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Und Wochen auf Wochen gingen, und wenn Jettchen nicht die Veränderungen draußen im Garten gemerkt hätte – denn in den Park kam sie ja seit jenem Sonntag nicht mehr, das war ihr zu schmerzlich –, Jettchen hätte gar nicht gewußt, wo sie in der Zeit hielten, ob es noch Juni war oder schon August oder gar September, – so still und unauffällig griffen die Tage und Nächte ineinander, und das Leben floß ihr unterschiedslos und ruhig dahin, und kein Tag brachte sie irgendeinem Ziel näher. Früher hatte sie sich auf jeden neuen Tag und jedes neue Buch wenigstens gefreut und von ihm Änderungen ihres Seins und Schönheiten erhofft; aber jetzt ging sie still und träge in den neuen Morgen hinein und nahm das neue Buch ohne Erwartungen zur Hand und legte es ohne Bereicherung fort. Es zerstreute sie, es beschäftigte sie, aber es glitt ab.
Und da Jettchen die Nächte wenig schlief und, wenn sie allein war, immer noch viel weinte – nur war ihr Schmerz wesenloser geworden –, so begann sich auch in ihrer Erscheinung und ihrem Gesicht das auszuprägen. Ihre üppige Frische verlor dadurch, ebenso wie die feste Schnelligkeit ihrer Bewegung und ihr stolzer Gang davon beeinträchtigt wurden. Ihre Augen aber, die sonst in ihrem tiefen, samtigen Glanz immer etwas Fragendes und Erstauntes hatten und dabei doch wieder eine schöne, innere Ruhe spiegelten, lagen jetzt oft, wenn Jettchen sich unbeobachtet wähnte, wie zwei harte, schwarze Steine in ihrem blassen Gesicht. Jettchen fühlte diese Veränderung, denn sie liebte ja ihre Schönheit wie eine gute Freundin, aber sie war machtlos dagegen anzukämpfen, und selbst als sie eines Morgens ein graues Haar fand, das sich ihr oben vom Scheitel lang zum Hinterkopf hinüberzog, hielt sie es nicht der Mühe für wert, es zu entfernen. Ja, es ging sogar so weit, daß sie, die sonst stets Freude an hübschen Sachen hatte und sich gern geschmackvoll und sauber kleidete, sich vernachlässigte, und daß Jettchen von der Tante auf einen fehlenden Knopf und eine losgetrennte Borte aufmerksam gemacht werden mußte. Dem Onkel entging das nicht, und Jettchen hörte einmal des Abends – in Charlottenburg waren ja dünne Wände –, wie er mit seiner Frau darüber sprach. Und die Tante sagte, daß das gar nicht zu verwundern wäre, und das wäre bei ledigen Mädchen um diese Jahre immer so, und sie begriffe nicht, warum Jettchen nicht schon längst verheiratet wäre. Aber da wurde der Onkel zornig und schrie, sie mache ihm immer Vorwürfe, gerade als ob er daran schuld wäre; er könne doch nicht das Mädchen auf den Rücken nehmen und überall zum Kauf ausbieten, das hätte er nicht nötig. Und die Tante bat und beschwor ihn, leiser zu sprechen, denn man könne drinnen sicher sonst jedes Wort hören.
Wenn Jettchen das noch vor wenigen Wochen vernommen hätte, so hätte es sie tagelang beschäftigt und erregt; jetzt hörte sie es ruhig mit an. Am nächsten Morgen tauchte es wohl noch einmal in ihr auf und wagte sich auch weiter in ein paar unbewachten Augenblicken vor, aber bald sank es ganz zurück und wurde verschlungen von dem stillen Einerlei ihrer Tage, die selbst von äußerem Wechsel unberührt blieben; wie es Waldseen gibt, die immer glatt und schwarz liegen, wenn auch oben der Wind durch die Stämme zieht und über die Wipfel braust. –
Und Woche auf Woche ging hin. Die Abende wurden länger, und die Tante trank schon wieder Tee und warf drei, vier Stückchen Orangenzucker hinein, der, wie sie meinte, nirgends in der ganzen Welt so gut wäre wie gerade hier in Charlottenburg aus der Niemannschen Apotheke. Draußen im Obstgarten aber war alles Rot verschwunden, und nur die Äpfel, die Spätbirnen und die Quitten hingen noch grün und gelb in den Zweigen, die schon für den Blick eher durchlässig waren und deren dunkles Sommergrün wieder fahler geworden war und sogar hier und da von leichten Goldflecken gesprenkelt erschien. – Und nach ein paar Regentagen mit grauem Rieseln und Stäuben der Tropfen, die alles überzogen und überprickelten, hatten auch die großen Bäume im Garten, die bis dahin nicht an den Herbst hatten glauben wollen, so ganze Zweige von strahlendem Gelb mitten in ihren sommerlichen Lasten. Und selbst bei ganz stiller Luft bröckelte dann so eines oder das andere welke oder fast noch grüne Blatt ab, und es segelte friedfertig zu Boden auf die Wege, in die Büsche, oder es gaukelte auch bis tief in die Ecke von Jettchens Laube hinein, wenn sie dort einsam saß. Dabei waren die Tage wunderschön, und die Sonne kam hell und milde durch eine mattblaue Luft herab auf die großen gelben Ketten von Georginen und auf die dichten hohen Beete üppiger Bauernblumen, scheckiger Flox und fuchsroten Amarants. Hinten über den gemähten Wiesen übten die Schwalben, und wie Silberfunken trieben hundert weiße Falter dahin – draußen über die Felder und Hecken und drinnen über die Blumenrabatten und Büsche fort in einem ewigen Kommen und Gehen.
Die Tante wollte schon immer wieder hineinziehen, denn sie wußte nicht mehr recht, was sie eigentlich draußen anfangen sollte; aber der Onkel sagte, sie hätte nichts in der Stadt verloren, und sie sollte nur, so lange es ginge, in der guten Luft bleiben, zudem wäre in der Stadt viel Typhus, und deswegen wäre es ihm lieber, sie käme noch nicht; wäre denn nicht auch endlich die Wohnung teuer genug bezahlt, daß man sie vor dem letzten Tag aufgeben brauche?
Und wenn auch all das nicht bei der Tante verfangen hätte, daß Typhus in der Stadt war, das war für Tante Rikchen Grund genug. Denn trotzdem sie bisher nie gewußt hatte, was Krankheit ist und selbst die Schmerzen, die doch die meisten Frauen in ihrem Leben kennenlernen, ihr fremd geblieben waren, so hatte sie doch für ihre Person eine heilige Angst vor allem, was Krankheit hieß. Und sie ging hierin sogar so weit, daß sie nie einen Besuch bei einem Kranken machte, und selbst ihren Mann hätte sie ohne Bedenken fremder Pflege anvertraut, nur um ihr liebes Ich aus dem Spiel zu bringen.
Und dann kamen noch ein paar besonders schöne Tage, die so warm waren wie nur je welche im Sommer, und wenn man nicht das stille, gelbe Laub in den Bäumen gesehen hätte und die krautige letzte Üppigkeit ringsum, und wenn nicht die warmen Tage so seltsam früh sich in Dämmerung und in feuchte Finsternis gewandelt hätten, man hätte gar nicht geglaubt, daß man schon gleich Oktober schriebe, und in der Stadt mochte man es auch kaum merken.
Und die Tante sagte, sie möchte doch noch einmal alle bei sich sehen, denn wer weiß, wie lange das gute Wetter noch anhalten würde – und dann wäre es sicher für dieses Jahr ganz aus. Und der Onkel schickte den Hausdiener Gustav herum, in den Hohen Steinweg zu Minchen und Eli, zu Ferdinands, die schon wieder hereingezogen waren, zu Jason nach der Klosterstraße und zu Julius, der jetzt irgendwo in der Parochialstraße wohnte; und er ließ auch das Fräulein mit den Pudellöckchen bitten. Ja, der Onkel wollte es noch mehr Bekannten sagen, aber die Tante meinte, keine fremden Gesichter, es wäre ihr lieber, wenn sie das letztemal, da sie hier draußen zusammen seien, ganz unter sich wären. Und sie sollten doch gleich morgen, Donnerstag nachmittag, kommen; denn wer könnte wissen, ob Sonntag das Wetter noch so gut wäre. Morgen aber würde es sich gewiß noch halten, und wenn man nicht mehr draußen in dem schönen Garten sein könnte, dann hätte man doch in Charlottenburg nichts.
Und so gegen drei Uhr kamen wirklich in der milden, rieselnden Sonne zwischen den zwei geraden gelben Ketten der Linden, die ganz langsam gelbe, tänzelnde Blätter auf den Fahrdamm streuten – kamen da unten vom Zollhäuschen her hintereinander zwei Wagen, zwei Zweispänner. Jettchen sah sie schon ganz von fern herankommen, denn es waren gerade die einzigen Gefährte wegauf und wegab auf der verlassenen Chaussee, weil es doch jetzt schon so spät im Sommer war und eigentlich keiner mehr zu seinem Vergnügen hinausfuhr. Und die Tante zupfte und strich ungeduldig an sich herum, und dann nahm sie, was sie sonst nie tat, Jettchens Arm und ging mit Jettchen vor die Tür, die Gäste zu erwarten. Aber da die Pferde am Ende ihrer Reise sehr bequem waren, so dauerte es eine ganze Weile, bis die Wagen herankamen, und Jettchen und die Tante schlenderten in der weißen Sonne Arm in Arm an dem niedrigen, vergrünten Zäunchen entlang, das den Vorgarten von der Straße trennte.
»Na, Jettchen«, meinte die Tante lächelnd, bedächtig und langsam, »freust du dich nicht? Ich glaube, Julius kommt auch.«
Daß Jettchen sich auf den Besuch freute, konnte sie wohl zugeben, denn nach dem Einerlei der letzten Wochen war ihr jede Unterbrechung angenehm; und die Tante nahm die Bestätigung auch für ihren Neffen Julius mit an, für den sie eigentlich keine Geltung hatte.
»Ja«, sagte sie, »er ist wirklich ein Mensch, den man liebhaben muß. Ich glaube, der könnte anklopfen, wo er wollte, er wird jede bekommen. Sein alter Prinzipal aus Posen hat an Salomon neulich geschrieben – Salomon hatte mit ihm geschäftlich zu tun –, das hättest du wirklich mal lesen sollen, Jettchen. Er weiß ja gar nicht, was er Julius überhaupt Gutes nachsagen soll.«
Jettchen nahm diese Nachricht, wie alles jetzt, äußerlich freundlich, aber innerlich ganz gleichgültig und kühl entgegen, denn von all ihren Gedanken hatte sie wirklich in der letzten Zeit nur den kleinsten Teil an ihren Vetter Julius gewandt, und Gutes wie Böses über ihn erregte sie gleich gering. Sie hatte ihn in den letzten Monaten oft draußen gesehen, und das hatte vielleicht den anfänglichen Widerwillen in Gleichgültigkeit gewandelt... wie man sich eben an alles gewöhnt und besonders dann leichter gewöhnt, wenn man viel mit sich selbst zu tun hat und den Äußerlichkeiten des Lebens keine rechte Beachtung schenken kann.
Und da war er nun selbst – der von Tante Rikchen Belobte, als erster, den man von allen Gästen zu Gesicht bekam; denn der neue Vetter Julius thronte klein und breit auf dem Bock des ersten Zweispänners neben dem Kutscher und schwenkte schon von weitem seinen grauen Zylinder. Und er war auch wieder der erste, der lustig heruntersprang, mit einem Satz hoch vom Kutscherbock herab mit geschlossenen Beinen, während alle sonst sich Zeit ließen. Nur Max war nicht mit dabei, war zu Hause geblieben, weil doch jemand nach dem Geschäft sehen mußte. Jason sagte, er wäre auch beinahe nicht gekommen, denn er wäre seit ein paar Tagen nicht recht auf dem Posten, aber heute mittag ginge es ihm wohl wieder etwas besser. Und Jettchen erschrak darüber, denn Jason sah wirklich sehr blaß aus, und in seinem scharfen Gesicht waren die harten Linien noch tiefer als sonst eingegraben. Jason reichte Jettchen die Hand, und Jettchen erschien sie ganz heiß und trocken, wie sie da einen Augenblick in der ihrigen lag.
»Onkel, fehlt dir auch nichts?« fragte sie besorgt.
Aber Jason lachte nur ein wenig. »Ach«, sagte er, »nichts von Bedeutung, es wird sich schon wieder geben.«
»Wirklich«, sagte mit voller, fettiger Stimme Julius, » ich an Ihrer Stelle, Herr Gebert, würde Angst haben. Sie stecken in keiner gesunden Haut. Sie sehen ja aus wie's Leiden Christi.«
Jason lächelte wieder, aber es kam ihm nicht recht von Herzen. »Ich danke Ihnen«, sagte er in einem Ton, den Jettchen nur zu gut kannte, und der, scheinbar ganz freundlich, doch das letzte enthielt, das Jason Gebert an Mißfallen und Überlegenheit zu vergeben hatte.
»Aber Herr Gebert, Sie verstehen mich falsch. Sie sollten zum Doktor gehen. Wirklich, ich will nur Ihr Bestes.«
»Es wird wohl auch so wieder gut werden. Ich habe nicht gern mit Ärzten zu tun«, meinte Jason. Und sein Ton fiel wieder müde in sich zusammen, verlor die seelische Kraft: »Gehen lassen! Was ist daran gelegen!«
»Wirklich, Jason, wenn dir nicht wohl ist, hättest du lieber zu Hause bleiben sollen«, sagte Rikchen und wich einen Schritt zurück. »Ich meine natürlich nur, du kannst dich da besser pflegen.«
»Ja«, sagte Eli, »das hab' ich ihm ja auch gesagt. Ich hab' sogar gesagt, ich werde bei ihm bleiben und mit ihm e Partiechen Pikett spielen, aber meinste, der Junge, er hört auf mich?«
»Na«, sagte Jason unwillig, denn er liebte es nicht, daß man sich um ihn bekümmerte. »Ich durfte doch in so einer illustren Gesellschaft wie hier keinesfalls fehlen.«
»Hör mal, Jason, ich will dir nachher mal ein Mittel sagen«, drängte sich die kleine graue Tante Minchen freundlich an ihn heran. »Erst machste das, und wenn das nichts mehr hilft, dann gehste zum Dokter. Ich hab' in meinem Leben vielleicht schon mehr Erfolge gehabt wie mancher Arzt, das kannste mir glauben.«
Jason dachte daran, daß Minchen und Eli all ihre Kinder hatten hergeben müssen, und er war von der Unfehlbarkeit von Minchens Hausmitteln nicht gerade überzeugt. Wirklich, er war recht übel dran, und er fühlte sich gar nicht so gut, wie er müde lächelnd allen versicherte. Den ganzen Weg über hatte er sich Vorwürfe gemacht, daß er mitgekommen war, denn es war ihm, als ob er innerlich verbrennen müßte, und in seinem Kopf lief es umher wie feurige Räder.
Jenny sprang auf Jettchen zu und rief nur: »Sieh mal mein Kleid!« – Aber Wolfgang gab ihr ruhig und gleichgültig die Hand, als wollte er sagen: was geht denn das die anderen an, was wir miteinander vorhaben. Und dabei hatte der Junge die ganze Fahrt lang mit offenen Augen von Jettchen geträumt. Hannchen war sehr ungeduldig, weil sie ihren Sonnenknicker, an dem irgendeine Feder entzwei war, nicht zu bekam und gab deshalb aus einem geringfügigen Anlaß Wolfgang einen Katzenkopf, kurz und patschend mit den ringbesetzten Wurstfingern. Die Ringe taten ihm weh. Aber das alte, kleine Fräulein mit den Pudellöckchen umarmte ihren armen Jungen und küßte ihn dafür, – und das war vielleicht Wolfgang noch schmerzlicher; denn in Zärtlichkeiten war er jetzt verwöhnt und wählerisch. Hannchen stand die üble Laune deutlich auf dem breiten Gesicht geschrieben, während Ferdinand übermütig mit den Augenwinkeln lachte und, auf die Bäume zeigend: »Willkommen ins Jelbe«, rief, daß es nur so schallte. – Er liebte es, seine Witze nach der Jahreszeit zu nuancieren. Ferdinands und Hannchens Gemütsverfassung waren nämlich immer wie zwei Schalen an einem Wiegebalken; wenn die eine oben war, war die andere unten; – und da Ferdinand gerade ganz hoch leicht und sorglos schwebte, da hatte Hannchen wohl besonders gute Gründe, nieder zu sein.
Salomon ging neben Julius zuerst ins Haus, und die beiden Schwestern folgten, leise miteinander tuschelnd. Dann kamen die Kinder mit dem alten Fräulein, das sie rechts und links flankierten; und sie waren stolz, daß sie es nun schon beide an Größe überragten. Jettchen folgte fürder mit Minchen und Eli, der erst noch einmal Ferdinands Pferdematerial – von Wagen verstände er ja nichts! – einer vernichtenden Kritik unterzog! Und als letzter endlich hinkte Jason ganz langsam und verlassen hinterdrein. – Wie eben der kranke Mensch nach ein paar freundlichen Worten immer gar schnell von allen verlassen wird.
Und da man nach Tische war – denn die Tante hatte gesagt, daß sie in Charlottenburg nicht alles so schnell haben könnte, und deshalb sollte man nur auf den Nachmittag bitten, da man nach Tische war –, so war dafür die Kaffeetafel drinnen in dem Eßzimmer, das jetzt statt grün goldgelb von dem Widerschein der herbstlichen Kastanien auf dem Hof durchflutet war – sie war dafür um so reichlicher besetzt worden. Und wenn man eigentlich hier von einer Kaffeetafel sprechen sollte, so war das, wie die Römer die Dinge bezeichneten, die es liebten, einen Teil für das Ganze zu setzen, und nur von der Spitze sprachen, wenn sie den ganzen Speer mit Eschenholzschaft und Schleuderriemen meinten. Denn hier gab es Kaffee und Tee und künstliche Wasser und Wein, weißen und roten, und Speisen und Kuchen; und ganze weiße, gekrauste Porzellanschalen waren voll von Süßigkeiten, deren jede einzelne wieder in farbiges Kantenpapier gewickelt war. Und für den etwas männlichen Geschmack waren sogar Brotscheibchen, die mit Rauchfleisch und Zunge und mit allerhand Fischwaren gepolstert waren, in ganzen Spitzkegeln vorhanden. Drüben standen neben den Zigarros und den Fidibussen die gelben und roten bauchigen Flaschen und ihr Gefolge von ganz kleinen Gläsern mit Fingerhutmaßen.
Nach ihrer alten Taktik hatte die Tante nämlich fast ihre ganzen Truppen sofort gegen den Feind geworfen. Und wenn er selbst doppelt so stark gewesen wäre, sie hätte siegreich das Feld behauptet; denn von unsichtbarer Hand schlossen sich die Breschen wieder, die der ehrliche Mut der Männer und die vielversprechende Ausdauer der Kinder, verbunden mit der Aufopferung der Frauen, in die Reihen von Kuchenstücken und Broten legte. Von den Kaffee- und Teekannen aber hatte anscheinend noch kein schwatzhafter Mund – und das nahm hier wunder – das Geheimnis des Sich-Nimmerleerens verplaudert.
Eli sagte, er für seinen Teil begriffe das nicht, daß sie alle schon wieder essen könnten, das müßte wohl die Luft hier draußen machen, die zehrte.
Jason, der unter dem Einfluß des Tees, den er sich stark mit Rum versetzte, etwas auflebte, gab ein Rätsel auf, natürlich ein politisches.
»Was ist der Unterschied zwischen Daguerre und Metternich?«
Keiner wußte es, und die Männer überlegten es sich kopfschüttelnd und nickend, aber die Frauen plauderten weiter von tausend Nichtigkeiten, über die Frauenzungen fertig zu sprechen wissen.
»Der eine macht Lichtbilder, und der andere hat die Camera obscura für Deutschland erfunden.«
»Vorzüglich«, rief Ferdinand laut und legte den Ton auf das »ü«.
»Ich kann nicht drüber lachen, – ich versteh' es gar nicht«, sagte Hannchen spitzig und händelsüchtig, und wackelte mit dem Kopf, daß die hohe Frisur schwankte.
»Natürlich«, entgegnete Ferdinand unwillig, »wann verstehst du überhaupt mal einen Witz?«
Aber Salomon, der nicht diese feindselige Stimmung aufkommen lassen wollte, rief auch – »wirklich, das mit Lafayette und Metternich muß ich mir merken.«
»Entschuldigen Sie«, mischte sich Julius ein, »der Herr Jason Gebert sprach doch von Daguerre.«
»Nu schön. Daguerre.«
Julius lächelte verbindlich. »Aber vielleicht ist es erlaubt, daß ich Ihnen ein Rätsel aufgebe, de Damen können auch zuhören.«
»Ach ja, Julius«, rief Hannchen, der es daran lag, ihren Neffen gegen Jason auszuspielen.
Und Julius griff sich an die Stirn und deklamierte langsam und sich auf die einzelnen Zeilen besinnend.
»Wir sind's gewiß in vielen Dingen,
Im Tode je – doch nimmermehr.
Die sind's, die wir zu Grabe bringen,
Und eben diese doch nicht mehr.
Und – ä – ä – weil wir's leben –
Sind wir's eben von Herzen und Gesicht,
Und weil wir's leben,
Sind wir's eben bis heut noch nich.«
Jettchen und Jason sahen sich an und nickten lächelnd.
»Nu?« sagte Salomon.
»Ja, vielleicht rat's einer!«
»Na, Jettchen«, meinte Tante Rikchen gut und freundlich, »zeig mal, was du gelernt hast!«
Aber Jettchen tat, als ob sie eifrig nachsänne und schüttelte dann.
»Jason«, rief Hannchen, »beweise!«
»Entschuldigen Se, sagen Se's noch ei'mal; mir ist ganz kraus davon geworden«, sagte Eli, »und dann habe ich's auch gar nicht recht hören können.«
Und endlich kam's heraus, daß es »verschieden« – und »verschieden« hieß. Und weil wir's leben, sind wir's eben: – verschieden! – Und weil wir's leben, sind wir's eben bis heut noch nicht: – verschieden!
»Großartig«, rief Hannchen einmal über das andere, »großartig... da ist noch ein anderer Geist drin wie bei deinem Lafayette, Jason!«
»Sehr hübsch«, meinte Jason, »sehr hübsch. Ist das von Ihnen?«
Julius antwortete nicht. Aber sein kleines rundes Gesicht mit den schwarzen Jacobyschen Jettaugen strahlte.
»Sie können's nämlich hier ruhig sagen, daß es von Ihnen ist, außer Jettchen und mir kennt hier doch keiner Schleiermacher, und wir verraten Sie nicht, Herr Jacoby.«
Hannchen wurde ganz blaß. Julius war rot geworden, aber er faßte sich schnell. »Nu, das hat man doch wohl gleich gehört, daß das von einem ist, der das gelernt hat«, meinte er verlegen.
»Ich muß jetzt ein bißchen gehen«, rief Ferdinand, um das peinliche Stillschweigen zu enden. Und er stand auf. »Überhaupt, was sitzen wir hier. Dazu kommen wir doch nicht 'raus nach Charlottenburg.«
»Eigentlich hat er recht«, pflichtete Eli bei. Und Rikchen sagte, sie könnten ja etwas nach dem Garten hinaustragen lassen. Und die ganze Gesellschaft löste sich und ging einzeln und paarweise zum Garten; aber da den Kindern es nicht klar war, ob die Tante auch Wort halten und unten noch einmal anbieten lassen würde, so versahen sie sich für alle Fälle mit heimlichem Mundvorrat aus den Porzellankrausen und von den Mürbekuchenschüsseln, gegen die Eli bisher ohne nennenswerten Erfolg Sturm gelaufen hatte. Die Herren nahmen sich Zigarren, außer Jason, der meinte, sie schmeckten ihm jetzt nicht, und der sich dafür an den Inhalt der bauchigen Flaschen, der grünen, gelben und roten, hielt, weil er hoffte, daß ihm das in seiner Verfassung wohltun würde.
Der Garten war schon wieder lichter, und die milde, stäubende Herbstsonne drang überall hindurch. Wie über Teppiche schritt man dahin, denn die Wege, die jetzt lange nicht gekehrt waren, waren schon mit krausen, braunen Rüsterblättern, die im Schatten noch feucht vom Nachttau blinkten, bedeckt, und mit goldigen Ahornblättern, die flach und ausgebreitet auf der schwarzen Erde lagen, mit ihren schönen, zackigen Mustern; und dazwischen waren die Purpurblättchen eingestreut, die von der Laube, vom wilden Wein herabgeweht waren. Nur das Goldgelb in den Zweigen leuchtete doppelt in der Sonne. Purpur und Rot dagegen und alle die tiefen anderen Feuerfarben des Herbstes in Kastanie und Ahorn, in Kirschbaum und Weißdorn, in Faulbaum und Schneeball, – sie waren alle gemildert durch die schier greifbare, mattblaue Luft, die so ganz still herabsickerte an diesem wolkenlosen Herbsttag, dessen warme Schönheit krank schien und traurig machte. Überall in dem Buschwerk ringsrum hatten Spinnen ihre Netze, an denen die Feuchtigkeit den ganzen Tag hängenblieb und den feinen Strahlenbau erst deutlich machte. Jettchen hatte sie sich in den letzten Tagen oft angesehen und die geistvollen Abänderungen dieser kleinen Sonnen bewundert, die immer schön und regelmäßig erschienen, ganz gleich, in welches unregelmäßige Zweiggewirr die Spinne ihr Netz gehängt hatte.
Aber Tante Hannchen hatte nun einmal gar keinen Sinn für die feine Tektonik eines Spinnennetzes, und sie rief, wenn sie das gewußt hätte, wäre sie gar nicht herausgekommen. Und Julius bewies seine Ritterschaft, indem er alle Spinnennetze, die zwischen den schrägen Stäben der Laube von den kunstfreudigen Vielfüßlerinnen errichtet waren, mit einem kleinen Stöckchen zerstörte. – Die Gesellschaft schied sich bald in einzelne Gruppen. An Jettchen schlossen sich in geheimer Rivalität Wolfgang und Jenny an, und der Vetter Julius rechnete sich auch zur Jugend; und Jettchen ging mit ihm und mit den Kindern langsam in den schmalen Wegen hinten im Obststück und im Blumengarten auf und nieder. Die Frauen hatten eine Gartenbank auf den hellgrünen Rasen mitten in die Sonne tragen lassen und saßen da in einer Reihe mit Handarbeit und Strickstrumpf und nimmermüden Mündern. Minchen und Hannchen, das alte Fräulein mit den Pudellöckchen und Rikchen, nebeneinander in ihren grauen, altrosa und violetten Kleidern wie ein bunter Gebirgszug, wo immer zwischen zwei Bergen die Täler waren. Minchen und das alte Fräulein waren die Täler.
Die Männer waren in ihrer Laube, die das Mädchen am Vormittag noch vom welken Laub gesäubert hatte und die doch schon wieder von Blattstielen, Zweiglein, Beeren, roten und gelben Blättern verschneit war. Ferdinand hatte ein Spiel vorgeschlagen, aber Salomon sagte, man solle ein wenig plaudern, und Jason meinte, daß er nicht aufpassen könne. Denn wenn auch der Tee Jason für eine kleine Weile wohlgetan hatte und ihn etwas anteilvoller für die Mitwelt gemacht hatte, so fühlte er sich doch jetzt wieder kreuzelend, und er kam sich innerlich wie verbrannt vor. Auch liefen seine Gedanken so seltsam kunterbunt, ununterbrochen, ohne Punkt und Komma dahin, glitten immerfort weiter und waren derart versetzt mit Unmöglichkeiten und Unklarheiten, daß er in den Augenblicken, in denen er sich zusammenriß, erschrak; aber sowie er sich selber darüber zur Rede stellen wollte, schwamm auch alles schon wieder weiter und zog ihn mit fort. Und Jason stand auf und sagte, er wolle ein wenig auf und ab gehen, denn ihn trieb eine innere Unruhe, und er belauschte sich selbst angstvoll, ob er denn das sagte und nicht irgend etwas ganz Sinnloses hervorbrächte, was er nicht verantworten könnte. Aber er sagte ganz klar und deutlich: daß er lieber bei dem schönen Wetter ginge wie säße.
Die anderen sahen ihm nach. »Er gefällt mir nicht, Salomon«, sagte Eli und lutschte nachdenklich an seiner Zigarre.
»Er sollt's mal mit Gurkenscheiben auf dem Kopf versuchen; mir helfen sie immer gegen Migräne, – dem fehlt schon nichts«, sagte Ferdinand.
»Hört mal, ich hätte gern mal mit euch gesprochen«, sagte Salomon, »schade, daß Jason eben mal fortgegangen ist. Ich wollte doch gern mal wissen, was ihr darüber denkt. Hier, willst du mal die Briefe sehen, Ferdinand.« Salomon suchte in seiner Brusttasche. »Hier, siehst du, schreibt mir sein früherer Chef aus Posen, und hier habe ich noch bei zwei anderen anfragen lassen, und eine Auskunft immer glänzender wie die andere.«
»Was ist?« fragte Eli, der heute nicht besonders hellhörig war und alles gern zweimal haben wollte. »Was ist, Salomon? Von wem sprichste überhaupt?«
»Von Julius.«
»Ach so! Ja – der junge Mann; willste ihm etwa Geld geben? Weißt du, Salomon, ich würd's nich tun.«
»Warum?« fragte Salomon ganz ruhig.
»Er gefällt mer nich. Er ist e verkrochener Charakter. Ich hab's dir ja schon mal gesagt; aber man kann ja nich wissen, – vielleicht irr' ich mich gerade diesmal. Bisher hab' ich mich noch nich geirrt. Was is er denn eigentlich, der junge Mann? –«
»Er hat ein Ledergeschäft, oder er wird doch – –«
»Ledder«, unterbrach Eli, »ah so! Ledder is ä gute Branche. Da kannste ihm ruhig was geben, da is er dir sicher, – wenn er eben sonst e ordentlicher Mensch is.«
»Ja«, sagte Salomon, »aber um Geld dreht es sich vorerst gar nicht. Julius hat mir nämlich gesagt, er interessiert sich für Jettchen, und da wollt' ich eben mal fragen, was ihr davon haltet.«
»Lieber Salomon«, sagte Eli ruhig, »ich will dir was sagen: man setzt keine seidenen Flicke auf 'nen Lumpensack; das mußt du bei deinem Geschäft doch auch wissen.«
Salomon antwortete nicht. Und Ferdinand gab ihm stumm die Briefe zurück, als hätte er auf Elis Worte gar nicht geachtet »Ich würde mich nicht besinnen«, sagte er.
»Nu, Eli«, sagte Salomon, »willst du mal lesen?«
»Ich brauch' nich zu lesen – Papier is geduldig!«
»Aber Eli«, sagte Salomon, »bitte, lies doch mal.«
»Was soll ich dir sagen, Salomon, – tu, was de willst. Ihr wollt das Mädchen mit Gewalt unglücklich machen. Schön, aber laßt mich dabei aus dem Spiel. Wenn ihr mich fragt, sag' ich: nein, Hände weg! – Aber ich mein schon, es is besser, ihr fragt mich nich.«
»Von Gewalt, lieber Eli«, sagte Salomon, der gewohnt war, Unterhaltungen ruhig weiter zu führen, auch wenn der andere heftig wurde, »von Gewalt ist keine Rede. Wenn Jettchen nicht will, dann nicht; zwingen werde ich sie nicht, da kennst du mich ja.«
»Nu«, sagte Eli mißmutig, »dann überlaß es doch Jettchen. Was geht's mich an. Wenn de meinst, der junge Mann is gut, – hast du recht.«
Salomon nahm das als eine halbe Zustimmung, wie ja überhaupt der Mensch immer nur das aus der Rede des anderen heraushört, was er gern will.
»Ich wäre sogar sehr dafür, Salomon, eine bessere Auskunft kannst du gar nicht kriegen. Was hast du davon, wenn's einer mit dem Sack voll Geld is, und die Familie taugt nachher nichts.«
»Ja«, sagte Salomon, »weißt du, Ferdinand, – die Familie ist mir auch die Hauptsache.«
»Nu«, sagte Eli, »das mußte aber ein andermal dazu schreiben, damit man's auch glaubt.«
»Wie?« fragte Salomon scharf.
»Na, ich mein' nur so«, sagte Eli seelenruhig, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. »E großen Staat kannste doch mit die Familie wirklich nich machen.«
Es war ein Fehler von Onkel Eli, daß er trotz seiner langen Lehrzeit immer noch nicht gelernt hatte, anders zu reden wie zu denken, und wie die Dinge lagen, war anzunehmen, daß er's auch nie mehr lernen würde.
Ferdinand und Salomon sagten Eli, daß er sie mit solchen Äußerungen beleidige, denn er vergäße ganz, daß auch Rikchen und Hannchen, trotzdem sie ja völlig zu den Geberts geworden wären, von Hause aus doch Jacobys wären. Und Eli, der wohl geschaffen war, seiner Überzeugung rückhaltlos Ausdruck zu geben, aber nicht der Mann war, sie in langer Rede gegen Einwände zu verteidigen, sagte, daß er's natürlich nicht so gemeint hätte, – und endlich, was an ihm läge: er wolle doch den jungen Mann nicht heiraten; das solle man doch Jettchen überlassen. Aber, so Gott will, würde sie sich hüten.
Zur gleichen Zeit aber ging Jettchen im Obstland mit dem neuen Vetter Julius und den Kindern auf und nieder, – auf dem breiten Weg zwischen Beeten, besonnten Mauern und Hecken.
Immer im Viereck gingen sie ganz langsam mit den bunten Blumenreihen von Flox und Astern, von Georginen und Jalappen, von Amarant und Balsaminen, die wie breite, farbige Gürtel mit ihnen zogen. Und mitten auf den Beeten standen, die Himbeerbüsche überragend, – und sie reichten selbst in die Obstbäume hinein –, standen ein paar gewaltige Sonnenblumen; etwelche einzeln mit nickenden Blüten, wie runde Kupferscheiben, und andere mit Blüten, in gedrängten Mengen, die wie platzende Feuerwerkskörper aussahen. Und die Hecken von Schneeball, Holunder und wilden Rosen nach dem Nachbargarten hin, sie standen alle im reichen Schmuck farbiger Perlen, weißer, schwarzer und roter.
Die Luft war ganz still; und doch hörte man unausgesetzt das Rascheln von dürrem Laub und seltener einmal wohl auch das Klopfen von einem wurmstichigen Frühapfel, der zu Boden fiel. Lange weiße Spinnfäden zogen dahin, und nur noch ein verspäteter Falter drehte unruhig sein buntes Kleid auf einer blauen Aster.
Von draußen, von der Wiese her, schauten über die Hecken die einsamen Kronen von Pappeln, die nun schon wieder gelblich und weitmaschig geworden waren und durchglänzt und aufgehellt wurden von der zarten Helligkeit des milden, weißblauen Herbsthimmels.
Die Kinder wichen nicht von Jettchens Seite, rechts und links hatten sie sich eingehängt und drückten sich ganz eng an sie, denn sie waren aufeinander eifersüchtig, und keiner wollte in Jettchens Gunst zurückstehen. Und wenn sie auch nicht mit Jettchen sprachen, denn die Unterhaltung bestritt einzig und allein der neue Vetter Julius, so wollte doch keiner die greifbare Nähe Jettchens missen, und heute verbanden sie sich nicht zu einem gemeinsamen Feldzug gegen die letzten Birnen oder die ersten Äpfel, sondern gingen beide sittsam neben Jettchen her, ohne auch nur einen Zoll breit zu weichen. Zudem hatten sie ja auch noch alle Taschen voll und naschten und knabberten in stiller Beschaulichkeit, während sie ganz langsam einen Fuß vor den anderen setzten und mit großen Augen in den milden, bunten Herbsttag hineinsahen.
Und so lieb es Jettchen war – wenn ihr jetzt irgend etwas überhaupt lieb oder unlieb war –, daß die Kinder bei ihr blieben, denn sie hatte nicht Lust, mit dem neuen Vetter allein zu sein, so unlieb war das dem Vetter Julius, der nun keine Gelegenheit fand, eine wohlgesetzte Rede anzubringen, in der er sagen wollte, daß es ihm so schwer würde, von ihr Abschied zu nehmen, indem er nämlich zum Einkauf an die Grenze fahren müßte, und in der er von seiner Person ein so leuchtendes Bild entworfen hätte, daß Jettchen wirklich höchst unklug hätte sein müssen, wenn sie nicht mit allen zehn Fingern zugegriffen hätte, so er zum Schluß in bescheidener, aber würdiger Form hätte durchblicken lassen, daß er trotz aller seiner Vorzüge, oder gerade deswegen, von Jugend an keinen anderen Wunsch gehegt, wie eben seine Kusine Jettchen Gebert zu seiner Gemahlin zu erheben, und daß er hoffe, hoffen zu dürfen, auch auf sie keinen ungünstigen Eindruck gemacht zu haben; und wenn sie ihm bis heute vielleicht auch noch nicht die gleichen zärtlichen Gefühlen entgegenbrächte, so wäre er fest davon überzeugt, daß... Diese Rede zu halten, dazu kam der neue Vetter Julius nicht, denn er wollte nicht Jenny und Wolfgang zu Zeugen seiner Beredsamkeit machen, und sie wankten und wichen nicht.
Und da er also sein schweres Geschütz nicht auffahren lassen konnte, so begann er doch mit kleinen Plänkeleien. Er sprach davon, wie er eigentlich von je für die Natur eingenommen sei, und wie poetisch der Garten hier wäre mit den vielen Röschen und auch den anderen Blumen, und daß er nur nicht die Zeit gehabt hätte; aber wenn er mal auf der Tour gewesen wäre – denn er hätte auch gereist –, dann hätte er's nicht wie die anderen gemacht, die nur von einem Geschäft ins andere gehen und die freie Zeit in der Kneipe liegen, sondern er hätte immer die Augen offen gehabt, und er hätte sich angesehen, was es in der Stadt gegeben hätte ... und er hätte dabei trotzdem noch doppelt soviel verkauft wie die anderen... So sehr wäre er für die Bildung ... Und er würde gern noch mehr tun, und Jettchen könne nur glauben, daß er ein ernster Mensch von tiefen Anlagen wäre. Auf der Schule wäre der Rektor Diamant sogar zu den Eltern gekommen und hätte gesagt, sie sollten ihren Julius, weil er doch so gut lerne, in die Lateinschule geben, aber er hätte gesagt, daß er dazu keine Lust hätte: weil ihm die Sprache zu tot wäre.
Jettchen glaubte ihm das gern; und sie hatte auch keinen Grund, es nicht zu tun; vor allem, da sie eigentlich nur die Hälfte von dem hörte, was Julius sagte. Auch war sie froh darüber, daß sie nicht mit dem Vetter allein zu sein brauchte, denn sie hätte keine Frau sein müssen, wenn sie nicht gefühlt hätte, was sich gegen sie vorbereitete, gefühlt, ohne auch nur einen bestimmten und festen Anhalt für all die Machenschaften zu haben.
Aber so verschieden werden nun einmal von zwei Menschen die Dinge beurteilt, daß das gleiche, was Jettchen lieb und angenehm war, dem neuen Vetter Julius höchst unlieb und peinlich dünkte. Und so verschieden sind die Dinge trotzdem wieder ihrem innersten Sinne nach, und so sehr verstehen sie, ihr wahres Gesicht zu verbergen, und so wenig wissen wir, was uns frommt, daß es eigentlich dem Vetter lieb und Jettchen hätte unlieb sein sollen, daß die Kinder nicht von ihrer Seite wichen. Denn Jettchen wäre schon dem Vetter Julius die Antwort nicht schuldig geblieben. So aber – – nun ...
Aber da kam Eli mit den gelben Schaftstiefeln und in seinem Rock mit den blanken Goldknöpfen, auf denen die Sonne blitzte, den Gang entlang. Eli ging nicht so langsam, als ob er spazierte und zu seinem Vergnügen lächelnd ein wenig zwischen den Blumenbeeten lustwandeln wollte, sondern man sah es ihm an, daß er es eilig hatte und unruhig war. Er wackelte mit dem Kopf, daß der Puder in Wolken stäubte und, von der Herbstsonne durchleuchtet, wie ein Heiligenschein ihm um das Haupt stand. Und er sah unruhig nach allen Seiten.
»Jettche«, rief er, »Jettche, hast du Jason gesehen?«
Jettchen und die anderen wandten sich um.
»Jason? – Nein.«
»Er ist vor 'ner ganzen Weile aus der Laube weggegangen, aber er is nich wiedergekommen.«
»Ach«, meinte Jettchen, »was soll ihm denn hier passieren?« Und sie rief: »Onkel Jason!« ganz laut mit ihrer schönen, dunklen Altstimme. Und die Kinder quietschten es in Fisteltönen, und der neue Vetter Julius, dem daran lag, einen guten Eindruck zu machen, schrie gleichfalls mit seinem fettigen Bariton aus Leibeskräften »Onkel Jason!«
Aber wie die Rufe verhallt waren, war es wieder ganz still. Noch stiller als vorher.
Und da wurde auch Jettchen ängstlich, und sie lief nach vorn. Und die Kinder und Julius mit ihr. Und der alte Eli folgte, so schnell er konnte.
Auf dem halben Wege kam ihnen das Mädchen entgegen, das irgend etwas nach der Laube bringen wollte.
»Johanna, haben Sie nicht den Herrn Jason gesehen?«
»Ach ja«, sagte Johanna, deren schwache Seite das Behalten war, »der Herr Gebert ist fortgegangen. Ich sollte von ihm bestellen, daß er nicht weiter stören wollte; aber es wäre ihm nicht so extra.«
»Das gefallt mer nischt«, sagte Eli.
»Aber man kann sich doch mal nicht so fühlen«, meinte Julius. »Mir war heute vor vierzehn Tagen ...«
»Kennen Sie überhaupt meinen Neffen Jason, junger Mann?« versetzte Eli wenig freundlich. »Nu also, was reden Se? Ich kenn' ihn, und wenn ihm so gewesen wäre, wie Ihnen beliebte, vor vierzehn Tagen zu sein, denn wär' er hiergeblieben. Da kenn' ich ihn. Ich bin bei ihm gewesen, damals – hier auf der Hausvogtei –, und er is so 'rausgekommen, wie er 'reingegangen is. Hättste mal de andern sehen sollen, Jettchen.«
Da kamen die übrigen hinzu, die Tanten von der Bank, Salomon und Ferdinand aus der Laube.
»Was is doch mit Jason?« fragte Rikchen.
»Zu Haus is er gegangen, hörste nich«, sagte Eli.
Salomon und Ferdinand sahen sich an.
»Meinst du, Ferdinand«, sagte Salomon ängstlich, »ob ich 'reinfahre?« Denn wenn Jason und Salomon in letzter Zeit auch ein wenig auseinandergekommen waren und sich ein wenig entfremdet hatten, so liebte doch Salomon seinen jüngeren Bruder nicht weniger, und es war noch immer zwischen ihnen wie vor zwanzig Jahren, als er ihn so in das rechte Geleise bringen wollte. Noch immer war er ebenso väterlich besorgt um ihn, trotzdem die Jahrzehnte die Altersunterschiede inzwischen ziemlich ausgeglichen hatten.
»Nein, laß nur, Salomon«, sagte Ferdinand, »ich fahre gleich mit vor. Wir wollen dann aber 'n bißchen eher gehen. Es wird so schon früh kühl jetzt.«
»Vielleicht kannst du den Geheimrat Stosch gleich mitbringen zu Jason.«
»Ja«, sagte Ferdinand, »das dachte ich auch schon.«
»So sind de Mannsleut«, fiel Hannchen ein. »Wenn ihnen nur das Geringste is ... Wenn Jason so gewesen wäre, wie mir vorigen Mittwoch, – sei versichert, er wäre überhaupt nich gekommen. Und hat mir vielleicht gleich jemand den Geheimrat geholt?«
Und auch Rikchen sagte, wenn ihr was wäre, frage kein Mensch danach. – Sie konnte das ruhig sagen, denn ihr fehlte nie etwas.
Aber mit dem Fortgang von Jason war ein Mißklang gekommen, eine geheime Angst und eine Unruhe, der sich keiner von allen entziehen konnte, und die selbst die Augen der Kinder – und sie sprachen doch sonst nur von schöner Rücksichtslosigkeit – erstaunt und gleichsam fragend machte.
Die alte Tante Minchen zuckte mit den ungleichen Schultern und sagte, daß es ihr im Garten zu kühl sei und daß sie 'reingehen wollte. Und Ferdinand gab das halb zu. Die Luft wäre ja schön, aber der Boden wäre schon etwas feucht. Und Hannchen meinte, auf die Dauer müsse man für den Garten doch ein Tuch haben. Und dann ging die eine Hälfte der Gesellschaft nach oben. Jettchen und Julius sollten nur noch ruhig unten bleiben, denn sie hätten wärmeres Blut als die alten Leute. Die Kinder könnten ja auch noch ein bißchen im Garten spielen. Und damit trennten sie sich.
Aber die Kinder waren nicht spiellustig, sondern hingen sich wieder rechts und links an Jettchen. Und Jenny betrachtete die linke Seite, weil sie dem Herzen ihrer Verehrten am nächsten war, als die ihre. Und so brachten sie wieder wie vorhin einen angenehmen Zwischenraum zwischen Jettchen und den neuen Vetter Julius, der sofort die Rede aufnahm und Jettchen versicherte, daß er mit ihrem Onkel Jason tiefes Mitgefühl hätte. Aber trotzdem hoffe er, er würde nicht ernstlich krank werden, denn so hätte er gar nicht ausgesehen, und Jettchen sollte nicht besorgt um ihn sein.
Aber da Jettchen hierauf nicht antwortete, so stockte auch bald der Vetter Julius, denn die schönste Beredsamkeit verstummt endlich ohne Echo. Und die vier gingen ziemlich einsilbig nebeneinander die langen Gartenwege entlang, bis sie ihren alten Rundgang um die Blumenbeete wieder aufnahmen. Die Sonne stand jetzt klar und schon recht tief am Himmel, und man konnte fast in sie hineinblicken. Ihr Licht war weiß und kühl, hell und merkwürdig hastig. Sie blieb nirgends haften und machte doch alles scharf und klar, als wäre es mit der Schere ausgeschnitten – jedes farbige Blatt, jede Blume und jeden Wipfel gegen den kalten, weißblauen Himmel. Und dazu kam plötzlich ein Wind auf, der Bäume und Menschen frösteln machte.
Und wieder wollte der Vetter Julius beginnen und nun – ganz gleich, ob die Kinder dabei waren oder nicht – zum letzten Schlag ausholen ... Denn wozu war er eigentlich sonst nach Charlottenburg gefahren – mitten in der Woche? Und hatte er nicht zu Salomon und Tante Rikchen gesagt, daß er heute nachmittag mit Jettchen reden würde? – Er machte sich ja wirklich lächerlich ... Wieder wollte er beginnen, und eben setzte er sich in Positur, reckte sich und hub an: »Liebes Jettchen – Sie wissen« – als es der Zufall wollte, daß das Mädchen aus den Bäumen heraustrat, und Jettchen, die erschrak und meinte, es wäre etwas mit dem Onkel Jason, den Vetter Julius stehen ließ und dem Mädchen entgegenlief.
»Was ist denn? Was ist denn, Johanna?« rief sie schon von weitem.
»Ach«, sagte Johanna, »Sie möchten mal 'raufkommen.«
»Warum denn?« Und das Herz schlug Jettchen, die eine Hiobsbotschaft ahnte, bis in den Hals.
»Nu, zum Abendbrot«, brachte Johanna hervor, langsam und ziehend, wie die Fliege aus der Buttermilch – »de Herrschaften wollen doch ganz früh schon wieder weg.«
Richtig, als sie heraufkamen, war schon aufgedeckt, und trotzdem es noch ziemlich hell war, hatte man doch schon auf dem Spind die Lichter in den weißen Säulenleuchtern angezündet. Sie zuckten seltsam rötlich in der gelben Beleuchtung, die von draußen von den Kastanien und von dem sich abendlich verfärbenden Himmel hereinflutete und die Dinge und Menschen, Gesichter und Gestalten, alles in ein mattglänzendes Gold tauchte.
»Na, da kommen ja unsere Nachzügler«, rief Ferdinand vieldeutig, »war's noch hübsch unten?«
»O ja«, sagte Julius ein wenig bedrückt und langgezogen.
»Sage mal, Julius«, meinte Rikchen mit schlecht verhehlter Absichtlichkeit in der Stimme, – »sage mal, hab' ich dir eigentlich schon mal die Wohnung gezeigt?«
Julius verstand.
»Nein, du wolltest es zwar immer tun, aber bisher ...«
»Na«, rief Tante Rikchen, »hier wohnt Jettchen«, und zeigte über den Flur, – »und hier, siehste ...«
Wenn man nach der Länge der Zeit hätte urteilen wollen, die Tante Rikchen und der neue Vetter draußen blieben, hätte die Wohnung mindestens achtundzwanzig Zimmer haben müssen, aber nicht drei und das bißchen Nebenraum. Oder es hätte in ihr ganz besondere Schätze und Kostbarkeiten geben müssen, was doch nachweislich nicht der Fall war. Auch hätte man glauben können, die Wohnung wäre jetzt schon vom ersten bis zum letzten Winkel geheizt und sogar überheizt worden. Denn als sie beide hereinkamen – Tante Rikchen und der neue Vetter Julius –, hatten sie beide puterrote Köpfe. Und man mag sagen, was man will: um den Ausgang September und an einem Tag, wie der es war, heizt noch kein Mensch. Am wenigsten in Charlottenburg.
Das Abendbrot verlief ziemlich ruhig und eintönig. Denn die Ungewißheit über Jasons Befinden lag wie ein Schatten über den Brüdern und machte ebenso Eli und Jettchen, die auch sonst jetzt sehr wenig sprach und in ihren Gedanken stets weit ab war, – machte auch die ganz schweigsam. Und selbst der neue Vetter Julius nahm unter dem Eindruck seiner halben Niederlage den Mund weniger voll als sonst. Das heißt bildlich gemeint, nicht wörtlich. Durchaus nicht wörtlich. Denn der Weg um die Beete und die Charlottenburger Luft hatten ihn hungrig gemacht, und er machte es nun wie jener Freier, von dem man erzählt, daß er keine Rücksicht, sondern nur Fisch nahm. Ja, das tat er. Die Frauen, Rikchen, Minchen und Hannchen, und die Kinder, Jenny und Wolfgang, sie waren an diesem Abend die Wortführenden. Und vor allem waren die Kinder von so ausgesuchter kindlicher Bosheit gegen das brave alte Fräulein mit den Pudellöckchen, daß wenig gefehlt hätte, – und Ferdinand hätte in seiner gewohnten Weise die Ruhe wiederhergestellt. So aber sorgte er nur dafür, daß man früh aufbräche.
Und wirklich, was sollte man auch hier? – Es war eine merkwürdige Luft mit einem Male für alle Geberts, eine Niedergeschlagenheit, wie nach einer verlorenen Schlacht. Keiner von den Männern sprach, – vielleicht weil Jason fehlte, der sonst immer die Truppen gesammelt hatte und selbst als Zuhörer jedem Gespräch eine Folie, einen Hintergrund, eine lustige Wendung aus dem Unbedeutenden heraus gegeben hätte. Und merkwürdig, im Augenblick erhob sich auch schon drüben vielköpfig und unbekümmert die schnatternde Plattheit, das kleinstädtische Getratsche der Jacobys um nichts und wieder nichts, das Nichtigkeiten mit Niederträchtigkeiten abwechseln läßt und alles das bläst, was es nicht brennt.
Ferdinand rief zum Aufbruch, und Jettchen lief in ihr Zimmer, um zu sehen, ob die Wagen schon da wären. Richtig, da standen sie schon. Der erste, der ging, war Eli, der diesmal ganz schnell und sicher, trotz der hereinbrechenden Dunkelheit, die Stufen hinabfand. Salomon wollte auch gleich wieder mitfahren; aber Rikchen beschwor ihn hoch und heilig, doch draußen zu bleiben; – was er denn jetzt wieder in Berlin wolle, und morgen könne ja Julius gleich Bescheid bringen, wie es Jason ginge. Und Julius versicherte, daß der Tag nicht so früh wäre, wie er wieder hier sei.
Jettchen sah den abfahrenden Wagen eine ganze Weile nach, ehe sie langsam und unschlüssig wieder nach oben ging. Es war noch nicht Nacht, aber man zündete drüben in den Häusern und in der Ferne und unten auf dem Wege rötliche Lichter an. Der Himmel brannte in wilden gelben Flammen, und die langen herbstlichen Baumreihen standen gegen Sonnenuntergang ganz schwarz da, als wären sie aus Kohle errichtet. – Den Weg hinab aber lagen sie noch in einem goldigen Schleier von Helligkeit mit ihren herbstlich verfärbten Lindenkronen; und tief unten im dünnen Laubwerk hing, in einem Rot wie von gefrorenem Blut, die große Scheibe des aufgehenden Mondes.
Als Jettchen nach oben kam, war sie erstaunt, Onkel und Tante nicht mehr hinten im Eßzimmer zu finden; und es war ihr unheimlich, wie das Eßzimmer dalag, ganz verödet mit seinen abgerückten Stühlen, den zerknitterten Servietten und den halbleeren Tellern und Gläsern im hellen Licht der paar rauchenden Kerzen. Denn eigentlich war es doch noch viel zu früh zum Schlafengehen, und Jettchen dachte erst, die beiden wären noch einmal in den Garten hinuntergegangen, aber da hörte sie sie plötzlich mit leisen Stimmen in ihrem Schlafzimmer flüstern, und Jettchen bekam einen Schreck, daß sie schwankte und klopfenden Herzens sich an einen Stuhl klammerte. Daß sie zusammenschrak, war in letzter Zeit öfter der Fall, aber so hart war es doch noch nie über sie gekommen.
Nach einer ganzen Weile, als Jettchen immer noch das Herz bis in den Hals hinauf schlug, rief sie das Mädchen, daß sie abräumen sollte, und sie war froh, selbst mithelfen zu können, um wenigstens für Augenblicke auf andere Gedanken zu kommen.
Aber als Jettchen wieder in ihrem Zimmer war – Licht mochte sie nicht anzünden – und sah, wie der Mond zwischen den Bäumen hochrückte und schnell über die letzten Zweige zu seinem einsamen Gang durch das Himmelsgewölbe emporstieg, da war wieder nichts mehr, was sie von ihren Gedanken abziehen konnte. Ganz langsam kam so der Mond um die Ecke zwischen den weißen Flatterwölkchen, die – feiner als Schleier – seine grünliche Scheibe für Augenblicke trübten. Erst war hier nur ein Winkel des Fensters und der Gardinen von seinem verwitterten Glimmerglanz überzogen; aber dann rückte er herum am Himmel, sah Jettchen voll in das Gesicht, übergoß den ganzen Garten vor ihr, der solange verschwiegen im Schatten gelegen, mit seinem tückischen Schein, warf lange Rhomben hinter Jettchen auf den Fußboden, und erfüllte das ganze Zimmer mit einem fahlen Dämmerlicht, in dem man alles sah und doch nichts sah, in dem jeder Gegenstand wie verschleiert, weiß und unheimlich erschien.
Und die Gedanken Jettchens waren wie die Dorfhunde in der Nacht. Der Ort liegt ganz ruhig; alles scheint zu schlafen. Aber plötzlich fängt ein Hund leise an zu knurren, vielleicht halb im Traum, oder weil ein Kätzchen über einen Dachfirst huschte, oder weil irgendein stiller Wanderer durch die nächtige Dorfstraße tappt. Ein anderer Hund antwortet dem ersten, und wieder und wieder einer, und dann sind alle Hunde wach und rufen einander zu, und jeder will mehr lärmen als der andere, und sie heulen unruhig und wild bis in den hellen Morgen hinein, bis das Kätzchen schon längst auf der Tenne schläft oder der Wanderer schon wer weiß wo draußen in der Welt ist und gar nicht mehr daran denkt, daß er heute nacht durch irgendein Dorf gekommen ist, in dem ein Hund angeschlagen hat.
So waren Jettchens Gedanken, und sie wußte gar nicht, wie lange sie schon so am Fenster saß; denn ihre Gedanken liefen ununterbrochen und antworteten einander wie die Dorfhunde in der Nacht, während doch der Wanderer, der sie aufgestört, weiß Gott wo in der Welt schon ist. Jettchen wußte nicht, ob die drinnen immer noch sprachen, und was sie sprachen; sie hörte es nicht. Aber da fühlte Jettchen, daß irgend jemand im Zimmer war, sie fühlte das wie einen kalten Hauch, der sie hinten im Rücken traf, und sie wandte sich plötzlich und scharf um.
»Jettchen, biste noch auf?« fragte ganz langsam und zäh die Tante; sie hatte es sich schon leicht gemacht und schwamm für Jettchen weiß und breit im Mondlicht auseinander. »Darf ich mich hier hinsetzen? Ich wollte gern mal ein bißchen mit dir reden«, und sie setzte sich auf den Rand der Chaiselongue. »Na, wie war's denn heute nachmittag? Habt ihr nett miteinander geplaudert?«
»Ich ängstige mich um Onkel Jason, Tante«, sagte Jettchen.
»Nu, wir wollen hoffen, Jettchen«, kam es von drüben, »es wird umsonst sein. Immerhin, man muß sich auch ebensogut gefaßt machen. Siehste, mein armer Bruder Nero, heute gesund und in fünf Tage tot – de blättrige Rose und dabei e Baum gegen deinen Onkel. Aber nach meiner Meinung fehlt doch Jason nichts.«
Jettchen saß ganz ruhig und antwortete gar nicht.
»Paß auf, morgen hörste wieder, er ist gesund. – Aber nu was anders, Jettchen. Wie gefällt dir eigentlich Julius?«
Jettchen antwortete nicht.
»Nu, ich weiß ja, so was kann ein junges Mädchen nich so sagen; – aber is er nich doch wirklich ein netter Mensch?«
Jettchen schwieg.
»Ich glaube, dagegen kann wohl man nichts einwenden – aber er ist nicht allein ein netter und gebildeter Mensch, er ist ein tüchtiger Mensch. Wenn de mal willst, kannste de Auskunft lesen, die Salomon von seinem früheren Chef aus Posen bekommen hat, so was hab' ich noch nich gesehen!«
»Will ihn denn Onkel ins Geschäft nehmen?« fragte Jettchen.
»Vielleicht«, log die Tante, und das wurde ihr nie schwer. »Warum nich, später mal.«
Die beiden schwiegen wieder eine ganze Weile. Die Tante wußte nicht recht, wie sie's anfangen sollte.
»Nu«, sagte sie, »Jettchen – wie lange biste eigentlich schon bei uns? – Ich glaub', auf den nächsten vierzehnten werden's einundzwanzig Jahr. Ne schöne Zeit! Das ist ja richtig, de hast uns immer viel Freude gemacht, wir könnten über dich 'ne ebenso gute Auskunft geben, wie Julius von seinem Chef in Posen gekriegt hat.«
Jettchen nickte ganz langsam, und die Tante bemerkte es.
»Möchtest de nich mal weg von uns, Jettchen? Ich mein' so, deinen eigenen Haushalt haben; – hör' zu, Jettchen, ich muß dir etwas sagen, und hoffentlich wird es dir Freude machen. Dein Vetter Julius war heute in einer gewissen Absicht hier draußen. Du wirst es ja auch bemerkt haben. – Er hat nämlich – nu, ich brauch' dir ja nicht erst zu erklären –, er hat nämlich bei Salomon um dich anhalten wollen.«
Jettchen hatte für einen Augenblick ein Gefühl in der Brust, als ob ihr jemand da hineingriffe und mit der Hand das Herz zusammenpresse.
»Ich brauch' dir nicht zu sagen, liebes Jettchen, daß es der Wunsch von deinem Onkel Salomon is. Und du mußt wissen, was du ihm schuldig bist. Du würdest ihm 'ne große Freude mit machen; denn er ist doch auch nich mehr so jung, weißte, und er möchte auch gern mal endlich die Sorge um dich los sein. Sieh mal, ich will ja nich sagen, daß du uns dankbar sein mußt, denn de hast es doch hier wirklich besser wie's Kind im Hause gehabt, – ich will das gar nicht sagen, Jettchen; aber was willste mehr?! – Es ist ein netter und ein hübscher Mensch, oder willste das vielleicht bestreiten?«
Jettchen wollte gar nichts bestreiten, rein gar nichts.
»Und über seine Tüchtigkeit, weißt du, da wird Salomon wohl besser urteilen können wie du. Und meinste, Julius könnte nich ganz andere haben, er hätte nur ein Wort sagen brauchen, und sein Chef in Posen – und das war ein schwer reicher Mann – hätte ihm sofort sein einziges Kind gegeben. Deswegen ist er ja auch aus Posen fort, weil er schon immer an dich gedacht hat.«
Man kann nicht sagen, daß hierzu gerade zuviel Erfindungsgeist gehörte; aber immerhin war die Ruhe und Unbefangenheit – und das ist die wahre Kunst des Lügens –, mit der Tante Rikchen, die im Augenblick vorher noch selbst nichts davon geahnt hatte, ihr Märchen vorbrachte, selbst für jemand, der sie schon lange Jahrzehnte kannte, überraschend. Aber Jettchen war jetzt nicht in der Stimmung, über wahr und falsch nachzusinnen. Sie empfand nur, daß das Wasser ihr bis zum Hals ging, und sie fühlte sich zu schwach und zu willenlos, um dagegen anzukämpfen. Vor acht Wochen vielleicht, aber heut war sie keine Schwimmerin mehr.
Die Tante aber war eine zu gute Menschenkennerin, um das nicht herausgefühlt zu haben, und sie hatte mit Vorbedacht so lange gewartet, eben weil sie wußte, daß Jettchen ihren Plänen nun keinen Widerstand entgegensetzen würde, wenn sie es nur klug mache und nichts mit Gewalt versuche – denn dann war ja mit diesen Geberts nichts anzufangen.
»Nu«, sagte die Tante und stand auf, »ich sehe, es überrascht dich, mein Kind. Ich will da gar nicht auf dich einwirken, liebes Jettchen, du mußt in dieser Sache selbst genau wissen, was du zu tun hast; du bist doch von je ein vernünftiger Mensch gewesen. – Ich will dir nur das eine noch sagen – du würdest deinem Onkel, und dem bist du zu Dank verpflichtet, nicht wahr? – deinem Onkel 'ne große Sorge 'mit abnehmen. – Es ist sozusagen ein Herzenswunsch von ihm, den du ihm damit erfüllen würdest – aber wie gesagt, ich will nich auf dich einwirken, und du hast deinen vollkommen freien Willen.«
Damit schwamm das weiße, breite Etwas in dem fahlen Licht wieder aus dem Zimmer, mit patschenden Schritten, zog dann ganz leise die Tür hinter sich zu und ließ Jettchen mit ihren Gedanken allein.
Die Tante war zwar keine gute Rednerin, sie war nicht sonderlich geistreich und überraschend, auf dem Felde lag ihr Verdienst nicht – aber sie hatte etwas in ihrer langgezogenen, nöligen Art, in ihrer zähen, einschläfernden Redeweise, die doch immer wieder auf das Ihre zurückkam, etwas, was einen Menschen mürbe machen und ihn zur Verzweiflung treiben konnte.
Und Jettchen, die sich während dieses Besuches dem Zimmer zugekehrt hatte, wandte sich wieder langsam dem Fenster zu und sah in den Mond hinein, der jetzt schon hoch am Himmel stand, ganz klein und hell mit seinem tückischen Lachen. Sie fühlte sich nicht unglücklicher denn vorher, sie weinte nicht, sie war nur müde und mürbe. Sie hatte all das viel ruhiger hingenommen, als sie gedacht hatte, und im Innersten ihres Herzens war eigentlich etwas, was dem nicht widersprach, – so eine Sehnsucht nach Märtyrertum, so ein kindlicher Trotz, nun den ersten besten, und wenn es selbst der Schlechteste wäre. Es war ja nichts dabei, was ihren Widerspruch herausforderte und sie aufstachelte; und ob sie nun dafür oder dagegen war, sie war gleich hoffnungslos.
Jettchen wollte ruhig darüber nachdenken und sich Klarheit schaffen, aber sie konnte keinen festen Gedanken fassen, und es war auch jetzt eigentlich gar nicht ihr Schicksal, das für sie in dem Vordergrund stand, sondern alle ihre Überlegungen wurden immer wieder überschrien von der Angst um Onkel Jason.
Und wieder fühlte Jettchen, daß irgendwer die Tür öffnete, und sie blieb ganz ruhig und matt in ihrer Lage und wandte sich nicht. Und leise kam es zu ihr heran, ganz leise, und dann fühlte sie, wie ihr jemand die Hand auf die Schulter legte, und ohne daß sie sich wandte, wußte sie, daß es der Onkel war.
»Jettchen«, sagte er, »die Tante hat eben mit dir gesprochen.«
»Ja«, meinte Jettchen, aber sie wandte sich nicht und sah, den Kopf weit zurückgelehnt, starr in den Mond hinein.
»Weißt du, Jettchen, ich will mich da nicht einmischen, ich habe wirklich heute andere Dinge im Sinn, mein Kind; aber ich will dir nur das eine sagen, daß du dich nicht zu sorgen brauchst. Du wirst es ebensogut und besser haben, wie du es hier gehabt hast, dafür bin ich da. Du bist hier wie das Kind des Hauses gewesen, Jettchen, und ich will's auch weiter so halten. Aber versteh' mich recht, ich will da gar nicht auf dich einwirken, Jettchen, du bist groß genug, und mußt wissen, was du tust. Ich will dir nur das eine sagen, daß ich nichts dagegen habe und daß ich wirklich nur das Allerbeste über Julius erfahren habe. Du mußt dabei auch immer das eine bedenken, Jettchen, daß du der Tante in gewissem Sinne zu Dank verpflichtet bist, und sie meint ja, daß ihr sehr gut zusammen paßt; und du würdest der Tante eine sehr große Freude damit machen, denn sie hat sich in der letzten Zeit um dich viel Sorge gemacht; das hast du wohl gesehen. Es ist sozusagen ihr Herzenswunsch, den sie schon lange hat, und sie würde sich sehr freuen, wenn er in Erfüllung geht.«
Jettchen sah immer noch in den Mond hinein, und das einzige, was sie bei der Rede des Onkels, der sich gern sprechen hörte, empfand, war, daß seine Worte große Ähnlichkeit mit denen der Tante hatten und daß einzelne Wendungen sogar genau die gleichen waren – nur daß sie sich auf einen anderen bezogen.
»Überlege 's dir nur, liebes Jettchen«, sagte endlich der Onkel. »Wir wollen ja gar nicht in dich drängen, aber du mußt doch Julius auch schon genug kennen, um dir ein Urteil über ihn gebildet zu haben. Und nun, mein Kind, schlaf wohl, und morgen reden wir weiter darüber. Hoffentlich ist es mit Jason nichts Gefährliches.«
Damit war der Onkel hinter Jettchen getreten und hatte ihr leise und freundlich die Backen gestreichelt; aber wie sich Jettchen umwandte, da war er schon wieder auf seinen Filzschuhen lautlos aus dem Zimmer gegangen.
Diese kleine Zärtlichkeit des Onkels, die eigentlich, wenn Jettchen sie nur recht verstanden hätte, auch einen geringen Einschlag von Mitleid barg, legte die letzte Schanze nieder; denn jetzt kam es über Jettchen, wie gut sie doch eigentlich hier zu ihr wären, und wie sie das alles ruhig hinnähme, und wie undankbar das von ihr sei; und es folgte jene Kette von Selbstanklagen und Vorwürfen, die immer hervorgezerrt wird, wenn wir drauf und dran sind, in etwas einzuwilligen, das wir vor uns selbst nicht verantworten können.
Und der Mond rückte herüber und warf wieder seinen Schein schräg über den Garten hin und den dämmerigen stillen Lindenweg entlang, auf dem nur ganz fern ein Huf klang. Drüben in den Häusern war schon längst das letzte Licht gelöscht, und in den Scheiben brach sich der grüne Mondglanz. Die paar Öllampen vergaßen in der Mondhelle fast ihre Aufgabe, und die ganze Stadt lag tot und silbrig, – einmal tagklar, nur mit schwarzem Schatten, und dann wieder unter einer grünen, gleichmäßigen Dämmerung, wenn oben am dunklen Himmel ein Wolkenflor an der Mondscheibe vorüberschwebte.
Und eben wollte sich Jettchen erheben – denn so der Blick auf eine leere, nächtliche Straße macht müde –, als noch einmal mit patschenden Schritten jenes breite, weiße, verdämmernde Etwas hereinkam, das der Stimme nach der Tante Rikchen zum Verwechseln ähnlich war.
»Nu«, meinte es sorglich, »bist du noch immer nich zu Bett, mein Kind?«
Nein, das war Jettchen nicht. –
»Nu siehste, der Onkel hat dir doch auch gesagt, wie sehr ihm dran liegt, und ich weiß ja schon immer, du bist ein vernünftiger Mensch, und de wirst deinem Glück nich aus dem Weg gehn. Und ich will dir was sagen, wenn du meinst, daß de Julius noch nich kennst; – nu sieh mich an: Lebe ich mit Salomon glücklich oder nich? – Wenn mal was ist, sagt er mir die Meinung und ich ihm de Meinung, und denn is wieder gut. Und wie oft, meinste, habe ich Salomon gesehen vor unserer Hochzeit? Nu, wie oft, Jettchen? – fünfmal – keinmal mehr! Und mit Ferdinand und Hannchen, das war 'ne Liebe von vier Jahren; na: Und was ist draus geworden? Darüber wollen wir doch lieber schon gar nicht reden.«
Das weiße, verschwimmende Etwas machte in seiner langsamen Rede, die schon an Pausen so reich war, eine besonders ergiebige, um vielleicht irgendwelche Antwort abzuwarten. Aber da die nicht kam, hub es wieder an:
»Und Jettchen – wenn du dir wirklich den anderen in 'n Kopp gesetzt hast, so will ich dir nur das eine sagen, daß er überhaupt nicht mehr an dich denkt; er is seit Monaten nicht mehr hier in Berlin. – Wer weiß, wo er in de Welt is, und wer weiß, was er für eine jetzt hat! Ich will da gar nichts Schlechtes von ihm sagen: aber so sind de Mannsleute alle. Ich bin 'ne erfahrene Frau darin, sei versichert, Jettchen! – Du weißt, ich bin zu der ganzen Sache still gewesen, weil ich gesehen habe, du hast deine Freude an dem Menschen gehabt, und die hab' ich dir nich stören wollen. Warum nich, de bist ä junges Mädchen und sollst dich amüsieren; – aber welches Mädchen heiratet überhaupt den, den sie liebt? Ich kann's dir ja jetzt ruhig sagen, Jettchen, ich habe als junges Mädchen auch 'ne Liebe gehabt, mit dem Sohn von Kantor Reitzenstein bei uns, wir haben uns sehr gern gesehen, mehr wie gern, und ich bin doch mit meinem Salomon nachher sehr glücklich geworden – oder vielleicht nicht, Jettchen?«
Wenn auch all das, was das weiße, verschwimmende Etwas über Kößling sagte, bei Jettchen nicht auf fruchtbaren Boden fiel, denn sie ließ sich nun einmal sein Bild nicht von einer Fremden verschimpfieren, und sie hatte es da verwahrt, wo böse Worte und üble Nachreden nicht herankommen konnten, so war es nicht ungeschickt von dem weißen, breiten, verschwimmenden Etwas, sich so gleichsam als Leidensgenossin Jettchens hinzustellen, und es zeugte ebenso von einem tiefen Gerechtigkeitssinn der guten Tante Rikchen, wenn es dem alten Kantor Reitzenstein noch nachträglich einen posthumen Sohn schenkte, den er sich – mit Töchtern reich gesegnet – sein Lebtag brennend, aber vergeblich gewünscht hatte.
»Nu adieu, Jettchen, nu geh' ich zu Bett«, kam es nach einer ganzen Weile, in der nur eine Uhr aus dem Nebenzimmer sprach, von der Chaiselongue herüber durch das halbhelle Zimmer. »Und hoffentlich kann ich morgen Julius von dir 'ne gute Antwort bringen. Der arme Junge, er hat schon die ganzen Nächte jetzt nicht mehr geschlafen, man hat's ihm ja heute angesehen.«
Jettchen war aufgestanden; sie war jetzt schlaff und zum Zusammensinken müde und jämmerlich zermürbt von all dem Reden und dem Grübeln, den Vorwürfen und von der Angst um Jason. Sie wollte eigentlich gar nichts antworten; man sollte ihr nur bis morgen Zeit lassen, nur bis morgen noch; bis morgen könnte ja alles sich ändern, da könnte wer weiß was geschehen. Aber dann sagte sich Jettchen wieder, daß das ja alles doch fruchtlos wäre und daß sie morgen ebenso gehetzt und in die Enge getrieben sei wie heute und daß es besser wäre, heute als morgen. Aber sie dachte nicht mehr, sie hatte keine Worte mehr, keine Wenn und Abers, sie empfand nur, daß sie diesem Zustand ein Ende machen müßte.
»Wenn ihr es für gut haltet«, sagte sie, und es klang, als ob eine Tonscherbe zerbricht.
»Salomon«, rief die Tante ganz laut und schrill und tappte durch das Zimmer auf Jettchen zu und umarmte sie, die ganz steif und gerade dastand, fast ohne sich zu rühren. »Salomon!«
»Was denn?« kam es von nebenan.
Aber dann war auch schon der Onkel bei ihnen, ebenso weiß und verschwommen wie die Tante, nur nicht so breit.
»Na«, sagte er, nicht ohne Rührung, »siehste, Jettchen, das freut mich wirklich mal von dir.« Und er küßte sie, und die Tante küßte ihn und lachte und sprach und meinte immer wieder, daß sie das ja schon lange gewußt hätte, und Jettchen hätte es nur erst nicht wahrhaben wollen.
Und der Onkel küßte Jettchen wieder und sagte, er würde schon für sie sorgen. Und er sagte, seine Frau solle doch ruhig sein, und sie wecke die Leute im Hause auf, und er wünsche von Herzen Glück und wäre doppelt erfreut darüber, weil ja damit ein langjähriger Wunsch der Tante sich erfülle. Aber das könne man alles morgen besprechen, nun wolle man zu Bett gehen; Jettchen wäre auch sehr müde. Und die Tante küßte Jettchen, und der Onkel küßte Jettchen, und die Tante küßte den Onkel und der Onkel die Tante. Und Jettchen stand mitten dazwischen, ohne einen Gedanken, müde zum Umfallen.
Und wieder wollte die Tante etwas von Julius erzählen, was er als Kind immer gesagt hätte, – als der Onkel bat, nun möchte sie aber herauskommen und endlich stille sein, damit das arme Jettchen auch mal ihre Ruhe bekäme.
Und als Jettchen schon lange im halbhellen Zimmer im Bett lag und weinte und schluchzte und mit den Füßen gegen das Bettende schlug, da hörte sie immer noch, wie der Onkel die Tante rief, sie solle doch endlich kommen, und was sie denn da hinten noch mache.
Aber die Tante antwortete, daß sie gleich mit der Liste fertig wäre, und ob Salomon meine, daß man Bentheims auch eine Anzeige schicken müßte.
Aber der Onkel rief, das könne man ja morgen überlegen, und jetzt möchte sie, »in drei Teufels Namen«, herkommen und ins Bett gehen.