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Es war Spätabend. Abermals ein furchtbares Gewitter – gleichsam ein Kampf der mächtig nach Verjüngung ringenden Natur – durchtobte den Himmel, und meilenweit leuchtende Blitze erhellten auch das Hotelzimmer, in dem der vor einigen Tagen krank nach L. zurückgekehrte, unter dem Namen ›von Kaub‹ in das Fremdenbuch eingeschriebene Gast gebettet war.
Ärztliche Hülfe war von ihm zurückgewiesen. Er hatte einen Barbier angenommen, der ihm einen Verband auf seine durch einen Fall verletzte linke Schulter legen und nach Bedarf erneuern mußte. Es sei eine sehr böse Sache, eine schwere Knochenzersplitterung hatte der Barbier auf die Frage des Wirtes erklärt, und viele Wochen würde es dauern, ehe der Kranke das Zimmer wieder verlassen könne.
Unten im Hotel hatte eben der letzte Gast das links belegene Restaurant verlassen, auch sämtliche Fremde hatten sich bereits zur Ruhe begeben, und der Besitzer war gerade im Begriff, sich nun auch schlafen zu legen, als noch an die Hausthür geklopft ward, und der Barbier, an dem verschlafenen Hausdiener vorüberschreitend, in sichtlicher Erregung das Gastzimmer betrat.
»Nun?« machte Helms, der Wirt, ein mittelgroßer Mann, der mit seinem zwischen englischen Bartkoteletts überaus glattrasierten Kinn und der übertrieben sorgfältig gehaltenen Kleidung den Eindruck hervorrief, als ob er sofort als Schauspieler in einer Bühnenrolle aufzutreten habe, verwundert und nicht eben angeheimelt.
»Wo kommen Sie denn noch so spät her, und in dem, Wetter, Bartsch?«
Statt zu antworten, machte Bartsch eine geheimnisvolle Miene und schaute sich um wie jemand, der sich durch Sprechen zu verraten fürchtet. Dann sagte er:
»Ist noch heiß Wasser da? Ich möchte einen halben Grog, – und – dann – dann – muß ich Ihnen etwas mitteilen, etwas sehr wichtiges, das keinen Aufschub duldet!«
In Helms Gesicht drückte sich allerlei Mißbehagen aus, aber er ging doch hinter das Buffet, drehte selbst das Gas noch einmal in die Höhe, ließ den Theekessel singen und schickte den Kellner ins Bett.
»Hier! Lesen Sie mal, Herr Helms,« begann Bartsch, ein Mann, in seiner Erscheinung mehr einem Küster als einem Barbier gleichend, mit ernstem, zuverlässigem Ausdruck und zog, nachdem der Wirt sich zu ihm gesetzt, eine Nummer der Hamburger Nachrichten hervor.
Helms setzte ein Glas aufs Auge, und während er ein Steckbriefsignalement studierte, beobachtete Bartsch mit größter Spannung seine Mienen.
»Na? Und?« setzte Helms arglos an und schnitt mit großer Umständlichkeit die Spitze einer Zigarre ab. »Haben Sie Aussicht, die tausend Mark zu verdienen – ?«
»Wir!«, betonte Bartsch mit ruhiger Sicherheit und zeigte mit der Hand nach oben.
Helms zuckte die Achseln. Er verstand nicht.
»Der von Kaub ist der Herr von Brecken, der in dem Steckbrief gesucht wird,« hub Bartsch an. »Alles stimmt. Merken Sie auf!« Und nun las er einzeln das Signalement vor, und bei jedem Satz schob er ein »Trifft doch genau zu!« ein.
»Donnerwetter!« sagte Helms, den jetzt auch die bisherige Ruhe verließ.
Und er kam auch gleich zu einem festen Entschluß. Einen solchen Menschen im Hause zu haben, war unheimlich, ja, so unheimlich, daß er sogleich mit Bartsch überlegte, ob sie nicht noch in dieser Nacht polizeiliche Anzeige erstatten und veranlassen sollten, daß eine Wache vor die Stubenthür und vors Haus gestellt werde. Ja, ja! Es war zweifellos, ganz zweifellos! Verletzung in der Schulter oder im Rückgrat, scharfknochiges, bartloses Gesicht, unruhige, aber kalte Augen, sehr weiße Zähne, große, nervige, geschmeidige Gestalt und zudem der Anzug! Jedes Stück stimmte bis auf den zweireihigen, graugelben Überzieher. Und ganz in der Frühe war er angekommen, verstört, totenbleich, mit Fieber und Schmerzen, und hatte eine unwahrscheinliche Geschichte erzählt, daß er gefallen sei und sich an den Treppenstufen verletzt habe.
Wo war er die Nacht gewesen, woher kam er? Und zu Fuß – ! Während die beiden noch zusammen überlegten, ertönte plötzlich ein Donnerschlag von solcher Vehemenz, daß die Erde zu beben schien, und sie unwillkürlich zusammenfuhren; aber auch fast unmittelbar darauf ward eine Klingel oben im Hause in Bewegung gesetzt, und der rasch herbeigerufene Hausknecht erklärte, es komme von Nr. 7, aus dem Zimmer des Herrn von Kaub.
Die beiden Männer sahen sich an. Wer sollte hinaufgehen? Ein Anflug von Grauen erfaßte sie. Von dem Mord hatten sie schon tags vorher gelesen, und nun war's so gut wie erwiesen, daß der Thäter oben im Hotel lag. – Entsetzlich! – Endlich gingen sie beide. – –
Als sie das Zimmer öffneten, bot sich ihnen ein fürchterlicher Anblick dar. Der Kranke saß aufrecht im Bett und brüllte, man möge gleich den Donner abstellen, gleich, oder er werde anders auftreten! Er könne das nicht aushalten, auch das Blitzen nicht. Und dunkel solle es gemacht werden, aber Licht wolle er am Bett haben. Und die Mäuse und Ratten sollten nicht an den Wänden kriechen und – und –
Der Schaum stand ihm vor dem Munde. Mit der Rechten kratzte er sich wie ein Verzweifelter und schrie und tobte, er könne es vor Kitzeln nicht aushalten! Und dazwischen kreischte er, daß die Frau, die Frau Theonie mit dem grausigen Gesicht und den toten Augen fortgeschafft werde. –
Fürchterlich! Wahnsinn, Fieber, Delirium, Körper- und Seelenschmerzen wirkten zusammen in dem Unglücklichen!
Und was die Anwesenden sagten, hörte er nicht, er wußte schon nicht mehr, daß sie da waren. In den kurzen Augenblicken, wo das Deliriumfieber aussetzte, sah er sie an, als ob sich ihm Henker genähert hätten, und dann brüllte er wieder so markerschütternd auf, daß sie, wie von Furien verfolgt, davoneilten und sich kaum Zeit ließen, die Thür von außen zu verschließen. –
Nun war's ihnen, als ob der Kranke aufgestanden sei, als ob er im Zimmer auf und ab tobe, und einen Moment schwankten sie wieder. Pflicht, Furcht, Schrecken und Machtlosigkeit kämpften in ihnen. Aber dann gab's einen schnellen Entschluß, und Helms eilte nebenan zum Physikus, und Bartsch auf die Polizei, trotz Donner, Blitz und Unwetter, das, statt abzunehmen, sich noch verstärkt hatte, als ob alle Himmel droben gegeneinander in Aufruhr geraten seien – –