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Draußen war eine schwüle, warme Nacht, die alles keimen und treiben ließ und die letzten noch verschlossenen Knospen an den Bäumen öffnete, die die Männer unruhig machte und hin und her jagte hinter wehenden Röcken, die irgendwo in der fernen Dunkelheit flatterten. Eine Nacht, die voll Geflüster und voller Abenteuer zu stecken schien, und in die die Gasflammen in der Königstraße nur zaghaft ihr Licht schickten, als geständen sie ihr das Recht zu, heute, nur heute einmal unumschränkte Herrscherin zu sein.
Jason mochte noch nicht nach Hause gehen. Er wohnte oben in der Klosterstraße, hatte da schöne, helle Räume, die ihm eine alte, kleine Haushälterin betreute. Dahin wollte er noch nicht. Aber ebensowenig wollte er die nächsten Stunden innerhalb der vier Wände irgendeiner Kneipe oder Konditorei zubringen, und deshalb lief er ein paarmal die Königstraße auf und nieder, schlenderte, flanierte langsam und ziellos, ging jetzt gemächlich allein und für sich und zog dann wieder eine Weile hinter irgendeinem Liebespaar her und lauschte ihrem Geplauder, soviel er gerade davon erfassen konnte. Oder er steuerte selbst einem rauschenden Kleid nach, keineswegs in der Absicht, eine neue Bekanntschaft zu machen, sondern einzig gelockt von dem Duft der Frau und von jenem Zauber, der in dem stummen Hin und Her liegt, und der eben feiner und zarter ist, als ihn die plumpen Worte einer offenen Begegnung zu bieten vermögen. Und dazu klapperte die Mühle seiner Gedanken ohne Aufhören. Bald war er zu Hause, bald mit Julius im Orpheum, bald sprach er mit Jettchen oder Kößling oder er lebte noch einmal Bruchteile seiner letzten Episode, – aber am meisten war er doch mit Kößling in einem stummen Gespräch.
Und als er weit drüben unter einer Laterne einen Mann auftauchen sah, der in wilden, wütenden Lufthieben einen kleinen, ganz dünnen Spazierstock zwischen den Fingern herumwirbelte, als wolle er aller Welt damit ins Gesicht trommeln, da wußte er, daß es nur Kößling sein konnte.
Kößling aber war geradeswegs nach Hause gegangen, das heißt, er hätte nicht sagen können, ob gegangen, gefahren oder geflogen. Zu Hause hatte er sich zuerst dann einmal eine halbe Stunde vor den weißen, gedeckten Abendbrottisch gesetzt und den Schinken, die Wurst, das Brot und die Butter in dem Döschen mit einer aufmerksamen Neugier angestaunt, als ob er so etwas heute zum ersten Male sähe.
Als dann die Wirtin hereinkam, um abzudecken, und meinte, ob es denn vielleicht schlecht gewesen wäre, hatte er ihr freundlich lächelnd versichert, daß er das Wetter auf Taille göttlich fände und sich baß verwundert, warum die gewichtige alte Dame darauf so lärmend das Zimmer verließ. Nun hatte er vom Bücherbord Goethes Gedichte genommen und sich gefragt, in welcher Absicht denn eigentlich der alte Herr durchaus unzusammenhängendes und unsinniges Zeug geschrieben hätte, er hätte doch wirklich seine lange Lebensdauer mit einer zweckdienlicheren Beschäftigung ausfüllen können. Und bei der Schachpartie mit sich allein – ein Mittel, den Kopf auszukehren, das ihm sonst nie versagt hatte, – hatte er gleich nach e 2 –e 4, e 7 –e 5 die Steine zusammengeworfen, daß sie klappernd in alle Winkel rollten, – um sich endlich an das Fenster zu stellen, das dämmrige Zimmer im Rücken zu lassen und in den Himmel zu sehen, der hinten zwischen den Pappeln immer noch leuchtete, weiß und mattgrün, während langsam vom Zenit eine schwere, warme, blaue Nacht herabsank, die alles Bedrängte und Bedrückte, alle geheimen Wünsche frei und fessellos machen sollte. Und jetzt rannte Kößling nun seit ein und einer halben Stunde wie blind und toll durch die Straßen, – jetzt, da er, sein Stöckchen schwingend, Jason Gebert in die Arme lief.
»He, holla«, rief der ihm lustig entgegen, »was ist denn mit Ihnen, Doktor – Sie wollen wohl noch heute Universitätsfechtlehrer werden? Hemmen Sie doch mal ein wenig Ihren göttergleichen Lauf.«
»Herr Jason Gebert, sieh an. Treff ich den Meister hie? Zu Hause weilt er selten, – Steheli sieht ihn nie.«
Jason Gebert lachte. »Nu sagen Sie, Doktor, was ist Ihnen denn widerfahren? Ihnen scheinen heute auch nicht gerade die Fliegen die Wichse von den Stiefeln gefressen zu haben. Also, was gibt es? Ist Ihr epochales Jambendrama ›Clotilde von Helfenstein‹ angenommen worden? Oder hat man Ihnen von Hause Ihren Wechsel um das Doppelte erhöht? Oder – was gibt es sonst?«
»O nein, Herr Gebert«, sagte Kößling und stellte sich breitspurig vor Onkel Jason hin, »die brave Clotilde von Helfenstein schlummert noch tief im Jenseits aller Dinge; aber mit der Erhöhung des Wechsels, da hat das schon seine Richtigkeit. Nur besteht er in jener vorzüglichen Summe, die, ob in Dreiern, Groschen, Talern oder Friedrichsdors, ob verdoppelt, verdreifacht oder vervielfacht, sich stets gleich bleibt. Nein, ich freue mich, weil ich Sie treffe, denn ich wollte schon Asche auf mein Haupt streuen und mir an die Brust schlagen, weil ich dachte, Sie wären sans adieux nach der Insel Cythera abgesegelt.«
»Ja«, sagte Jason und lachte still vor sich hin, »aber das ist eben das Böse, daß wir uns immer wieder in diese Welt zurückfinden. Doch, Kößling, sollte ich wirklich die einzige Ursache Ihrer Quarten und Terzen, Ihrer Finten und Haken gewesen sein?«
Kößling wurde etwas verwirrt. »Beinahe«, sagte er und dann, als ob er sich besänne auf irgendeine Sache, die weitab läge, »richtig, ich soll Sie auch grüßen von jemand.«
»Ich würde so kommune Worte nicht brauchen, also sagen wir ruhig von einer Jemandin.«
»Woher Sie das nur haben?«
»Nun, woher wohl, Kößling?«
»Von Ihrem Onkel Eli.«
»Nein.«
»Dann gewiß von Ihrer Schwägerin?«
»Auch nicht.«
»Dann vielleicht von ihr selbst?«
»Sieh, sieh, wie Sie raten können; Sie haben heute meine Nichte Jettchen getroffen, Kößling, zufällig, ganz zufällig; sie hat es mir erzählt.«
»Ja, denken Sie, was für ein Glück ich da hatte«, rief Kößling laut, so laut, daß man es sicher auf der anderen Straßenseite hätte hören können, und Jason sah trotz der Dunkelheit, wie jenem die helle Freude aus den Augen sprang.
Nein, die hatten sich wirklich zufällig, ganz zufällig getroffen, – das wollte er nur wissen, und damit war er zufrieden. Was konnte er wohl dagegen sagen. Er war auch froh, zu erfahren, daß es sich so verhielt, denn die andere Rolle wäre ihm schwer gefallen.
»Nun, Kößling, was werden Sie heute noch tun? Werden Sie nach Hause gehen und Ihr Poem Cölestine beenden:
Mein Mädchen, Cölestine,
Mit schalkesfroher Miene,
Horch, wie dein Edgar ruft?«
»Seh' ich so aus?«
»Also Drucker, Louis Drucker, Doktor.«
»Mir heute zu lärmend, lieber Herr Gebert. Ich möchte Ruhe. Kann man nicht irgendwo draußen im Freien den lieben Gott und die deutsche Literatur totschlagen?«
»Lassen Sie! – ich weiß, ich weiß.« Und Jason Gebert nahm Kößling unter den Arm und zog ihn mit in die warme, dunkle Frühlingsnacht; dazu sang er einen von ihm umgedichteten Text der Arie des Don Juan, während Kößling still-heiter vor sich hintrabte.
Und als die beiden an der Ecke Klosterstraße waren, rasselte eine große Rosenbergsche Droschke, hochbepackt von einem lustigen Volk Männlein und Fräulein, an ihnen vorüber.
Man wußte gar nicht, wieviel da eigentlich in und auf dem Wagen steckten, so gackerte, quiekte und grunzte das alles durcheinander. Jason erwiderte die Spottreden, die ihm zugerufen wurden, ebenso derb, – denn er tat sich darauf etwas zugute, daß er mit Hexen umzugehen verstehe, und er war in seinem Element, wo man ausgelassen war. Wie er aber aufsah, erblickte er oben auf dem Bock, eingekeilt zwischen dem Kutscher und einer hohen, rothaarigen Person in mattblauem Linonkleid, – erblickte er erstaunt und erfreut – den neuen Vetter Julius, der eigentlich gar kein Vetter war. Der hatte auf seinen Spazierstock eine Weinflasche gesteckt und schwang sie grölend hin und her. »Kößling, Kößling! Jettchen hat ganz recht! Ganz recht hat sie, der wird sich schon machen, und die Liste hat er sich auch vom Hausdiener geben lassen.«
»Was ist los, was ist los mit Jettchen?« fuhr Kößling auf, der schon wieder ganz woanders war.
»Ach, kommen Sie – das sind Familienangelegenheiten!« Und damit zog ihn Jason Gebert weiter.
Jetzt war er in seinem Repertoire schon bei Armida.