das zu erreichen, war ihm jedes Mittel recht.

Am Nachmittag desselben Tages erschienen in einem Einspänner der Breckendorfer Pastor und seine Frau auf Falsterhof. Sie kamen, um Theonie zu trösten und ihr Beileid nachträglich noch an den Tag zu legen.

Der Mann war ein Kind an Einfalt und Herzensgüte. In dem bartlosen Gesicht glänzten unter einer großen, silbernen Brille ein Paar überaus freundlicher Augen, und auch ihm hatten die Leute einen Beinamen gegeben. Er wurde stets Pastor Ja, ja! genannt, weil er schwer nein sagen konnte und das Wörtchen ›ja‹ fortwährend gebrauchte.

Sie dagegen war eine Frau von Energie, besaß Humor und Menschenkenntnis und trat, mit ihres Mannes Schwächen rechnend, sehr häufig handelnd für ihn ein.

Er predigte auf der Kanzel, sie aber war der eigentliche Pastor in der Gemeinde, hörte die Leute an, riet, entschied und besorgte manche seiner Geschäfte.

Neuerdings hatten sie, da sie kinderlos waren, ein Kind angenommen, und die freundlich gesinnten und schärfer beobachtenden Leute erzählten allerlei rührende Geschichten von Pastors und der kleinen Lene.

Nachdem der Kaffee eingenommen war, begaben sich die Herrschaften in den Garten; Tankred bot dem Pastor eine Zigarre an und ging mit ihm, während Theonie sich der Frau anschloß.

Als die Männer außer Hörweite waren, trat die Pastorin enger an Theonie heran und sagte, deutlich mit ihrer Frage eine besondere Absicht verratend:

»Bleibt Ihr Vetter auf Falsterhof, Frau Cromwell? Wird er künftig die Wirtschaft leiten? Man sagt so in der Umgegend.«

»Das verhüte Gott!« stieß Theonie herauf. Und »Nein, nein, keineswegs,« fügte sie hinzu. »Ich bin alleinige Besitzerin von Falsterhof, und mein Vetter verläßt mich demnächst.«

»Ich fragte nicht aus Neugierde – sondern – aus – andern Gründen, liebe Frau Cromwell,« fuhr die Pastorin in warmem Tone fort.

»Nennen Sie mich doch wie früher, Theonie, ich bitte –« fiel Theonie ein. Der schwermütige Zug in ihrem Gesicht verschwand, und ihr eigentliches Antlitz durchstrahlt von Güte und Menschlichkeit, kam zum Vorschein. Und »Ja, bitte – Sie wollten sagen?« schloß sie.

»Hier!« entgegnen die Pastorin entschlossen und zog aus der Tasche ihres Kleides einen Brief hervor. »Dies fanden wir heut' mittag in meines Mannes Briefkasten. Lesen Sie! Ich hatte keine Ruhe! Ich trieb meinen guten Höppner, gleich anspannen zu lassen und mit mir Sie aufzusuchen.«

Theonie nahm das Schreiben aus der Pastorin Hand und las:

›Da Sie die junge, gnädige Frau auf Falsterhof lieben und ihr wohlwollen, so helfen Sie und Ihre Frau mit Ihrem Einfluß, Herr Pastor, daß der Schurke, der sich bei ihr aufhält, daß Tankred von Brecken bald das Herrenhaus verläßt. Bleibt er, so geschieht etwas Schreckliches.

Das schreibt einer, der ihm nach seinen Beobachtungen das Schlechtere zutrauen darf.‹

»Wer kann das sein?« stieß die Pastorin im Übereifer ihres Gefühls heraus, bevor Theonie noch zu Ende gelesen. Aber sie unterbrach sich, da sie sah, wie Theonie die Farbe wechselte, ja, daß Totenblässe auf ihre Wangen trat.

»Also Sie haben auch Veranlassung, ihm zu mißtrauen beste Theonie – liebe Frau Theonie? Schrecklich! – Bitte, eröffnen Sie sich mir. Und nehmen Sie meinen Rat an: Begeben Sie sich, sobald etwas vorliegt, nach Elsternhausen zu Ihrem Sachwalter, Justizrat Brix, und teilen ihm alles mit.«

»Ich kann nichts sagen – bis jetzt nichts sagen –« gings zitternd aus Theonies Munde, »aber mich beherrscht eine schier wahnsinnige Angst und Unruhe. Ich fürchte mich namenlos vor dem Menschen, und was in des Unbekannten Briefe steht, entspricht meinen eigenen Eindrücken.«

»Können Sie ihn denn nicht entfernen? Welche Rücksichten leiten Sie?«

»Keine! Aber er geht nicht und wird nicht gehen, trotz seiner Worte. Seit gestern trage ich mich mit dem Gedanken, ihm unter der Bedingung seiner Entfernung ein Kapital anzubieten. Ich sprach ihm auch schon davon, und er wich auch nicht grade aus, aber schien offenbar erst hören zu wollen, wie hoch die Summe sei. Ich scheue mich auch, ihm so unmittelbar nach dem Tode meiner Mutter die Thür zu weisen, zumal er mir bisher keinen direkten Anlaß gab, ihm kalt zu begegnen. Er that eben nichts, was man ihm vorwerfen könnte. Mich leiten nur die Kenntnis seines Vorlebens und mein Instinkt; und ein nicht zu beherrschendes Mißtrauen gegen ihn erfüllt mich. Aber sicher, er geht nicht. Gestern hat er Grete von der Linden kennen gelernt. Seine Fragen heute beim Frühstück scheinen darauf hinzudeuten, daß er Absichten auf sie hat. Schon das wird ihn veranlassen, hier zu bleiben. Ah! – ah – Wie werde ich die Last von meiner Seele los!«

»Haben Sie keine Ahnung, wer meinem Mann den Brief geschrieben haben kann?«

Theonie schüttelte den Kopf.

»Keine! Und das ängstigt mich nun auch! Doch still. Ich höre Ihren Mann und Tankred kommen! Bitte, lassen Sie mir den Brief. Er kann mir vielleicht nützen –«

Nun erscheinen die beiden Herren wieder. Der Pastor mit seinem harmlos freundlichen Gesicht, und Tankred daneben, geschmeidig, wenn er sprach, gelangweilt oder mit lauerndem Ausdruck in den Zügen, wenn er zuhörte und sich unbeobachtet glaubte.

Jetzt eben schien er sehr wenig angemutet. Der Pastor ließ sich über sein Töchterchen aus, über Lenes Vorzüge, und sagte mit seiner rollenden Stimme: »Die Kinderseelen sind noch rein und unverfälscht. Sie haben keine Hintergedanken, sondern geben sich, wie sie wirklich sind. Sie können, während wir ›sie‹ zu erziehen suchen, ›uns‹ ein Beispiel geben, nach dieser Richtung ein – Beispiel geben –«

Tankred fand diese Ausführungen eben so sentimental wie geschmacklos und zog gähnend den Mund.

Gleich aber glätteten sich seine Mienen wieder, und mit allerlei Artigkeiten und Liebenswürdigkeiten sprach er auf die Pastorin ein. Sie gehörte, wie er wußte, ebenfalls zu den Menschen, die ihn durchschauten, und da war's weise, den Versuch zu machen, ihr eine andere Meinung beizubringen. Auch fühlte Tankred instinktiv, daß die beiden Frauen von ihm gesprochen hatten, und er wollte den ungünstigen Eindruck, den die Pastorin etwa durch Theonie empfangen hatte, möglichst zu verwischen suchen. Es war ihm für seine Pläne von großem Wert, die Menschen ringsum für sich zu gewinnen.

»Nun? Bleiben Sie noch eine Weile auf Falsterhof, Herr von Brecken? oder verlassen Sie uns?« hub die Pastorin mit Absicht an und forschte unbemerkt in seinen Mienen.

Aber Tankred wich aus und sagte, sich mit galanter Liebenswürdigkeit an Theonie wendend und sie dadurch zwingend, ihm nicht zu widersprechen:

»Wenn meine sehr gütige Kousine die mir gegebene Erlaubnis nicht zurückzieht, werde ich noch eine Weile bleiben, bis ich eine Thätigkeit gefunden habe, nach der ich mich wirklich nachgrade sehne.«

»Ja, das Herumhocken ohne Beschäftigung ist niemandem gut, besonders nicht jungen Leuten,« bestätigte die Pastorin derb und kurz, Brecken fest anschauend. »Na, aber nun wird's auch Zeit, zurückzukehren, lieber Höppner. Was meinst Du? Und haben wir denn nicht die Freude, Sie bald einmal bei uns zu sehen, liebe Theonie?« schloß sie und schritt, deren Zustimmung einholend, mit der jungen Frau voran.

»Auch – Sie – erweisen uns – hoffentlich die Ehre, Herr von Brecken?« ergänzte, seiner gewohnten Gutmütigkeit nachgebend, der Pastor, obgleich er wohl wußte, weshalb seine Frau Theonies Vetter nicht aufgefordert hatte. Er glaubte nie an die Schlechtigkeit der Menschen, redete immer zum guten und hatte auch heute hingeworfen, daß er auf anonyme Briefe nichts gebe, daß ihm Herr von Brecken sehr gut gefalle, und kein Grund vorhanden sei, ihm Übles zuzutrauen.

Nachdem die Gäste sich entfernt hatten, befiel Tankred das Verlangen, noch ein Stündchen ins Kirchdorf zu gehen und Bier zu trinken. Er hätte sich gern Höppners angeschlossen, aber kam doch von diesem Gedanken zurück, weil die Pastorin ihm wegen ihrer Gradheit sehr mißfallen hatte. Auch beim Abschied war sie ihm wieder sehr von oben herab begegnet, indem sie unter starker Betonung geäußert hatte, sie hoffe denn, daß er in kürzester Zeit eine Stellung erhalte, damit er die Lust an der Arbeit, welche letztere allein glücklich mache, nicht verliere. – Solche moralisierende Menschen waren ihm in den Tod zuwider.

Aber auch der Gang in den Krug wurde deshalb unmöglich, weil er keinen Groschen mehr besaß, und die absolute Notwendigkeit drängte sich ihm auf, Geld herbeizuschaffen. Er beschloß, noch am selben Abend beim Thee mit Theonie zu sprechen und sie in geschickter Weise um ein Sümmchen anzugehen.

Unterdessen näherte er sich umherschlendernd dem Stall, trat hinein und sah dem dort beschäftigten Kutscher Klaus zu.

Da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, ihn zunächst um einen Thaler anzusprechen, und sein Komödiantentum äußerst geschickt verwertend, stieß er heraus:

»Hebbt Se villich en beten Lüttgeld to Hand, Klaus? So wat en Dahler?«

»Ja, Herr von Brecken, dat hev ick,« entgegnete Klaus mit gutmütiger Bereitwilligkeit und griff eilig in die Hosentasche und zog einen schmutzigen ledernen Beutel hervor.

Diesen breitete er fächerartig auf dem Futterkasten aus und holte allerlei Kleingeld hervor, das er, es einzeln betastend, vor Tankred hinzählte.

Aber während das geschah, erschien, als ob er etwas suche, Frege mit seinem verschlossenen Gesicht in der Thür, zog sich jedoch, als habe er sich vergewissert, daß hier das von ihm Gewünschte nicht zu finden sei, kurz nickend gleich wieder zurück.

Als Tankred den Parkausgang erreicht hatte und über die Wiese den Weg zum Kirchdorf nehmen wollte, sah er abermals Frege, und hinterher lief der Köter Max, der bei Tankreds Anblick ein wütendes Gebell ausstieß.

Da hob Tankred einen Stein auf und warf nach der Bestie, aber so unglücklich, daß nicht der Hund, sondern der Alte am Bein getroffen wurde.

In Freges Gesicht erschien ein Ausdruck von Schmerz und dann ein Zug von Rachsucht, vor dem man erschrecken konnte. Aber Tankred sah es nicht, er ging pfeifend und mit dem Feldstock des verstorbenen Onkels um sich fuchtelnd, auf abgekürztem Wege dem Kirchdorf zu. –

Inzwischen überlegte Theonie, durch den Brief und das Gespräch mit der Pastorin von neuem erregt und beunruhigt, ob es nicht richtig sei, sich noch heute mit Tankred endgültig auseinanderzusetzen. Sie vermochte seine Gegenwart nicht mehr zu ertragen. Schon in der letzten Nacht war sie wiederholt aus dem Schlafe aufgeschreckt, weil sie Schritte zu hören vermeint und angenommen hatte, es sei ihr Vetter, der komme, um ihr Gewalt anzuthun. Im höchsten Grade auffallend war es ihr gewesen, daß sie am Spätnachmittag, als sie den Schreibtisch ihrer Mutter öffnen wollte, das Schloß verdreht fand. Daß Tankred versucht habe, das Innere zu untersuchen, war ihr zweifellos. Gelang es nicht, ihn dazu zu bringen, schon am nächsten Tage Falsterhof zu verlassen, so wollte sie abreisen und sich zu ihren Verwandten begeben. Unter der nervösen Angst und Furcht, die sie beherrschten, erhöhte sich ihre Bereitwilligkeit zu Opfern. Sie wollte ihm alles vorhandene Kapital ausliefern, wenn er sich verpflichtete, nie wiederzukehren! Aber freilich, was waren Versprechungen und Zusagen bei diesem Menschen! Und wenn es ihm gelang, Grete von der Linden heimzuführen, würde er immer in ihrer Nähe bleiben. Der Aufenthalt auf Falsterhof würde für sie eine Qual werden; sie mußte am Ende das Erbteil ihrer Eltern verkaufen oder konnte nie dahin zurückkehren! So gingen ihre Gedanken hin und her.

Und die Einleitung und Form, ihm ihre Absicht kund zu geben, fand sie auch nicht, so sehr sie ihr Gehirn anstrengte. Freilich, wenn sie ihm gegenüber saß, Auge gegen Auge, war sie gefaßter, ja, dann empfand sie kaum einmal Furcht und war nie um Worte verlegen. Auch konnte der Zufall ihr vielleicht günstig sein.

So beruhigte Theonie sich denn endlich, ließ eins der Mädchen kommen und befahl denselben, in einem Raume neben ihrem Schlafzimmer ein Bett aufschlagen. Sie wünsche, da sie sich nicht wohl fühle, nachts Aufwartung zur Hand zu haben, erklärte sie, und dasselbe äußerte sie gegen Frege, als er den Abendtisch deckte.

»Aber was ist denn, Frege? Ich sehe, Sie hinken ja, mein guter Alter,« schloß Theonie mitleidig als sie nun erst bemerkte, daß Frege sich mit dem einen Bein schwerfällig bewegte.

Der wortkarge Mann sah seine Gebieterin mit einem eigentümlichen Blick an.

»Von ihm! – Er war's!« stieß er dann finster und ganz gegen seine Gewohnheit heftig heraus.

»Er? Wer? Von wem sprechen Sie?«

Noch zögerte Frege, aber dann holte er tief Atem und sagte, die Teller, die er eben verteilen wollte, absetzend:

»O, liebe gnädige Frau, ich kann es nicht mehr bei mir behalten. Ich muß sprechen. – Es liegt etwas Schreckliches über Falsterhof – es kommt von dem jungen Herrn. Ich bitte, hüten Sie sich. – Ja, ja, ich weiß, Sie denken wie der alte Frege, der bisher nur nicht zu sprechen wagte, weil er kein Recht hatte zu reden über Sachen, die allein die Herrschaft angehen.«

»Um Gotteswillen Frege, also Sie auch?« drang's in Todesschrecken aus Theonies Munde. »Sprechen Sie! Sagen Sie mir alles, was Sie wissen. – Aber nicht hier, er kann jeden Augenblick kommen! Gehen wir ins Wohnzimmer! So, nun – nun –« hauchte Theonie und sank übermannt von den Eindrücken in einen Lehnstuhl.

Und da brachte Frege alles, alles, was ihm auf dem Herzen saß, über die Lippen: Er habe gesehen, daß Tankred am Sterbetage der gnädigen Frau ins Fenster gespäht und sich dann heimlich wie ein Dieb wieder entfernt habe. Er habe ihn abermals gesehen, jüngst am Abend, als auch Theonie seinen Kopf am Fenster bemerkt. Er erzählte von den Geldanleihen, die Tankred bei ihm gemacht; er wisse auch aus sichrer Quelle, daß er während der Krankheit der Gnädigen in Hamburg in einem Hotel gewohnt, sich dort amüsiert habe und gar nicht in der Ost-Priegnitz, wohin er zu gehen vorgegeben, gewesen sei. Sicher, er gehe mit bösen Absichten um, er habe etwas Furchtbares im Blick, das nicht täusche.

Sie könnten sich alle des Schrecklichsten von ihm versehen, und schon seit den letzten Wochen habe er, Frege, stets nachts ein Gewehr zur Hand gehabt, um für alle Fälle bereit zu sein.

Er habe ihn auch in der vorigen Nacht in das Zimmer der verstorbenen Gnädigen schlüpfen sehen, und wohl eine halbe Stunde sei er dringeblieben. Er, der Alte, aber habe sich hinausgeschlichen und von dem Beobachtungsposten aus, den er ihm selbst abgelauscht, wahrgenommen, wie Tankred sich am Schreibtisch zu schaffen gemacht. –

Nun ertönte die Glocke draußen, Max schlug an – Herrin und Diener flogen auseinander, und Theonie eilte wieder ins Speisezimmer.

Fünf Minuten später trat auch Tankred ein. Er hatte sichtlich sehr viel getrunken, war äußerst gesprächig, und statt der demütigen Zurückhaltung, mit der er sich sonst zu geben pflegte, legte er eine unheimliche Lebhaftigkeit an den Tag.

Theonie besorgte mit der gewohnten, ernsten Ruhe den Thee, rückte ihrem Vetter die Speisen näher und suchte seinen starken Redefluß zu dämpfen, indem sie erklärte, sie fühle sich sehr angegriffen.

»Trink einmal ein Glas Wein! Das giebt Kraft und andere Gedanken. Du genießest ja auch nichts Ordentliches,« entgegnete Tankred und schenkte trotz Theonies Weigerung deren Glas voll.

»Wozu, da ich doch nicht trinke – ?« wehrte sie herb und in deutlicher Auflehnung gegen seine zudringliche und laute Art ab.

»Na, es ist ja kein Unglück, wenn ein Glas eingeschenkt und doch nicht getrunken wird,« entgegnete Tankred in absprechendem Ton. »Niemals habe ich leiden können, wenn Damen sich so heftig dagegen wehren, daß man ihnen Wem einschenkt! Ist's nicht vollkommen gleich, ob er genossen wird oder nicht? Es liegt etwas Kleinliches und Ungeselliges darin, sich das Glas nicht füllen lassen zu wollen. Ich möchte sogar sagen, es ist ein Stück guter Erziehung, daß eine Dame ihren Herrn darin gewähren läßt und keine Einwendungen erhebt.«

»So bin ich denn nicht gut erzogen,« entgegnete Theonie schroff. »Ich finde es unrecht, etwas unnütz zu verthun, so lange es Darbende in der Welt giebt.«

Tankred wollte eine hämische Bemerkung über Theonies ewig moralisierendes Wesen machen, ja, es brannte ihm auf der Zunge, zu sagen: Ihr Breckens seid ein kleinliches, filziges, philisterhaftes Geschlecht! Aber er glaubte schon ihre Erwiderung zu hören: Lieber dafür gescholten werden, als aus den Taschen anderer leben. Er sagte deshalb einlenkend und das Wort Darbende im humoristischen Sinne aufgreifend:

»Na, streiten wir uns nicht, Theonie, während der wenigen Tage, die wir noch beisammen sind. Und da Du von Darbenden sprichst, ich bin einer. Schon seit acht Tagen habe ich keinen Pfennig mehr in der Tasche und mußte sogar schon den alten Klaus anpumpen –«

Wie? Auch Klaus bist Du um Geld angegangen? wollte Theonie herausstoßen. Aber auch sie beherrschte sich und sagte, hoffnungsvoll und versöhnlicher gestimmt durch den von Tankred absichtlich eingeschobenen und von ihr im Augenblick ernsthaft genommenen Hinweis auf seine baldige Entfernung:

»Warum hast Du nicht eher gesprochen? Ich bin natürlich bereit, Dir auszuhelfen. Übrigens können wir vielleicht unsere ganze Geldaffaire bei dieser Gelegenheit erledigen. Wann gedenkst Du abzureisen? ich meine – es soll keine Aufforderung darin liegen – ich möcht's nur wissen.«

Tankred wollte mit einem raschen: Morgen, spätestens übermorgen, erwidern. Er fürchtete, sie könne ihm abermals in dem ausweichen, was zu erfahren er nicht erwarten konnte. Aber er änderte doch seinen Plan und sagte, seine Absicht unter einem plumpen Scherz versteckend:

»Von Deiner generösen Hand, beste Theonie, hängt alles ab. Wenn Du mir kräftig unter die Arme greifst, kann ich ja von anderer Stelle aus meine Versuche fortsetzen. Freilich,« schloß er, verliebt sprechend, und verschlang, durch das hastige Weintrinken plötzlich in eine leidenschaftliche Erregung geratend, mit seinen Blicken ihre Gestalt, »Dich nicht mehr zu sehen, Dich lassen zu sollen, Theonie, ist ein schwerer, fast meine Kraft übersteigender Entschluß.«

Entsetzt sah Theonie empor. Es war das erstemal, daß seine sinnliche Natur ihr gegenüber zum Ausbruch kam. Diesen Augenblick hatte sie vor allem gefürchtet, und ihm zu entgehen, darauf waren ihre Gedanken insbesondere gerichtet gewesen.

Zunächst suchte sie seiner Rede Einhalt zu thun, indem sie seine Gedanken abzulenken trachtete. Sie reichte ihm, mit kurzer Abwehr den Kopf bewegend, eine Schale mit Obst.

Aber er setzte sie rasch beiseite, und alles wagend, da der Wein ihm half, jegliche Scheu abzustreifen, sagte er, sich vornüberbiegend und sie mit seinen glühenden Augen bannend:

»Höre, Theonie, was ich Dir zu sagen habe. Ich erfuhr von Dir, daß Du mir nicht geneigt bist. Ich weiß, woher es kommt. Du denkst an mein Vorleben. Meine Mutter, die mich nicht nur nicht liebte, vielmehr haßte, obgleich ich doch ihr Sohn war, hat Dich beeinflußt. Aber ich bin ein anderer geworden, ich möchte es sein, und Du könntest läuternd auf mich einwirken. Ich bin wohl oft leichtsinnig gewesen und ließ mich von meinen Leidenschaften fortreißen, aber ich bin nicht schlecht, wie meine Mutter mich schilderte. Ist es nicht unnatürlich, daß wir uns von einander abschließen? Wäre es nicht vielmehr den Verhältnissen entsprechend, wenn wir zusammen hielten? Ich liebe Dich, Theonie. Beim ersten Sehen hatte ich schon mein Herz an Dich verloren. Aber Deine Strenge und Zurückhaltung schreckten mich ab, mir ahnte zu meinem Schmerz, daß Du gegen mich voreingenommen seiest. Sage ehrlich: Was that ich Dir? Bin ich Dir nicht ehrerbietig begegnet? Geschah während meines Aufenthaltes hier etwas, was Dir mißfallen mußte? Gewiß, da ich kein Geld besitze, mir bisher kein Eigentum erwarb, bin ich im Nachteil selbst bei denen, die sonst den Wert eines Menschen nicht nach seinem Vermögen bemessen, selbst bei meiner Verwandten, der einzigen, die ich habe. Ich fände hier auf Falsterhof einen Wirkungskreis, da ich Landmann bin. Ich könnte es verwalten, den Besitz erhalten und vermehren, mit Dir gemeinsam arbeiten und genießen, von Dir lernen und empfangen, wenn Du Dir auch von dem Mißratenen nichts aneignen könntest. Und doch vielleicht etwas, da er mit so gutem Willen sein neues Leben beginnen würde. Er wird Dich auf Händen tragen, denn er liebt Dich leidenschaftlich, Theonie. – Nun, Theonie? Was sagst Du? Hast Du mir gar nichts zu erwidern?«

Aber sie antwortete nicht. Sie schüttelte sich in Grauen, und er sah es, und weil ihre Mienen und Bewegungen nicht mißzuverstehen waren, weil es ihm klar wurde, daß sein Spiel verloren war, daß er trotz der meisterhaften Maske sie nicht getäuscht hatte, daß sie ihn doch für das hielt, was er wirklich war, ergriff ihn eine wilde Rachsucht, ein brennender Haß, eine solche Leidenschaft, daß er sie am liebsten ergriffen und geschüttelt und ihr zugerufen hätte: Warte, Du hochmütige Kreatur, die Du es wagst, Dich mit Deinem souveränen Besserhalten über mich zu stellen, und mir begegnest, als sei ich ein aussätziger Vagabund! Ich will Dich lehren! Hinab auf die Kniee und bitte, daß ich Dich zu meinem Weibe mache, oder ich erdrossele Dich mit meinen Fäusten!

Und weil sie solche Gedanken aufblitzen sah in seinen Augen, und weil ihr ahnte, was er dachte, griff sie in ihrer Angst und Verzweiflung, wie er, zu List und Verstellung und machte in ihrer Not einen Anlauf auf seine gemeinen Triebe.

»Es geht nicht, ich kann Dich nicht heiraten, Tankred,« entgegnete sie, ihn zum erstenmal bei seinem Vornamen nennend. »Nicht aus Motiven, wie Du sie hinstellst, sondern weil ich nie wieder einen Mann zu lieben vermag. Aber gehen wir in Frieden auseinander. Ich bitte Dich, fünfzigtausend Mark von mir anzunehmen, damit Du Dir etwas kaufen oder pachten kannst. Sie stehen Dir beim Justizrat Brix zur Verfügung. – Nicht wahr, Du zürnst mir nicht? Ich bitte Dich.«

Sie sah ihn an. Aber ihr Blick war ihr Verderben. In dem Wechsel der Leidenschaft packte denselben Mann, der eben noch das Weib hätte töten mögen, wieder eine wahnsinnige Begierde. Er sah ihr stilles Antlitz, umrahmt von dem schwarzen Haar, ihren reizenden, in sanfter Fülle sprossenden Leib und die jetzt so süß und demütig blickenden Augen.

Und das sollte er fortwerfen, weil er's nicht gleich beim ersten Anlauf errungen hatte? Blieben ihm nicht noch tausend Mittelchen in seinem Zauberschrank? Hatte überhaupt jemals ein Mensch seinen Künsten auf die Länge widerstanden? Hatte er nicht alle, wenn er wollte, bezwungen?

»O, Süße!« rief er aufspringend, sie mit kräftigen Armen umschlingend und leidenschaftlich küssend, »sei hart und abweisend oder gütig gegen mich – immer liebe ich Dich gleich heftig. Wehre Dich nicht, fühle an meinen Küssen, was ich Dir entgegen bringe. Theonie, Theonie, erhöre mich!«

Theonie wollte in Ohnmacht sinken, sie schwankte, und weiße Farben traten auf ihre Wangen, dann aber riß sie sich mit schier übermenschlicher Kraft von ihm los, stieß ihn vor die Brust und floh, wie von Furien gepackt, hinauf in ihr Zimmer.



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