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Die Gesellschaft schied sich schnell in einzelne Gruppen; in der einen Ecke spielten Ferdinand, Salomon und der Schwede Whist mit Strohmann, denn Jason war noch nicht zu bewegen gewesen, teilzunehmen. Dazu wäre er nicht hergekommen. Onkel Eli hätte ja auch mitspielen können, aber er spielte Ferdinand zu langsam. Eli überlegte immer eine halbe Stunde bei jedem Stich, und das machte Ferdinand kribblig, so daß man in Gefahr lief, er würfe die Karten gegen die Wand, wie er das schon öfter getan hatte.

Ferdinand war ein Spielgenie, er gab mit der Rechten und schrieb nebenher mit der Linken an; er holte aus seiner Karte heraus, was nur drin war, und rechnete nach jedem Spiel aus, wie es gewesen wäre, wenn der andere Herzen klein gezogen hätte und drüben dafür Karo kurz gesessen hätte. Er liebte es nicht, zu verlieren – dann konnte er unangenehm werden; aber er gab auch nie zu, daß er gewonnen hätte, das Spiel wäre nur immer sososo gewesen.

Drüben in der anderen Ecke hielt Tante Rikchen Cercle mit ihrer Schwester, mit Tante Minchen, dem alten Fräulein mit den Pudellöckchen, mit Max und Wolfgang, die nicht stille sitzen konnten und sich räkelten wie Zwickelfiguren Michelangelos, und endlich mit der Anwartschaft auf Onkel Eli, wenn es dem genehm sein mochte, seine Sinekure bei den Mürbekuchen aufzugeben.

Jenny wich nicht von Jettchens Seite. Sie hatte sie umschlungen und muschelte sich mit dem Kopf mal rechts, mal links an. Sie standen beide in einer Nische neben dem Spiegel beim Tafelklavier. Jason war bei ihnen, und Kößling strebte zu ihnen, denn es war nicht abzusehen, wann Onkel Eli sein Werk aufgeben mochte; auch würdigte er – ganz mit sich selbst beschäftigt – Kößling keiner weiteren Ansprache und verhielt sich ablehnend gegen dessen Versuche, eine Unterhaltung zustande zu bringen.

Also Kößling gab Eli auf und schritt zu den Büchern, die in einem Schränkchen an der Wand hingen. Seiner Gewohnheit gemäß studierte er die Titel der kleinen Lederbände, und zu seinem Erstaunen fand er manches darunter, das ihn reizte.

Salomon sah ihn bei dieser Beschäftigung, stand höflich einen Augenblick von dem Kartentisch auf und stellte sich zu ihm. »Na, Herr Doktor, Sie haben gewiß mehr Bücher. Sehen Sie hier, der Mendelssohn ist noch von meinem Vater.« Er nahm das helle Lederbändchen heraus, wies Kößling die zierliche Goldpressung und schlug es dann auf. »Sehen Sie nur, wie sauber das gedruckt ist und wie hübsch die Kupfer. Heute macht: das niemand mehr so. Und hier ist die erste Ausgabe vom Nathan. Wie finden Sie das jetzt mit dem Lessingdenkmal in Braunschweig? Sie sind doch Braunschweiger, sagte mir mein Bruder. Nicht? Unerhört, daß der König die Theatervorstellung verbietet! Na ja, Lessing kann zwar nicht so gut tanzen wie die Taglioni; aber einige Verdienste hat er doch immerhin; – das müßte man doch eigentlich zugeben. Und dann kennen Sie das hier? Den Lorenz Stark und den Thomas Kellerwurm? Das liest heute kein Mensch mehr, und ich versichere Sie, es ist reizend, geradezu reizend!«

»Sie haben da die Werke von Saul Ascher, Herr Gebert.«

»Ich habe sie nicht gelesen – ich lese sie auch nicht, aber man muß den Mann doch unterstützen.«

»So, meinen Sie?!« Das war Kößling so entfahren.

»Na, denn nicht«, gab Salomon zurück, »ich verspreche Ihnen, Herr Doktor, ich lese ihn nicht.«

»Salomon«, rief Ferdinand ungeduldig, »halt 's Spiel nicht auf!«

»Sie entschuldigen schon, Herr Doktor, aber die Pflicht ruft!« Mit diesen Worten verabschiedete sich Salomon. Aber er nahm sich vor, Ferdinand für diese Taktlosigkeit eins auszuwischen.

Doch auch jetzt kam Kößling nicht zu Jettchen herüber. Es war wie verhext. Denn Tante Hannchen verstellte ihm wieder den Weg und fragte, ob er musikalisch sei und ob er vielleicht nachher irgend etwas spielen möchte.

Kößling versicherte, daß er nicht musikalisch wäre, – er log es mit dreister Stirn, und daß er infolge dieser seiner mangelnden Gaben auch nicht spielen würde. Hannchen eskortierte ihn aber, ungeachtet seines Einwandes, zu Jason und Jettchen und empfahl ihn dort zur weiteren Bearbeitung.

»Jettchen, denke dir, der Herr Doktor will nicht spielen! Bitt' du ihn doch mal!«

»Wollen Sie uns denn wirklich nichts gönnen? Onkel Jason erzählt mir immer so viel von Ihrem Spiel.«

»Ach Gott, ich musiziere ja nur ein bißchen für mich – aber nicht gern und nicht gut genug für andere.«

»Na, Jason, dann singst du ein bißchen nachher«, schloß Hannchen und kehrte zu ihrem Cercle und zu der ungelösten Dienstbotenfrage zurück.

»Und – Herr Doktor Kößling, wo haben Sie denn so lange gesteckt? He?! – Man vermißte Sie. Schmerzlich wurden Sie sogar hier von irgend jemand vermißt. Sie mußten wohl statt dessen Onkel Elis Mürbekuchen nachzählen und buchen?«

So Jason. Jettchen stand dabei in der Fensternische, hoch, aufrecht, stand mit dem hellen Kleid gegen die weiße Füllung gelehnt, hatte die Arme, die vollen, bloßen rosigen Arme leicht gehoben und hinter den Kopf gelegt, den sie in den Nacken zurückpreßte. Und ihre Augen sahen an Kößling vorbei in den Saal, halb ernst und halb belustigt.

»Wollen wir nun Pfänder spielen?« rief Onkel Jason.

»Ach ja, ach ja, ach ja!« kreischte Jenny. Aber Jettchen hielt ihr ganz schnell den Mund zu, damit sich die Wolke des väterlichen Zorns, die, weiß Gott weshalb, schon wieder über den Kindern schwebte, nicht entlüde.

»Dich küsse ich auch so«, sagte Jason und zog die Kleine an sich, die das nicht ungern über sich ergehen ließ.

»Du bist ja auch 'ne kleine Gebert, und die da drüben« – er zeigte nach den Jungens, die sich auf den Stühlen räkelten – »das sind Jacobys.«

»Ach nein, Onkel, lieber nicht Pfänder, – musizieren wir ein wenig.«

»Na, wie du willst, Jettchen. Aber das braucht doch auch nicht sofort zu sein. Man stört nämlich damit ja doch nur die Unterhaltung.«

»Sagen Sie, lieber Freund, wie sind Sie eigentlich zu dem Schuß da gekommen?« fragte Kößling.

»Soll ich Ihnen das mal erzählen? Wissen Sie, ich rede nicht gern drüber. Aber wenn Sie wollen, so erzähle ich es Ihnen. Wir hatten da bei Großsieten biwakiert auf der nassen Erde. Kein Mensch hatte auch nur das Koppelschloß aufgemacht und die Patronengurte abgeschnallt. Die Gewehre in der Hand, schliefen die Leute um die kalten Feuerstellen, denn zwischen uns und der Hauptmacht war ein Regiment französischer Grenadiere eingeschoben. Wissen Sie, so wie 'n Keil in einen Holzblock.

Jede Verbindung war unterbrochen, und unsere Estafetten fingen sie ab wie die Hasen. Acht Stück hatten wir vom Vormittag an abgeschickt. Alle zwei Stunden einen, und die schliefen nun schon wohl alle schön und brav zwischen den Feldrainen oder den niedergerittenen Garben.

Ich hatte mich auch gemeldet. Ich war der neunte der Reihe nach. Verstehen Sie, Kößling, ich bin keine Memme. Und wenn sie vorher rechts und links von mir gefallen sind, dann habe ich mir gesagt, das könnte mir ja auch passieren, ebensogut wie denen da. Aber so ganz allein, ohne eine Seele, auf weitem Feld von irgendeinem Kerl da hinten, den man gar nicht sieht, vom Pferde heruntergeblasen zu werden, vielleicht Tage liegen, halb tot, ohne Wasser – ich kann nicht sagen, daß mich diese Aussichten freudig stimmten.

Ich stand also auf, geschlafen hatte ich nicht, ich bekam eine Tasche mit den Briefen umgehangen, es war noch grau, es dämmerte gerade und mich fror, mich fror scheußlich.

Erst ritt ich langsam, dann immer schneller, und es kam mir vor, als ob irgend jemand hinter mir auf dem Pferd säße und mir immer in den Hals bliese, und mein ganzer Rücken war kalt und naß. Ganz lautlos trabte mein Gaul durch die Sandwege. Im Nebel standen die Bäume am Weg, und ich weiß noch, auf den Feldern roch es wie frisches Brot vom überreifen Korn. Es hätte ja schon drin sein können, aber es dachte jetzt niemand dran, es einzubringen. Im Osten wurde dann der Himmel rot, ein langer roter Streifen im grauen Himmel, und die Wolken schichteten sich darüber, alle mit roten Rändchen. Ich sah danach und hatte wirklich Tränen in den Augen.

Guck du dir nur da die roten Wölkchen an, sagte ich mir, morgen siehst du sie nicht mehr. Das sprach ich so vor mich hin, so zehnmal – ganz sinnlos. Ich war damals eben ein junger Mensch. Aber wissen Sie, es geschah nichts, gar nichts. Einmal hörte ich drüben so etwas wie Stimmen und schlug rechts 'rüber einen Weg ein. Dann war ein Bauernhaus zwischen den Bäumen. Ich kam fast bis heran. Es schien belegt zu sein, und ich trieb meinen Mullah ganz leise einen Bach entlang hinter den Weidenhecken, um die noch der dicke Nebel lag.

Der Kerl saß aber immer noch hinter mir auf dem Mullah und blies mir ins Genick. Ich war jetzt ein und dreiviertel Stunden unterwegs. Es war inzwischen völlig hell geworden, man konnte mich sicherlich auf fünfhundert Schritt schon sehen; ich hielt mich deshalb möglichst hinter den Bäumen oder im Korn; eigentlich mußte ich auch bald an das Dorf herangekommen sein. Ich glaubte auch schon vor einer ganzen Weile irgendwie drüben Rauch gesehen zu haben, und mir war mit einem Male ganz leicht und froh zumute, daß ich so weit war. – – Halt! Drüben liegt ein Pferd im Acker! – Aufgedunsen und die Beine hoch! Und wie ich recht hinsehe, da sehe ich auch unter ihm eine Uniform liegen. Die Uniform kannte ich, ich trug selbst solch ähnlichen Rock auf dem Leibe. Sie können es mir glauben, ich hatte im Augenblick recht wenig Lust, dem Kameraden da Gesellschaft zu leisten.

Das Pferd lag aber mit dem Rücken nach mir zu. Also von meiner Seite aus hat man dich nicht weggeputzt, alter Junge! sagte ich mir. Von wo denn nur?! Ah so – von da drüben vielleicht, von den Sandhügeln her, die so friedlich gelb und rot in dem beginnenden Tageslicht liegen. – Also, Jason Gebert, halte dich lieber vorsichtig etwas links! Ist auch besser, denn weit drüben auf meiner Seite sehe ich nun schon unsere Truppen vor einem Flecken in der hellen Morgensonne in Aufstellung. Da muß ich hin! Weit ist das nicht mehr. Vielleicht noch an die fünfzehn Minuten scharfer Ritt!

Seltsam, was da mit einem Male auf dem Hügel aber für Dinge sind?! Wie solch ein brauner stachliger Kugelkaktus sieht jedes aus. Sechs, acht Pflanzen nebeneinander.

Ich sehe sie in regelmäßigen Abständen gegen die flimmernde erste Helligkeit, scharf und deutlich oben auf dem Hügelrand. Hagel und Wetter, wie die Hornissen in der Gegend aber fliegen. Schnurr – da ging mir solch ein Tier eben am Ohr vorbei. Surr – schon wieder eins. Und da rappelt's sich mit einem Male auf dem Hügel – gut, daß ich's weiß, das sind also hohe französische Grenadiermützen gewesen – bonjour, messieurs! Wenn ihr klug seid, schießt ihr mir ohne lange Vorrede das Pferd unterm Leib weg und dann komme ich zu Fuß bei Petrus an. Und wenn ich jetzt wende, dann weht mir nachher der Wind in den offenen Rücken+... und ich habe den Zug im Genick sowieso nie so recht vertragen können. Und wenn ich mich vorn aufs Pferd werfe, dann werdet ihr wohl 'ne hübsche Doublette schießen können.

Ob ich mir all das in dem Augenblick gesagt habe, weiß ich nicht mehr, glaube ich auch nicht. Getan habe ich das Rechte. Ich bin nämlich geritten, was die Eisen hergeben konnten. Wissen Sie, englisch, kerzengerade, stolz wie ein Spanier, als ob die ganze Sache mich überhaupt nichts anginge. Und ich habe nicht auf den Ort gehalten, sondern links darüber hinaus. Nie vorher und nie nachher habe ich so die Hornissen um mich summen und brummen hören, als ob ein ganzer Schwarm hinter mir her wäre. Die vorbei ist, kommt nicht wieder, habe ich mir gesagt, und die treffen soll, hörst du nicht mehr.

Und es war mir ganz lustig dabei zumute, so, wie wenn die ganze Sache nur ein Scherz wäre, ein kleiner amüsanter Schabernack, den man nicht mir spielen wollte, sondern irgendeinem anderen, einem entfernten Bekannten.

Jetzt muß ich auch bald heraus sein aus dem Bereich. Ich blickte mich um, ganz kurz; ich sehe, sie sind hinter mir aufgesprungen und ragen da gerade und groß oben auf dem Hügel, sechs Mann in regelmäßigen Abständen dunkel gegen die Sonne, als hätte man sie aus schwarzem Glanzpapier mit einer Schere ausgeschnitten; drei knien und drei stehen. Und – verflucht!! Da hat mich einer von den Kerlen dahinten mit 'ner Nadel, mit 'ner langen spitzen Nadel ein bißchen ins Bein gestochen – hier oben – und im Pferderücken ist eine handbreite, rote blutige Rille. Der Schmerz macht das Tier scheu, es rast los und geht durch. Ich schlage nach vorn und habe noch so viel Besinnung, den Hals meines Mullahs zu umklammern, und dann höre ich ganz verworren Stimmen und sehe, wie einer dem Mullah eine Pistole ans Ohr setzt. Und man schneidet mir die rote Kuriertasche ab, und zwei lange blonde Menschen nehmen mich auf die Schultern und tragen mich zu einem Bauernhaus. Sie dachten erst, ich hätte eins in die Brust bekommen, denn mein ganzer Rock war steif von Blut. Aber das war nur vom Pferd. Und dann wollten sie mir das Bein abnehmen, denn der Knochen da oben – sehen Sie, Kößling, hier! – war ein wenig aus der Fasson geraten. Aber ich sagte, sie möchten es nicht tun, denn ich hätte keine Lust, mit drei Beinen durch die Welt zu springen. Und das haben sie denn auch eingesehen.«

Jason sprach das nicht so, wie das hier niedergeschrieben ist, sondern lebhafter, erregter, er nahm Gebärde und Stimme mit hinzu, und er wurde oft durch Zwischenrufe und Fragen unterbrochen.

Jenny aber war schon bei der ersten Hälfte der Erzählung zu Tante Rikchen hinübergewechselt, wo weniger aufregende und grausige Gesprächsthemen an der Tagesordnung waren. Man wog dort gerade die Vorzüge der Rosinenstraße gegen die der Charlottenburger Chaussee ab, in der doch zuviel Leben sei und wo vor allem zu viel Berliner hinkämen.

Jettchen war nachdenklich und ernst geworden, denn sie dachte bei Jasons Erzählung an jemand, der ihr noch näher gestanden, und bei dem die Kugel höher getroffen hatte. Zwei Jahre später bei Ligny, oben zwischen die kurzen Rippen, wie ihr das Jason so oft vorerzählt hatte.

Kößling merkte nicht die Veränderung in Jettchens Gesicht »Sie haben nichts mehr vom Krieg gesehen?«

»Ich war damals zwei Jahre, ich weiß nichts mehr. Ganz dunkel glaube ich mich aber zu erinnern, daß mich ein Mann in einer roten Uniform auf den Arm genommen hat. Das muß dann mein Vater gewesen sein. Aber Onkel Jason hat mir viel erzählt. Da denke ich manchmal, ich hätte das alles wirklich miterlebt.«

»Na, da haben Sie den Krieg wohl nur von der Franzosenseite kennengelernt, denn Blücher ist ja doch für Ihren Herrn Onkel nicht mehr wie ein Flegel und ein Dummkopf.«

»Kößling! Kößling!« rief Jason, und eine tiefe Unmutsfalte zog sich ihm von der Nasenwurzel zur Stirn hinauf. »Anders habe ich den Krieg erzählt, wie Sie ihn auf der Schule gelernt haben und wie ihn Ihre Kinder je lernen werden. Wir haben uns nämlich als Franzosen – wenn Sie es durchaus noch einmal hören wollen – hier wohler gefühlt. Für uns Preußen und für uns Juden hat es ja leider bis heute noch kein 1790 gegeben. Aber gottlob, noch ist ja nicht aller Tage Abend.«

Kößling erwiderte nichts, und auch Jettchen sah man an, daß sie dieses Gespräch verstimmt hatte. Denn dieser Krieg hatte über ihr Schicksal entschieden, bevor sie nur selbst stimmberechtigt geworden war. Und sie hatte ihm zu schweren Tribut gezahlt, als daß sie ihn nicht hassen sollte und sein Andenken, – ebensosehr, wie es nur Onkel Jason hassen mochte, den auch dieser Krieg aus allem herausgeworfen, was er bis dahin unternommen und begonnen hatte. Sein armes hinkendes Bein zwar hatte ihn nachher vor Spandau, Magdeburg oder Wesel bewahrt, denn er war 1820 als Demagoge denunziert worden und in lange Verhandlungen und Vernehmungen verwickelt worden.

Auf dieses Zusammentreffen mit Vater Dambach kam er nie zu sprechen, und auch Kößling wußte von den Monaten Hausvogtei nichts. Aber Onkel Jasons Liebe zum Herrscherhaus und zum System war durch diese Erfahrungen nicht gestärkt worden.

Kößling sagte, daß er auch nicht viel Erinnerungen an den Krieg hätte. Einmal habe ihn in Braunschweig ein Reiter aufs Pferd genommen, und er habe geschrien und geweint, und der bärtige Kerl habe gelacht.

»Onkel, singe was«, unterbrach Jettchen ganz leise und fast traurig und ging zum Tafelklavier.

Kößling fiel es erst jetzt ein, daß es eigentlich klüger gewesen wäre, dieses Gespräch nicht heraufzubeschwören. Er sah Jettchen nach, und es war ihm, als müßte er ihr abbitten, daß er so plump gewesen, an diese alten Geschichten zu rühren und dem lieben Mädchen Schmerz zu machen.

Ferdinand, der soeben die Hand mit der Coeur-Sieben hoch in der Luft hielt, um das Pappblättchen mit Gepolter auf den Tisch zu schleudern, ließ, als er die Vorbereitungen am Klavier sah, die Karte ganz gemächlich in einem Bogen über die Tischplatte segeln. Er hatte Lebensart. Er liebte Musik nicht, aber wenn sie ihm auch unangenehm war, er fürchtete sie nicht, sondern er ließ sie über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Dafür rächte er sich dann mit rückhaltloser Kritik.

Er selbst besaß auf dem Klavier kein umfängliches Repertoire, er spielte nur durch irgendeinen Zufall die ersten fünf Takte der Iphigenienouvertüre – und das war alles. Aber er wußte sein Können so geschickt zu verwerten, daß noch niemand bemerkt hatte, daß er nicht darüber hinauskäme. Jason war musikalisch, aber seine Stimme hatte in den letzten Jahren durch Druckers böse Weine gelitten; die hatten ihm die Kehle rauh wie ein Reibeisen gemacht, und sein Musikkönnen und -verstehen reichte auch gerade nur für den Hausbedarf hin.

Auch Tante Rikchens Cercle dämpfte die Helligkeit seiner Stimmen, als man Jason neben dem Klavier sah und Jettchen die Lichter anzündete.

»Den Jean Grillon«, rief Hannchen.

Und Jason stützte sich auf die Klavierplatte, hatte das lahme Bein etwas in die Hüfte eingeknickt, fuhr mit der Hand übers Haar und sang dann in flottem, frischem Tempo, während Jettchen dazu ein paar Akkorde griff:

»Ich bin ein Franzose, mes dames,
Comme ça mit die hölzerne Bein,
Jean Grillon, das ist mein Name,
Mein Stolz ist die hölzerne Bein.
Ich küsse, ich lache, ich kose« –

Jenny und Wolfgang stießen einander hier bedeutungsvoll in die Seiten – –

»Comme ça mit die hölzerne Bein.
Im Herzen – – da bleib' ich Franzose.«

Onkel Jason sang »Franzosäh«, – –

»Und wär' ich auch außen von Stein.«

Ferdinand war mit seines Bruders gesanglicher Leistung nicht zufrieden. »Jason«, sagte er freundlich, »du heulst doch heute wie der Mops in der Laterne.«

Aber Kößling meinte, das wäre ganz nett, man entdecke doch immer neue Seiten an Jason Gebert. »Singen Sie Schubert?«

»Hier nicht«, sagte Jason, der seine Zuhörerschaft kannte. »Passen Sie auf, das zieht mehr, und es ist dabei wirklich ganz niedlich. Kennen Sie's?

Nante rannte plein carrière
Aufs Regreßamt, versetzte seine Uhr,
Kauft 'nen italien'schen, den er mir verehrte,
In dem er mich mit spazieren fuhr.
Kaum aber sind wir uff die Jungfernbrücke,
Hebt sich ein Wind und, welches Ungelücke,
Mein italien'scher Hut mich in die Spree.
Nante aus 'm Wagen, uff de Appelkähne,
Fischt sich mein Hüteken und dieses janz alleene+...
– Und nu frag' ich, ob dat noch ein andrer tut?«

Die Schlußreihe schmetterte Jason mit Aplomb hervor. Sie wurde von den Kindern mitgesungen, und auch Ferdinand konnte nicht umhin, mit dem Kopf zu nicken und mit den Füßen den Takt zu treten.

Aber Kößling hatte nur wenig zugehört und immer und einzig Jettchen angesehen, die gerade und stolz auf ihrem Stuhl saß, den Kopf ganz wenig zur Seite geneigt, halb verträumt, während die weißen Hände leise und unaufdringlich irgendwelche Akkorde griffen, die sich dem Gesang fügten. Spielen konnte sie nicht gut, das fühlte er; aber sie empfand Klang und Rhythmus, weil alles an ihr Musik war.

»Na, Kößling!« rief Jason, der sich noch mit einem getupften Seidentuch die Stirn trocknete, »wie ist es? Oder sollen wir erst die Fenster öffnen, um die letzten Töne meines profanen Gesanges verflattern zu lassen?«

»Lieben Sie Musik, Demoiselle Jettchen? Aber das braucht man ja nach Ihrem Spiel nicht zu fragen. Was wünschen Sie? Beethoven? Kennen Sie diesen Marsch von ihm?« Er schlug mit einem Finger den raschen und scharfen Takt und dann begann er.

Niemand hatte geglaubt, daß in diesem alten, braunen Kasten eine solche Macht und eine solche Flut von Tönen steckte; das hatte dies grüne Zimmer noch nicht vernommen. Kößling spielte, was man von ihm verlangte, den Barbier so gut wie Mozart, Haydn oder Gluck. Die Töne rauschten durch den Raum wie Orgelklang bei dem Andante der Fünften, so daß selbst Ferdinand die Karten aus der Hand legte, die Augen schloß, mit dem Fuß taktierte und mit dem Kopf nickte; – und sie zogen wieder fein und silbern wie Rauchringe bei der Ouvertüre zum Figaro von den gläsernen Saiten der schmalen Klaviatur in alle Ecken und Winkel hin.

Ferdinand stand auf, stellte sich neben das Instrument und benutzte eine Pause, um seine Kenntnisse anzubringen. »Können Sie das spielen«, sagte er und griff ein paar Takte, »ich glaube, es ist Gluck.«

»Gewiß«, erwiderte Kößling, »es ist die Iphigenienouvertüre, aber es ist nicht ganz richtig; hier steht c, nicht cis.«

Ferdinand war es zufrieden und ließ sich gern belehren. Sein guter Ruf war jedenfalls gewahrt.

Salomon kam jetzt zu Kößling. »Wie Sie spielen, Herr Doktor! Es ist wirklich 'ne Freude, Ihnen zuzuhören. Wissen Sie, – damit könnten Sie doch eigentlich viel Geld verdienen.«

»Na, wenn es mal nicht anders mehr geht.«

»Und, Herr Doktor, spielen Sie mir doch mal den ›Letzten Walzer eines Wahnsinnigen‹. Es ist ein ganz neues Musikstück, ich habe es gestern bei Challier an der Spittelbrücke liegen sehen.«

Aber das tat Kößling nun nicht.

»Woher können Sie das, Herr Doktor?« fragte Jettchen, die Kößling, wie er vor dem Instrument saß, vielleicht mit ebenso unverhohlener Freude angesehen hatte wie jener Jettchen vordem; denn Kößlings Gesicht wurde fein und durchgeistigt, wenn er mit den Tönen mitlebte. »Woher können Sie das?«

»Bei uns zu Hause, Fräulein Jettchen«, sagte Kößling, ohne sich im Spiel zu unterbrechen, »war ein alter Kantor. Der war mal irgendwie nach Braunschweig verschlagen worden, so ungefähr wie Lessing nach Wolfenbüttel, – und das war ein Musikgenie. Auch wenn er mal nüchtern war, was im Jahr doch vielleicht zehnmal vorkam. Der hat mir umsonst Unterricht gegeben. Er sagte immer, ich müßte etwas Großes werden – das, was er nicht geworden ist. Nicht 'nen Stüber hat er dafür bekommen, jahraus, jahrein ... Es war schade, daß wir's nicht konnten. Erstens um uns und zweitens um ihn. Denn der alte Kantor brauchte den Branntwein. Niemals war er so unglücklich wie an den zehn Tagen im Jahr, an denen er nicht betrunken war. Dann aber ließen ihn auch seine Freunde und seine Schüler nicht 'nen Augenblick allein, denn man fürchtete immer, er würde sich was antun.«

»Sie sind Braunschweiger?«

»Kennen Sie es, Fräulein.«

»Nein.«

Nun stellte sich Kößling zu ihr und begann zu erzählen:

»Es ist eine alte Stadt, Fräulein Jettchen, mit ganz engen Straßen und Höfen. Aber wenn Sie sie des Abends bei Sonnenuntergang vom Windmühlenberg aus sehen, dann ist sie wie ein Mohnblumenfeld so rot. Da habe ich manchen Nachmittag als Junge mit meinen Büchern oben gesessen und immer unten die rote Stadt gehabt, mit den vielen Giebeln und Türmen, ein Feld, ein einziges rotes Feld von Ziegeldächern! Es ist nicht das Leben da wie in Berlin. – Es ist so ruhig. Der Hof, das Theater, – nicht wahr? – Das ist alles. Mir ist es zu eng... ich konnte nicht dableiben. Ich hätte es da wohl zu etwas gebracht, ich hatte Protektion; aber ich konnte es nicht... ich bin nicht der Mann dazu. Lieber soll es mir in Berlin schlecht gehen als in Braunschweig gut!«

Da kam das Mädchen und bot Bier an und Brötchen, und das gab eine Pause im Gespräch.

Die Herren spielten immer noch, legten einen Rubber nach dem anderen auf, trotzdem die Lichter schon ganz niedergebrannt waren und rot zuckten und knisterten. Aber Ferdinand war im Verlust, und das mißfiel ihm.

Wolfgang war schon so müde geworden, daß er mit dem Kopf auf dem Schoß des alten Fräuleins mit den Pudellöckchen eingeschlafen war, die deshalb ganz stocksteif saß und sich nicht zu rühren wagte. Jenny hatte ganz kleine Augen bekommen, und selbst die Eierbrötchen machten ihr keine Freude mehr. Rikchen und Hannchen zogen über Jettchen her, warum sie sich bei den Herren hielte, – das wäre erzkokett von ihr. Aber Minchen nahm sie in Schutz und sagte, sie fände nichts dabei. Sie hätte es seinerzeit mit ihrem Eli ebenso gemacht. – Eli war jetzt ganz frisch und munter und plauderte mit den Frauen.

»Se spielen mit uns Schindluderchen, de Frauensleute, unser Lebelang. Vorgestern – meine Mine – sagt se, se will zu Goldmanns gehen, se haben sie zu e Tasse Tee eingeladen. – ›Minchen‹, sage ich, ›bleib da, – was willste bei dem Wetter? Ich lass' dir 'n ganzen Eimer voll Tee kochen, da kannste trinken, soviel du willst.‹ – Wer geht, is meine Mine. Erst hab' ich mich geärgert, dann hab' ich mich aber doch gefreut, wie se wieder da war, un es ihr nichts geschadet hat. Se spielen eben Schindluderchen mit uns, de Frauensleute. Wenn wer jung ist, tun se's; und wenn wer alt sind, erst recht!«

Hiermit waren Rikchen und Hannchen nicht einverstanden und meinten, es wäre eher umgekehrt. Sie wenigstens hätten gar keinen Einfluß auf ihre Männer. Aber Onkel Eli sagte, man sähe doch, daß das nicht wahr wäre. Sowohl Salomon wie besonders Ferdinand wären vor der Hochzeit die reinen Franzosen gewesen, und jetzt wären se ja noch ganz solide Bürgersleute geworden. Hannchen lächelte mitleidig. Aber da ihr das Gespräch vor ihrem Max peinlich war, ging sie zum Klavier, setzte sich auf den weichen kleinen Stuhl – sie saß darauf breit wie eine Flunder – und sang Casta diva, keusche Göttin aus »Norma«, während sie mit einem spitzen Finger irgendwie auf den Tasten herumstocherte.

Das war böse. Ferdinand fühlte sich dadurch beleidigt und gab seinem Eheweib halblaut zu verstehen, sie möchte doch den Mund halten; sie wären hier nicht unter sich, – was denn Doktor Kößling davon denken sollte! – Ferdinand war eben noch immer im Verlust.

Kößling dachte gar nicht über Hannchens Spiel nach, ja, er hörte vielleicht ihren Gesang nicht einmal. Er fühlte sich wohl in Gegenwart Jettchens, er erzählte ihr von Braunschweig, und sie hörte ihm zu. Er sagte, daß man so etwas wie den Rathausmarkt hier nicht hätte. Man verstände dort den Wackenroder... es wäre wie verzaubert, wenn man des Abends herüberginge und das feine Maßwerk der Lauben wie ein Brüsseler Spitzentuch aussähe. Hier wäre alles so neu, die Straßen, die Menschen und die Häuser, so gerade. Aber ganz Braunschweig sähe aus wie eine unordentliche Kommode und wäre dabei doch schön.

Er sprach und sprach. Jettchen stand vor ihm an dem Spiegel, hatte den einen Potpourritopf geöffnet, dem ein Duft entstieg, süß und scharf zugleich. Und sie wühlte mit der Hand in den Rosenblättern. Ab und zu aber hob sie den Arm und ließ die fein und leise raschelnden Blätter wieder in die Vase zurückrieseln.

Kößling sprach von Jugendfreunden, die er nie wiedergesehen, und dabei hatten sie sich geliebt wie Orest und Pylades, wie Leib und Seele. Und Jettchen sagte, ihr wäre es ebenso gegangen, und sie hätte noch Ergüsse der Liebe und Freundschaft auf dem Papier von eben denen, die sich nie mehr um sie gekümmert hätten, und die sie heute kaum ansprächen, wenn sie sie träfen. Ihre beste Freundin hätte einen Hauptmann hier von der Garde geheiratet, und da wäre nun natürlich an ein Zusammenkommen nicht mehr zu denken. Es wäre ihr manchmal ganz eigentümlich zumute, wenn sie in ihrem Stammbuch blättere.

Ob er das einmal sehen könnte? Ob sie vielleicht so gut sein würde, es ihm zu zeigen? Er hätte solche Lust, es zu sehen.

»Gewiß, ich werde es holen«, sagte Jettchen und ging.

Kößling stand allein.

Jason, der schon eine Weile um den Whisttisch herumgeschlichen war wie der Marder um den Taubenschlag, hatte sich endlich bequemt, den Strohmann in seiner schwierigen Tätigkeit abzulösen.

Jason ließ sich stets nur ungern bewegen, sich an den Spieltisch zu setzen, denn er kannte sich nur zu gut, und er wußte, daß, wenn er einmal an ihm saß, es noch weit schwerer war, ihn zu bestimmen, von ihm wieder aufzustehen. Sein Temperament ging beim Spielen mit ihm durch, und das Lehrgeld, das er in der Jugend gezahlt hatte, hatte ihn gewitzigt, Orte zu meiden, wo Karten fielen und Geld rollte. Aber hier bei diesem häuslichen Whistspiel, unter Brüdern – was konnte da schon Großes herauskommen?

Kößling stand allein.

Er hatte das Gefühl, als ob plötzlich die Kronleuchter ausgegangen wären. Es war mit einem Male fast dunkel geworden, wie die Tür sich hinter Jettchen schloß. Solange sie noch auf der Schwelle stand und er ihre weißen Schultern mit den goldenen Bändern darüber sah, solange er den Hals sah mit dem schönen Ansatz der schwarzen emporstrebenden Haarsträhnen, war es noch ganz hell und festlich gewesen. Und jetzt war es dunstig und trübe im Raum.

Kößling wollte einen Augenblick zu den Damen gehen oder zum Whisttisch, aber er besann sich und ging zu den Büchern. Und während es schien, als ob er die Titel studierte, schielte er nach der weißen Tür, ob sie sich nicht öffne.

Dann kam Jettchen wieder. Sie trug ganz unauffällig ein rotes, schmales Saffianbändchen in der Hand, und die Lichter auf der Krone zuckten plötzlich wieder auf – und der Raum war hell bis in die letzten Winkel.

Und nun standen sie beide niedergebeugt, die Köpfe ganz eng beieinander, am Klavier, und Jettchen blätterte langsam in dem Buch.

Eine Seite trug stets lange, feine Schriftzüge, und auf der anderen war ein Bildchen, eine Oblate, eine Silhouette, eine kleine Malerei, eine Haarlocke am seidenen Bändchen oder ein aufgeklebtes, gepreßtes Blümchen: »Vivons nous trois: vous, l'amitié et moi« – und drüben ein Vergißmeinnicht. –

»Wer ist das?«

»Ein Freund vom Onkel.«

Kößling gab es einen Stich durch und durch. Er hätte weinen mögen.

»Sehen Sie, hier ist sie – die Freundin. Karoline Ceestow. Sehen Sie das nette Tempelchen und die Bäume dahinter? Sie hat auf der Schule hübsch gezeichnet.

›Ich flehte nicht vergebens
Ums höchste Gut des Lebens,
Ums Freundschaftsglück für mich;
Der Himmel gab mir dich!‹

Ist das nicht, als ob man sich nie trennen wollte? Man sollte eigentlich so etwas nicht schreiben, denn es wird doch immer zur Unwahrheit...

Hier ist Hannchen Simon. Sie war so pathetisch und hat Schillers ›Laura am Klavier‹ in der ersten Klasse immer durch die Nase aufgesagt...

›Spinnet langsam, ihr Parzen, denn sie ist meine Freundin! Zur Erinnerung an deine dir ewig treue Johanna. Meyn Symbol: der fünfzehnte May!‹«

»Ach so – also der fünfzehnte Mai? Im schönsten Monat des Jahres und an seinem schönsten Tage! – Aber ich verstehe... jeder andere Tag wäre von der Vorsehung für Sie nur eine Beleidigung gewesen.«

Sie hatten die Köpfe ganz dicht beieinander, und Jettchen wurde rot wie Klatschmohn. Hinter ihr tuschelten Hannchen und Rikchen, und auch das Fräulein mit den Pudellöckchen war mit diesem Benehmen Jettchens keineswegs einverstanden; ja, sie war so erstaunt und erschrocken darüber, daß sie eine Masche fallen ließ, was ihr seit Monaten nicht passiert war.

»Wer ist das hier?« fragte Kößling. »Wer hat denn diesen kleinen Altar mit dem Amor daneben gezeichnet? Das ist ja so sauber wie ein Stahlstich!«

»Ach, das ist Onkel Jason«, sagte Jettchen und schlug schnell um.

»Wie hübsch er zeichnet! Darf ich es nicht noch mal sehen?«

»Onkel Jason wollte ja eigentlich Maler werden, aber sein Vater hat's nicht gelitten. Er hätte eben nachher Großvaters Geschäft weiterführen sollen, – dabei hätte er schon alle seine Fähigkeiten brauchen können. Der war nämlich Hofjuwelier, und all die Silbersachen, die Sie hier sehen – auch die drüben im Schrank –, die stammen noch von ihm. Aber da war Jason doch jahrelang krank mit seinem Bein, und währenddessen ist dann das Geschäft aufgelassen worden. Und Hofjuwelier wäre er ja auch nicht geblieben.«

»Darf ich es noch mal sehen?«

Jettchen schlug zurück, hielt aber die Hand auf die Schrift.

»Darf ich nicht auch lesen, was er für einen Vers eingeschrieben hat?«

Jettchen schob die Hand langsam ein wenig höher auf dem Blatt, so daß unter ihrem Daumen und dem langen, schmalen Zeigefinger mit seiner rosigen Nagelkuppe in reichgeschnörkelten, langen Zügen der Name Jason erschien.

»Und mehr darf ich nicht sehen?«

»Warum nicht«, sagte darauf Jettchen. »Es ist ja eigentlich auch nichts Böses bei. Es ist ja auch nur ein Scherz von Onkel gewesen.« Und sie schob langsam die Hand herunter.

Und beide lasen halblaut, Zeile für Zeile...

»Wenn Teufel beten, Engel fluchen,
Wenn Katz' und Mäuse sich besuchen,
Wenn alle Mädchen keusch und rein,
Dann hör' ich auf, dein Freund zu sein.«

Jettchen schlug damit das Buch zu. Und beide hoben die Köpfe hoch und lachten einander an.

»Dieses Poem werde ich mir merken«, sagte Kößling.

Jettchen schob das Buch vorsichtig auf eine Ecke des Fensterbrettes.

»Wir müssen auch mal zu den anderen gehen; sie reden schon über uns.«

Und sie gingen nebeneinander – fast hätten sie einander untergefaßt –, lustig und guter Dinge durch den Saal hin, dort hinüber, wo Tante Rikchen inmitten ihres illustren Hofstaates thronte.

Minchen sah ihnen entgegen.

»Sieh dir an, Hannchen, was für zwei schöne Menschen!« sagte sie halblaut.

Aber Hannchen schüttelte nur unwillig mit dem Kopf.

»Jettchen, de siehst doch aus heute, – zum Verlieben! Wie de Levinia!«

Jettchen und Kößling standen beide vor der kleinen hochschultrigen Tante Minchen, die wie ein veilchenfarbiges Miniaturgebirge auf ihrem Stühlchen hockte, und sahen lachend auf sie hernieder.

»Was lachen Se, Herr Doktor? Es ist durchaus keine Schande, wenn se so aussieht. De Levinia is doch Raffaels schönstes Gemälde!«

»Und du, Tante«, sagte Jettchen, »siehst in deinem neuen violetten Kleide aus: – wie das Veilchen, das im verborgenen blüht.«

»Schelmchen, ich bin doch 'ne alte Frau heute«, erwiderte die kleine Person und tat verschämt wie ein junges Ding von sechzehn Jahren. »Zu meiner Zeit bin ich auch sehr hübsch gewesen, – aber so hübsch wie du doch nicht. Ich hab' nicht die Figur gehabt... Du bist eben 'ne Gebert!«

»Herr Doktor, wie Sie spielen – göttlich! Sie können nicht glauben, wie ich für Musik schwärme!« sagte Rikchen mit einem seitlichen Blick, wie er ihr vor dreißig Jahren gut gestanden hatte, und lächelte Kößling an.

Jettchen war erstaunt über ihre Musikliebe. Denn in dem nun bald fünfundzwanzigjährigen Zusammenleben mit Tante Rikchen war ihr diese Eigenschaft der Tante völlig entgangen.

»Haben Sie sich gut unterhalten, Herr Doktor?« fragte Hannchen.

»Ausgezeichnet!«

»Schade, daß wir hier gar nichts von Ihnen gehabt haben!« fuhr Hannchen etwas spitz fort.

»Laß nur, der Herr Doktor wird sich mit dem jungen Volk eben besser amüsiert haben«, akkompagnierte Rikchen.

Jettchen standen die Tränen in den Augen, trotzdem sie das eigentlich erwartet hatte. Was sie nur immer von ihr wollten! Ihretwegen war er doch sicher nicht gekommen!

»Ich finde es ganz recht von Jettchen, daß sie den Herrn Doktor für sich genommen hat«, kam Tante Minchen ungeschickt, aber gutherzig zu Hilfe.

»Weibergeklätsch!« polterte Eli. »Se werden sich hinsetzen und sich von Minnas Bräutigam erzählen lassen! Hab' ich nicht recht, Herr Doktor, se spielen mit uns Schindluderchen, de Frauensleute! Sehn Se 'raus nach 'n Galgenberg! Was steht da angeschrieben? – Immer sind de Frauensleut schuld – immer de Frauensleute!«

Kößling verteidigte sich, so gut es ging. Denn er merkte wohl, daß alles auf Jettchen zurückfiel, die hier allein stand, und er beeilte sich deshalb, andere Gesprächsstoffe heranzuziehen. Er fragte, ob und wohin sie den Sommer gingen. Und damit war Tante Rikchen aufgezogen wie eine Spieluhr und leierte ihre Walze ab. Sie setzte Kößling alle Vorzüge der Rosinenstraße als der feineren vor der Berliner Straße ins beste Licht, nachdem sie vorher zwischen Pankow, Schöneberg und Charlottenburg Parallelen gezogen. Und sie sagte, daß sie in dieser Woche noch mieten wollte – sie schwankte nur noch zwischen drei Wohnungen, und sie hoffe, Herrn Doktor auch einmal bei sich draußen sehen zu können.

Hiermit war Kößling einverstanden.

Und nun erging sich Onkel Eli weitschweifig und mit einer Wichtigkeit, als ob er Reden an die deutsche Nation hielte, über Rührei und Spargel – mit einem Versenken in die Details der Zubereitung, mit der Erinnerung an gute und schlechte Spargeljahre, daß Kößling an Brillat Savarin dachte.

Dieses Manöver des alten Nußknackers brachte das Gespräch auf das Essen überhaupt, und Jettchen wunderte sich des Todes, wie Tante Rikchen ihrer Schwester die geheimen Kniffe und Pfiffe des Einmachens preisgab. Einer anderen hätte sie wohl ihre Erfahrungen nie anvertraut. Aber hier konnte sie sicher sein, sie wurden nicht mißbraucht. Denn Hannchen hatte eingemachte Nüsse, die vorher acht Tage im lauen Zuckerwasser wässern mußten und dann mit einer »sauberen« Nähnadel durchstochen werden mußten, bei ihrer Schwester Rikchen billiger.

Endlich taute auch Max auf und machte sich an Kößling mit einem literarischen Gespräch, in dem er Gutzkow einen Esel nannte und Eichendorff einen Faselhans. Vor Heine zeigte er Achtung, sagte aber, daß er sich jetzt auf Abwegen befände. Jedenfalls wäre Langenschwarz ein größeres Genie. Ob Kößling die »europäischen Lieder« von ihm kenne.

Kößling sperrte Mund und Nase auf. Ihm war bisher in literarischen Kreisen so manches Aburteilen vorgekommen, aber keines von so dummdreister Frechheit. Da Max durchblicken ließ, daß auch er sich schriftstellerisch betätige, so riet ihm Kößling, er möchte einmal etwas aus dem Englischen übersetzen; vielleicht Byron. Er lerne dadurch den Dichter kennen und wäre zu Selbstzucht in Form und Rhythmus gezwungen.

»Das habe ich schon getan«, entgegnete Max, zog die Stirn kraus und beschattete mit der Hand die Augen, »und man sagte mir – man sagte mir –, daß meine Übersetzung des ›Child Harold‹ sogar besser wäre wie die von Freiligrath.«

Wer dieses Urteil abgegeben, verschwieg er.

Kößling saß still und sann. Er fragte sich, ob er denn auch mal so gewesen sei, und er dachte an die Nächte voll Entzückungen, da er bei dem von seinem schwer verdienten Stundengeld gekauften Talglicht – er lehrte alles, Musik, Latein, Turnen, Mathematik für anderthalb Silbergroschen die Stunde – da er das erstemal den Wilhelm Meister und den Heinrich von Ofterdingen gelesen – er dachte an die Tage wie im Traum, als er das »Buch der Lieder« in die Hand bekommen und mit ihm oben auf dem Windmühlenberg gesessen hatte und die ganze bekannte Welt, die Bäume +... die roten Dächer unter ihm+... die blauen Bergzüge in der Ferne, alles ihn mit neuen, verzauberten Augen angeblickt hatte+... War das nun eine andere Rasse oder nur eine andere Generation? –

Aber da geschah etwas Unerwartetes, was alle in Staunen setzte; Hannchen, Minchen, Rikchen und Onkel Eli, – ja, es ließ das Fräulein mit den Pudellöckchen so zusammenfahren, daß Wolfgangs Kopf ihr vom Schoß glitt und der Junge, der glaubte, er müsse zur Schule, greinend erwachte. Nur Jenny schlief dabei, an die rundliche Schulter Tante Hannchens gelehnt, ruhig weiter.

»Höre mal, Max, ich glaube nicht, daß das den Herrn Doktor interessiert«, hatte plötzlich Jettchen gesagt – sagte es nicht, – hatte es gesagt, in einem Ton, der nicht mißzuverstehen war und in dem eine lang verhaltene Erregung zitterte. »Du machst dich nämlich damit lächerlich.«

Darauf war es still im Kreis wie vor einem Gewitter.

Max erwiderte nichts Vernehmbares und murmelte nur etwas wie »Idioten« und »Familienrücksichten«.

Aber Hannchen ergriff für ihren Sohn ausgiebiger das Wort. »Ich glaube, daß die Unterhaltung von Max den Herrn Doktor wenigstens ebenso interessiert wie die von dir, Jettchen!« Dumme Person, setzte sie innerlich hinzu.

Und nun geschah das zweite Unerhörte in dieser Nacht.

»Hierin muß ich Ihnen, Madame, als der einzige, der darüber Auskunft zu geben vermag, so leid es mir tut, unrecht geben«, sagte Kößling lächelnd, sehr verbindlich, aber sehr bestimmt und suchte Jettchens Blick.

Man war sich darüber einig, daß er ein sehr unerzogener Mensch wäre, der nicht mehr eingeladen werden dürfte, und man beschloß, Jason Vorwürfe zu machen, wie er ihn nur hätte herbringen können.

Es herrschte Frieden vorerst. Aber der Frieden war peinlich, und der Saal war von Aufbruchsstimmung erfüllt.

»Herr Doktor, kann ich Ihnen noch 'ne Zigarro geben?« sagte Eli und zog ein Ledertäschchen.

»Aber Eli, du wirst doch nicht hier in der guten Stube rauchen wollen?«

»Nu, meinste vielleicht, Minchen, ich werd' dazu extra auf 'n Neuen Markt gehen? – Nehmen Se nur, Herr Doktor, hier die kleine is gut, – wissen Se, mit de Zigarros ist das nämlich solche Sache. Entweder haben se zuviel Fett, dann beißen sie – oder de Einlage kommt mit 'm Deckblatt nich mit, – denn kohlen se und Strünken se. Ich fer meine Person rauche lieber Pfeife! Früher hab' ich auch viel geschnupft. – Nehmen Se ruhig+... hier, ich trag' auch immer ein Fixfeuerzeug mit mir in de Tasche. Sie können se ja nachher auf de Straße weiterrauchen. Wenn der Herr Viertelskommissarius kommt, sagen Sie nur, Sie hätten die Zigarre von mir, – er kennt mich.«

Drüben am Whisttisch rappelte und rührte es sich jetzt

»Es ist Zeit«, sagte Jason und streckte sich. »Ich kann kaum noch sitzen.«

Der Schwede verbeugte sich zu den drei Brüdern und sagte: »Takke!« Er hatte Grund dazu, denn er ging um ein paar Taler reicher fort, als er gekommen. Aber das machte nichts, denn das holte Salomon an seinem Auftrag zehnfach wieder heraus.

»Höre mal, Schwägerin«, rief Ferdinand laut herüber, »du mußt doch mal hier den Fußboden aufreißen lassen, – ich bin der festen Überzeugung, hier – siehste hier, – muß ein Schuster begraben liegen. So viel Pech kann sonst gar nich auf einem Fleck beieinander sein!«

»So, so«, sagte Rikchen, die diesen Witz heute gerade zum fünfzigsten Male von Ferdinand hörte. »Ich werde morgen den Zimmermann Dörstling kommen lassen.«

»Wie wär's, Salomon, kannst du mir vielleicht eine Laterne geben? Es steht heute Mondschein im Kalender«, rief Jason lustig, »oder kannst du sie nicht entbehren?«

»Es ist wohl besser, Jason, wenn du dir zu deinen Wegen nicht noch eigens leuchtest«, gab Salomon zurück.

»Na, woran liegt's noch?« fragte Eli, der mit einmal ungeduldig war, wegzukommen.

»Darf ich mir noch einen Mürbekuchen mit auf den Weg nehmen?« tuschelte Jenny heimlich, während sie sich schmeichelnd an Jettchen drängte.

Wolfgang war ganz verschlafen und torkelte nur so zur Tür.

Max verließ das Zimmer mit dem Stolz eines entthronten Königs.

»Ich habe mich sogar sehr mit Ihnen gefreut«, sagte Onkel Eli leutselig.

Kößling lächelte.

»› Sogar‹, Onkel, ist köstlich!«

»Nu, is es vielleicht nich wahr, Jason?«

Auch Minchen sprach auf Kößling ein.

»Vielleicht machen Se uns einmal das Vergnügen. Wir sind zwar einfache alte Leute und so fein, wie's bei meinem Neffen Salomon is, is 's bei uns nich, – aber kommen Sie nur. Sie brauchen nur nach Herrn Gebert zu fragen – das sagt Ihnen auf 'n Hohen Steinweg jedes Kind.«

Hannchen ging an Kößling, Minchen und Jason vorüber, – kühl und steif mit dem Kopfe nickend, – ganz Förmlichkeit – ohne eine Miene zu verziehen. Zwar kümmerte sie sich nicht viel um ihre Kinder; aber sie schlecht machen lassen von anderen Leuten, das duldete sie nicht.

»Was hat denn diese Pute?« fragte Jason erstaunt.

Kößling wollte antworten, aber da trat Salomon auf sie zu und schüttelte Kößling die Hand.

»Lassen Sie sich nur recht bald wieder sehen, Herr Doktor, – und ich muß Ihnen doch vielmals für den musikalischen Genuß danken. Früher ist ja hier bei uns im Haus viel musiziert worden. Bei meinem seligen Vater war im Winter jeden Donnerstag Quartettabend, und da haben sogar die Musiker von der Oper mitgespielt. Aber ich weiß nicht, wie das kommt – bei uns ist jetzt nichts mehr los!«

Er wußte schon, woher das kam, aber er fand keinen Grund, warum er darüber mit Kößling sprechen sollte.

Auf dem Korridor war Gedränge. Jeder suchte nach seinen Sachen. Tante Hannchen konnte ihr Kantentuch nicht finden und behauptete so lange, es müsse ihr gestohlen sein, bis ihr jemand sagte, daß es doch da groß und breit am Riegel hinge. Dann meinte sie, daß es eine Minute vorher dort noch nicht gehangen hätte. Darauf sagte Ferdinand, der ohne Vorkenntnisse den Sinn dieses Manövers nicht verstehen konnte, wenn sie den Sommer nach Schöneberg ginge, möchte sie nicht versäumen, dort die Anstalt mit dem französischen Namen aufzusuchen, die ihrem etwas verwirrten Geisteszustand vielleicht Heilung bringen könnte.

Tante Minchen lieh sich doch noch für alle Fälle auf Betreiben Onkel Elis von Jettchen ein Umschlagetuch. Aber sie band es nicht um.

Das Mädchen kam mit der Laterne, um die Treppe hinabzuleuchten. Es war das hübsche Ding mit den bloßen Armen.

Salomon und Rikchen standen bei der Tür, schüttelten jedem die Hand und sagten, daß nicht er, sondern sie zu danken hätten.

Jettchen war auf den Vorflur herausgetreten.

Kößling ergriff ihre Hand.

»Hoffentlich sehen wir uns nun bald, und es liegt nicht wieder eine Pause von dreißigtausend Jahren zwischen heute und unserem nächsten Zusammensein. Denn irgendwie und irgendwann müssen wir uns schon einmal getroffen haben. Aber die näheren Umstände, glaube ich, haben wir beide vergessen!«

»O nein, ich erinnere mich«, sagte Jettchen lachend, »aber ich darf es nicht ausplaudern! Also auf Wiedersehen! – Hoffentlich recht bald!«

»Hoffentlich!«

Die anderen zogen indes im flackernden Licht der Laterne an ihnen vorbei die breite Treppe hinab.

Die Kinder tappelten voran, nahmen immer zwei Stufen auf einmal. Das alte Fräulein tastete mit dem Fuß nach jedem Tritt, und Minchen und Eli hatten sich angefaßt, ganz fest, und jeder meinte, daß er auf den anderen achtgeben und seinethalben besonders langsam gehen müsse. Und so rissen sie sich hin und her.

Jason griff nach dem Geländer und ging Stufe vor Stufe. Dazu blies er mit den Lippen das Signal zum Aufbruch.

Kößling verstand es und beugte sich nieder, um Jettchens weiche, warme, fleischige Hand zu küssen, die er immer noch in der seinen hielt. Und es war gut, daß es halbdunkel war und er nicht sehen konnte, wie Jettchen rot – glutrot – wurde.

Dann ging er wortlos, den Kopf halb gewandt, nicht so, daß er Jettchen gerade mehr sah, aber so, daß er noch einen Schimmer von ihrer hellen Gestalt im Auge hatte, langsam die Treppe hinab.

Jettchen stand oben am Geländer und lauschte mehr als sie sah in das nächtliche Treppenhaus mit seinen zuckenden, verdämmernden Lichtern und seinen tappenden, hallenden Schritten – hörte das Knarren des Tors und das helle und dumpfe Durcheinander von Stimmen.

»Jettchen! Jettchen! Komm doch herein! Was machste denn da noch draußen?« rief Tante Rikchen und erschien mit aufgeknöpfter Taille in der Tür.

Jettchen ging langsam und nachdenklich hinein. Sie hatte die Empfindung, als ob die Beine nicht recht mitwollten, und als ob sie jede Minute zusammenknicken müsse. Sie ging noch nach vorn und löschte die Lichter.

Salomon kam indes. Er hatte schon den Rock ausgezogen – war hemdsärmelig –, um ihr »gute Nacht« zu wünschen. Er küßte sie auf die Stirn.

»Ich glaube, Rikchen ist ärgerlich auf dich. Sie sagte so etwas. Also sieh mal zu, daß das wieder schnell in Ordnung kommt, mein Töchterchen.«

Wenn die Tante dabei war, sprach er nie so weich und freundlich zu ihr, denn er fürchtete falsche Auslegung.

Dann ging er.

Plötzlich mit dem Verlöschen der Lichter geisterte der Mond in das Zimmer, und drüben blitzten die Dächer und Dachfirste auf, über die der Mond hinüberblickte, um seine langen, weißen Flecke auf den Boden zu malen.

Jettchen trat noch einmal an das Fenster, in das helle grünliche Licht, das ihr voll in das Gesicht schien, und blickte auf die Straße. – Da hinten zogen sie noch. Erst Hannchen mit den Kindern, dann Ferdinand und der Schwede – sie konnte sie alle ganz gut an den Gestalten erkennen, – Eli und Minchen – und ganz zuletzt Jason und Kößling ... Sie sah ihnen nach, bis sie an der Ecke stehenblieben, um Abschied voneinander zu nehmen. Dann ging sie in ihr Zimmer. Die Tür nach der Galerie stand offen, und der ganze Raum war erfüllt von dem herben Hauch des Nußbaums, der in der Frühlingsnacht duftete, als müsse er seine ganze Seele ausgeben ...

Jettchen trat ins Freie. Sie streifte mit dem Gesicht fast die Zweige, griff einen Augenblick an das Geländer und empfand wohltuend die Kühle des Eisens an den heißen Händen.

Der Himmel war ganz dunkel. Und doch schien er heimlich wie Phosphor zu leuchten, und zwei einsame Sterne zitterten in dieser flimmernden schwarzen Decke. Oben die Hauswände, die Fenster, die Dächer des Hinterhauses waren taghell und wie mit Katzengold belegt, aber unten war der Hof in Nacht gehüllt, in der nur ganz allmählich das Auge etwas unterschied.

Eine Weile stand Jettchen, dann hörte sie tuscheln, leise Worte, kichern und flüstern und ganz zage Tritte. Und wie sie sich über das Geländer beugte, unterschied sie unten ein Mädchen mit einer Laterne und einen Mann in weißer Jacke. Und sie ging in ihr Zimmer ...

 


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