Hermann Heiberg
Todsünden
Hermann Heiberg

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Es war am kommenden Tage bald nach der Tischzeit, als sich Frau von Tressen zu dem verschobenen Besuch bei Theonie auf den Weg machte.

Der Kleine war inzwischen in Klementinenhof untergebracht, und Herr von Tressen von allem unterrichtet, ja, sogar schon mit dem Gedanken einer Besitzergreifung Holzwerders vertraut gemacht. Aber gerade um letztere zur Ausführung zu bringen, bedurfte es um so mehr der Unterstützung von Freunden. Ob und wie Frau von Tressen den Justizrat zu Rate ziehen solle, darüber war sie noch nicht ganz mit sich einig. Wie konnte er mehr sagen, als was eigener Menschenverstand ihr klar machte? Er würde das Vorhaben doch vielleicht widerraten, weil's eben eine Gewaltmaßregel war, und Frau von Tressen wollte keine abmahnende Stimme hören!

Von dem Warten auf eine günstige Entwicklung des Prozesses hatte sie nachgerade genug. Nur in einem Punkte mußte sie doch Brix in Anspruch nehmen: sie war selbst nicht imstande, eine Eingabe an das zuständige Gericht aufzusetzen, sie wollte aber auf Grund der Thatsachen sofort mit Anträgen vorgehen, nicht etwa abwarten, daß Tankred ihr zuvor kam.

Sie hatte die Absicht, zu erklären, daß ihr Schwiegersohn das Leben ihres Enkelkindes in Gefahr gebracht habe, und zur Erhärtung ihrer Behauptung wollte sie ein ärztliches Gutachten beibringen; ferner auf Grund der Fälschung ein beschleunigtes Verfahren in dem Sinne beantragen, daß die Gütergemeinschaft zwischen dem Breckenschen Ehepaar sofort für null und nichtig erklärt, und dementsprechend auch Tankred jegliches materielle Verfügungsrecht über das Vermögen entzogen werde.

Ihre Rückkehr nach Holzwerder endlich wollte sie lediglich als eine veränderte Entschließung hinstellen, zu der sie auf Grund früherer Abmachung berechtigt sei.

Hederich war zufolge ihrer Bitte schon am Morgen nach Klementinenhof gekommen, und er hatte, nachdem sie ihm ihre Absicht kund gethan, erklärt, daß er mit den maßgebenden Personen auf Holzwerder sofort sprechen wolle. Also auch das war schon eingeleitet.

Frau von Tressen befand sich in einer thatkräftigen und gehobenen Stimmung, die durch die Aussicht, ihr Enkelkind fortan bei sich zu behalten, noch verstärkt ward.

Als sie vor der Thür des Herrenhauses in Falsterhof hielt, trat Frege, der den Wagen hatte ankommen sehen, sogleich heraus und war ihr beim Aussteigen behülflich. Wie eben alles auf Falsterhof einen düster melancholischen Eindruck machte, so auch wieder seine Erscheinung. Ernst und stumm öffnete der in tiefe Trauer gekleidete Mann die Thür zum Wohnzimmer und erklärte, daß Frau Cromwell alsbald erscheinen werde. Frau von Tressen überlief ein inneres Frösteln, als sie sich allein befand. So unheimlich still und lichtlos war's in dem Raum, alles starrte sie so stumm und doch zugleich so furchterregend an. Das einzige, die lautlose Ruhe unterbrechende Geräusch, das Ticken einer Uhr, klang ihr wie das Pochen eines Totenwurms.

Auch als Theonie kam und sie mit schmerzerregter, wenn auch gütiger Miene begrüßte, ward ihr Gemüt nicht entlastet, umsoweniger, da die bleich und abgehärmt aussehende Frau berichtete, daß sie mit ihren Hausbewohnern eine furchtbare Nacht verlebt habe. Es sei jemand, sicherlich ein Dieb oder Einbrecher, im Hause gewesen; wenigstens habe der Hund fortwährend wütend, wie zum Angriff vorgehend, gebellt, und die Dienerschaft sei aufgeschreckt aus den Betten gestoben, ohne indes etwas entdeckt zu haben.

Natürlich wirke der Eindruck dieses nächtlichen Vorfalles nach und habe ihre ohnehin erregten Nerven noch mehr in Aufruhr versetzt.

Nach dieser Frau von Tressen sehr beunruhigenden Erzählung kam Theonie dann auf deren Angelegenheit, erkundigte sich voll Teilnahme nach Herrn von Tressens Befinden und lenkte zuletzt das Gespräch auf Holzwerder.

Wohl eine Stunde währte die Unterredung. Frau von Tressen erzählte von den gestrigen Vorfällen, gedachte ihrer in der Not abgelassenen, Theonie bisher rätselhaft gebliebenen Botschaft und gelangte zuletzt auf die durch Brecken hervorgerufene, schwere und allmählich unhaltbar gewordene Lage.

Theonie erklärte sich ohne Besinnen zur Hülfe bereit, und wenn sie auch, ihrer Eigenart entsprechend, bei der dann erfolgenden Erörterung der Zahlungsmodalitäten eine etwas pedantische Umständlichkeit an den Tag legte, so behandelte sie doch die ganze Angelegenheit mit so viel Zartgefühl, daß Frau von Tressen jeder Peinlichkeit enthoben ward.

Als sie nach wiederholten warmen Dankesworten zum Fortgehen auf den Flur getreten war, kam ihr Theonie noch einmal nachgegangen und stellte eine gleichgültige Frage. Aber es war ihr offenbar nicht um deren Beantwortung zu thun; etwas anderes bewegte Theonie, das sie auszusprechen sichtlich Scheu empfand.

Frau von Tressen sah auf die blasse, dunkle Frau mit den unruhig ängstlichen Augen und ward zum Sprechen gedrängt.

»Es ist irgend etwas, das Sie beschwert, das Sie mir mitteilen möchten, liebe, verehrte Frau Theonie. Bitte, vertrauen Sie sich mir an. Könnte ich Ihnen in irgend etwas dienen?«

Und da drängte sich Theonie dicht an die Sprechende heran und flüsterte, des letzten Satzes Inhalt abwehrend:

»Nein, nein, ich bedarf nichts. Ich danke Ihnen für Ihre Güte. Es ist etwas anderes, Sie Betreffendes. Ich weiß es nicht, ich habe keinen greifbaren Anhalt, aber eine Ahnung sagt mir, daß Tankred sich gar nicht im Süden befindet, sondern sich in der Nähe aufhält, Unheil für uns brütet und –«

Aber Theonie kam nicht weiter. In demselben Augenblick fiel mit furchtbarem Getöse ein schwerer Gegenstand oben im Hause zu Boden, und beide Frauen fuhren entsetzt zusammen.

»Unsagbar, wie ich mich erschrocken habe,« stieß Theonie, zuerst wieder Worte gewinnend, heraus. »Sie sehen, wie sehr mich alles alteriert! Und so wird auch bei Tankred nur meine Phantasie im Spiele sein. Meine Ahnung ist thöricht. Aber es trieb mich, Sie zu warnen, da doch eine Möglichkeit vorliegt. In diesem Sinne – ich bitte – fassen Sie meine Worte auf, liebe Frau von Tressen!«

Es sei oben ein Bild herabgestürzt, hörte noch Frau von Tressen eins der hinaufgeeilten Mädchen berichten, dann nahm sie Abschied, und wie von einem unheimlichen Druck befreit, atmete sie auf, als sie einige Minuten später das düstere und einsame Falsterhof im Rücken hatte. –

Am kommenden Tage stattete Hederich Bericht über den ihm gewordenen Auftrag ab. Es habe sich, wie er meldete, der Insassen des Schlosses wegen der Entfernung des Kindes eine ungeheuere Aufregung bemächtigt, und eben sei die Haushälterin im Begriff gewesen, darüber an Tankred zu berichten. Dies sei vorläufig unterblieben, aber Neigung, sich Frau von Tressen unterzuordnen, sei aus Angst nicht vorhanden. Die Leute befänden sich einem so außerordentlichen Vorfall gegenüber so gut wie ratlos, und nur der als Inspektor fungierende Peter Wille habe erklärt, er sei durchaus bereit, wieder in den Dienst seiner früheren Herrschaft zurück zu treten.

Die letzten Nachrichten kräftigten Frau von Tressens Entschluß so sehr, daß sie, auch durch ihren Mann ermuntert, noch an demselben Mittag mit Hederich nach Elsterhausen fuhr, um mit Justizrat Brix zu reden. Der Justizrat besaß ein altes, am Markt belegenes Patrizierhaus, das er allein bewohnte, und war eben im Begriff, seinen Nachmittagsspaziergang anzutreten, als sich die energische Frau bei ihm melden ließ. Ohne lange Einleitung berichtete sie von allem, was geschehen, und schloß mit der Erklärung, daß sie die Absicht habe, schon am folgenden Tage von Holzwerder Besitz zu ergreifen. Mit erstaunlicher Schärfe entwickelte sie ihm ihren Standpunkt und schloß mit den Worten:

»Was kann uns geschehen, wenn wir dort erst festen Fuß gefaßt haben? Mit Gewalt kann man uns schon deshalb nicht vertreiben, weil uns nach dem Abkommen mit unserer Tochter ausdrücklich die freie Wahl gestellt ist, dort oder anderswo unseren Wohnsitz zu nehmen. Die Gutseinnahmen deponieren wir zu Händen des Gerichts, bis die Sache entschieden ist; wir entgehen dadurch der Klage auf ungesetzmäßiges Eingreifen in fremdes Eigentum, erklären uns aber zu unserem Vorgehen befugt, indem wir Brecken irgend welche Besitzrechte an Gretes Vermögen abstreiten.«

Frau von Tressen ließ sich auch durch Einwendungen des Justizrats nicht mehr irre machen; es war, als sei ein völlig anderer Mensch in sie eingezogen. Durch die Wiedervereinigung mit ihrem Enkelkinde war nicht nur das Pflichtbewußtsein bei ihr zum Durchbruch gekommen, sondern auch Mut und Entschlossenheit hatten sich ihm zugesellt.

»Ich hatte mich schon in die Rolle des Ambos gefunden,« erklärte sie Brix, »aber jetzt will ich wieder der Hammer sein und will es bleiben für meinen Enkelsohn. Das Glück streckt die Hände nach mir aus, ich will sie ergreifen. Nur deshalb stehen wir so oft frierend am Wege, weil wir die Winke des Schicksals nicht richtig zu deuten verstehen. Indem es die schlummernden Kräfte in mir von neuem anregt, zeigt es, daß es Gutes mit mir vor hat. Und da ich nun auch Mittel und Wege dazu besitze, trotze ich um so mehr einem Schurken, dessen Stärke nur darin besteht, daß man ihm bisher niemals energischen Widerstand entgegen gesetzt hat. Ich werde eine Schutzwache auf Holzwerder aufstellen, niemand betritt das Gut ohne meine Erlaubnis, und wer den Eintritt erzwingen will, den entferne ich mit Gewalt!«



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