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Garpen – ein alter nordischer Ausdruck für »Großtuer«, der im Mittelalter für die Deutschen sehr gebräuchlich war.
Enge waren die Wände, und der Boden bestand nur aus hartem Lehm, aber Tolv Ula hatte sich sein Nest selbst zusammengezimmert. Jetzt eben kehrte er mit seiner ersten Kuh aus der Stadt zurück, und damit sie recht gedeihe, führte er sie in die Hütte hinein, ließ sie ins Feuer sehen und das Heu von seinem Schoß fressen.
Da knackte es auf dem Rasendach, und ein Kopf mit blassen, abgezehrten Zügen tauchte über der Rauchöffnung auf.
»Ei sieh da, Herr Mats Gustafsson!« rief Tolv Ula und ließ das Heu zu Boden fallen.
Herr Mats hatte den Bischof zu Linköping erschlagen und war deshalb in den Bann getan worden. Wo er eintrat, kam nie wieder ein Bierfaß in Gärung, nie wieder kochte ein Kessel auf dem Feuer, und wenn ein Kind in der Wiege lag, wurde es nicht alt.
»Rasch, Bauer, gib mir alles Brot, das du hast!« rief Herr Mats. »Es nützt dir nichts, wenn du mir auch deine leeren Hände zeigst. Ich habe meine Leute im Walde verloren, und mein Pferd ist gerade so hungrig wie ich.« Damit hob er den Bogen ans Auge, daß Tolv Ula rasch seine Fladenbrote von der Stange nahm und sie Herrn Mats reichte.
»Jetzt kannst du auch den Riegel von deiner Tür zurückschieben,« fuhr der verfolgte Mörder fort, indem er sich vom Dach heruntergleiten ließ und wieder zu Pferde stieg, »denn die Garpen sind mir auf den Fersen.«
»Garpen« wurden die deutschen Unterdrücker genannt, die in jenen unglücklichen Zeiten des Königs Albrecht im Lande umherzogen. Wenn sie nur springen und tanzen konnten, bekamen sie von dem König gleich hundert vollötige Mark und Schellengewänder. Mit gekräuseltem Haar, die Pfeile im Köcher, den Stahlhandschuh auf dem Schenkel und das Schwert rostend in der Scheide, zogen sie gegen die Kornböden der Bauern in Krieg.
»Es ist am ratsamsten, ich öffne gutwillig,« dachte Tolv Ula, als die Garpen an seiner Tür zu wettern begannen.
»Weg mit dem Haublock!« schrieen sie. »Darunter ist eine Grube, wo du deine Bierfäßchen versteckt hast, Bauer.«
Nun wurde in Saus und Braus getrunken, geschmaust und gesungen. Unter der Bank zogen sie den Eierkorb hervor, und die Henne stießen sie mit dem Speer vom Dachbalken herunter. Und dies alles taten sie mit größter Geschwindigkeit, ohne acht zu geben, so daß Torf- und Rindenstücke auf den Fußboden und den Herd herunterfielen und in Brand gerieten. Zuletzt nahmen sie auch die Kuh bei den Hörnern und zogen sie mit sich fort.
Tolv Ula ergriff seine Axt und stürzte zu seiner brennenden Hütte hinaus. Am Hügelabhang wimmelte es von Reitern und Fußvolk, und darunter war besonders einer, vor dem alle anderen zur Seite wichen.
»Die Krähen hüten sich, dem Adler zu nahe zu kommen,« dachte Tolv Ula, denn er erkannte den gefürchteten Jonsson Grip, dem beinahe ganz Schweden als Lehen gegeben worden war. »Helft einem Wehrlosen!« rief er und warf sich dem Gewaltigen zu Füßen. »Im Walde habe ich wegen der Räuber nicht mehr wohnen können, da habe ich mir dort am Wege eine Hütte zusammengezimmert. Aber dort darf ich auch nicht wohnen! Wo soll ich denn dann leben?«
Jonsson saß breit und gleichgültig auf seinem Pferd und sah den Mann mit finstern Augen an. Hatte er nicht in der Kirche der grauen Mönche zu Stockholm mit eigener Hand einen Ritter vor dem Hochaltar niedergehauen und dann dessen Verwandte gnädigst mit einem Hof, einem bißchen Geld und Rauchwaren wieder versöhnt? Er hatte wahrlich an anderes zu denken als an das Klagegeschrei eines Bauern!
Tolv Ulas Hütte stand jetzt in hellen Flammen; da warf er die Axt über die Schulter und wanderte weiter.
Es war ein besonders heller Sommerabend, und am Horizont leuchtete die ganze Nacht hindurch ein lichter Schein über dem Walde. Auf den Äckern und Rübenfeldern sah es grün aus von lauter kleinen Haselnuß- und Ahlkirschenzweigen, die zur Erlangung einer guten Ernte in die Furchen gesteckt worden waren. Büschel Johanniskraut hingen an den Scheunentüren, und in den offenstehenden Kirchen steckten Maiblumensträußchen in den Leuchtern. Bucklige alte Weiber wanderten umher und sammelten Tau für den Backtrog, sowie allerlei Heilkräuter; die jungen Mädchen vergaßen für eine Weile die bösen Zeiten und banden Kränze von neun verschiedenen Blumen, die sie nachts auf ihre Kopfkissen legten, um von ihrem Zukünftigen zu träumen. Auf den Spielplätzen wohnte die Jugend in Laubhütten und tanzte mit den Garpen um die Mitsommerstange, an der gefärbte Eier und ein feuerroter Hahn, der Sonnenvogel, als Schmuck hingen.
Niemand wollte etwas von Tolv Ulas Kummer hören, deshalb wurde dieser ganz scheu und entwich in den Wald hinein. Unter den hohen Wipfeln war es halbdunkel, aber die Vögel konnten in dieser Nacht nicht schlafen, sie flatterten zwischen den Bäumen umher und stießen unheimliche Laute aus.
Der kohlschwarze, gespenstige NachtrabeNachtrabe = ein Vogel, der nur in der Sage lebt und als solcher seinen Sitz in jedes Menschen Brust hat. flog mit knarrenden Flügelschlägen daher, aber er flog immer so dicht am Erdboden hin, als der Ochse sein Joch trägt, und immer Jerusalem entgegen. Das war eine langsame Reise, denn er hatte seine Wohnung tief drinnen in der Erde, und nur in den Nächten der großen Feste erhielt er die Kraft zu fliegen.
»Du bist der Vogel meines Herzens, Nachtrabe,« sagte Tolv Ula nachdenklich. »Höher als der Ochse sein Joch trägt, komme ich wohl auch nie über die Erde hinauf, aber wie sehr sehne ich mich nach der Stadt des Lichtes, der Stadt des Friedens, die ich niemals erreichen werde. Jerusalem, Jerusalem, wo bist du?«
Nach einiger Zeit wurde er von einer bewaffneten, singenden Schar, die an ihm vorüberzog, angerufen.
»Komm mit, du einsamer Wanderer!« riefen die Krieger. »Bo Jonsson, der Unterdrücker ist tot, und die Großen erheben sich jetzt gegen König Albrecht!«
Tolv Ula war nicht faul, ihnen zu folgen, denn wie alle guten Schweden haßte er die Garpen, und als er sich der Schar angeschlossen hatte, wurden ihm große Neuigkeiten mitgeteilt. Die Großen hatten sich an die Königin Margareta in Dänemark, die den Sohn von König Magnus Smek geheiratet hatte und nun Witwe war, gewendet, und die Kriegsleute behaupten, Margareta habe gelobt, ihre Kapuze nicht aufzusetzen, bevor sie den König Ohne-Hosen besiegt habe, der ihr überdies einen mehrere Ellen langen Wetzstein geschickt habe, an dem sie ihre Nadeln und Scheren wetzen sollte, anstatt das Reich regieren zu wollen.
In Falbygden unter dem Mösseberg trafen sich die Großen zu beiden Seiten eines Morasts. Tolv Ula stürzte sich mit seiner Axt in den heftigsten Kampf hinein und sprang von einem Erdhügel auf den andern; aber der Boden unter den Pferden der Deutschen war weicher Moorgrund, so daß deren Hufe im zähen Schlamm stecken blieben. Mitten in dem fliehenden Gewimmel von zerhauenen Federbüschen entdeckte Tolv Ula den König Albrecht, dessen Pferd gefallen war, und der nun barhäuptig hin und her ging und mit einem kleinen Stocke kommandierte. Er hatte kurze Beine, kurze Arme, eine schmale Brust und ein schmales Gesicht. Alles an ihm war klein und schmal, selbst der geteilte Bart, nur allein sein lockiges Haar war üppig und lang. Es wurde ihm schwer, sich in seiner fremden Sprache den siegenden Schweden verständlich zu machen; sie umringten ihn mit ihren Streitäxten und führten ihn als Gefangenen zu Königin Margareta nach Bohus.
Die Bauern errichteten sich vor der Burg Hütten von Tannenreisig. Da kam die Königin Margareta mit den Großen zu ihnen heraus. Sie war klein von Gestalt und von dunkler Hautfarbe, hatte aber eine schöngebogene Nase und ein kräftiges Kinn. Wenn sie sich irgendwo aufhielt, entwickelte sie vorsichtig und klug ihre Ansichten, oder sie schwieg und ließ jemand anders an ihrer Statt das Wort führen. Und schließlich war es dann immer ihre Meinung, die den Sieg davontrug.
Jetzt regierte sie in Schweden. In der Nacht, als die Großen bei Fackelschein von den Beratungen auf der Burg zurückkamen, sagten sie lachend zu dem Volke: »Habt ihr es schon gehört? Jetzt hat die Königin den König Albrecht für seine Prahlerei gestraft und ihm eine Kapuze mit einem neunzehn Ellen langen Zipfel aufgesetzt.«
»Das ist gewiß nur ein Scherz, den ihr Herren uns Bauern weismachen wollt,« antwortete Tolv Ula und schwang die Axt über die Schulter, »obgleich es ihm eigentlich ganz recht geschehen wäre. Was mich betrifft, so habe ich meinen Dienst hier jetzt getan und muß mein Glück wo anders versuchen. Ich habe nicht so viel Ruhe mehr im Leibe, daß ich zwei Nächte nacheinander schlafen könnte.
Wir haben Sonntag abend heute, und der Nachtrabe muß hinaus und fliegen.«
Diesmal richtete der heimatlose Wanderer seine Schritte nach dem zinnengekrönten Stockholm.
Stockholm war noch in der Gewalt der Deutschen. Ihrer spitzen Mützen wegen wurden sie Mützenbrüder genannt. Sie waren so verhaßt, daß sie immer gepanzert und bewaffnet gehen mußten. Wo Tolv Uta hinkam, surrten ihm deutsche Wörter um die Ohren, sei es, daß er sich ein Paar Schuhe erbettelte, oder um ein Nachtlager bat.
Sein Schlafkamerad in der Herberge verschaffte ihm Arbeit; er sollte die Faßlager im Rathauskeller ausbessern. Über ihm im Rathause war ein gewaltiger Lärm, denn die Mützenbrüder hatten den schwedischen Bürgermeister blutig geschlagen und in den Burgturm geworfen. Tolv Ula hatte keine Lust, zur Nacht nach Hause zu gehen, sondern legte sich neben ein Weinfaß. Aber wenn er einen Hahn im Arm gehabt hätte, hätte er nicht besser geweckt werden können; denn gerade beim ersten Morgengrauen ertönten droben im Rathaus knarrende Schritte und laute Stimmen. Tolv Uta steckte den Kopf durch die Luke und fragte einen alten Mann, der eben vorüberging, was denn das bedeute. Der Mann antwortete, einige Mützenbrüder hätten ihm befohlen, die schwedischen Ratsherren zu wecken und sie zu einer wichtigen Zusammenkunft zu entbieten. Aber die schwedischen Ratsherren waren kaum herbeigekommen, als auch schon eine lange Reihe deutscher Landsknechte aus der Burg herausdrang und von Sankt Gertruds Zunftstube wohl tausend bewaffnete deutsche Bürger herbeistürzten.
Dieses Zunfthaus lag auf denselben Grundmauern wie die jetzige deutsche Kirche, und die Deutschen hatten sich da schon seit dem Abendgottesdienst am vorhergehenden Tage verborgen gehalten.
»Ihr Verräter!« riefen sie den schwedischen Ratsherren zu. »Ihr würdet die Stadt gerne der dänischen Milchmagd überlassen.« Damit ergriffen die Knechte die Schweden am Gürtel und schleppten sie mit sich über die Zugbrücke in die Burg hinein.
Tolv Uta machte sich schweigend an seine Arbeit; aber am nächsten Tage sah er, daß drei von den schwedischen Ratsherren herausgeführt und verbrannt wurden. Da ging er bedrückt in seine Herberge zurück. Dort saß er nachts an der Fensterluke, denn es war indessen Juni geworden, und die hellen Nachte hatten begonnen.
In der Nacht vor Fronleichnam, wo die Fahnen der Zünfte durch die mit grünen Zweigen geschmückten Straßen getragen wurden, versuchte Tolv Ula ein blaues Hemd zusammenzuheften, das er über seine Lumpen werfen wollte, damit er auch im Zuge mitgehen und eine Kerze tragen könnte. Zu seinem Entsetzen mußte er da sehen, wie die gefangenen Ratsherren zum Flusse hinuntergeführt wurden. Er zählte deren sogar sechzig. Sie waren schwer gefesselt, mehreren waren die Kleider aufgerissen, und sie hatten lange blutige Wunden von Holzsägen, mit denen sie gefoltert worden waren, damit sie sich einer Verräterei gegen König Albrecht schuldig bekennen sollten. Aber auch jetzt noch beteuerten sie laut ihre Unschuld, und mit erhobener Stimme riefen sie in die stille Nacht hinaus, daß es hören konnte, wer wollte, ein Mützenbruder habe dem Burghauptmann vor kurzem die Hälfte seines Eigentums versprochen, wenn er die Ratsherren eiligst verbrennen lasse. Währenddem waren die armen Ratsherren in die Boote hineingepufft worden und wurden nun nach dem heutigen Blasieholm hinübergerudert, der damals Käpplingeholm hieß. Dort wurden sie in einen alten Schuppen eingesperrt, der Schuppen angezündet, und der Flammenschein loderte auf in das erste Morgengrauen. Tolv Ula warf das blaue Hemd weg und eilte hinaus. Beim Tagesanbruch begann lauter Donner zu rollen, und strömender Regen ergoß sich über die Stadt.
»Wem soll man denn gehorchen, wenn man recht tun will?« murmelte Tolv Ula vor sich hin, wahrend er dem Hafen zuging. »Den Mützenbrüdern oder den Dänen? Ich habe noch nie ein Segel gehalten und kann mich nicht als Schiffer ausgeben, und überdies habe ich kein Geld. Aber wenn ich nur aus diesem unglückseligen Lande fortkomme, dann mag es mir später gehen, wie es will.«
In diesem Augenblick brach die Sonne hervor, und Tolv Ula nahm das für ein Zeichen, daß er fliehen solle. Drunten an den Landungsbrücken herrschte Leben und Bewegung, Das Vieh brüllte, und kleine wunderschöne Ölandspferde wurden ausgeladen. Dorsche und Lachse waren in Haufen aufgeschichtet. Körbe mit Fellen und Gefäße mit Honig und Jagdfalken in Käfigen wurden eingeladen. Doch jetzt begannen die Glocken zu läuten, Lichter und Fahnen wurden auf die Straßen herausgetragen, und die Seeleute liefen in die Stadt hinein, um zuzusehen. Da ging Tolv Ula an Bord eines fertig geladenen Schiffes, auf dem ein leeres ungewöhnlich großes Salzfaß stand. In diesem versteckte er sich.
Nach einer Weile kam der Schiffer mit seiner Mannschaft zurück und fragte die Leute, ob sie den Wind für günstig hielten. Diese streckten die Hände in die Höhe und bejahten die Frage; jetzt erst hatte der Schiffer das Recht, abzufahren. Das Hafentor öffnete sich, die Ankersteine wurden gelichtet und die Segel vor den Wind gedreht. Aber das waren andere Seeleute und andere Fahrzeuge als zur Zeit der Vikinger! Wohl war das Takelwerk von Åbo und der Mast aus dem Kolmården, aber alles war verfault und alt, und obgleich das Achter mit kleinen Türmen und einem ganzen Kastell geschmückt war, sah das Schiff doch aus wie ein alter, plumper Holzschuh. Die vergoldeten Wetterdrachen zeigten indes nordwärts, und eilig ging es durch die vielen Schären hindurch. Auf der äußersten Schäre, die nicht über das Wasser herausragte, loderte ein gewaltiges Feuerzeichen, und von da ging es hinaus auf die Ostsee, wo kein Ufer mehr zu erblicken war. Das Heiligenbild im Steven des Schiffs hielt sein ausgestrecktes Kreuz über endlose Wogen.
Die Viktualien, mit andern Worten Lebensmittel, hießen zu jener Zeit Vitalien. Die deutschen Seeräuber und Abenteurer, die auf den Wasserwegen Stockholm mit Lebensmitteln versahen, wurden deshalb Vitalienbrüder genannt. Auf ein solches Schiff war Tolv Ula geraten; es war von König Albrechts Verwandten in Deutschland ausgerüstet worden, damit es an den schwedischen Küsten sengen und brennen könnte. Aus den Gesprächen der Schiffsmannschaft wurde das Tolv Ula bald klar.
Diese Seeleute kümmerten sich indes gar nicht ums Segeln, sie saßen um ein Feuer und machten einen Spieß glühend, mit dem sie Löcher in ein paar Tonnen bohren wollten. Der Schiffer selbst ging hin und her und rühmte sich seiner wilden Taten.
Da blieb er plötzlich vor der großen Salztonne stehen und rief: »Ich glaube, das Salz ist unten feucht geworden, denn es nießt ja. Wendet die Tonne um, damit der Boden oben ist, und stoßet den glühenden Spieß hinein; dann werden wir sehen, ob das Salz noch zu retten ist.«
Tolv Ula hörte, daß die Männer mit dem Spieß herbeikamen. Da nahm er seine ganze Kraft zusammen und warf sich mit aller Macht gegen die Dauben, daß sie auseinanderflogen. Im nächsten Augenblick hatte er den Schiffer bei der Brust gepackt und warf ihn über die Reling in den Wogenschaum hinein, wo er verschwand.
»Da hätte ich beinahe noch einer neuen Art von Herren dienen müssen!« rief der frühere Bauer beinahe wahnsinnig vor Zorn den Schiffsleuten zu. »Aber ich habe weder Heimat noch Vaterland mehr und will niemand mehr dienen als nur mir allein. Ich habe noch nie ein Steuer in der Hand gehabt und bin ebensowenig bewandert im Segeln wie ihr, aber ich habe einen Heiligen, der den Nordländern besser hilft als alle andern Heiligen. Nehmt mich als Schiffer anstatt des Unglücklichen, der eben im Wasser versunken ist, dann wollen wir alle Beute brüderlich teilen. Früher bin ich ein guter Mensch gewesen und hätte keiner Ameise ein Leid antun können, jetzt aber gelobe und schwöre ich bei der heiligen Birgitta, daß sich hier an Bord kein schlechteres Geschöpf findet als ich!«
Einige der Schiffsleute murrten, aber die andern beugten sich vor Tolv Ulas Mut, und so wurde er draußen auf dem Meere beim Scheine des Mondes mit kräftigen Handschlägen zum Schiffer gewählt. Auf dem Tisch im Achterhaus lag der von der Stadt Danzig ausgefertigte, mit Unterschrift und Siegel versehene Kaperbrief des toten Schiffers. Diesen nahm Tolv Ula an sich und barg ihn unter seinen Kleidern auf der Brust.
Hunderte von solchen Seeräubern streiften zu jener Zeit auf der Ostsee umher, aber Tolv Ula wurde einer der gefürchtetsten von ihnen. Das Takelwerk auf seinem Schiffe vermoderte immer mehr, die Segel bekamen ellenlange Risse und Flicken, aber auf Deck fehlte es niemals an geraubten Säcken und Kisten. Tolv Ulas von Wind und Wetter blutunterlaufene Augen brannten düster, und selten drang ein freundliches Wort zwischen dem eisgrauen Bart hervor. Wenn es stürmte und die See hoch ging, kam es aber doch vor, daß alle auf dem Schiffe in wilden Gewissensqualen auf die Kniee fielen und die Hände rangen. Dann schlug der Nachtrabe in dem tiefsten Gefängnis des Herzens mit den Flügeln, und Tolv Ula redete von dem Stern, der in der Finsternis aufgegangen sei, sowie von der frommen Birgitta, die eben jetzt in Rom zur Heiligen gekrönt werden sollte. Und die Sehnsucht nach Sündenvergebung wurde allmählich so groß bei diesen Freibeutern, daß sie ihrer zuletzt nicht mehr Herr werden konnten, und eines Tages, als sie an der deutschen Küste landeten, rüsteten sie sich mit dem Pilgerstab und der Feldflasche aus und wanderten als fromme Pilger nach Rom.
Freitag abend, den 6. Oktober 1391, läuteten alle Glocken von Rom das heilige Fest ein. Am nächsten Tage war die große Kapelle im Vatikan mit Brokatteppichen behangen, der Boden mit Olivenblättern bestreut, und unzählige Wachskerzen brannten in dem heiligen Räume. Unter einem von Kardinalen getragenen Baldachin stieg der Papst Bonifazius IX. auf seinen Thron. Er war nicht gerade der beste der Päpste, sondern ist dadurch bekannt, daß er mit den Ämtern und Ablaßbriefen Handel trieb; auch war ein Gegenpapst gewählt worden, der zu Avignon regierte. Aber den an der Pforte knieenden Pilgern war er doch der heilige Vater, und ihre Augen wurden feucht, als die Sänger nach dem Gottesdienst zum ersten Male anstimmten: »Bitt für uns, Heilige Birgitta, Halleluja!«
Tolv Ulas Lippen bewegten sich. »Ja, bitte für die Seele des armen Freibeuters, wenn er einmal in den Wogen stirbt!« flüsterte er. »Du kannst in unseren Herzen lesen, du weißt, wodurch wir so geworden, wie wir heute sind. Bitte für uns, du schwedische Mutter, daß es in unserem verwüsteten Lande keine so wilden und unglücklichen Menschen mehr geben müsse, wie wir sind!«
Neben dem Vatikan lag die Peterskirche, die über dem Grab des Apostels erbaut ist. Die ganze Nacht hindurch war diese Kirche von außen und im Innern von vielen tausend Lampen erleuchtet. Am Sonntag begab sich der Papst dahin, Wächter mit gezogenen Schwertern voraus, und las die Messe am Hochaltar. Hierauf wurde ihm ein Opfer dargereicht, bestehend aus vergoldeten Wachslichtern, Brot, Wein und Tauben in Körbchen, die alle mit dem Wappen der heiligen Birgitta geschmückt waren. Nachdem dann noch ein Mönch über ihr Leben gepredigt hatte, wurde der Papst, von Dienern mit langstieligen Federfächern umgeben, in die Säulenhalle vor der Kirche getragen. Hier schlug er das goldene Buch auf, in dem die Namen der Engel und Heiligen verzeichnet sind, und als er dann die Feder nahm und den Namen »Birgida« hineinschrieb, ging ein Rauschen über die Schar der Pilger hin.
Scheu und verzagt zwischen so vielen Menschen hielten die Pilger einander getreulich an ihrem Strick um den Leib fest, damit sie nicht getrennt würden. In einem Hause, wo Birgitta, von allen geliebt und verehrt, ihren irdischen Lauf vollendet hatte, erhielten sie Obdach. Und wieder heimwärts über die Berge zog schließlich eine große Schar Männer und Frauen aus dem Norden, die gar oft von dem abgelegenen Vadstena miteinander redeten, wo Birgittas Gebeine beigesetzt worden waren.
Die Tage um den siebten Oktober, dem Namenstage der heiligen Birgitta, erhielten später den Namen Britsommer, weil um diese Jahreszeit in Schweden sehr oft schönes sonniges Wetter herrscht.
Als Tolv Ula und seine Mannschaft wieder ihre Seeräubersegel hißten, waren sie trotz allem noch ebenso wilde Gesellen wie zuvor. In Gesellschaft von sieben anderen Freibeuterschiffen, die mit Vitalienbrüdern bemannt und mit Salz, Fischen, Zwiebeln, Äpfeln, Rüben, Hopfen, Saatkorn und allen möglichen anderen Herrlichkeiten beladen waren, stießen sie vom Lande ab, die Deutschen in dem belagerten Stockholm mit Lebensmitteln zu versehen. Da setzte kaltes Wetter ein, und zwischen den Scheren froren die Schiffe vor Dalarö fest. Die Vitalienbrüder wußten, daß man sie ohne Barmherzigkeit aufknüpfen würde, wenn sie in die Hände der Schweden fielen; aber ihr Anführer, der Rittmeister Hugo, wußte sich zu helfen. Er ließ Baumstämme von den Inseln herbeischleppen, ließ einen hohen Wall um die Schiffe herum aufführen, und ihn mit Wasser übergießen, so daß er ganz glatt überfroren war.
Das Heer der Königin Margareta belagerte zu jener Zeit Stockholm, und einige schwedische Scharen zogen sogleich aus, ihre Rechnung mit den Vitalienbrüdern abzumachen; aber sie merkten bald, daß es ihnen nicht gelingen würde, die schlüpfrigen Eiswälle zu stürmen, und so zimmerten sie einen hohen Bretterturm zusammen, den sie auf Rollen vor sich her schieben konnten. Ein solcher Turm hieß in der Kriegersprache eine Katze. Als alles zum Kampf bereit war, rollten die Schweden die Katze vorwärts, und sie hatte wirklich Klauen, mit denen sie kratzen konnte, denn zwischen den Balken sahen überall hineingesteckte Armbrüste und Spieße heraus.
Aber Meister Hugo hatte im Dunkel der Nacht das Eis durchsägen lassen, und ein leichtes Schneegestöber hatte hilfreich etwas Schnee über die Fugen gestreut und sie unsichtbar gemacht. Erwartungsvoll und äußerst befriedigt über ihr Werk, standen die Seeräuber auf ihrer Schiffsfestung und sahen zu, wie die Katze heran kam.
»Ksch, ksch, ksch!« riefen sie und klatschten in die Hände; denn die durchsagten Eisstücke gaben plötzlich nach, und vor ihren Augen versank die Katze im Wasser und verschwand mit allen ihren Kriegern.
Der einzige der sich abwendete, war Tolv Ula. Unter den Schweden auf dem Turme hatte er mehrere alte Waffenbrüder von der Schlacht bei Falan erkannt, und Tränen der Scham, daß er auf diese Weise gegen seine eigenen Landsleute und Freunde kämpfen mußte, liefen ihm über die gefurchten Wangen herab.
Sobald das Wetter wieder mild wurde und das Schiff seine Ladung gelöscht hatte, steuerte Tolv Ula mit seiner Mannschaft wieder aufs Meer hinaus; sie landeten an öden Klippen und lebten da so lange, als ihr Mundvorrat reichte. Eines Tages drang übers Meer lautes Glockengeläute von Kalmar zu ihnen herüber. Dort krönte Margareta, die Alleinherrscherin des Nordens, ihren Verwandten Erich von Pommern zum König über die drei endlich vereinigten Reiche. Aber die Freibeuter auf der hohen See draußen trieben wie losgerissene und umhertreibende Balken willenlos dahin und fragten weder nach Gesetz noch nach Vaterland.
Eines Abends bei stürmischem Wetter sahen sie ein großes Hansaschiff wie eine große Wolke über den Wogen auftauchen. Mit geschwellten Segeln kam es rasch näher, um mit dem Vitalienschiff zu kämpfen, aber das ausgediente Freibeuterschiff hielt den Stoß des eisernen Bugspriets nicht aus. Krachend legte es sich auf die Seite und begann zu sinken. Tolv Ula ließ das Steuer los, denn er wußte, daß nun seine letzte Stunde gekommen war.
»Es muß heute ein großer Festtag sein, weil der Horizont so hell schimmert,« sagte er vor sich hin und schaute sich ringsum. »Nachtrabe, du schwarzer Vogel, du hast dein Jerusalem nie erreicht, aber du hast doch nie aufgehört, dich danach zu sehnen.«