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Und alles kam, wie es kommen mußte, alles, wie es kommen mußte. So, wie es draußen im Garten noch einmal aufloderte und der Ahorn zu unerhörten goldigen Flammen wurde; und so, wie der wilde Wein, als wäre er aus Blutstein geschnitten, Wand und Laube verkleidete; so, wie das leuchtende Karmin und das versengte Braun und das ganz lichte Gelb die Stämme und Zweige der Rüstern, der Kastanien und der Pappeln umkränzte, – bevor es in ganzen Lasten zu Boden brach und Rasen und Wege zudeckte, bevor endlich der Regen kam und Generalabrechnung mit dem Sommer hielt, indem er immer wieder auf die paar letzten gelben und braunen Blätter klatschte und trommelte und sie – wie sehr sie auch flattern und bitten mochten – doch von den Zweigen schlug und achtlos in irgendeine Ecke des Gartens oder der Wege warf, – so kam das auch mit Jettchen. Es loderte noch einmal auf in glühenden Farben, in Gold und Karmin und in Purpur wie Blutsteine, und dann brach es fort. – Und es kam weiter der Regen und klatschte auf die letzten Blätter und zerrte an ihnen und schlug sie von den Zweigen und warf sie achtlos in irgendeine Ecke. –
Alles kam, wie es kommen mußte ... alles, wie es mußte. Der Tag war noch nicht so früh, da war der neue Vetter Julius da, der – wie ein Kirschbaum über Nacht, ohne daß er es selbst ahnt, Blüten bekommt – über Nacht glücklicher Bräutigam geworden war. Jettchen trat ihm blaß entgegen und starr wie eine Statue und fragte nur, was er von Jason für Nachricht brächte; aber die Tante küßte Julius und sagte, sie freue sich so sehr – da sie beide ja so gut zueinander paßten. Und auch Julius schien verwirrt und glücklich und sagte zu Jettchen, er verlange gar nicht, daß sie ihm gleich Gefühle entgegenbrächte – eine Wendung, die Jettchen innerlich lachen machte; denn kein Mensch von Geschmack kann je so unglücklich werden, daß er nicht noch für den Humor einer Situation empfänglich bleiben würde. – Dann aber sagte er weiter, daß er sich mit der Hoffnung schmeichle, sich ihre Neigung zu erringen, und wenn sie sich zuerst auch nicht viel sehen würden, denn er müsse jetzt schnell zum Einkauf reisen, wenn er überhaupt diese Saison noch mitnehmen wollte, so würde sich ja bald Gelegenheit geben, daß sie sich auch innerlich nahe kämen.
Da aber kam der Onkel herein und gratulierte Julius eigentlich etwas förmlich, kühl und merkwürdig unerfreut gegen gestern nacht – und fragte, wie es seinem Bruder ginge. Und da die Antwort wenig gut ausfiel, denn Julius meinte, Jason wäre gar nicht bei Sinnen mehr, und der Geheimrat hätte gesagt, er müßte noch heute warten, aber er glaubte schon jetzt sagen zu können, daß es Typhus wäre, – so ging Salomon wortlos in sein Zimmer und kam gleich darauf gestiefelt und gespornt wieder hervor und fragte Julius, ob er mitkäme; er führe jetzt hinein. Und Julius, der sich vielleicht seine erste Bräutigamszeit anders vorgestellt hatte, schwankte einen Augenblick; aber die Tante winkte ihm mit den Augen, und Julius rief: Gewiß – er stände den ganzen Tag zur Verfügung, wenn er irgendwie gebraucht würde.
Und ehe sie noch recht zur Besinnung kamen, und ehe sie den ersten Schrecken über Jasons Krankheit verwunden hatten, waren die beiden Frauen schon wieder allein.
Jettchen wollte sofort zu Jason, aber die Tante bat und beschwor sie, was ihr einfiele, eine Braut dürfe nie zu einem Kranken gehen, das wäre verboten, und wenn sie es täte, das bedeute etwas sehr Schlimmes.
Und nicht lange, da kam schon Tante Hannchen aus Berlin herein, lachend, schnabbernd und schwabbernd, und sie fiel Jettchen um den Hals und weinte: Sie wünsche ihr alles Gute, und sie solle glücklicher werden in ihrer Ehe, wie sie es geworden; aber daß Jettchen bei Julius es gut haben würde, das brauche sie erst gar nicht zu erwähnen, so ein prächtiger Mensch wie der wäre.
Und die Kunde von Jettchens Verlobung verbreitete sich im Haus, Frau Könnecke kam herüber und wünschte Glück: es wäre nun aber wirklich auch Zeit gewesen: Und wie Jettchen in die Küche hinauskam, da stand das Mädchen mit ganz verweinten Augen da und reichte Jettchen die Hand – Männer haben ja nichts miteinander gemeinsam, aber die Frauen sind alle Schwestern durch gleiches Los. – Und wie Jettchen sie ansah, da fing sie auch wieder an zu weinen, und ehe sie recht wußte, was geschah, lehnten sie beide, Johanna und Jettchen, die Köpfe zusammen und schluchzten. Seltsam, wir glauben immer, niemand weiß, was in uns vorgeht, und was wir allein tragen, und dabei sind wir die ganze Zeit über nur aufgeschlagene Bücher gewesen, in denen die anderen nach Lust und Laune lesen konnten.
Und alles kam, wie es kommen mußte. Die Post brachte ganze Stöße von Briefen nach Charlottenburg, und täglich kamen in der Mittagsstunde Bekannte zum Gratulieren. Und Tante Rikchen saß lachend und liebenswürdig fabulierend in ihrem Schwarzseidenen auf dem Sofa, und je nach der Vornehmheit des Besuches wuchs ihre Würde und Breite. Und die Kremser brachten auch Anverwandte von Jettchens Mutter, die Jettchen durch Jahrzehnte nicht gesehen hatte: große, sehr stille Menschen von milder Freundlichkeit. Onkel Eli war schon am nächsten Tage da, und er küßte Jettchen und meinte zu Tante: »Weißte, Rikchen, zu solchen Sachen wie diese pflege ich sonst erst nach zehn Jahren zu gratulieren.« Und dann kamen auch Briefe von Julius' Schwestern aus Bentschen und von Onkel Naphtali, dem Senior aller Jacobys. Eine Brautfête aber gab man nicht. Der Onkel wollte es nicht, weil es doch Jason so schlecht ging. Und ehe man eigentlich recht zur Besinnung kam, reiste auch schon der glückliche Bräutigam fort zum Einkauf nach Posen und Oberschlesien. Oder man hätte es dann eben machen müssen wie jene silberne Hochzeit, die die alte Frau allein feierte, weil der Mann schon sechs Jahre tot war. Und wenn man das auch für eine silberne Hochzeit ausnahmsweise einmal gelten lassen kann, bei einer Verlobungsfeierlichkeit wäre es doch auffallend und unangebracht gewesen.
Man muß nun indes auch nicht denken, daß Jettchens Tage einzig in Tränen hingingen und sie immer mit einer Jammermiene umhersaß: – ihr Leben war so ruhig wie sonst. Denn Jettchen war von Natur so, daß sie gern den Dingen das Gute abgewann, und wenn sie das Glück selbst nicht haben konnte, auch jenen Schimmer von Wohlleben und Behaglichkeit dafür nahm, den man meistens dafür gelten läßt.
Und während es in Charlottenburg ziemlich ruhig war, zerriß man sich in Berlin über diese Verlobung die Münder, und kein Mensch begriff, wie dieses kluge und schöne Mädchen sich so wegwerfen könnte: er wäre doch gar nichts und stelle doch rein gar nichts vor; und wie Salomon Gebert das nur billigen könnte. Ja, es gab sogar welche, die ihm das auf den Kopf zusagten. Andere wieder tuschelten, daß da eine Geschichte dahinter stecke und daß sie jenen nur aus Trotz nähme, weil sie den, den sie mochte, nicht bekommen könne. So etwas gäbe es ja. Und die Schlechten erfanden ganze Fabeln und meinten, es würde wohl nötig sein, daß Salomon Gebert Jettchen verheirate, und Geld decke bekanntlich alles zu. Hier hätte er natürlich keinen mehr bekommen, und da hätte er sich schnell einen Neffen aus Posen für sie geholt. – Man sollte nur abwarten, sie würden recht behalten.
Und alles kam, wie es kommen mußte. – Onkel Jason hatte wirklich den Typhus, und zwar von Anfang an hoffnungslos schwer – er kam eigentlich seit jenem Tag kaum wieder zur Besinnung, und Jettchen ängstigte sich um ihn Stunde um Stunde ab. Ihr erstes Wort war, wenn sie Onkel Salomon sah: »Was sagt Stosch?« – Sie fuhr auch allein hinein, weil Salomon fast Tag und Nacht jede freie Zeit bei seinem Bruder war und sehr wenig nach Charlottenburg mehr kam; aber zu Jason selbst durfte sie nicht. Auch der Onkel sagte, eine Braut dürfe so etwas nicht tun, und der Onkel war doch sonst gar nicht abergläubisch. – Und wenn der Onkel Jettchen die Wahrheit gesagt hätte, so wäre das auch gar nicht der Grund gewesen, sondern vielmehr der, daß Jettchen und Kößling die Hauptpersonen in Jasons Phantasien waren, ja, es kam vor, daß er durch ganze Stunden den Wärter für Kößling hielt und seine alte Haushälterin mit Jettchen ansprach.
Und als es schon so weit mit Jason war, daß das alte Fräulein namens Hörtel in dem merkwürdig geblümten Kleid sagte, sie möchte doch gern einige von den Möbeln haben, wenn sie darum bitten dürfe, und Ferdinand antwortete: es würde an sie gedacht werden; und als der alte Stosch am Nachmittag Salomon beiseite nahm und ihm zu verstehen gab, er würde heute nicht wieder fortgehen, denn sein Bruder würde wohl die Nacht nicht mehr überleben – und von da an nun nicht mehr von seinem Bett wich; und als da bis Mitternacht Salomon, Ferdinand und Eli fast stumm und fröstelnd einander gegenübersaßen, hinten in Jasons Bibliothekzimmer und durch das halbgeöffnete Fenster jede Viertelstunde vom Turm hörten – da täuschte Jason, der ja nie in seinem Leben das getan hatte, was man von ihm erwartet hatte, auch dieses Mal wieder die Erwartung. Zuerst einmal fiel das Fieber, und er sprach wieder ganz klar und ruhig, so daß sie drinnen erschrocken aufhorchten. »Nicht wahr, das ist immer so kurz vor dem Ende?« fragte Ferdinand den Geheimrat. Aber der alte wortkarge Mann, dessen Grobheit ebenso berühmt wie seine Tüchtigkeit war, zuckte nur die Achseln: »Ihr Bruder wird länger leben wie Sie mit Ihren Gallensteinen, lieber Herr Gebert. Ich habe dem Wärter gesagt, daß er noch ein Bad geben soll, wenn es wieder nötig ist; aber es wird nicht nötig sein, der Puls ist ja wieder sehr kräftig und gut. – Kommen Sie jetzt mit, meine Herren?«
Und die Männer taten das, was sonst Männer selten tun, sie weinten und umarmten einander, und Ferdinand wollte gleich zu Jason vorstürmen, aber Stosch fuhr ihn an, und Eli sagte, er hätte die ganze Zeit nie geglaubt, daß es Jason so schlecht ginge, und er hätte überhaupt nichts für ihn gefürchtet; und er dachte gar nicht daran, daß das mit den Reden, die er noch vor zwei Minuten geführt, in hellem Widerspruch stand.
Aber selbst die Freude, Jason außer Gefahr zu wissen, machte Jettchen nicht viel frischer und anteilvoller, und Salomon fing schon an, sich Vorwürfe zu machen und begann die Sache von neuem mit Ferdinand zu besprechen.
»Höre mal, Ferdinand«, klopfte Salomon zuerst ganz vorsichtig an, »ich finde eigentlich, Jettchen sieht doch recht schlecht aus!«
»Nu, hast du schon mal 'ne Braut kennengelernt, die gut aussieht?« entgegnete Ferdinand, der stets in allem, was das Seelenleben anderer anging, in einer selbstgewollten brüsken Ahnungslosigkeit dahinlebte.
»Ja«, sagte Salomon, »das mag ja schon sein. Aber ich finde eigentlich, Jettchen macht sich doch gar nichts aus ihm. Meine Frau muß sie erst immer daran erinnern, daß sie ihrem Bräutigam schreibt.«
»Desto besser«, sagte Ferdinand mit seinem unverwüstlichen Optimismus. »Weißt du, Salomon, das werden nämlich nachher die verliebtesten Frauen. Und so was gibt immer die allerglücklichsten Ehen. Ich bin doch ein alter Praktikus!«
Aber Salomon leuchtete das nicht recht ein. »Und dann«, sagte er, »habe ich da noch nachträglich ein paar Dinge über Julius in Erfahrung gebracht – weißt du, man hört ja nachher immer mehr wie vorher –, eigentlich recht unangenehme Sachen, die mir ganz und gar nicht gefallen wollen. Geschäftlich und – auch in anderer Beziehung.« Und Salomon erzählte.
Aber Ferdinand konnte nichts dabei finden. Im Gegenteil. Und von dem anderen, meinte er, daß Salomon nur vergäße, daß sie es in dem Alter auch nicht viel besser gemacht hätten. Und es wäre richtiger, sie laufen sich vorher die Hörner ab als nachher. Ferdinand meinte: alles verstehen ist alles verzeihen. Und das konnte er ruhig von sich sagen, denn er verstand alles.
Aber Salomon war doch nicht so ganz umgestimmt, und seine Bedenken wurden auch dadurch keineswegs behoben, denn im letzten Grunde war ihm auch noch anderes nicht recht, über das er mit seinem Bruder nicht sprach. Denn jetzt, wo er die Briefe gelesen hatte, die von Julius' Anverwandten, von seinen Schwestern und Vettern, von seinen Onkel und Tanten, an Jettchen und an seine Frau gekommen waren, mußte er wirklich dem alten Eli beistimmen, daß mit der Familie kein Staat zu machen war. Und sein Gebertscher Stolz war tief verwundet. Salomon begriff nicht mehr, wie er sich nur je dazu hatte bestimmen lassen können, dieser Verbindung das Wort zu reden. Und dann liebte er auch Jettchen viel zu sehr, um sie gerade Julius zu gönnen. Und der brüske Ausspruch Onkel Elis von der seidenen Flicke auf dem Lumpensack kam ihm Tag und Nacht nicht aus dem Sinn. Er selbst wollte ja nicht damit anfangen, – denn man ist nicht umsonst durch dreißig Jahre Leiter eines großen Hauses, als daß man nicht verlernte, seine Fehler einzugestehen. – Aber er wartete und wartete von Tag zu Tag, daß Jettchen noch einmal kommen würde und sagen: Onkel, ich will nicht. Salomon hätte ihr selbst noch mit tausend Freuden den Absagebrief aufgesetzt.
Aber Jettchen sagte keine Silbe der Art und machte auch nicht die leiseste Andeutung, aus der Salomon hätte ersehen können, daß ihr diese Verbindung zuwider war. Nein, Jettchen war so fügsam und liebenswürdig wie immer und klagte nicht mit einer Miene, viel weniger mit einem Wort. Denn sie hatte sich auch schon so in ihr Märtyrertum, das sie für Dankesschuld hielt, hineingewöhnt und hineingelebt, daß sie es beinahe liebte und nicht mehr hätte missen wollen.
Und während nun der neue Vetter Julius in der Provinz Posen und in Oberschlesien von Ort zu Ort reiste und in unmöglichen Nestern mit noch unmöglicheren Namen residierte und dort vorteilhafte große Posten rohen und gegerbten russischen Leders aufkaufte, die sicher einmal die Grenze, aber wohl nie einen Zollbeamten erblickt hatten, – und während er alle zwei Tage pünktlich an Jettchen schrieb: »Mit Freuden ergreife ich die Feder, um Dir mitzuteilen, daß ich Deinen lieben Brief erhalten habe. Ich ersehe daraus Dein Wohlergehen und kann auch dasselbe von mir versichern. Mein Täubchen, wenn Du erst mein bist, werde ich Dir das Leben mit Rosenketten umzingeln« ... währenddessen lebte Jettchen draußen in Charlottenburg recht ruhig und sorglos dahin. Denn Jettchen war ja von Natur so, daß sie gern den Dingen das Gute abgewann. Und wenn sie das Glück nicht haben konnte, begnügte sie sich auch mit jenem Schimmer von Behaglichkeit, den wir gemeiniglich dafür gelten lassen. Und da ihr jetzt alles daran lag, nicht an die Zukunft zu denken – ihre Nächte waren schon schlimm genug –, so klammerte sie sich an das bißchen freundliche Gegenwart draußen in Charlottenburg, mit seiner Stille, seinem selbst im Herbst noch schönen Garten und seinen weiten Spaziergängen in dem weiten Park, den sie mit einem Male wieder der Erinnerungen wegen liebte.
Und die Tante, die erst gar nicht schnell genug nach Berlin hatte hereinziehen können, sagte nun, es wäre doch zu schön hier, und sie könne sich gar nicht trennen, und sie möchte draußen bleiben, solange noch ein Blatt an den Bäumen wäre. Gerade jetzt würde es überhaupt erst lohnend. Und das war nicht eigentlich die Angst vor dem Typhus, die sie so sprechen machte, denn man hörte von keinen neuen Fällen mehr, – sondern es war mehr die Furcht vor dem »anderen«. Denn der »andere« war wieder in Berlin aufgetaucht. Ihr Schwester Hannchen hatte ihn selbst gesehen, und er sollte auch schon wieder bei Jason gewesen sein, und Ferdinand hatte gesagt, daß er jetzt hier an der Bibliothek wäre, – und deswegen sollte auch Jettchen, solange es irgend ging, draußen in Charlottenburg bleiben.
Und während vorher eigentlich gar nicht von Hochzeit die Rede war, hieß es nun plötzlich, daß Jettchen Ende November heiraten solle, wenn Julius von seiner Tour zurückkäme. Und die Tante hatte schon für das junge Paar eine Wohnung in Aussicht, vier schöne Zimmer in der Neuen Friedrichstraße, oben am Wasser, gar nicht weit von der »Gesellschaft der Freunde«.
Und daß des Vetters Julius Einkäufe von rohem und gegerbtem Leder, das sicher einmal die Grenze, aber nie einen Zollbeamten gesehen hatte, in unmöglichen Nestern Posens und Oberschlesiens ... daß sie etwas lange dauerten, daran war auch die Tante schuld. – Denn die Tante war zu klug, um nicht die Mißstimmung Onkel Salomons, die doch jetzt keinen anderen Grund mehr haben konnte, denn Jason war längst außer Gefahr, sich sinngemäß zu deuten. Und sie sagte sich ganz richtig, daß die Zunahme von Julius' Entfernung eine Abnahme der Reibungsflächen zwischen ihm und ihrem Mann bedingen müsse. Sein Bild bei Jettchen trotzdem blank zu halten, das getraute sie sich wohl zu. Daß nachher, wenn die Möbel in Arbeit und die Aussteuer zugeschnitten, Salomon noch irgendwelche Einwände erheben würde, schien der guten Tante Rikchen ausgeschlossen. Denn dazu hatte sie in der Dauer ihres glücklichen Zusammenlebens den praktischen Sinn ihres Eheherrn und Gebieters allzusehr schätzen gelernt.
Und um ihrem Salomon nicht zu viel Zeit zu lassen, noch anderen Sinnes zu werden, fing Tante Rikchen an, zu bestellen und einzukaufen und Schneider und Tischler in Bewegung zu setzen, als ob sie nicht eine Braut, sondern deren ein Dutzend ausstatten müßte.
Und die Tante zeigte Jettchen einmal die Wohnung in der Neuen Friedrichstraße, nicht weit von der »Gesellschaft der Freunde«, und schickte dann Julius den Mietskontrakt zum Unterschreiben, mit dem Bemerken, daß sie jetzt überall umhergelaufen wäre, aber eine bessere Wohnung, eine Wohnung mit so viel Vorzügen hätte sie in ganz Berlin nicht gesehen. Und Jettchen ließ die Tante in allem gewähren. Ihr war es recht. Wenn sie nur nicht damit behelligt wurde.
Und mit den Möbeln ging die Tante zum Tischler Löwenberg, weil man ihn doch kannte, und weil er gewiß nicht mehr zu Salomons Whistpartie gekommen wäre, wenn sie ihn hierbei vergessen hätten. Von der guten Stube, dem Eßzimmer an bis zum Spindenzimmer wählte die Tante alles glatt Mahagoni, und für das gute Zimmer, das ganz tief rotbraun gebeizt werden sollte, suchte die Tante selbst den tiefblauen schweren Atlas zu den Bezügen unten im Geschäft aus. Und alle zwei, drei Tage fuhr die Tante hinein und überzeugte sich mit ihren eigenen kleinen, schwarzen Jettaugen, wie es mit der Arbeit stände, und daß sie ja auch zur rechten Zeit geliefert werden könnte. Und Onkel Salomon fand es doch wieder rührend, wie seine Frau sich für Jettchen aufopferte. Sie zerrisse sich beinahe, meinte er, und käme ganz von Fett.
Und da es mit der Hochzeit eben der Tante sehr eilig war, so setzte sie sich auch nicht die Schneiderinnen ins Haus, sondern nahm sich die letzten Hefte von Koßmanns Modejournal, das immer das Neueste aus Paris brachte, und ging damit zum Damenschneider Dunsing und auch zu Mahn, ließ Jettchen Maß nehmen und bestellte darauflos, daß die Schneider dran ihre helle Freude haben konnten: Morgenröcke, weiß, lila und rosa für Frühling, Sommer, Herbst und Winter, für alle Tage und für besondere Gelegenheiten, die ja auch eintreten könnten und bei einer jungen Frau nicht ausgeschlossen wären. In Morgenröcken müsse man stets besonders gut versehen sein. Und die Tante bestellte Straßenkleider in grünem, englischem Tuch mit drei langen Reihen von Knöpfen über Rock und Taille, und Gesellschaftskleider, hell- und schwarzseidene und silbergraue und solche von ganz zarten Pastelltönen, zu denen Jettchen einen roten Türkenschal tragen sollte. Und es gab unendliche Dispute, – denn nun hatte Jettchen drei Mütter: Rikchen, Hannchen und Minchen, – stundenlange, die sich bis zu persönlichen Ausfällen zuspitzten: ob das Gürtelband frei flatternde Enden haben sollte oder nicht, ob das fliederfarbene Seidenkleid scharf gebrannte Kanten bekommen sollte oder lockere Volants. Und Minchen ereiferte sich, daß Dunsing bei dem grau und weiß Gestreiften den Rock keilig geschnitten hatte und daß der rote Radmantel einen Pelzkragen und keinen Samtkragen bekommen sollte. Sie hätte noch nie eine Enveloppe mit Pelz gesehen. Und das dunkle Tuchkleid sollte keine Gigotärmel bekommen, denn solch Kleid könne man zehn Jahre anziehen, und wer weiß, ob in zehn Jahren diese Ärmel noch getragen würden. Sie hätte solche albernen Moden nie mitgemacht. Aber da sagte Hannchen, um Gigotärmel zu tragen, müsse man eben eine Figur wie sie oder wie Jettchen haben, und Minchen meinte, sie hätte noch nie einen Mops mit Gigotärmeln gesehen. Kurz, es gab den schönsten Streit. Und wenn nicht dieses Thema so sehr anregend gewesen wäre, so hätten sie sich wohl nie versöhnt. Aber da sie beide in der Frage des Brautkleids – weißer Ottoman oder weißer Damast – mit weißem Damast beide gegen Tante Rikchen standen, so vereinte sie das wieder.
Und die einzige, die an all dem unbeteiligt war, war eben die, die es am nächsten betraf. Sonst war es für Jettchen eine Freude gewesen, sich hübsch kleiden zu können, und sie hatte in langen Wortgefechten ihren Geschmack gegen den der Tante behauptet; jetzt war es ihr gleichgültig, ja, es war eine Last für sie, und sie war kaum noch zu den Anproben zu bewegen, ebenso, wie sie auch zu den Möbeln keine Wünsche geäußert hatte.
Da war die Tante schon anders: Vom Tischler Löwenberg ging sie zu Dunsing und von Dunsing zu Mahn – der eine durfte nicht wissen, daß der andere für sie arbeitete. – Und wenn sie da erst sich wegen hundert Änderungen heiser geredet hatte und die Direktrice mit Invektiven belegt hatte, die man nur einer so guten Kundin verzieh, – dann machte sie keine Pause, sondern ging wegen der Ausstattung gleich zu Wolffenstein. Da mußte auch gekauft werden, denn es war auch etwas so wie Freundschaft und Verwandtschaft. Und Tante Rikchen bestellte dort und kaufte alles zusammen, als ob sie einen Gasthof ausstatten müßte und keinen einfachen Haushalt. Nach der Zahl von geblümten Damasttischtüchern für sechsunddreißig Personen hätte Jettchen jeden Tag Table d'hote bei sich haben können und hätte doch nur alle acht Wochen zu waschen brauchen. »Nu, eins zu viel würde nichts schaden, und daran sollten sich noch Jettchens Kindeskinder freuen.« Und bei der Zierlein mußte Jettchen das ganze Lager von Schuten und Kapotten durchprobieren, bis es sich ihr bunt vor den Augen drehte.
Aber wenn das nur der für Jettchen offensichtige Teil von Tante Rikchens Arbeit war, so stand dem noch ein heimlicher gegenüber von kaum geringerer Ausdehnung: Jenny sollte einen Bostonkasten in Perlarbeit sticken und einen Tassenkorb, aber Hannchen wollte außerdem noch einen Klingelzug arbeiten. Onkel Salomon müßte noch eigens ein Tafelklavier schenken, als besondere Überraschung, und das Fräulein mit den Pudellöckchen arbeitete an drei Oreillers von drei verschiedenen Größen. Onkel Naphtali aus Bentschen sollte eine doppelarmige Lampe schenken und Eli eine Menage aus Silber und Rubinglas. Aber er meinte, das wäre ihm für Jettchen zu wenig und zu geringfügig, und er legte aus eigener Machtbefugnis noch eine Fruchtschale hinzu aus Kristall mit silbernem Fuß, während Ferdinand sagte, daß ihm die Teppiche, die Tante Hannchen für ihn ausgesucht hätte, zu teuer wären – er könnte das nicht: er hätte drei Kinder. Und Jason endlich müsse ein paar silberne Spielleuchter geben, die würde Rikchen schon für ihn besorgen. Denn Jason ging noch nicht wieder aus und verließ bisher auch nur auf Stunden das Bett, um vor seinen Porzellanen zu sitzen oder in seinen Stichen zu blättern, denn lesen sollte er noch nicht. Und dann noch – ehe man es vergäße – sollten doch Pinchen und Rosalie sich zu einer Wasserkredenz aus Milchglas zusammentun, wenn sie nicht lieber Fensterkissen mit blauen Rosen für die gute Stube sticken wollten. Aber das käme sicher ebenso teuer und mache solch eine Unmenge Arbeit, daß sie kaum noch damit fertig werden könnten.
Jettchen wäre zu gern jetzt einmal zu Onkel Jason gegangen. Aber sowie sie davon begann, erhob die Tante ein ängstliches Jammergeschrei, und auch der Onkel, wenn er gerade mal dabei war – denn es war Hauptsaison im Geschäft, und er konnte sich nicht viel um andere Dinge bekümmern –, auch der Onkel sagte, eine Braut dürfe das nicht tun. Und selbst wenn Jettchen einwarf, daß doch Jason gar nicht mehr krank wäre, wurde sie überstimmt.
Und dann begann die Schlacht: wer eingeladen werden sollte. Die drei Frauen, Hannchen, Minchen und Rikchen, stellten Listen auf, und jede kämpfte um ihre Kandidaten wie eine Löwenmutter um ihre Jungen. Erst sollte das eine Hochzeit größten Stils werden, mit Hinz und Kunz, aber dann hieß es, so etwas wäre nicht fein, und es wäre auch nicht angebracht, da Jettchen doch eine Waise wäre. Und dann blieben noch sechzig Menschen. Und dann, bei einer nochmaligen Beratung, deckten wieder fünfundzwanzig die Walstatt. Wer weiß – wenn es nicht höchste Zeit gewesen wäre, die Einladungen fortzuschicken, wäre man vielleicht noch bis auf drei heruntergegangen und hätte den Bräutigam gar nicht zugezogen. Die Tante Rikchen hoffte jedoch, es würden wenigstens noch zehn absagen. Sie rechnete bestimmt auf verschiedene Absagen und fand es eigentlich schade, daß man diese schönen Einladungen in Kupferdruck auf Atlaspapier, auf dem sich breit und fett Salomon Gebert und Frau die Ehre gaben, daß man diese Einladungen in die Welt verfeuerwerkte. Selbst Salomon, der bisher zu allem still sein Siegel gegeben hatte, wurde in die Kampfstimmung dieser Tage verwickelt – und die einzige, die hier gar keine Wünsche äußerte, und der alles recht war, war wieder Jettchen. Ihr graute nur davor, daß diese ruhige Zeit hier draußen in Charlottenburg ein Ende nehme.
Julius schrieb schon seit zwei Wochen zärtliche Briefe aus Mogilno, bis die Tante endlich meinte, daß er nach dem Stand der Tischlerarbeiten jetzt ruhig nach Berlin kommen könnte. Und sie sagte auch, daß sie jetzt hereinziehen wollte; sie hätte wirklich genug von diesem Charlottenburg.
Und Jettchen ging noch einmal in den Park, um von ihren Erinnerungen Abschied zu nehmen. Es war das an einem trostlosen Regentag, an dem der ganze Himmel in Bewegung war und auf sie zukam mit hastenden Wolken, die hier wie schwere Ballen herabhingen und da wie leichte Flortücher nachgeschleift wurden. Ganz tief schleppten die Wolken sich dahin und streiften beinahe die entlaubten Wipfel. Auf Minuten war alles grau und verschleiert, ruhig und traumschwer. Aber dann kam der Wind und bog die ächzenden Spitzen der Pappeln um wie Farrenwedel, und der Regen setzte ein, in breiten Strichen, und wusch die Stämme und Zweige von oben bis unten. Jedes kleine Ästchen rieb er ab und übergoß es mit seinen kalten Güssen, daß es ganz angstvoll in sich zusammenschauerte. Nur ein paar Fliederhecken hielten noch in all dem Elend ihr grünes Laub und ein paar Platanen – und es schien, als ob sie sehnlichst auf den ersten Frosttag warteten, daß er auch ihnen den Schlaf brächte. Überall konnte man schon weit durch die Büsche sehen, ganz weit wieder, wie im ersten Frühjahr. Und die Wege waren wie gescheuert, und das ganze schwarze Wasser des Teichs war verdeckt von einer schwimmenden Kruste welken Laubes, das der Wind von den Wegen und dem Rasen hineingetrieben hatte.
Jettchen traf kaum einen Menschen. Nur hinten unter der gelben Puppe vor dem gelben Bau patrouillierte ein Posten, den Gewehrlauf im Arm. Und irgendwo sammelten alte Frauen herabgeworfene Zweige in Körben zusammen. Die schönen Stellen – sie kannte sie kaum wieder. Was eng und traulich gewesen, jetzt war es weit und leer. Hier hatten sie gesessen an dem Glöckchen, und sonst war diese Bank immer wie eine Vision plötzlich aufgetaucht, und jetzt ging Jettchen schon von weitem auf sie zu. Und sonst war Jettchen das goldige Häuschen hinter den schwarzen Eiben – das sie nun doch nicht gemietet hatten – wie ein ganz entlegener Erdwinkel vorgekommen, den man nur selten und in glücklichen Stunden entdecke und fände, und jetzt schien es ihr mit seinen dunklen Baumschanzen eine Festung zu sein, die weithin das Land beherrschte.
Und Jettchen schritt vornübergebeugt auf die Festung zu, während der Wind ihr am Kleid zerrte. Und wie sie so ging, überfiel sie auf einmal die Erinnerung, die sich sonst schon so seltsam verändert und verschleiert hatte, mit einer solchen Wucht und Klarheit, daß ihr die Tränen nur so herabrollten und sich mit den Tropfen vermählten, die ihr der Wind ins Gesicht trieb.
Jettchen war gekommen, um Abschied zu nehmen, denn sie hatte sich ja in dieser Zeit tausendmal Vernunft gepredigt, sich vorgestellt, wie gut es doch der Onkel und die Tante mit ihr meinten – sie hatte versucht, sich auf eine eigene Häuslichkeit zu freuen, ja, es hatte sogar Tage gegeben, wo sie so etwas wie Achtung vor Julius empfand, der da draußen in unsicheren Gegenden, auf der öden, kalten Landstraße, unter allen möglichen Strapazen umherkutschierte, während sie hier lässig im bequemen Nest saß. Er würde sicher viel gute und liebe Eigenschaften haben, wenn sie ihn erst näher kennen würde, – denn umsonst loben ja die Menschen niemand. Und Jettchen war eigentlich nur noch mal hierhergekommen, um von ihrem Traum Abschied zu nehmen. Und statt dessen schlug ihr wieder die verleugnete Wahrheit ins Gesicht, daß all das andere für sie Traum sei und nichtig und daß hier ihr Leben wäre. Und Jettchen hatte plötzlich die seltsame Empfindung, als wäre das heute gar kein Abschied, sondern wieder ein ferner erster Gruß. Und alles kam wieder: sie gingen wieder hintereinander den schmalen Weidenweg unter den hängenden Zweigen, sie standen am Tempelchen, das mit seinem Kranz und seinen Putten rotgoldig in der Abendsonne lag, und sie fühlte hinten am Wasser zwischen den kahlen Stämmen der Pappeln, wieder durch die Tropfen und durch die Tränen auf ihrem nassen Gesicht die alten Küsse, nach denen sie sich hundertmal gesehnt hatte. Und dann hörte Jettchen eine Uhr durch den kahlen Park schlagen, hell und grell, und schrak auf, weil sie eine ganze Stunde über die Mittagszeit geblieben war. Aber als sie heimkam, war die Tante schon wieder in die Stadt gefahren.
Am nächsten Tage zogen sie hinein.
Noch für zwei Wochen schlief nun Jettchen wieder in ihrem alten hellen Mädchenzimmer und sah hinten von der Galerie in das Geäst des Nußbaumes, an dem nur noch ganz wenige grüne Blätter zitterten und ganz wenige schwere grüne, halb verschwarzte Nüsse hängen geblieben waren. Sie hatte ihn dieses Jahr gar nicht recht in seinem vollen Kleid gesehen. Nach der Weite draußen kam Jettchen die Enge drinnen doppelt bedrängend vor, und der Lärm der Stadt, den sie sonst nie vernommen hatte, tat ihr weh.
Himmel, war das ein Drunter und Drüber bei Geberts! Dunsing und Mahn lieferten und Wolffenstein; und in dem dreifenstrigen Zimmer vorn schlotterte an jedem Kronenarm ein anderer Morgenrock, und über jedem Sessel lag ein anderes Kleid, und auf allen Tischen war die weiße Wäsche aufgeschichtet; und selbst die Uhren in ihren Glasgehäusen auf den Pfeilern waren ganz in weiße Wäschestöße eingebaut, und die Spielleuchter waren zu Hutständern geworden und zu Haubenständern für die Lendemainhäubchen aus schwarzen und weißen Kanten und Spitzen. Und am Boden standen ganze Reihen von Schuhen und Stiefeln, von zierlichen Goldkäferschuhen mit Schnallen und Schleifen bis zu einfachen Lederschlappen für den Morgen.
Jettchen konnte wirklich nicht behaupten, daß es wie bei Peitel Topfflechter wäre, meinte die Tante; und sie sagte das jedem, der kam und der hereingeführt wurde, um bewundern zu sollen. Von der Waschfrau und dem Portier bis zu Liebmanns und Mendelsohns.
Den Onkel sah Jettchen kaum, denn es war seine Hauptsaison, und es wurde unten oft bis spät in die Nacht hinein gearbeitet. Jettchen sprach ihn eigentlich nur für Augenblicke, dann, wenn sie die Schüssel mit Broten für ihn und das Personal hinuntertrug. Beim Mittag war er stets wortkarg und müde.
Und es kamen Absagen und Zusagen; und gerade die, von denen man sicher Absagen erhofft hatte, schrieben zu, und die, an deren Zusage ihnen besonders gelegen war, schrieben ab. Und die nicht eingeladen worden waren, waren beleidigt, »sie hätte man doch zuziehen müssen«, und die eingeladen waren, sagten, »sie begriffen gar nicht, wie sie eigentlich dazu kämen; – so ständen sie mit Geberts gar nicht«. Und auch Jason schickte ein Billett, er könne noch nicht bestimmt sagen, ob er käme, denn er fühle sich noch sehr schwach. Aber Salomon meinte, Jason würde schon bei Jettchens Hochzeit nicht fehlen, er wäre doch immer zu ihr wie ein Lehrer und wie ein zweiter Vater gewesen.
Und dann kam Julius, rotbraun wie Kupfer, verbrannt und ganz erfüllt von seinen geschäftlichen Erfolgen. Und er ging mit Jettchen aufs Gericht in die Jüdenstraße, um die Ehe anzumelden und die Papiere hinzubringen, und er ging allein aufs Gericht in die Jüdenstraße, um sein Geschäft eintragen zu lassen. Sein Geschäft, – denn im letzten Augenblick hatte er sich noch mit seinem zukünftigen Kompagnon überworfen. Julius sah jetzt wirklich nicht mehr ein, warum noch ein anderer aus seinem Napf mitessen sollte. Und es gab gleich Streitereien über das Essen, denn Julius sagte: es müßte fromm sein, schon wegen Onkel Naphtali, mit dem er es nicht verderben wollte. Und er hätte doch auch dabei etwas mitzureden, da es doch eigentlich seine Hochzeit wäre. Aber die Tante bedeutete ihm, daß Reden Silber und Schweigen Gold wäre, und hier vor allem, und daß sie ihren Mann besser kenne und deswegen Julius nur rate, zu allem »ja« zu sagen, sie würde das nachher schon so einrichten, daß alle, die es haben müßten, auch frommes Essen bekämen. Und wenn es ihnen dann noch nicht fromm genug wäre, würde sie es sogar vom Oberrabbiner selbst kochen lassen. Julius sollte nur um Himmels willen sich mit allem einverstanden erklären.
Und dann kamen aus Bentschen – ein paar Tage früher, weil sie Berlin kennenlernen wollten – Pinchen und Rosalie, kleinstädtische Mädchen von altmodischer Häßlichkeit und schmatzender, verschlagener Gutmütigkeit, die sich wie Kletten an Jettchen hingen und alle neuen und alten Kleider von Jettchen anprobierten, trotzdem sie ihnen viel zu weit waren, – nur um sich die Schnittmuster abnehmen zu können. Und Julius zeigte ihnen Berlin, und er ging sogar am Tage mit ihnen ins Opernhaus und gab dem Kastellan ein Trinkgeld, damit sie den großen Kronleuchter sehen könnten, denn so etwas gäbe es selbst in Posen nicht.
Und dann, es waren nur noch drei Tage bis zur Hochzeit, kam noch Onkel Naphtali, um den Julius, Rosarie und Pinchen einen ganzen Sagenkreis gewoben hatten. Er war ein kleines, altes Männchen mit einem braunen Tuchrock und einem borstigen Zylinder, ganz verzogen und verbogen, und mit kleinen, blanken, mißtrauischen, schwarzen Augen in einem Gesicht, das nur aus Falten bestand und ewig mimmelte. Er mochte vielleicht ebenso alt sein wie der Onkel Eli; aber er sagte auf gut Glück einmal, daß er noch nicht fünfundsiebzig wäre, und das andere Mal: daß er schon über achtzig wäre. Und der Onkel Naphtali tat das nicht etwa, um die Unwahrheit zu sprechen, und auch nicht, weil sich – wie das bei alten Leuten öfter ist – bei ihm die Zahlenbegriffe verwirrt hatten, sondern einzig, weil er es selbst nicht besser wußte. Und er mochte vielleicht mit fünfundsiebzig Jahren ebenso recht haben wie mit achtzig Jahren. Wie alt er eigentlich war, das hätte eben nur noch seine Mutter Täubchen entscheiden können, und die war schon seit längerer Zeit nicht mehr vernehmungsfähig. Aber so viel war gewiß, Täubchen sollte um 1760 geheiratet haben, also war wohl anzunehmen, daß der ältere Bruder Joel 1761 geboren wurde und daß der zweite 1762 das Licht sah. Und dieser zweite war eben Naphtali. Aber andere im Ort meinten, es wäre noch eine Schwester dazwischen gewesen, und dann hätte die Pünktlichkeit der guten Täubchen zu wünschen übrig gelassen, während Naphtali sein armes totes Schwesterlein dreist verleugnete und Stein und Bein auf die Pünktlichkeit seiner Mutter schwor. Wann sein Geburtstag war, wußte er aber ganz genau, denn die lahme Muhme Hendelchen hatte ihm immer am fünften Tage vor Neujahr ein weiches Ei zum Frühstück gekocht; nur in welchem Jahre dieser Geburtstag das erstemal war – das schwankte.
Des Abends war natürlich Naphtali bei ihnen – das gehörte sich wohl so; – er saß klein und schwarz in der Ofenecke und summte wie eine Winterfliege vor sich hin. Sonst war noch Jettchen da und Tante und Julius und seine Schwestern von altmodischer Häßlichkeit, die seit gestern wie Jettchen das Haar trugen. Der Onkel war noch unten im Geschäft, aber er wollte heraufkommen, und man wartete auf ihn mit dem Essen.
Naphtali hatte sich alles schweigend angesehen, Jettchen und die Aussteuer, die Wohnung hier und das Geschäft unten, und er hatte auch Julius gefragt: wie es sonst wäre; und jetzt saß er seit einer Weile ganz befriedigt in der Ofenecke, mimmelte und summte wie eine Winterfliege vor sich hin.
»Nu, Joel«, sagte er endlich, »nuuu! Jetzt haste doch des große Los in de preußischen Lotterie gewonnen, – wie de dir es immer als Junge gewinscht hast.«
Naphtali sprach nämlich von Julius stets als Joel; und ich muß leider bekennen, daß er auch gar nicht Julius Jacoby, sondern in Wahrheit ganz schlicht Joel Jacoby hieß. In Bentschen hatte ihn kein Mensch je anders genannt; aber schon in Posen schien ihm Joel zu unmodern, und er nannte sich Julius. Naphtali jedoch war nicht modern, und er nannte ihn deswegen ruhig nach wie vor: Joel, – nicht einmal mit einer anderen Betonung, wie er ihn damals in Bentschen genannt hatte. Und wenn wir uns die Sache recht überlegen, so war Joel eigentlich passender als Julius; denn mit dem Papst, den Raphael gemalt hatte, hatte er sehr wenig Ähnlichkeit, sicher weniger als mit dem kleinen Propheten Joel, dem Sohne Pethuels.
Und dann kam Salomon, und man begann mit Essen. Julius erzählte von seinen Einkäufen. Schon wären die ersten Sendungen eingetroffen, und er hätte per Tratte drei Monate Sicht gezogen.
Salomon saß ganz still dabei, aber man merkte seinem Gesicht an, daß ihm das nicht gefiel. Er zahlte nicht per Tratte drei Monate Sicht, und er liebte Kaufleute nicht, die so regulierten, weil die am Skonto so viel einbüßten, daß bei dem Verdienst nichts herausschauen konnte. – Aber Salomon vergaß dabei, daß gepaschtes Leder eben billig war.
»Nuu«, sagte Naphtali, »wie richteste eigentlich de Hochzeit aus, Rikchen?«
»Hier, in ›Gesellschaft der Freunde‹.«
»Schäfchen«, meinte Naphtali, »das steht doch schon auf der Einladung. Ich mein', – was de gibst?«
Salomon rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
Rikchen lachte verlegen. »Na, warum willst du es denn aber schon jetzt wissen, Onkel?«
»Nu, ich mein', denn hat man zweimal 'von.«
»Also hör' zu: erst gibt es Bouillon in Tassen.«
Naphtali summte. »Äh so – ä Brihe«, sagte er.
»Und dann als zweites – sofort – Forellen.«
»Was sind das – Farellen?«
»Das sind sehr feine Fische, Onkel, weißt du, von dieser Größe ungefähr.«
»Und warum gibste sone kleinen Fischchen? Kannste mir das vielleicht sagen? – Wenn de auf mich hörst, denn gibste ä ordentlichen Lachs, damit de Leit was von haben un sich satt essen können.«
Salomon war aufgesprungen. »Gott soll hüten vor kleinen Städten!« knurrte er vor sich hin. Aber Rikchen warf ihm einen Blick zu, der sagte, laß doch schon das eine Mal dem alten Mann seine Freude.
Naphtali sah nur erstaunt auf: »Was hat er?«
»Ich muß noch herunter ins Geschäft, Herr Jacoby«, sagte Salomon, »entschuldigen Sie mich.«
Und als Salomon an der Tür war, wandte er sich noch einmal um. »Ehe ich es vergesse, Jettchen, noch eins; ich war heut nachmittag bei Jason, um noch mal mit ihm zu reden, und er hat mir gesagt, er fühlt sich noch nicht so, daß er kommen kann – geh doch mal selbst hin, und bitte du ihn. Und wenn's nur auf eine Stunde ist. Er würde dir doch auch an deinem Hochzeitstag fehlen – nicht wahr?«
Jettchen überfiel plötzlich ein ganz seltsamer Schreck. Eine Angst, als ob sie damit etwas Böses tun würde. Und sie zitterte, und die Tränen traten ihr in die Augen.
»Ja«, fiel Julius ein, »da wollen wir doch gleich morgen bestimmt zu Onkel Jason gehen.«
»Ich glaube, es ist richtiger, wenn Jettchen allein geht«, rief Rikchen schnell, der alles daran lag, eine Szene zu vermeiden, denn sie sah, daß Salomon einen roten Kopf bekam.
»Ich halte das wohl auch für richtiger«, sagte Salomon und ging zur Tür hinaus.
»Ich finde das unrecht«, sagte Julius nach einer ganzen Weile, »man kann wohl mal Ärger im Geschäft haben – wer hat das nicht? –, aber zu Haus darf man nichts davon merken – ›mei Haus ist mei Kastell‹, sagt der Engländer.«
Fast die ganze Nacht verbrachte Jettchen wach und in Aufregung, und – wenn sie für Augenblicke einschlief – dann träumte sie immer wieder von riesigen, vielfüßigen, roten Spinnen, die sich ganz langsam mit kribbelnden Beinen oben vom Betthimmel herabließen und sich ihr dann plötzlich mit einem wilden Sprung auf die Brust warfen, so daß sie ganz entsetzt hochfuhr und ins dunkle Zimmer starrte. Und dann sah Jettchen, wie langsam so ein grauer, schmutziger Tag hoch kam. Erst war noch alles verschwommen und unklar, und nur das Goldfischglas und ein paar weiße Püppchen in der Servante sogen etwas Licht ein, und dann kam so ein Stück nach dem anderen, Tisch und Stuhl und Schrank und die weißen Töpfe am Fenster mit den Goldmasken und das golddurchbrochene Körbchen auf dem Eckspindchen, zum Leben erwachte knisternd und dehnte sich in der ersten grauen Helligkeit des unfreundlichen Tages, dessen hastende, hängende Wolkenketten ununterbrochen oben vor dem Fenster auf dem Stückchen Himmel, das Jettchen sehen konnte, vorübertrieben.
Die Zeit bis zur Mittagsstunde verbrachte Jettchen in seltsamer Aufregung. Sie hörte eigentlich nichts von dem, was man zu ihr sprach. Es wurde Wäsche unter den Auspizien der Tante in die neue Wohnung gebracht, und die Tante kam alle halbe Stunden zurück, um einen neuen Transport zu überwachen; und Jenny kam mit rotseidenen Wäschebändern zum Verstellen, auf die sie Zahlen und Monogramme gestickt hatte; und Möbel sollten auch heute geliefert werden, wenigstens ein Teil. Julius mußte noch einmal aufs Gericht wegen seiner Firma, und er wollte damit warten, bis er mit Jettchen zusammen gehen könnte. Nachmittag wollte er Kunden aufsuchen, und er war fest überzeugt, daß er bei seinem billigen Einkauf die Konkurrenz unterbieten könnte, und Qualitäten hätte er – Qualitäten!! – Und er ließ Jettchen ein paar Lederstücke befühlen, die er aus der Brusttasche nahm und bei deren starkem Geruch nach Lohe und Juchten Jettchen fast schwindlig wurde.
Jettchen hätte am liebsten zum Onkel, der schon wieder seit früh unten im Geschäft war – es schien, als ob er von alledem nichts sehen wollte –, hätte am liebsten gesagt, sie möchte nicht zu Jason gehen, es wäre ihr peinlich, ihn wiederzusehen, oder sie hätte sonst irgendeine Ausrede erfunden, daß sie zuviel zu tun hätte mit der Einrichtung oder etwas Ähnliches. Aber dann schämte sie sich wieder ihrer Angst und sagte, daß sie sich doch eigentlich freuen müßte, jetzt endlich zu Jason zu kommen, wo sie die ganze Zeit um ihn gebarmt hätte; und wie er wohl aussähe nach der Krankheit, und vielleicht warte er schon jeden Tag auf sie; und sie wollte ihm sagen, daß nichts zwischen ihnen anders werden dürfte und daß er nach wie vor ihr Freund und ihr Lehrer bleiben müsse, denn sonst würde sie ja all das nicht ertragen können. Und sie hoffte, sich einmal so ganz mit Onkel Jason auszusprechen, ruhig und ohne Groll, wie das alles gekommen und warum sie geglaubt hatte, das tun zu müssen. Aber je mehr sie sich da hineinredete, desto deutlicher sprach in ihr dieses unbestimmte, unerklärliche dunkle Angstgefühl, das eigentlich von alledem gar nicht abhängig war und ganz für sich bestand.
Und als Jettchen schon auf der Treppe war, zwang sie sich, um nicht noch einmal umzukehren, und wenn nicht Julius bei ihr gewesen wäre, so wäre sie sicher zum Onkel ins Geschäft gegangen und hätte gesagt, daß sie lieber an Jason schreiben wollte; so aber ging sie an dem Glastürchen mit den bunten Scheiben vorüber, trotzdem es sie wie mit eisernen Krallen dahineinzog. Julius wollte ja auch noch einmal aufs Gericht in die Jüdenstraße, wegen seiner Firma; es verzögerte sich, und es waren da noch Schwierigkeiten hinzugekommen. Aber Julius war nicht mißmutig; er zeigte Jettchen einen runden, goldigblanken Friedrichsdor, den er dem Gerichtsschreiber zustecken würde, Jettchen sollte mal sehen, der würde Wunder wirken. Er hätte es nur schon vor drei Wochen tun sollen, da wäre jetzt gewiß schon alles in Ordnung. Er möchte das als monatliches Einkommen haben, was der Mann so im Jahr zugesteckt bekommt. Was Jettchen wohl meinte? Fünfhundert Taler im Jahr reichten nicht. Und wenn das nichts wäre und es mit der Geschäftsniederlassung nichts würde, schön! – dann würde er sich eben als Kommissionär ausgeben, da könnten sie gar nichts dagegen tun.
Aber wie sie um die Ecke bogen, da stand ihnen gerade der Wind entgegen, der in kurzen, scharfen Stößen die Königstraße hinunterblies, der die letzte Regenfeuchtigkeit von Gesimsen, Wänden und dem Bürgersteig auftrank, und der sogar die bequemen, breiten Pfützen auf dem Damm rebellisch machte, kräuselte und aufrührte. Aber damit nicht zufrieden, riß er selbst Julius ordentlich das Wort vom Mund, so daß Jettchen über die letzten und geheimsten Zukunftspläne ihres Bräutigams leider im unklaren blieb. Denn der Wind bevorzugte ungerechterweise irgend jemand, der vielleicht hinter ihnen gehen mochte, und für den Julius' Rede doch gar nicht bestimmt war, während er für Jettchen von dieser Rede nur die Bewegung seines Gesichtes und seiner Hände übrig ließ, die zwar das Tempo – gleichsam die Intensität seiner Gedanken und Entschlüsse – wiedergaben, aber den eigentlichen Sinn dieser selbst doch streng verborgen hielten.
Und wie Jettchen so neben sich auf die kleine, breite, prustende Gestalt mit dem roten Gesicht und den runden, wichtigen Bewegungen herniedersah, da kam es ihr wieder, daß sie hier schon mit jemand anderem gegangen sei, zu dem sie fast hochblicken mußte, und dem sie klar und frisch in die Augen gesehen.
Aber an der Ecke der Jüdenstraße sagte Julius, daß sie sich also erst zu Mittag wiedersähen, – denn Julius war jetzt in der letzten Zeit ständiger Gast bei Geberts, und die Tante wiegte sich vor Stolz, wenn er bei jeder Mahlzeit, des Lobes voll, schmatzend und seine eigenen Witze belachend, sagte, daß es bei ihr nicht nur besser, sondern auch billiger als bei Francke wäre, und daß er sich von nun an ein Abonnement nehmen würde. Und Julius küßte Jettchen die Hand und ging vor sich hin sprechend – man sah es an seinen Bewegungen – an dem großen, schwarzen Gerichtsgebäude entlang, und das seltsame, unerklärliche Angstgefühl, das für Augenblicke geschwiegen, kam wieder mit doppelter Macht über Jettchen.
Und auch der Wind schien gar nicht zu wollen, daß Jettchen zum Onkel Jason ginge, und was an ihm lag, so suchte er sie davon abzubringen und ließ sie nicht recht weiterkommen. Er wollte sie gleichsam mit Gewalt zurückschieben; aber Jettchen hielt seine gute Absicht für bösen Willen, nahm den Zipfel der Mantille vors Gesicht und schritt gegen ihn an.
Und vor der Ecke der Klosterstraße versuchte der Wind noch einmal seine ganze stürmische Überredungskunst, so daß Jettchen einen Augenblick zum Aufatmen halten mußte, aber doch nur einen Augenblick, dann bog sie in die Klosterstraße ein und stand gleich darauf in dem leeren, weiten, hallenden Hausflur, mit seiner unheimlichen Stille. Und als sie an dem verschlossenen, hohen Holzgitter mit seinen braunen Fratzen und Engelsköpfen schellte, mußte sie eine Weile warten – das kam ihr endlos vor, wie sie so unruhig auf einer dunklen Dielenfuge auf und ab ging –, eine ganze Weile mußte sie warten, bis das alte Fräulein Hörtel mit großen Filzschuhen die Treppe herunterschnurrte und öffnete und sagte: Der Herr Jason Gebert wäre schon auf.
Am liebsten wäre Jettchen noch umgekehrt, wie sie die weißen, breiten Stufen hinanstieg, so klopfte ihr das Herz bis in den Hals hinauf; aber das ging doch nicht mehr gut, und eigentlich sollte sie sich ja auch freuen, Onkel Jason wiederzusehen. Als Jettchen jedoch oben war, wurde ihr ganz schwarz vor den Augen, und sie mußte sich am Geländer halten. Sie hatte sich alles zurechtgelegt, was sie zu Jason ruhig sagen wollte, und jetzt war ihr das alles entfallen, und die Erregung benahm ihr Gedanken und Worte.
Und dann sah sie nur das eine mitten in dem hellgrünen Raum, mit seinen rotbraunen Möbeln: mitten darin einen blassen, sehr hageren Menschen mit tiefliegenden Augen und dünnem Haar, der vielleicht für irgendeinen ihr unbekannten, älteren Bruder Onkel Jasons gelten konnte, für einen kranken Doppelgänger von ihm; einen Menschen in rotseidenem Schlafrock mit Schnüren und einem weißen, lappigen Hemdkragen, oben, wo der Rock am Hals offenstand; einen Menschen, der zitternd ihr von den grünen Kissen der Bergere die Hände entgegenstreckte. Und all das, was Jettchen sich vorgenommen hatte, zu Jason zu sagen, war wie fortgeblasen, und sie schwankte nur und fiel auf diesen Menschen zu und nahm ihn in die Arme.
»Na«, sagte Jason nach einer ganzen Weile, und seine Stimme klang gepreßt und klein, »so, nun setz dich mal hier zu mir, mein altes, gutes Jettchen du; weißt du, ich komme mir jetzt immer vor wie Dante, von dem die Mailänder glaubten, er wäre wirklich in der Hölle gewesen. Diesmal, Jettchen, war's beinahe so weit, und ich war drauf und daran, die süße Angewohnheit des Daseins – wie mal irgend jemand, der sie wohl nicht recht erkannt hat, gesagt hat –, also diese süße Angewohnheit mit dem ewig unbeweglichen Jenseits aller Dinge zu vertauschen. Aber wie man so ist, Jettchen, so ist es mir im letzten Augenblick doch wieder leid geworden. Und nun habe ich mich jetzt in den Wochen oft gefragt, ob das nicht doch vielleicht unklug von mir war; da, vor ein paar Tagen, wie mir Onkel Eli die drei frühen Ludwigsburger Gruppen dort gebracht – die da vorn, gleich in der Mitte –, weil ich sie immer bei ihm so bewundert habe, damals – war es das erstemal wieder; und jetzt, wo du mich besuchst, ist es das zweitemal.«
Dabei hielt Jason Jettchens volle, weiche Hand mit den rosigen, wie gedrechselten Fingern zwischen den seinen, die ganz spitz und knochig geworden waren, und tätschelte und streichelte sie dankbar.
»Aber etwas anderes, Jettchen, ich habe in den bösen Tagen doch einmal gesehen, was Familie ist. Salomon und Ferdinand und der alte Eli sind jede Stunde bei mir gewesen, und wenn ich Wein bekommen sollte, dann hat einer immer einen besseren wie der andere mitgebracht. Wenn ich wieder gesund bin, kann ich eine Weinhandlung aufmachen, soviel steht noch draußen. Und kaum, daß es mir nur ein wenig besser ging, da sind von Rikchen und Minchen ganze Körbe mit Gläsern von Gelees und Eingemachtem gekommen. Ich bin nie auf die Familie sonderlich zu sprechen gewesen, aber in ihrer Art meint sie es doch gut mit einem. Na, Jettchen, das mußt du doch jetzt auch merken. Rikchen hat mir deine Möbel und deine Aussteuer neulich beschrieben – da kann es ja eine Prinzessin nicht schöner haben.«
Jason seufzte und schwieg, und Jettchen sah ihn angstvoll an, denn sie dachte, das Reden hätte ihn zu sehr angestrengt. Aber dem war nicht so. Jason hatte es nur übermannt, von einer Sache zu sprechen, an die er ohne tiefes Mitleid und feuchte Augen nicht einmal denken konnte, und in der er doch eine ruhige Freudigkeit bewahren mußte, wenn er nicht Jettchen ganz verwirren wollte; denn er sah wohl, daß es schon schwer genug auf ihr lastete.
»Ja, ja«, begann er wieder, als Jettchen immer noch verlegen schwieg, »wir beide sind nun die verirrten Kinder, die wieder nach Hause gekommen sind – und wenn wir's uns recht überlegen, was sollen wir auch draußen? Es ist nirgends eine Stube für uns geheizt und so hübsch warm und so mollig, wie die es für uns sind.«
Jettchen standen wieder die Tränen in den Augen, und sie hatte sie sich doch eben erst aus den Winkeln gewischt.
»Da magst du recht haben, Onkel!«
Jason nickte, als wollte er sagen: nur zu sehr, Jettchen, nur zu sehr; aber er sagte das nicht, sondern er klopfte Jettchen freundlich die Backen und meinte, »na eigentlich hoffte ich, du würdest schon eher mal kommen. Jetzt, wo du gleich eine junge Frau bist, da hast du gewiß gar nicht mehr so die Gedanken für mich, da hast du ganz andere Dinge im Kopf, und später wirst du noch ganz andere Dinge im Kopf haben, – c'est la vie!«
»An mir hat's nicht gelegen, Onkel; aber die Tante wollte es durchaus nicht«, verteidigte sich Jettchen. »Sie ist so abergläubisch, das weißt du ja, sie hat mir jeden Tag in den Ohren gelegen, man dürfe als Braut keine Krankenbesuche machen, sonst wäre ich schon gekommen, denn Zeit hätte ich ja genug gehabt. Julius ist ja überhaupt erst seit zehn Tagen wieder in Berlin.«
Jason sah ganz starr vor sich hin. »So, so«, sagte er, und dann: »Ja, manche Leute sind eben merkwürdig abergläubisch.«
Aber Jettchen verstand den Sinn nicht.
»Und Tante war ja auch dagegen, daß ich heute zu dir ging; aber sie konnte mich doch nicht halten. Bitte, komm doch zu meiner Hochzeit, Onkel, und wenn es nur eine Stunde ist; sieh mal, der Wagen holt dich ab und bringt dich wieder nach Haus, sowie du gehen willst. Aber wenn ich denke, daß du nicht dabei sein sollst, so kann ich mich auf den ganzen Tag nicht freuen.«
Jettchen sagte das ziemlich gut, aber doch nicht so gut, daß nicht Jason den Unterton dabei hörte, und dieser Unterton tat ihm weh.
»Du weißt, ich bin bisher kaum herausgekommen, dreimal mittags eine Stunde in der Sonne – und da war' mir das doch zu anstrengend.«
»Ach, Onkel, wenn du schon so fortgehen kannst, warum kommst du denn nicht zu mir?« bettelte Jettchen.
»Nun, ich dachte«, sagte Jason, und ihn verließ seine ganze erzwungene freundliche Ruhe, »ich dachte, es wäre dir wirklich lieber, Jettchen, ich wäre nicht dabei.«
»Nein, Onkel!« rief Jettchen, und jetzt weinte sie wieder. »Du mußt kommen, siehst du, Onkel, du mußt kommen; tu's mir zuliebe! Damit ich nicht so ganz, so ganz allein dort bin.«
Und Jason schnitten diese Worte ins Herz, und er nahm den Kopf Jettchens in seine abgemagerten Hände und zog ihn zu sich heran.
»Wenn ich dir damit eine Freude machen kann, Jettchen, dann weißt du ja, daß ich nicht nein sage.«
»Nicht? Nicht wahr, du verläßt mich nicht, Onkel!« Und sie war ganz rot und tränenübergossen.
Und Jason suchte sie zu beruhigen: sie sähe das alles jetzt nur so schlimm an und würde schon ganz glücklich in ihrer Ehe werden. Sie hätte ja keine Sorgen, und es käme immer alles besser, als man glaubt. Aber wenn sie so dagegen gewesen wäre, warum sie es denn getan hätte. Salomon hätte sie doch gewiß nicht gezwungen.
»Nein«, meinte Jettchen, »ich bin gar nicht gezwungen worden, ich habe es ganz freiwillig getan. Weißt du, Onkel, wir glauben immer, uns wird etwas geschenkt; aber uns wird nichts geschenkt; früher oder später wird uns für alles in diesem Leben die Rechnung vorgelegt. Man ißt nirgends umsonst zwanzig Jahre lang fremdes Brot, und das hier war einfach die Rechnung, die mir dafür vorgelegt wurde. Und da ich es im Hause von Onkel nicht vor mir gesehen habe, Schulden zu machen, habe ich sie nun bezahlt.«
»Nein«, sagte Jason, »ich habe da meine eigenen Gedanken; sieh mal, Jettchen, du bringst überall so viel Geist und Schönheit hin, und du bist im innersten Kern deines Wesens so ausgeglichen und von solcher reinen, freundlichen Anteilnahme, daß du überall das Gute finden wirst und daß von allen schlimmen Äußerlichkeiten dieser Kern stets unberührt bleiben wird. So wie du bei Salomon von der Stunde an, wo du hinkamst, bis heute dich ganz bewahrt hast, so wirst du es auch nun in deinem eigenen Hause tun.«
Jettchen schüttelte den Kopf, denn sie selbst wußte wohl am besten, daß dem nicht so war. Und sie wollte das gerade zur Antwort geben, da hörte sie draußen sprechen, und die alte Angst schlug wild hoch, gleichsam in Flammen, sie loderte auf in ihr wie eine brennende Strohgarbe. Und auch in Jasons Gesicht malte sich plötzliches Erschrecken. Er sprang vom Sofa auf und zog den roten Rock fest um sich.
»Wenn du willst, sage ich ihm sofort, daß er gehen soll, Jettchen!«
»Ich möchte ihn noch einmal sehen, Onkel? Ist er denn schon lange wieder hier?« sagte Jettchen, und sie war sehr fest und ruhig.
»Eine ganze Zeit, er ist an der Bibliothek jetzt.«
Und da stand Kößling vor ihnen. – – –
Es war das derselbe Zufall, der ihn damals mit Jason in der Königstraße Jettchen entgegenführte, und damals trug der Zufall fest die Binde vor den Augen. Und es war das derselbe Zufall, der sie wieder ein paar Wochen darauf beide in der Königstraße allein zusammenführte, und der dann draußen in Charlottenburg sein Spiel trieb, und der am Nachmittag auf der Kurfürstenbrücke Kößling und Jason sich treffen ließ. Und da hatte er schon die Binde ein wenig gelockert und schielte ganz heimlich und verstohlen darunter hervor. Aber jetzt hatte dieser Zufall die Binde abgenommen und zeigte sein wahres Gesicht; ein Antlitz war es, mit strengen, eisenharten Zügen und mit Augen wie aus blauem Stahl. Und da hieß er Schicksal. Das Schicksal, das zwei Menschen packt und sie zusammenschmiedet und sie an ihren Ketten über alle Höhen der Lust und durch alle Tiefen des Leids schleift, das Schicksal, das sie erhöht und erniedrigt, das sie stößt und knechtet, das sie belebt und zerschmettert. Das war es hier. – Nicht mehr der blinde, tappende, gutmütige Zufall von einst; nicht mehr der heimlich schielende Geselle mit dem Lächeln des Gelegenheitsmachers von später; sondern es war der Zufall, der sich mit einer kurzen, wilden Bewegung die Binde herabgerissen, und der nun Schicksal hieß und mit Blicken wie aus geglühtem Stahl, wortlos seine Erfüllung forderte. – – –
Die erste, die sprach, war Jettchen. Sie schien ganz unbefangen, nur ihre Stimme klang müde.
»Nun, Herr Doktor«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen, »wir haben uns ja lange nicht gesehen.« Und sie hätte fast hinzugefügt: es ist uns beiden wohl nicht gut gegangen indessen.
Kößling sah sie mit ruhigen, traurigen Augen an.
»Ich war lange zu Haus wieder; Sie wissen ja, ich hatte immer so etwas Heimweh nach dem Bürgertum gehabt, und man wollte mich sogar schon in der Schulverwaltung haben; aber da bekam ich die Nachricht, daß ich hier in der Königlichen Bibliothek eintreten könnte. Ich hatte mich einmal früher darum beworben und hatte es schon halb wieder vergessen, und da bin ich nun schnell wieder hierhergekommen. Es liegt mir auch mehr, ich bin von je ein halber Bücherwurm gewesen, und nun werde ich eben ein ganzer werden.«
Jettchen sah ihn an. »Ja, Sie sagten mir auch einmal, Sie könnten nirgends als nur in einer Großstadt leben.«
»Ach nein, Fräulein Jettchen, die Großstadt ist es wohl nicht mehr.«
Da fiel Jason schnell ein, »er hat Sehnsucht nach mir gehabt«, meinte er lächelnd.
»Ja, Fräulein, ich hatte ja keine Ahnung von alldem, was hier inzwischen vorgegangen war.«
»Keine Ahnung und komme hierher, um Ihrem Onkel ganz glücklich die Neuigkeit von mir zu bringen, bin ich ganz erfüllt davon. Mein erster Weg ist hierher, und da wird mir gesagt, es dürfe niemand herein. Warum denn nicht? – frage ich ganz verdutzt. Ja, es ginge schon wieder etwas besser, aber es dürfe noch niemand zu ihm. Und damit macht man mir die Tür vor der Nase zu. Und so habe ich acht Tage lang jeden Tag gefragt, bis ich ihn endlich sehen und sprechen durfte.«
»Nun«, warf Jason lachend ein, denn ihm lag daran, daß Kößling nicht weitersprach und nicht vielleicht auf jene bösen Tage hinzielte, an denen Jason stundenlang seine ganze ruhige Redekunst eingesetzt hatte, um Kößling wenigstens vor dem Äußersten zu bewahren. »Nun, mein Freund, ich für mein Teil werde alles nachholen. – Aber, was ist mit der Ausgabe von Cristian Garwes, ›Gesellschaft und Einsamkeit‹? Wo ist sie erschienen, Doktor, Sie wollten doch mal nachsehen.«
»Ja, das habe ich auch getan, lieber Herr Gebert. Sie ist in Breslau erschienen, und sie ist sicherlich jetzt ganz billig zu haben.«
»Und denken Sie, daß Sie sie mir verschaffen können?«
»Gewiß, sie kommt ja oft vor.«
»Ach, das würde mich sehr freuen!« rief Jason lauter und erregter, wie es der Gegenstand eigentlich erforderte. Und dann zu Jettchen: »Na, du wunderst dich wohl, du denkst wohl, ich sitze jetzt wie der alte Cerf vom Königsstädter mit der umgekehrten Zeitung vor der Tür, damit die Leute glauben, er kann lesen?«
Jettchen hatte Kößling die ganze Zeit angesehen, und sie schrak nun zusammen. Dann lachte sie auf, trotzdem sie kaum auf das gehört hatte, was Jason gesagt hatte. Auch Kößling war ganz still geworden und studierte gleichsam jeden von Jettchens Zügen, ob er noch das darin fände wie einst. Und Jason sah ängstlich von einem zum anderen, und dann kam ihm so etwas wie die Empfindung, daß er hier einen großen Fehler begangen hätte und daß er schnell retten müßte, was noch zu retten war.
»Na, Jettchen«, sagte er, »wenn ich dich also das nächste Mal wiedersehe, dann nennt man dich schon junge Frau. Wie heißt doch der Vers von Goethe? ›Und frage nicht immer Papa und Mama‹. – Also, Jettchen, noch einmal, weil du es wünschst, nur deswegen komme ich, und wenn es auch nur auf eine Stunde sein sollte; aber ich komme bestimmt, mein Liebling! Ich danke dir noch vielmals für deinen Besuch; – denke nicht, daß ich das nicht weiß, Jettchen, du hast gewiß noch sehr viel zu ordnen und zu packen in den Tagen und hast eigentlich was anderes zu tun, wie hier bei alten, kranken Onkeln zu sitzen.«
Jettchen war aufgestanden. »Dann auf Wiedersehen, Onkel Jason, und du weißt, warum ich mich so darüber freue!«
»Ja«, sagte Jason fast feierlich, denn er glaubte fest in diesem Augenblick, die Geschicke zweier Menschen in seiner Hand zu spüren, zwei Fäden, die sich leicht verknüpft hatten und die er wieder mit leisen Fingern, ohne an ihnen zu zerren oder zu reißen, ohne ihnen weh zu tun, ohne Messer- und Scherenschnitt voneinander trennen könnte. »Und nun gebt ihr euch beide die Hand, du und Doktor Kößling, zu einem Lebewohl ohne Groll und Kummer, als zwei Menschen, die gern und mit Freuden ein kleines Stück Weg zusammen gegangen sind und die nun weiter müssen, der eine rechts und der andere links.«
Aber wie Kößling blutrot wurde und fast schwankte, und wie Jettchen sich wandte und wortlos an Kößling vorüber zur Tür ging, ihn scheinbar meidend und doch suchend, da sah Jason Gebert, daß nicht er, sondern ein anderer diese Fäden in der Hand hatte, und daß jener sie keineswegs lösen mochte, sondern nur immer fester sie verknüpfte und verknotete. Und ermüdet von der Aufregung und vom Sprechen ließ sich Jason blaß und stöhnend in die Kissen zurückfallen.
Jettchen zog ganz leise die Tür hinter sich ins Schloß und hielt einen Augenblick draußen an, sah in das stille weiße Treppenhaus hinab, das sich mit seinen weißen Geländern im breiten Bogen nach unten wand, und dann ging sie langsam, wie mit gebundenen Füßen, die breiten Stufen hinab, blieb stehen, um durch eine helle Scheibe über einen grauen Hof zu sehen, ging wieder einen Absatz langsam, wie mit gebundenen Füßen, blieb wieder stehen und sah in den Hof. Sie hatte gar keine Empfindung von irgend etwas, was mit ihr vorgegangen; sie hörte nur das dumpfe Brodeln und Summen ihres Blutes in den Ohren; sie wußte nicht mehr, wer sie war und was sich mit ihr ereignet, und daß sie verlobt war, und daß heute nachmittag all ihre Sachen in die neue Wohnung geschafft würden, und daß sie noch packen müsse. Und sie blieb immer wieder auf den Stufen stehen, mit der Hand am Geländer, in tiefen Gedanken, die ihre Augen auf einen Punkt starren ließen, Gedanken, die keine Worte hatten und über deren Inhalt sie keine Auskunft hätte geben können, und die sie doch quälten, weil sie nicht mit ihnen zum Schlusse kommen konnte.
Und als endlich die hohe, geschnitzte Tür, die die Treppe vom Hausflur trennte, hinter ihr zufiel, blieb Jettchen noch einmal stehen und besann sich, als ob sie nicht wüßte, wo sie nun hingehöre und als ob sie irgend etwas zurückgelassen, was sie noch holen müsse. Und dann wieder hörte sie, wie es hinten am Flurfenster trommelte und auf dem Fensterblech lärmte, und wie es irgendwo in der Regenröhre rauschte und gurgelte; und sie dachte, daß es gewiß wieder einmal regnete und daß es schon bald wieder aufhören würde. Und dann vernahm Jettchen oben Tritte auf der Treppe, ganz oben, und sie wollte schnell zur Tür hinaus, aber da war es ihr, als hätte man ihr die Füße am Boden festgenagelt. Und dann waren auch diese Schritte von oben verhallt, das Trommeln und das Rauschen hatte sich verloren, und Jettchen war völlig beherrscht von jenen Gedanken, die keine Worte hatten, und mit denen sie doch nicht zum Schluß kommen konnte. Dann jedoch stand ihr Kößling gegenüber mit ganz erschrockenem Gesicht.
»Sie sind noch hier, Fräulein Jettchen?«
Jettchen machte eine Bewegung, die man vielleicht deuten könnte: was sollte ich wohl dagegen tun, – und sah Kößling bittend und weich an mit ihren Augen, die wieder ganz samtschwarz in der Tiefe waren, wie die Blütenblätter dunkler Stiefmütterchen.
»Haben Sie hier auf mich gewartet, Fräulein Jettchen?«
Jettchen schüttelte. »Ich weiß nicht.«
»Nein, Fräulein Jettchen«, und Kößling ergriff ihre Hand. »Sie brauchen sich nicht vor mir zu verantworten. Sie nicht.«
Jettchen schüttelte wieder.
»Wer bin ich denn für Sie gewesen, daß Sie mir Rechenschaft schuldig waren; und wer wäre ich, wenn Sie dadurch auch nur ein Lot von dem verlören, was Sie mir bedeutet haben und was Sie mir stets bedeuten werden. Herrgott im Himmel, Fräulein, was hält mich denn überhaupt noch, wenn es nicht das wäre?«
Jettchen stand immer noch in Gedanken und sah starr auf eine Stelle des Bodens, wo ein paar Holzsplitter von der Diele losgerissen und zackig emporstarrten. Sie nahmen plötzlich für sie eine unheimliche Wichtigkeit an, diese paar zackigen Holzsplitter.
»Und selbst zuerst, ich habe keinen Groll gehabt; – wirklich nicht, nur weh hat's mir getan, das ist wahr; aber was geht das Sie an, und wenn soviel Glück –« Kößling stockte, denn er fühlte es, daß Jettchen ihn nicht hörte. Er empfand es deutlich: wie eine Schlafwandlerin stand Jettchen da und starrte nur auf die paar losgerissenen Splitter, als wäre sie gezwungen, auf sie niederzusehen, und dann sprach sie ganz plötzlich, und ihre Stimme kam von weit her.
»Was Sie mir gewesen sind? ... Das fragst du?«
Kößling hatte wieder die Empfindung wie damals, als ihn der Junge mit der Bleikugel auf den Kopf geschlagen hatte. Die Wand hinter ihm, die weiße Wand ging zurück und legte sich schräg und langsam um, und er tastete nach rückwärts mit ausgebreiteten Armen nach ihr ins Leere hinein, und oben die Decke senkte sich, und der Boden vor ihm kam auf ihn zu.
Das war wie der Schrei eines Tieres in der Nacht, ein Schrei, als ob er das ganze schlafende Haus wach rufen müßte. Und dann flog Jettchen auf ihn zu und fiel fast mit ihm zu Boden, und dann rissen sich beide wieder hoch und hingen Mund an Mund, und dann lüfteten sie die Arme etwas, hielten sich gleichsam voneinander fern, um sich in die Augen zu sehen, und dann sanken sie wieder zusammen, als ob sie nie aus dieser Umarmung zum Leben erwachen wollten. Und wenn Jettchen sich eben noch an Kößlings Lippen festgesogen, dann zog sie seinen Kopf ganz zu sich herunter und küßte ihn auf die Augen und auf die Stirn, und ihre Tränen liefen ihm über das ganze Gesicht. Während Kößling nur immer wieder das eine Wort wiederholte, das er Tag und Nacht vor sich hin gesprochen, und ihr zuraunte und sie streichelte und sie umfing und ihr den Mund und die weißen Schläfen küßte, stammelte Jettchen wirr unter Lachen und Tränen.
»Ich hab's gewußt die ganzen Tage, ich hab's gewußt die ganzen Tage.«
Und die Liebe schlug immer wilder in ihnen hoch und legte sich wie ein heißer Mantel um ihre Umarmungen, und draußen rüttelte der Wind an der Tür, und der Regen trommelte hinten gegen die Scheiben, und jedesmal, wenn sie sich von neuem in die Arme stürzten, dann war es ihnen, als ob sie ineinander vergehen müßte.
Endlich aber riß Kößling mit einem plötzlichen Ruck die Tür auf, und der Wind schlug voll hinein und trieb ihnen einen feuchten, kalten Schauer in die glühenden Gesichter, und draußen spritzte das Wasser von den Steinen, schoß rauschend in die Gosse und klatschte mit hundert Tropfen in die Lachen auf dem Fahrdamm und rieb drüben die Wände der Häuser in breiten Streifen.
Und plötzlich fiel Jettchen ein, daß es da hinten irgend etwas gab, weit da unten, was zu ihr gehörte: ein Haus und Menschen und einen Mann, dem sie folgen müsse. Und die Worte tauchten wieder vor ihr auf; man ißt nicht umsonst zwanzig Jahre lang fremdes Brot, und sie sprach sie aus, wieder wie halb im Traum.
»Was hast du?« fragte Kößling zärtlich und ängstlich und beugte sich zu ihr.
Aber Jettchen antwortete nicht und nahm seinen Arm.
»Komm, Fritz!«
Und sie gingen beide mit lachenden Gesichtern durch diesen Regen die Klosterstraße hinauf.
»Sieh mal«, sagte Jettchen wieder nach einer Weile, »verstehst du, Fritz, man hat mir die Rechnung vorgelegt, ich war zwanzig Jahre da im Haus – oder es ist schon länger, mein Schatz? Zwanzig Jahre, daß wir uns nicht gekannt haben, ja, und da weißt du, nun muß ich sie bezahlen. Und – ich habe doch gar kein Geld mehr, weil ich dir alles geben muß.«
Kößling blieb stehen und sah Jettchen ängstlich an, denn er verstand nicht, was sie damit wollte.
»Meine Angebetete, meine Süße, du mußt nicht so reden!« sagte er.
»Ja, was soll denn nun werden, Fritz? Siehst du, ich zermartere mir den Kopf, ich weiß es aber nicht. Aber irgend etwas wird schon geschehen. Meinst du: irgend etwas wird geschehen! Aber ich konnte doch nicht anders. Wenn ich zwanzig Jahre da war, da mußte ich doch die Rechnung bezahlen.«
Kößling beugte sich zu ihr nieder und küßte sie, und die Tränen auf seinem Gesicht verschmolzen mit den Regentropfen. Und dann schritten sie wortlos und hochaufatmend über einen Hof, an dessen Bäumen der Wind zerrte, und sahen in hohe Scheiben, hinter denen wie Gespenster große, weiße Figuren, Gruppen und Pferde standen, und dann kamen sie in die Neue Friedrichstraße, und Jettchen hörte durch den Regen deutlich die Singuhr ihre Weise spielen, und ihr kam der Gedanke, daß sie nun doch nach Hause müsse.
Und sie standen im Flur eines Hauses und hielten sich fest an beiden Händen gefaßt und konnten vor Tränen einander kaum erkennen, trotzdem sie nicht die Blicke voneinander wandten. Und Jettchen murmelte immer wieder, daß sie nun die Rechnung doch bezahlen müsse. Und Kößling wußte jetzt wohl, was sie damit meinte, und er sagte, daß sie sich es nun so bewahren müßten wie jetzt und daß sie trotzdem so glücklich werden möchte, wie sie ihn jetzt gemacht hätte; und daß vielleicht das Leben sie beide noch einmal zusammenführen würde, wenn sie rein und ruhig geworden. Und innerlich zieh ihn jedes Wort einen Lügner. Und dann flössen sie wieder zusammen und konnten sich gar nicht trennen, und immer wieder segneten sie Augen, Stirn und Lippen mit Küssen und beschworen einander, nahmen Abschied, gingen langsam einen Schritt fort, und dann zog es sie wieder zusammen wie zwei Eisenspäne, die mit unwiderstehlicher Gewalt an einen Magneten herangezogen werden.
Und dann war mit einem Male Jettchen allein auf der Königstraße, und sie ging hoch, gerade und aufrecht, wieder mit dem zurückgebogenen Kreuz und dem stolzen Gang, den alle Geberts hatten, das heißt, sie ging nicht, sie war selbst gar nicht dabei: es ging, sie tat nichts dazu; sie sah sich gehen, ganz seltsam, so ungefähr, wie wir immer im Traum uns selber sehen. Der Regen hatte schon eine Weile aufgehört, und der Wind versuchte wieder die Feuchtigkeit aufzutrocknen – ein nutzloses Spiel, denn ehe er damit fertig war, sorgte er ja selbst dafür, daß sein Werk zerstört würde.
Und nun war das Haus da, und Jettchen ging hinein, sah durch die Glastür in das Kontor, wo sich die Buchhalter hinter den hohen Stehpulten wiegten wie Pferde vor ihren Krippen, und sie nickte wieder ganz in lächelnden Gedanken den beiden weißen Gipsplatten zu: Amor und Psyche und Bacchus bei der Erziehung des jungen Liebesgottes. Und oben saßen sie alle um den runden Tisch, die Tante, der Onkel, Julius und warteten schon auf sie; und das Zimmer war wie stets. Unter dem blauen Sofa standen die Reihen und Kolonnen von Gläsern und Steintöpfen, vielleicht noch dichter geschart wie im vorigen Frühling. Und die Schlummerrollen hingen über den Lehnen, die mit dem Papagei und die mit den schönen Schriftzügen, von denen die Tante am Nachmittag immer noch das »Sanft« in Spiegelschrift auf der Backe trug. Und das Seidenhündchen auf der Fußbank hatte noch immer die schwarzen Perlaugen, und die Biskuitbilder schaukelten und ratterten vom Wind draußen leise an ihren Ketten.
Und Julius begrüßte Jettchen, und die Tante freute sich mit ihr, und der Onkel saß da mit seinem Käppchen, mit der Eichenlaubgirlande in Kettelstich, und fragte Jettchen, was sie bei Jason ausgerichtet hätte und wie sie ihn gefunden hätte.
Und Jettchen antwortete, das heißt, sie antwortete nicht, sondern es antwortete aus ihr, ganz beredsam, ganz unbefangen, ruhig und freundlich, aber sie selbst hörte sich erstaunt zu und wunderte sich, wie ihr jedes Wort in den Ohren klang.
Und die Tante sagte dann, daß sie heute vormittag schon recht weit in der neuen Wohnung gekommen wäre; und dieses seltsame Etwas, das da immer Rede und Antwort stand, nahm an allem teil und fragte, wie man die Möbel denn aufgestellt hätte, und es hörte ruhig die langen Auseinandersetzungen zwischen Salomon und Julius wegen der Firma mit an, und es gab sogar seinen Rat hierzu. Und doch fühlte Jettchen, daß sie bei alledem ganz unbewegt, starr und aufrecht saß, – nur die Backen brannten ihr. Und dann, als man fertig mit Essen war, gab dieses Etwas, das aus ihr immer sprach, für sie alles dachte und tat, dem Onkel einen Kuß und der Tante einen Kuß, und auch Julius küßte es ganz flüchtig. Und das machte Tante und Onkel staunen, denn sie waren sonst wirklich keine Zärtlichkeiten an den beiden gewohnt. Dann aber sagte Jettchen schnell, sie müsse nun in ihr Zimmer gehen und packen, und das Mädchen sollte ihr zwei Waschkörbe bringen, – das wäre wohl genug.
Aber wie nun Jettchen wieder allein in ihrem Zimmer war und auf dem schwarzen Ledersofa mit den weißen Knopfreihen saß und den Goldfisch betrachtete, der glotzäugig und plätschernd in dem runden Glas mit dem Tonfuß und der Schäferin umherschwamm; und wie sie das goldige, durchbrochene Körbchen oben auf der Servante sah, auf dem die beiden Mädchen Rosen brachen, und das alle ihre lieben Andenken enthielt; und wie der sinkende Tag sein Grau leicht rötete, da – war jenes seltsame Etwas, das für sie sprach und ging, versunken, und Jettchen war nur wieder das bedrängte Wesen, gepeinigt von bohrenden Gedanken, die keine Worte hatten, und mit denen sie es nicht zum Schlusse bringen konnte. Und das Mädchen kam hinten über die Galerie und brachte die Körbe, und Jettchen packte alle ihre weißen Porzellanpüppchen hinein, ganz vorsichtig, daß etwa keine zerbräche, und aus Kisten und Kasten kamen ungezählte Mengen von Kleinzeug und allerhand alter Silber- und Goldschmuck mit Mondstein und Amethyst und Malachit. Und Ketten und Armbänder und Aufsatzhefte und alte Schulzeugnisse und ihre wenigen Bücher, die alle in den geschwungenen Schriftzügen Onkel Jasons Widmungen trugen. Oben im Kästchen lagen die Veilchen, welk und morsch, zwischen dem Krayon und der Miniatur, zwischen der silbernen Nadelbüchse und der Locke; und Jettchen sammelte sie mit spitzen, vorsichtigen Fingern und nahm ein Kuvert aus der neuen Papeterie, die ihr Onkel aus Karlsbad mitgebracht hatte – er hatte falsch prophezeit, es war noch kein Bogen verschrieben –, und sie sammelte die welken Blumen, die noch einen Schimmer von Blau zeigten, da hinein und legte das Papier oben auf die Servante.
Und nicht lange, so kamen von unten Gustav und der neue Hausdiener und sagten, Fräulein brauche keine Angst zu haben, sie würden damit umgehen wie mit rohen Eiern, und sie nahmen mit ihren plumpen Grobschmiedehänden die Körbe so zart und vorsichtig hoch, daß nicht mal das Porzellan leise zu klirren wagte.
Doch wie Jettchen wieder allein war in dem halbdunklen Zimmer, da war von neuem jenes seltsame Etwas verschwunden, das die ganze Zeit für sie gearbeitet, gesprochen, Weisungen gegeben, und Jettchen saß da auf einem der weißen Stühle mit gefalteten Händen und sah durch die Glasscheiben der geleerten Servante nach dem letzten Licht des Tages. Sie wollte an Kößling denken; aber merkwürdig, sie wußte gar nicht, wie er aussah und ob sie ihn liebte und ob das nun recht oder unrecht wäre.
Sie war ganz beherrscht von diesen bohrenden Gedanken, die eigentlich in keine Richtung wiesen, und sie hatte das seltsame Gefühl, als ob sie sich das alles hier noch einmal betrachten müsse, weil sie es nie wieder sehen würde.
Und war es denn noch ihr Zimmer? Alles stand leer und kahl. Die Schränke und Kästen sahen ordentlich hohl aus. Nicht einmal das Stammbuch lag auf der Ripsdecke, und nur das kleine Kuvert mit den toten Veilchen und hier der Goldfisch, der in dem halbdunklen Zimmer im Glas gluckerte, gehörten noch zu ihr. Und der Goldfisch sollte morgen auch herübergebracht werden. Und all das, was sie hier erlebt, war schon nur auf ein paar Erinnerungen zusammengeschmolzen. Aber dann kamen immer wieder diese wortlosen, bohrenden Gedanken, und Jettchen fühlte nicht einmal, daß um sie sich Dunkelheit senkte, die nur noch von einem einzigen Reflex in der Glaskrause vor ihr durchbrochen wurde. Plötzlich hörte sie die Schelle anschlagen und pinkernd nachzittern, und sie hörte Ferdinands Stimme und dann Hannchens und dazwischen die eines dritten, von dem sie glaubte, daß es der alte Naphtali wäre, und Rosalie und Pinchen tuschelten und lachten auf dem Gang. Da stand Jettchen auf und schritt hinten über die Galerie, wo ihr die nassen Zweige des Nußbaums raschelnd das Kleid streiften, sah in der Küche ruhig noch einmal nach dem Rechten und ging dann vor, mitten zwischen die plaudernden und lärmenden Menschen.
Den ganzen Abend sprach es wieder aus ihr, dieses seltsame Etwas, dem sie staunend zuhörte und zusah, ja, wirklich zusah, so wie man im Traum sich selber sieht. Es fragte, stand Rede, gab Antwort, aß und trank, stieß an mit Julius und Onkel Naphtali und allen sonst, gab Pinchen und Rosalie einen Kuß auf du und du, ja, es ließ ein paar Witze von Ferdinand über sich ergehen, der es sich nicht nehmen ließ, zweideutig zu werden – zur quietschenden Freude von Pinchen und Rosalie. Ja, es lachte sogar, wie Naphtali zum Schluß, als Salomon noch ein paar Flaschen heraufholen ließ, aufstand und sagte: »Was soll ich trinken dem schweren Wein in der tiefen Nacht? Ich geh' im Gasthause –«, lachte über diese Bemerkung, die sicher diätetisch mehr Richtigkeit für sich hatte denn grammatikalisch.
Dann aber war Jettchen von neuem allein, und es begann wieder zu bohren und zu hämmern und zu sausen; und sie lag da mit offenen Augen und starrte in die dämmerigen Falten des Betthimmels, in denen, weiß Gott woher, so ein letzter Schimmer von Licht hing. Und sie meinte, daß nun jede Minute irgend etwas geschehen müßte: was – wußte sie nicht, ahnte sie auch nicht, – aber sie glaubte fest daran. Und das Eigenartigste war für sie, daß sie gar nicht an Kößling dachte; sie zwang sich dazu, sie versuchte sich Vorstellungen von ihm vor die Seele zu zaubern, aber es blieb alles leer und inhaltlos, nur dieses Bohren und Drängen, dieses wortlose Sinnieren, das auf einen Punkt hinschob, war in ihr. Und wenn Jettchen für kurze Zeit wirklich einschlief, dann kam immer wieder derselbe Traum von der großen roten Spinne, die mit vielen kribbelnden Beinen sich langsam von einer himmelhohen Decke herabließ, größer und größer, schneller und schneller, bis sie endlich gerade über Jettchen hing, – einen Augenblick ganz ruhig hing, daß Jettchen jedes Glied der langen beweglichen Füße, jeden Ring des blutroten Leibes, jeden Knick der zitternden Taster sah, ehe sich dieses wilde, gierige Traumwesen mit der vollen Wucht seines Körpers auf sie fallen ließ und Jettchen entsetzt hochfuhr und mit den Händen ins Leere griff.
Und endlich kam wieder ganz langsam ein grauer Tag hoch mit seinen windzerrissenen Wolken, hinter dem kahlen Astgewirr des Nußbaumes. Aber kein Blinken von dem Porzellan im Schrank fing mehr das erste dämmerige Licht, und Jettchen fror unter den Federbetten vor dieser fremden Leere. Frühzeitig klopfte die Tante an; es wäre viel zu tun, und Jettchen müsse gleich mit in ihre neue Wohnung. Und beim Kaffee, da saßen sie wie immer, Jettchen, Tante Rikchen und Onkel Salomon; und das Etwas, das für Jettchen das Wort führte, sprach auch hier; aber Jettchen fühlte jeden Augenblick dabei, daß der Onkel Salomon so eigentümlich um sie herumging, und es schien ihr, als säße er nur und warte, daß sie zu ihm sprechen würde. Ja, in der letzten Sekunde, als sie schon wieder mit dem neuen Mantel und dem weiten Capuchon hereintrat, kam es Jettchen vor, als winke er ihr mit den Augen, als bäte er sie gleichsam um eine Aussprache; aber ehe ihr das noch recht ins Bewußtsein drang, da war sie auch schon mit der Tante unten auf der Straße in Regen und Wind.
Und nun mußte sie packen und räumen, Geschirr in den Schrank setzen – Königliches Porzellan mit Blumen, jeden Teller mit einem anderen Strauß, »Für gut«, und rheinisches Steinzeug mit tiefblauen Vögeln und Ranken für Alltag.
Und sie mußte Kleider einhängen, und wenn die Riegel im Kleiderschrank beim Hin- und Herbiegen knarrten, dann ging es Jettchen wie mit Messern durch den ganzen Körper. Julius kam auch heran. Doch die Tante sagte ihm, er wäre hier nicht zu gebrauchen, er stände nur im Wege; wenn er aber noch einmal zum Konditor Candieni gehen wollte und sagen, er möchte das erste, was sie bei ihm bestellt, ja schon um neun schicken, das andere brauche erst um zwei Uhr fertig zu sein, – wenn er das tun würde, würde er wenigstens beweisen, daß er zu irgend etwas auf der Welt nutz sei.
Und wie Jettchen auf dem Heimweg war, versuchte sie sich vorzustellen, wie denn ihre Wohnung wäre, aber jedes Bild davon war verschwunden und erloschen. Der Mittag kam und der Mittag ging; und das andere Jettchen sprach ganz unbefangen alltägliches Zeug, während sie selbst stumm dasaß und wartete auf das, was die nächste Sekunde eintreten müßte, während in ihr nur jene dumpfen, unbestimmten, wortlosen Gedanken drängten und kämpften.
Am Nachmittag kam es jedoch, daß Jettchen ganz allein war. Der Onkel war im Geschäft, die Tante räumte drüben die Küche ein, Julius war mit Naphtali zu Steheli gegangen, weil sich der das Leben dort mal ansehen wollte, und Pinchen und Rosalie waren überhaupt mehr bei Hannchen als hier. Und da, – als nun Jettchen allein war, – da ging sie wie im Traum noch einmal durch alle Stuben, saß im Eßzimmer eine gute Weile auf dem hohen Stuhl und betrachtete die Stiche an der Wand, die blanken Sachen auf der Anrichte und alle die Arbeiten, die Kissen, Rollen und Decken, die sie in jedem Stich kannte, und die Biskuitbilder an den Fenstern, die wieder leise an ihren Ketten schaukelten, »Morgengruß« und »Abendgebet« und »Der Krieger und sein Sohn« und »Die Mohrenwäsche«, von denen der Onkel immer sagte, sie könnten doch ganz gut als Pendants gelten. Und Jettchen streichelte alles mit nassen Blicken, – sie wußte selbst nicht warum, denn sie suchte sich zu überreden, daß sie schon übermorgen wieder hierherkommen könne.
Dann ging Jettchen nach vorn in den grünen Saal, und sie mußte, wie damals, die Holzjalousien aufstoßen, und der graue Nachmittag belebte plötzlich all die glitzernden Lichter auf den weißen Möbeln mit den goldenen Schwanenhälsen. Die grünen Seidenwände schauten nur etwas blasser als ehedem. Von Jettchens ganzer Aussteuer aber, von den Kleidern, die an den Kronen gehangen hatten, von der Wäsche, die auf den Tischen gelegen hatte, von den Schuhen in Reihen auf dem blanken Boden, von den Kapotten und Schuten, Mänteln und Häubchen war nicht mehr ein Stückchen Einschlagpapier, nicht mehr ein Endchen Bindfaden übriggeblieben. Es hing nur noch ein Duft von frischer Wäsche im Zimmer, sonst schien das Zimmer Jettchen schon wieder vollkommen vergessen zu haben. Alles war wie einst. Da an den hohen Spiegeln stand wieder der schnurrbärtige Türke und bewachte das kleine, tickende Uhrchen, und drüben schliff immer noch der Bronze-Amor seinen Pfeil; die Lichter standen wieder schief wie Bäume nach dem Windbruch, und in den Servanten fehlte auch nicht eine gemalte Tasse und nicht eine silberne Zuckerzange. Jedes Stück stand fest und unberührt. Da war der Blumentisch mit dem Gummibaum und der Palme und da das braune Tafelklavier. Jettchen betrachtete das alles mit einer traurigen Neugier; und plötzlich fiel ihr ein, daß Kößling hier zuletzt gespielt hatte und seitdem kein Mensch mehr auch nur eine Taste angeschlagen hatte. Und sie begann zu weinen und sank vor dem Klavier nieder und berührte immer wieder mit der Stirn und den heißen Lippen die schwarzen und weißen Streifen, daß die abgerissen und leise berührten Saiten gläsern und geisternd durch das stille Zimmer tönten. Jener ganze Abend kam ihr wieder vor die Seele. Sie sah alles: hier hatte Eli gesessen bei den Tanten, da hatten sie gespielt, und drüben in dieser weißen Nische hatte sie mit Kößling gestanden, bis die Tanten mit unzweideutigen Blicken sie gefragt, was das bedeuten sollte. Und wie Jettchen jetzt weinte, da wich die Starrheit, die sie umkrampft hatte, von ihr, und sie sah ihr ganzes liebloses Elend vor sich und erschrak bis ins innerste Herz hinein.
Aber da kamen die anderen zurück, und der Kampf umfing sie von neuem. Wie eine Marionette kam sich Jettchen vor, wie die Puppe in Hinkel, Gockel und Gackeleia, die keine Puppe, sondern eine schöne Kunstfigur war, die ging und sprach und endlich davonschnurrte.
Des Abends trieb die Tante alle bald fort, denn morgen wäre ein anstrengender Tag; und sie jagte ihre Hausgenossen frühzeitig ins Bett; und sie lag dem Onkel in den Ohren, sie ängstige sich, er solle morgen ja vorsichtig mit Essen und Trinken sein, denn er wisse, was der Geheimrat gesagt hätte. Und die Tante küßte Jettchen, und der Onkel küßte Jettchen, und beide meinten, die hofften, daß Jettchen es nie schlechter haben sollte, als sie es hier bei ihnen gehabt hätte, und sie wünschten ihr sogar von Herzen, daß sie es nur besser haben möchte. Was sie dazu tun könnten, das hätten sie ja wirklich und wahrhaftig voll und ganz getan.
Man könnte vielleicht hierin etwas Selbstgefälligkeit erblicken. Aber man soll mir den zeigen, der sich im gleichen Falle nicht auch mit lauter Stimme gepriesen hätte, und der nicht von sich geglaubt hätte, daß er die Liebe und Güte in eigener Person wäre. Denn so wie wir den anderen bescheiden oder gar reichlich von unseren Glücksgütern mitgeteilt haben, leben wir auch schon der festen Meinung, wir hätten uns ihm gegenüber von allem sonst ganz und gar freigekauft.
Nun aber kam die letzte Nacht, vor der Jettchen graute. Nicht einmal der Goldfisch war mehr bei ihr, der doch bis gestern noch wenigstens manchmal im Glase geplätschert hatte. Den hatte der Hausdiener Gustav auch schon in die neue Wohnung getragen. Er hatte gesagt, er würde ihn behüten wie ein kleines Kind, und er hatte ihm zum Abschied – weil in den ersten Tagen doch keiner an ihn denken würde, – eine solche Handvoll Fischfutter und Mundlackoblaten auf das Wasser gestreut, daß das arme Tier beinahe erstickt wäre.
Und Jettchen lag da in ihrem Zimmer, in dem ihr nur noch oben das kleine Kuvert mit den welken Veilchen gehörte, und das ihr nun so fremd und so unheimlich war, wie einem nur je das Zimmer eines Gasthofes sein kann, welches man soeben zum erstenmal gesehen hat und von dem man im Morgengrauen wieder scheiden wird. Ganz vergeblich suchte Jettchen ihre Gedanken zu ordnen. Sie lag nur da und grübelte wortlos und angestrengt vor sich hin. Sie hatte das Gefühl, daß sich in ihr irgend etwas vorbereitete, – als ob sie nun endlich zum Schlusse kommen müsse. Sie dachte sich, so müsse einem Gefesselten zumute sein, der dicht von Ketten umschlossen ist und wortlos und dumpf mit jeder Muskel gegen die Umschnürung ankämpft. Sie hatte einmal einen Mann gesehen, den man so fortgetragen hatte, ganz in ihrer Jugend. Und das Bild dieses Mannes, das sie sonst nur in schweren Träumen wieder erblickt hatte, kam ihr jetzt wachend vor die Seele. Dann aber schlief Jettchen ein – fest und traumlos, nicht leicht und hell wie früher, sondern in müder, tiefer Ohnmacht und schwer wie ein Stein. –
Und als Jettchen erwachte, sah sie wie benommen in den grauen Morgen und in den Regenschauer, der die kahlen Zweige des Nußbaumes vor dem Fenster bog. Wie hinter Gazeschleiern sah sie alles. Und es dauerte eine ganze Weile, bis ihr die Erinnerung kam, daß heute ihr Hochzeitstag sei. Aber dann packte es sie wieder, daß das doch nicht möglich wäre und daß irgend etwas geschehen müsse. Das könne nicht wahr sein – irgend etwas müsse dazwischen kommen. –
Und wie sie noch so lag, mit den Blicken oben in dem Faltenwurf des Betthimmels verfangen, und wie sie so inhaltlos vor sich hin sinnierte – so muß ein Schiffbrüchiger die ersehnte Mastspitze am Horizont suchen –, da hörte sie es klopfen, immer klopfen. Aber sie achtete nicht darauf. Und plötzlich stand Jenny vor Jettchens Bett, im weißen Mullkleid, mit einem Rosenkränzchen im Haar, und sagte, sie möchte vorkommen, es gäbe eine Überraschung für sie.
Jettchen stand auf und rieb sich die Augen; aber diese dumpfe Benommenheit, die alles in die Ferne rückte, ging nicht fort, und das wortlose Sinnieren beherrschte sie jetzt ganz. Den ganzen Tag über erblickte sie alles um sich her mit erstaunten Augen, und zeitweise verschwand es ihr vollends. Und dann kam es wieder auf sie zugerollt, daß sie mit übernatürlicher Schärfe jedes Bild sah. Und sie hörte jedes Wort, das um sie gesprochen wurde, so deutlich, als würde es ihr durch ein Schallrohr zugerufen.
Schnell zog sich Jettchen an, denn man pochte indes schon wieder, – und dann ging sie zur Servante, nahm ihr goldenes Medaillon, das sie immer an einem Kettchen um den Hals trug, legte ein paar der welken Veilchen da hinein und ließ es leise wieder in seinem Versteck auf ihre Brust zurückgleiten. Und nun ging Jettchen hinaus, in den Regen auf die Galerie, beugte sich weit hinüber und ließ die anderen morschen Veilchen – sie langsam zwischen den Fingern zerbröckelnd – auf den Hof herniederrieseln. Aber als sie damit fertig war, atmete sie auf; und es schien ihr, als ob nun auch das letzte Band, das sie an diesem Hause hielt, zerrissen wäre. – –
Vorn im grünen Zimmer war schon alles voller Menschen; der Onkel hatte Staat gemacht, und die Tante trug ihr silbergraues Atlaskleid. Julius hatte einen neuen blauen Rock mit blinkenden Goldknöpfen an, der bei Jasons Schneider gearbeitet war. Ferdinand war da und Naphtali und Eli. Wolfgang saß betrübt in einer Ecke, und Jenny im weißen Mullkleidchen trippelte mit ihrem Kränzchen ganz ängstlich von einem Fuß auf den anderen. Minchen und Hannchen hatten Spitzentücher in der Hand und drückten sie sich heimlich vor die Augen, und Julius machte ein feierliches Gesicht und hatte etwas unter dem Arm, ein Lederetui, das wie eine kleine Baßgeige aussah. Jettchen fragte sich, was diese Leute hier wollten, – und sie lächelte, weil es ihr komisch vorkam. Aber da warf sich Hannchen mit ihrer ganzen Breite ihr entgegen und schluchzte, sie wünsche ihr an ihrem Hochzeitsmorgen, daß sie glücklicher werde, als sie selbst es mit ihrem Ferdinand geworden sei. Und da fiel es Jettchen ein, daß ja der kleine feiste Mensch da im blauen Rock von heute ab ihr Mann sein würde. – Aber dann verschwamm es wieder. Sie wunderte sich sogar, sie sprach etwas. Aber während sie Tage vorher ganz deutlich noch gehört hatte, was es aus ihr sprach, kam es ihr jetzt kaum mehr zum Bewußtsein. Dann aber stand sie neben Julius, und alle anderen standen ihr gegenüber – steif und starr. Und sie sah Jenny vor sich, die mit beiden Händen ein weißes Kissen balancierte, auf dem, bedeckt von einem schmalen Spitzenschleier, ein grüner Kranz lag, und Jenny machte ein ganz ängstliches Gesicht und sagte:
»Die Sonne stieg so goldig heut empor,
Wie wohl noch nie an einem Tag zuvor.« –
Und da dachte Jettchen, daß es doch draußen regnete. Und dann küßten alle Jenny und meinten, sie hätte ihre Sache sehr brav gemacht, und Naphtali legte ihr die Hand auf den Kopf und fragte: »Wie alt biste, mein Kind?« Und daraus schloß Jettchen, daß Jenny schon fertig wäre, und sie bedankte sich. Julius jedoch nahm das Lederetui, das Jettchen wie eine kleine Baßgeige vorkam, gab es ihr, und wie es Jettchen öffnete, sah sie darin ein rötliches und goldiges Geflimmer. Das wären Aquamarin und Topasrose, sagte Julius, und die Korsage sollte sie nachher umbinden als Brautschmuck. Sie müsse wie eine Königin darin aussehen, und sie wäre ja auch eine Königin, – nämlich seines Herzens. Salomon aber kam auch mit solch einem Lederetui, das er unter dem Schnupftuch aus der Rocktasche hervorgrub, und er sagte zu Julius, man brauche die Uhr nicht für alle Tage zu tragen, sie könnte einem sonst mal geknipst werden, und dazu wäre sie zu gut. Die Uhr wäre noch aus dem Geschäft seines Vaters; ein Prinz hätte sie mal bestellt, aber da er nicht bezahlt hätte, hatte man sie vorsichtshalber einbehalten.
Und dann ging man hinein und frühstückte, und es war eine lange Tafel gedeckt, und schon stand Wein auf dem Tisch. Aber man war noch nicht fertig mit essen, da kamen von unten aus dem Geschäft die Buchhalter und Lageristen zum Gratulieren herauf, die auf Bewirtung rechneten. Und immer andere kamen, und Jettchen stand neben Julius, der ihre weiße Hand mit seinen kurzen, festen Fingern umkrallt hielt, und grübelte. Sie erinnerte sich an die Geschichte einer spanischen Königin, die man als Leiche auf den Thron setzte und vor der nun die Höflinge Cour machten. So kam sie sich vor. Wie hieß die denn nur? Wenn doch Jason käme, – der könnte es ihr sicher sagen. – Aber dann sprach Jettchen, dankte und verbeugte sich und lachte, bis alles wieder verschwamm, und ihr nur dieses dumpfe Drängen und die wortlose Angst blieb: daß nun irgend etwas geschehen müßte, und was das wohl sein würde.
Doch jetzt war plötzlich Julius verschwunden, und Naphtali fragte Jettchen, wo er wäre. Sie wußte es nicht. Ferdinand aber, der schon in etwas gehobener Stimmung war – denn er konnte am Vormittag nichts vertragen –, lachte, machte die Bewegung des Geldzählens und schlenkerte die Hand, daß die Finger nur so knackten.
»Jetzt geht's wie bei Fetschows Hausknecht!« rief er überlaut, – »bisher stimmen se noch!«
»Verzeihen Se«, meinte Naphtali, »wieviel gibt Ihr Herr Bruder eigentlich mit?«
Dann versank wiederum von neuem für Jettchen alles in einem dumpfen Sausen, und sie stand in ihrem Zimmer, das nicht mehr ihr Zimmer war, und Rosalie und Pinchen bastelten an ihr herum und strichen bewundernd über den knisternden Ottoman, daß es Jettchen bis in die Haarwurzeln ging.
Sie bürsteten auch Jettchens neuen Abendmantel mit dem großen Capuchon aus, den Jettchen ja übernehmen müsse, damit sie sich nicht erkälte. Denn das Wetter war klar geworden, und man würde zur Nacht sicher Frost haben.
Und dann kam Julius sehr ernst und feierlich und trug ein Myrtensträußchen im neuen Frack, und Jettchen fragte, wo Onkel und Tante wären; denn sie wollte ihnen sagen, sie könne nun doch die Rechnung nicht bezahlen – und sie könne es nicht. Doch da antwortete ihr das Mädchen, daß Herr und Frau Gebert schon vor einer halben Stunde fortgefahren wären, und Julius meinte, Onkel und Tante müßten doch die ersten sein, weil sie die Hochzeit ausrichteten; das wäre nie anders.
Wie Jettchen aus der Tür ging, da hatte sie das Gefühl, als müßte sie sich an den weißen Pfosten klammern und schreien – schreien – immerfort schreien ... Aber dann entglitt wieder alles, und sie spürte auf der halbdunklen Treppe Julius dicht neben sich. Sie ging unten im Hausflur auf dicken roten Läufern und sah wie im Halbtraume noch einmal die beiden Gipsreliefs Amor und Psyche und Bacchus bei der Erziehung des jungen Liebesgottes. Und dann kamen zwei Reihen Köpfe, und sie hörte, wie jemand sagte: »Kiek mal, den kleenen Bräut'jam!« und dann reichte das Mädchen, das vor Tränen nicht sprechen konnte, ihr den Mantel in den Wagen, und Julius nahm ihre Hand. Einen Augenblick sah Jettchen drüben über den Kähnen den ragenden Stock des Schlosses ganz dunkel gegen einen blauen Himmel, auf dem noch ein paar weiße Wolken schnell vor dem Wind trieben, aber dann ging sie schon wieder über rote Läufer hin, und Julius trug ihren Mantel, den müsse sie sich gleich nachher umtun. – Und weiter waren sie beide einen Augenblick allein in einem kleinen Zimmer an der Treppe, und Julius küßte Jettchen und rief, daß er so glücklich wäre, und zum Geschäft hätte er auch Zutrauen. Er rückte sich vor einem kleinen Spiegel die Halsbinde zurecht, und Jettchen mußte lachen. Gleich darauf aber sah sie eine Menge Menschen um sich in demselben Saale, die durcheinander wogten wie die bunten Glassteinchen eines Kaleidoskops. Alle ... auch alle schoben sich auf sie zu und begrüßten sie und küßten sie, und der alte Eli sagte zu ihr, das hörte sie ganz deutlich: »Nu, mach's gut!« Aber wie Jettchen nun dankte, denn der Juwelier hatte Elis Geschenke schon zu Salomon geschickt, verstand Eli nicht recht, denn er hatte heute seinen tauben Tag; aber endlich begriff er doch, um was es sich drehte. »Nu, Jettchen«, meinte er und schüttelte unwillig den Kopf, daß der Puder stob, »es freit mi, daß es dir wenigstens gefallt. Ich geh' immer lieber mit de warme Hand wie mit de kalte, und bei dir, mein Kind, überhaupt – – – – das ist doch leider alles, was ich dazu tun konnte.«
Ferdinand, der ja schon seit früh in gehobener Stimmung war, klopfte Jettchen auf den Hals, so wie man Pferde klopft, und rief: »Mädel, Kopf hoch, du siehst ja sonst wirklich aus wie die Königin Esther.«
Und wieder fielen in Jettchens Hirn die bunten Glassteinchen durcheinander zu ganz seltsamen Figuren. Inmitten eines Feldes aber dieser bunten Steinchen saß sie selbst; und die Toques mit den Marabufähnchen auf den hohen Figuren, die Blondenhäubchen mit Flieder, die Kränzchen und die Spitzentuffe gingen um sie hin und her wie die Halme eines Kornfeldes, in dem der Wind wühlt. Dann kam Julius auf sie zu, und sie stand allein mit ihm zwischen vier Stangen unter einem Baldachin; und hinter ihr wisperte es, und vor ihr stand ein Mann mit einem weißen Kragen und einem schwarzen Rock, hob beide Arme gen Himmel und brüllte plötzlich mit der Stimme eines hungrigen Löwen: »Der Ring ist rrund – rrund ist derr Ring – – ein Sinnbild Gottes ohne Anfang und ohne Ende.« – Und Jettchen erschrak so, daß ihr die Knie schwankten. Dann aber entschwand wieder alles, und nur langsam und unklar tauchte es von neuem empor, und es kam Jettchen dämmerhaft zu Bewußtsein, wo sie sich eigentlich befand. Der Mann redete immer noch; Jettchen versuchte hinzuhören, aber sie konnte keinen Sinn erfassen, und doch vernahm sie wieder ganz deutlich: »Ja, umsonst hatte man ihm nicht in klugem Vorbedacht den Namen Salomon gegeben, der ja, wie es in der Schrift heißt, unter allen Sterblichen der Weiseste war.« Und Jettchen grübelte darüber, wer wohl damit gemeint wäre. Da jedoch war der andere auch schon wieder weiter, und jetzt sprach er zu ihr, der Mann, denn sie fühlte seinen Atem unangenehm über dem Gesicht: »Und Sie, meine liebe Braut, ziehen nun aus der teuren Wohnung Ihrer lieben Angehörigen in die teure Wohnung Ihres trauten Gatten!« – Sie wollte schreien, Jettchen, daß das nicht wahr wäre und daß sie das nie tun würde; aber da blinkte ihr etwas vor den Augen, und man fragte sie, und es antwortete aus ihr, und sie fühlte eine Berührung an ihrer Hand, und hinter ihr erhob sich ein Lärmen, ein Gescharr wie von hundert Pferden, und fünfzig Lippen suchten die ihren, weiche und harte, junge und saftige, herbe und trockene. Tante Hannchen zerfloß, als wenn, sie aus Wachs wäre, und die kleine Minchen, die in ihrem Schleppkleid wie ein Komet aussah, schluchzte in sich hinein, daß sie noch kleiner wurde, und rief einmal über das andere Mal: es wäre zu rührend. Aus dem Gewirr tauchte das Gesicht Onkel Jasons auf, und Jettchen hörte, wie er ihr über die Köpfe fort zurief: »Na, gut überstanden? Ich komme nämlich erst jetzt, Frau Jacoby – du weißt ja, ich seh' mir so etwas aus Grundsatz nicht an.«
Aber da fühlte Jettchen, wie Julius ihren Arm nahm, und Philippi spielte Dü-Dü-Dä Di-Di Dü-Dä Dää, und Jettchen grübelte, was das wohl für ein Stück wäre, als ob sie noch nie früher den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn gehört hätte. Die Flügeltüren gingen auf – drin im Saal mit den vielen hohen Spiegeln an der Wand, die das Licht hundertfach brachen, stand eine lange Tafel –, und dort hinten, wo der hohe Baumkuchen prangte, mit dem rosa Amor in Zuckerguß, dort führte sie Julius hin. Und der alte Lohndiener Pieper, der Jettchen von klein auf kannte, wünschte ihr Glück und stellte eine Tasse mit Brühe vor sie hin. Sie versuchte, aber es schmeckte wie Gift, und die Kehle zog sich ihr zu. Ganz starr saß sie und sah die Tafel hinunter. Alle Münder gingen, und sie erblickte sich selbst drüben im Spiegel hinter dem hohen Baumkuchen, und der Widerschein ihrer Topase und Aquamarine stach ihr in die Augen. Im Spiegel sah sie die Länge der Tafel verzehnfacht, zu endlosen Reihen schmatzender Menschen, bevor das Bohren und Hämmern und wortlose Sinnieren wieder in ihr begann und alle ihre Eindrücke verschleierte. Und Julius sagte: »Iß doch, mein Liebchen«, und warf ihr drei kleine gebogene Fischchen auf den Teiler, die Jettchen unheimlich mit blinden Augen wie mit großen grauen Hagelkörnern anstarrten. Ganz schrill hörte sie an das Glas klopfen und sah die lange, hagere Gestalt Jasons, der ein wenig vornüber gebeugt stand, hörte seine liebe, feine Stimme, die weich und zugleich scharf war. Jetzt müsse sie aufpassen, sagte sich Jettchen; aber es summte und brauste ihr nur so in den Ohren, und sie vernahm kaum ein Wort. Nur das eine hörte sie: »Daß jener damals draußen geblieben wäre, das wäre eine Personenverwechslung gewesen; auf der Kugel hätte eigentlich sein Name gestanden«, und als sich Jason wieder setzte, war alles ganz still und starr, und keiner gab einen Laut. Und Minchen rief Jettchen zu: »Nu, Jettchen, haste von deinem Vater gehört, was das für einer war. – Aber wie red't Jason doch?«
Dann aber kamen Wolfgang und Jenny und legten vor Jettchen und Julius zwei lange, mit Versen bedruckte Atlasbänder mit Goldfransen hin, und Jettchen küßte Wolfgang, der ganz grün und verweint aussah. Die Musik aber spielte: »Ei, was braucht man, um glücklich zu sein« durch zehn Verse.
Kapaune und Poularden wurden herumgereicht, und Ferdinand saß schon da mit einem roten Kopf und zerbrach sein Brötchen. Aber da klopfte Eli, der heute seinen tauben Tag hatte, an das Glas, und alles wurde mäuschenstill. Eli jedoch hatte weder den schrillen, gläsernen Ton vernommen noch gewahrte er, daß das Rauschen und Plaudern sich um ihn gelegt hatte, er hatte sich nur seinem Nachbar bemerkbar machen wollen.
»Sie, da drüben!« rief er sehr ärgerlich Naphtali an, »sagen Sie doch mal Pieper, er soll mir noch mal die Sauce 'rüberbringen.«
Herrgott, gab das ein Gelächter! Und die letzte Nachwirkung von Jasons Worten ertrank darin, und man wurde lärmend und lustig an allen Ecken und Enden. Jedes neue Lachen schnitt Jettchen ins Hirn. Dann erst stand Ferdinand auf und sprach. In solcher Stimmung zu reden, das war ihm gegeben. Und alle kamen auf Jettchen zu und kicherten und stießen mit ihr an. Und wieder bekam sie ein bedrucktes Atlasband – diesmal gab es ihr Jenny – mit einer Dichtung von Pinchen und Rosalie. Und man sang acht Verse nach der Weise des »Liebestrank«. Pinchen und Rosalie aber sagten zu Jettchen, sie hätten es selbst verfaßt.
Nun erhob sich Naphtali, und Jettchen biß sich auf die Lippen, um zu hören, was er sprach; aber sie vernahm es nur, als ob es aus ganz weiter Ferne käme:
»Ich hatte schon immer«, sagte Naphtali langsam und wandte sich zu Jettchen, »soviel gehert von der Seltenheit und Lieblichkeit der Braut; aber ich hatte es nicht geglaubt. Doch wie ich hierher bin gekommen, hat es auch mir so gegangen. – Mein verehrter Herr Vorredner meinte, er kenne sein Jettchen schon von der Geburt an. Nun – ich kenne unseren Joel von noch frieher; denn ich bin der gewesen, was 'n hat auf den Schoß gehalten, als er ist aufgenommen worden ins Judentum. Ich war – – –«
Jettchen sah, wie Salomon unwillig mit dem Stuhl rückte, als wollte er aufspringen, aber dann versank ihr alles im Augenblick, und das Bohren begann von neuem. Julius goß ihr Sekt ein. An solchem Tage wie heute, sagte er, müsse sie Sekt trinken. Und sie fühlte durch den dünnen Seidenrock die feiste, kurze, schwere Hand, – eine Hand, als ob die Spitzen der Finger abgehackt wären, – fühlte sie auf ihren Knien, und ein solcher Widerwillen und ein solcher plötzlicher Ekel packte sie, daß es ihr beinahe aufstieg.
Und von nun an sah sie immer ganz heimlich und ängstlich auf den kleinen, breiten Menschen, der da neben ihr wie zusammengehämmert auf dem Stuhl saß und breit schmatzte und stopfte, und der ihr immer ganze Keulen und Stücke auf den Teller warf, und Berge von Spargel und Schoten ihr dazu schüttete. »Nimm doch, Jettchen, iß doch!«
Immer wieder kamen Leute, die mit Jettchen anstießen, und es schien Jettchen, als ob sie nie vorher diese Gesichter gesehen hätte; und es knatterte schon hie und da von den Knallbonbons, an denen die Gäste mit ängstlich abgewandtem Gesicht zerrten. Das war jedesmal für Jettchen, als flöge ihr ein Geschoß summend und zischend an der Schläfe vorbei. Von Minute zu Minute wurde man lärmender. Alles schrie, alles schwatzte, alles lachte durcheinander, und Jettchen saß dazwischen kerzengerade und unbeweglich, wie ein Stein in der Brandung; ganz erstarrt war sie jetzt. Sie empfand nur, wie jetzt auch nicht mehr der dünnste Faden sie mit jenen verband, und daß ihr Lebenskonto von jeher in einem anderen Buch gestanden hatte; und dann immer dieses Bohren und Grübeln, dieses Anpressen mit jeder Muskel gegen die Ketten, die sie umschnürten von den Zehen bis zum Halse – so fest, daß sie auch nicht ein Glied mehr zu rühren vermochte. Das Eis kam und Jettchen nahm davon, aber es lief ihr wie glühender Stahl durch die Kehle. Die Kinder sah sie an der Tafel entlang gehen und in Tüten übriges Naschwerk zusammenräubern, und die Tante gab ihr auch eine solche Tüte, sie solle sie nur für heute abend noch mitnehmen, und den Baumkuchen bekäme sie ebenso.
Aber Julius meinte mit rotem Kopf: »Nu, wenn wir heute nicht mehr dazu kommen, – essen wir ihn eben morgen. – Nicht wahr, Jettchen?«
Und die Tante schlug lachend mit ihrem Fächer nach ihm. An Jettchen aber flog alles, so erschrak sie bis ins tiefste Herz hinein. Wie einem Vogel, der im Bauer aufflattert, weil eine griffbereite Hand nach ihm sich streckt, und der nun angstvoll und machtlos mit Kopf und Flügeln gegen die Stäbe stößt, so war ihr.
Endlich rief Salomon in das Getümmel: »Ich wünsche den Herrschaften eine gesegnete Mahlzeit ... Den Kaffee bitte im gelben Saal!«
Und man sah es ihm an, er war stolz auf diese rhetorische Leistung.
Wieder gab das einen Lärm wie von hundert trappelnden Pferden, und alles lief durcheinander, schüttelte die Hände, beglückwünschte sich und küßte sich, als ob es wunder was vollbracht hatte.
Julius sang und trällerte unausgesetzt, als Jettchen mit ihm in den gelben Saal schritt, in dem sich schon alle wieder um das Büfett drängten, um der Madame Spiro mit dem freundlichen Gesicht und dem weißen Häubchen zu versichern, daß das Essen wieder einmal ganz großartig gewesen sei.
Und langsam gingen nun Jettchen und Julius an den gelben Polsterbänken entlang, damit jeder seine paar Worte von ihnen bekäme. Es redete immer noch aus Jettchen ganz selbsttätig, und sie horchte manchmal starr und erstaunt auf. Jettchen sah sich nach Jason um; aber der war schon lange wieder fort, und sie war nun ganz allein, allen ihren Feinden gegenüber.
Naphtali hielt sie an. »Na, Joel«, rief er, »wie ist dir?«
Julius lachte.
»Nu, du bist doch jetzt glücklich genug, Joel! Weißte, und da hab' ich mer gesagt: de Reise kost sowieso schon genug, ... was soll ich der da noch groß was schenken. Aber eins wünscht dir dein alter Onkel doch: du sollst immer e Friedrichsdor mehr haben, wie de brauchst!«
Da kam Ferdinand heran, der eigentlich seit Vormittag nicht wieder nüchtern geworden war.
»Na, alter Junge!« rief er schon von weitem, »wie ist dir denn heute? Das gefällt dir wohl so? Ich wünschte, ich wäre auch noch mal so jung.«
Jettchen ließ Julius los. Sie hatte das Gefühl des Vogels, den die Hand greifen will, als müsse sie mit dem Kopf gegen die Wände stoßen und blind und toll nach einem Ausgang suchen.
Da ganz hinten saß das Fräulein mit den Pudellöckchen, und richtig: sie hatte eine Handarbeit an der Seite und knüpfte und kniewelte. »Nu, Jettchen«, rief sie, »komm mal her. Schade, daß es nicht Sommer ist, da könnte man doch noch ein bißchen 'runter in den Garten gehen.«
Aber da sah Jettchen, daß die Tür, die zu dem Zimmerchen führte, wo ihr Mantel lag, angelehnt war, und das Blut schoß ihr zu Herzen, daß ihr hundert Sonnen vor den Augen sprühten, und dann wurde ihr eiskalt.
»Ja, schade, mir war's auch lieber –«, sagte sie. »Aber einen Augenblick –«
Dann ging Jettchen den Schritt hinein, sah ihren Mantel, schwankte, fiel auf einen Stuhl, riß sich hoch, strauchelte ein zweites Mal, riß sich von neuem hoch, warf den Mantel über, steckte den Kopf ganz langsam, Zoll für Zoll, durch die Türspalte auf die Treppe hinaus. Niemand! Nein, niemand! Und dann die Schultern nach, den einen Fuß – den anderen – leise auf den Zehenspitzen. – Und schon schnurrte sie mit ihren Atlasschuhen nur so hinunter, ganz schnell, lautlos und trippelnd, während sie alles um sich, die eisernen Geländerstangen des Treppenhauses, die Läufer auf den Stufen mit einer unheimlichen Greifbarkeit erblickte und ihr der Lärm von oben durch die Kapuze in den Ohren gellte.
Aber dann will die Tür nicht aufgehen – will nicht aufgehen. Um Himmels willen, wie denn nur? – Wie denn nur? Ah – so! Und eine Welle kalter Finsternis schlägt Jettchen entgegen.
Einen Augenblick hält sie mit stockendem Atem. Niemand ist ihr gefolgt, keine Menschenseele – nur die klare Nacht steht über ihr, mit tausend kalten, blinkenden Sternen in dem schwarzen Himmel. Über den Fahrdamm springt Jettchen mitten durch die Wasserlachen, deren dünne Eisschichten knisternd unter ihr brechen; bis über die Knöchel tappt sie da hinein mit den weißen Schuhen. Sie greift die Schleppe und zieht sie um die Füße, und dann läuft sie, läuft sie nach den Lichtern, nach der Königstraße, ohne einem Menschen zu begegnen. Sie hält, horcht auf, wendet sich, kein Lärmen, keine Schritte, kein Stimmengewirr, – alles still und schwarz.
Die Bedrängtheit und Benommenheit ist von Jettchen gewichen, sie ist zwar noch erregt, heiß und fiebernd, aber ganz klar wieder und fest. Und deutlich fühlte sie das kleine goldene Medaillon auf ihrer Brust.