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Nun folgte eine ganze Anzahl schöner Tage. Eine Reihe, eine Kette. Sie waren wie Schwestern, die einander an den Händen hielten: schöne, große Mädchen mit Lachen um den Mund und Sonnenschein über dem blonden Scheitel. Man konnte nicht sagen, wer von den Schwestern die anmutigste war, welcher man den Preis geben möchte. Die schien älter, reifer, voller und hingebender als die anderen, und die wieder war so jung und frisch, so neckisch und lustig mit ihrem kecken Lachen, daß man mit ihr um die Wette jagen und tollen mochte. Die lächelte nur vor sich hin, und alle ihre Bewegungen waren mild und gedämpft wie die silberne, sehnsüchtige Frühlingsluft; und die dann wieder schmückte sich zum Abend mit einem Zweig von Heckenrosen, den sie sich ums Haupt legte – –. Man wußte wirklich nicht, welcher von den Schwestern man den Vorzug geben sollte.
Und es kam, wie es kommen mußte: und die gleichen Wunder, wie all die Jahre vorher, ereigneten sich in gleicher Folge. Die Fliederknospen öffneten sich und entfalteten grüne Blätter, die noch ganz hell waren und schlaff wie Kinder, die vom Wachstum müde sind; und unten am Ufer des Königsgrabens, in einer verborgenen Ecke unter ein paar Büschen stand ein Rasen Veilchen, dessen grünes geducktes Blattwerk ganz mit Blüten durchzogen war. Und wer über die Brücke ging, der schnupperte und sagte sehr nachdenklich: da drüben im Garten müssen wohl Veilchen stehen. Die Pappeln warfen ihre pendelnden braunen Kätzchen ab, und sie klemmten sich überall ins Gebüsch, plumpsten ins Wasser und ließen sich forttragen, oder sie schlängelten sich wie braune, zottige Raupen an den Wegrändern und vor den Füßen. Aus den braunen Ulmenblüten wurden kleine Ballen grüner Früchte, die die Zweige mit ihren Polstern überzogen, so daß sie aussahen wie mattgrüne Korallenäste; und irgendwo an einem Spalier flatterten rosa Pfirsichblüten auf, und über eine hohe, gelbe Mauer streckte ein einsamer weißer Blütenzweig seinen schimmernden Arm. Die Dämmerung wurde so kühn, daß sie noch Stunden mit der Nacht um die Herrschaft über die träumende Welt stritt. Und die Leute saßen auf den Steinbänken vor den Türen und sahen dem Kampfspiel zu. An den rosa Wölkchen aber, die vom Himmel leuchteten und alles in ihren farbigen Schimmer tauchten, hatte die Dämmerung gute Bundesgenossen, die standhielten allabendlich, bis der allerletzte Rest von Licht verglommen war.
Eines schönen Tages jedoch hatten auch die Linden ihre braunen Knospenhüllen abgestreift, und Blätter gelbgrün und licht, wie aus grüner Seide geschnitten, dehnten sich in ihrer Jugendmunterkeit in der Morgensonne. Aber nicht alle waren sie zugleich gekommen, sondern in den langen Baumreihen, die schon Frühling gemacht hatten, standen andere noch starr und unbewegt, als ob an sie noch gar nicht die Mahnung ergangen wäre, und sie warteten drei Aufforderungen und einen wannen Regen zur Nacht ab, ehe sie sich endlich bequemten, sich wachzurütteln. Dann aber war es auch eine einzige Kette grüner Glieder, die »Linden« herab, fürder jenseits des Tres, die Charlottenburger Chaussee hinunter, am Steuerhäuschen vorüber und bis tief, weit hinein nach Lietzow, bis an den Schloßpark, fast bis unter die goldene Puppe auf dem Dache des Schlosses – nur eine Kette lichtgrüner Wipfel. Und es gab viel, viel früher, als man erwartete, ein paar recht warme Tage, die alles schnell zur Entfaltung und zur Blüte trieben, den Rotdorn, den Flieder und den Goldregen. – Tage, die es machten, daß die Rasen, die weiten, silbernen Tücher von Anemonen im Schloßpark und im Tiergarten rechts und links von der Chaussee weithin unter den durchlässigen Büschen unscheinbar wurden, daß die weißen Blütenblättchen schnell und vorzeitig abstoben und verwehten, und daß ihr zierlich gefiedertes Kraut unter dem wuchernden Hederich und dem Storchschnabel vergraben wurde.
Und es kam, wie es kommen mußte.
Ferdinand hatte am nächsten Tage eine kleine Gallensteinkolik. Sie fing eigentlich schon in der gleichen Nacht an. Der Ärger über den Spielverlust mochte auch dazu beigetragen haben, und er lag achtundvierzig Stunden wieder da, nach Aussage Jasons, wie die Plötze auf der Aufschwemme. Aber das hinderte ihn nicht, nach einigen Tagen in jeder Beziehung wieder der alte zu sein.
Salomon fuhr dann nach Karlsbad mit dem Landauer, der noch erst dazu schnell einmal überlackiert werden mußte, und er fand noch einen Reisegefährten, einen zuckerkranken Rechnungsrat, so daß er im eigenen Wagen billiger fuhr als mit einer Beichaise von Naglers Post; und Ferdinand ging selbst mit bis nach dem Neuen Markt und sagte zu Johann, daß Johann auf die Fuhre besonders achtgeben müßte.
Tante Rikchen mietete richtig in Charlottenburg bei Frau Könnecke, Rosinenstraße und Ecke Berliner Straße, drei Zimmer und Küche nebst Benutzung eines Teiles des Blumengartens vor dem Hause und einer Laube in dem weiten, parkähnlichen Gartenland hinter dem Hause.
Jason ging später täglich mehrere Stunden ins Geschäft von Salomon und hielt Buchhalter, Korrespondenten und Lagerverwalter bis herab zum Hausdiener von der Arbeit ab. Sie betrachteten ihn als eine Art schadlosen Geistesgestörten, dessen Minderwertigkeit einzig durch seine Freigebigkeit in jeder Art von Getränken quitt und wettgemacht werden konnte. Er und der eine Korrespondent, der erst fünfzehn Jahre bei Salomon Gebert & Co. konditionierte, waren ihrer Meinung nach die Kücken, die nichts vom Betrieb wußten und verstanden.
Onkel Eli war sehr beschäftigt, denn er ging täglich auf die Post zwischen zwölf und eins und sah, was hinausging und hereinkam an Pferden und Postwagen. Und die Lebenstage Tante Minchens waren gleichfalls genugsam erfüllt, denn sie hatte die Sache mit Minna wieder einzurenken. Trotzdem, wie ihr jeder beistimmte, es von Minna sehr unrecht gewesen sei, halbnackt in der Küche zu stehen und sich zu waschen, so wußte doch Tante Minchen keineswegs, welche Untugenden vielleicht Minnas Nachfolgerin aufweisen möchte, und jedenfalls war Minna treu, ehrlich und fleißig, was heutzutage, wie es bei den Dienstmädchen stand, schon hieß, eine Auserwählte unter Tausenden sein: Zu ihrer Zeit natürlich hätte man auf jedes Dienstmädchen Häuser bauen können.
Der Schwede kehrte mit guter Gelegenheit nach Göteborg zurück; und fünf große beschlagene Überseekisten, signiert S. G. C. 13-17, wußten ihn dort zu finden.
Das Fräulein mit den Pudellöckchen teilte ihr Dasein weiter in Kinderliebe und Strümpfestricken; und die Fama von der Erkrankung des Königs blieb unbestätigt. Des Königs Gesundheit hielt sich auf gleicher Höhe, so daß man farbige Seidenwesten und Binder nach wie vor trug.
Tante Hannchen entschied sich für Schöneberg, weil dort die Luft besser wäre wie in Charlottenburg, und weil die Kinder nach Wilmersdorf gehen könnten, Schafmilch trinken; – es gäbe ja nichts Gesunderes als Schafmilch. Daß diese Vorzüge ihr durch die Billigkeit von Schöneberg aufgezwungen wurden, davon schwieg Hannchen. Wenn sie, wie ihre reiche Schwester Rikchen, Charlottenburg hätte bezahlen können, so hätte sie aller Welt erzählt, daß sie es nicht begriffe, wie es Leute gäbe, die nach Schöneberg auf Sommerwohnung ziehen könnten. So aber war in Schöneberg die Luft besser und nicht so stickig und muffig wie in Charlottenburg.
Wolfgang lebte fürder mit der Umwelt und allem Fremdsprachlichen in steter Spannung. Max las allabendlich mit dem gleichen Genuß seine Übersetzung des Child Harold, die besser war als die von Freiligrath. Jenny ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. – und so war eigentlich alles in bester Ordnung und entfernte sich nicht einen Schritt von dem ruhigen, sicheren und ausgetretenen Gleise.
Oder beinahe alles, – wenn eben nicht der Zufall sein merkwürdiges Spiel getrieben hätte.
Man sagt, daß der Zufall blind ist, und die Alten schon gaben der Göttin des Zufalls eine Binde vor die Augen. Nun, – dieser Zufall schielte ein wenig unter der Binde hervor, schielte wie ein Liebhaber beim Blindekuhspielen der sich und anderen versichert, daß er auch nicht einen Deut sehen könne, und der doch gar heimlich darauf bedacht ist, daß er auch ja die Rechte erwische, um nachher den Leuten etwas von der geheimen Sympathie der Seelen vorzufabeln, die ihn selbst mit verbundenen Augen vor die rechte Schmiede gebracht hätte.
Dieser schielende Zufall wollte es nun, daß sich am nächsten Donnerstag um ein Viertel nach fünf Uhr des Nachmittags bei schönstem Wetter unter dem Lichte eines mattblauen Frühlingshimmels Jettchen und Kößling in der Königstraße trafen. Es ist merkwürdig, wie oft Klößling in der Zeit vordem die Königstraße passiert hatte. Er wohnte fast auf der Königstraße und betrachtete die Spandauer Straße als sein Nebengelaß. Immerfort mußte er gerade durch die Königstraße gehen, unter allen möglichen Vorwänden vor sich selbst. Jeden Tag brachte er einmal Bücher nach der Bibliothek und holte einmal Bücher ab – eine Sache, die sich sehr gut in einem Aufwaschen hätte besorgen lassen. Er ging keineswegs langsam die Königstraße entlang, daß es aussehen konnte, als erwarte er irgend etwas, sondern er ging eilig, höchst beschäftigt und in Gedanken ... auch, wie er glaubte, ohne nach rechts und links zu sehen.
Den alten Onkel Eli hatte Kößling öfter bei seinen Wegen bemerkt, und er hatte ihn auch wohl gegrüßt. Aber das Unglück wollte, daß jedesmal eine Post oder sonst irgendeine stolze Chaise vorbeikutschiert wurde, und dann war für den alten Onkel Eli alles andere versunken und erstorben. Und wenn ihn Abd el Kader selbst in höchsteigener Person gegrüßt hätte, so hätte Onkel Eli auch nur durch stummes Nicken zu erkennen gegeben, daß er nicht gestört sein wollte, wenn er sich überhaupt so weit herabgelassen hätte. – So also war für Kößling keine Möglichkeit, ihn über Jettchen irgendwie auszuholen.
Auch Jason Gebert war ihm in diesen Tagen nicht in den Weg gelaufen, und bei Steheli war er nicht zu finden. Der Kellner sagte, er wäre seit Tagen nicht dagewesen. Es war nämlich so eine Eigenheit Jason Geberts, daß er plötzlich einmal für alle Welt Tage, ja selbst eine Woche verschollen blieb. Auch für seine Nächsten. Ja, daß man ihn dann nicht einmal in seiner Wohnung auftreiben konnte. Wie und was er da begann, welche Wege des Glücks er da wandelte, darüber ließ sich Jason Gebert nie mit einer Silbe aus. Er erschien eben wieder im Bund seiner Freunde und Angehörigen, als ob er nie von ihnen sich ferngehalten, und die hüteten sich, ihn zu fragen, wo er denn eigentlich so lange gesteckt hätte.
Also anstatt der anderen, die er ihretwegen hätte aushorchen können, kam Jettchen selbst, und zwar Kößling entgegen, auf derselben Seite wie er. Er brauchte nicht einmal über den Fahrdamm zu gehen, und das wäre ihm auch nicht lieb gewesen. Kößling sah sie über zwei Querstraßen fort ganz von weitem ihm entgegenkommen. Er erkannte sie an Gang und Haltung, noch lange bevor er ihre Züge deutlich sehen konnte. So trug sich keine sonst. Sie hatte ein Körbchen am Arm, also wollte sie Einkäufe machen. Kößling eilte, um über die Klosterstraße zu kommen, damit Jettchen ihm nicht doch noch durch diese Querstraße entwische und er ihr nachgehen müsse, was der Begegnung den Zauber der Zufälligkeit genommen hätte.
Und schon stand Jettchen vor Kößling, sonnig und lächelnd, und streckte ihm die Hand entgegen; die weißen Finger guckten aus dem langen, durchbrochenen seidenen Halbhandschuh. Ihre Augen, ihr Mund, alles an ihr lächelte unter dem Rund der spitzenbesetzten Schute; und Kößling war verwirrt und froh. Wie eine Fürstin, wie eine Fürstin! sagte er sich. Denn Jettchen sah in dem schlichten weißen Kleid mit der goldenen à la grecque-Borde, mit den weißen, runden Schultern, die sich aus ihm hoben, von goldenen Bändern überbrückt, noch größer und stolzer aus als sonst. Man verstand, daß Kößling vor ihr seinen Mantel ausbreiten mochte, damit ihr Fuß nicht den Staub der Straße trete.
»Es freut mich, Sie zu treffen, Herr Doktor. So sehe ich Sie doch noch einmal.«
»Warum noch einmal, Fräulein Jettchen?«
»Weil wir morgen oder übermorgen nach Charlottenburg ziehen. Ich freue mich schon darauf; es ist jetzt so herrlich draußen; wir haben einen so schönen Garten. Mein Onkel ist schon heute früh nach Karlsbad gefahren, und ich wenigstens werde also lange nicht nach Berlin hereinkommen. Tante kann ja ohne Berlin nicht acht Tage bestehen; aber wenn man – wie ich – hier geboren ist, dann freut man sich, sobald man es eine Weile nicht sieht. Aber man freut sich dann auch, sobald man es wieder hat. Leben möcht' ich nirgends anders als in Berlin, – nur nicht in einer kleinen Stadt.«
Sie würde weggehen, und er würde sie vielleicht lange nicht sehen, – das war seine erste und einzige Empfindung. Er vergaß darüber fast zu fragen, wie ihr letzthin der Abend bekommen, was sie inzwischen getrieben, ob sie etwas von ihrem Onkel Jason gehört hatte, den, wie weiland Mademoiselle Proserpine, die Erde verschlungen zu haben schien, während er, Kößling, eine neue Madame Demeter, unter Absingung von Klageliedern selbst bei Lunas Silberscheine die Königstraße hinuntereile.
»Nein, ich weiß nichts von ihm. Er ist vollkommen unsichtbar geworden; ich hoffe aber, daß er nicht sechs Monate sein unterirdisches Leben fortführen wird. Morgen oder übermorgen wird er schon wieder aus seiner Reserve heraustreten und in der alten Welt der alte sein. Ich will auch noch Bücher von ihm. Er gibt mir im Sommer immer solche, zu denen man Muße braucht, und im Winter solche, die man schnell lesen muß.«
»Und wie ist es Ihnen denn ergangen?« fragte Kößling ganz schüchtern, und seine Stimme bebte vor Zärtlichkeit. Er streichelte Jettchen beinahe mit Worten.
Jettchen sah ihn halb erstaunt von der Seite an. »O danke, gut, bei mir hat sich nichts ereignet.«
Jettchen verschwieg, daß sie böse Stunden hinter sich hatte und daß die Tante es an Spitzen nicht hatte fehlen lassen. Zwei Tage war sie mit Königsräucherpulver herumgelaufen, hatte das qualmende Blättchen geschwenkt wie ein Weihrauchbecken und auf die Männer geschimpft, die so wenig Erziehung hätten, daß sie in einem guten Zimmer anständiger Leute zu rauchen wagten.
»Gar nichts, Fräulein Jettchen?«
»Was soll sich wohl bei mir ereignen? Was ereignet sich denn in meinem Leben überhaupt? – Jeden Tag – nicht wahr – tritt das Ungeheuer Haushaltung wieder mit gähnendem Rachen an mich heran. Da muß Rücksicht genommen werden auf die Jahreszeit und daß der Onkel doch nicht alles essen darf, und da muß hin und her überlegt werden, was in der Wirtschaft fehlt. Dann kommt mal die Schneiderin, die Lewin, und der Onkel bringt dazu ein paar Stoffproben aus dem Geschäft herauf, und wir suchen uns etwas aus. Dann habe ich ein paar Handarbeiten jetzt vor, denn es gibt bald Geburtstage. Für Tante Minchen sticke ich einen Klingelzug in Perlen, ihr alter ist so schlecht, daß sie immer sagt, sie müsse sich schämen, – und für Tante Hannchen einen Pompadour in Soutache. Und dann kommt Onkel 'ran. Ich habe ihm doch schon alles gemacht, was es nur irgend gibt. Und jetzt muß ich noch alles von mir zusammenpacken für Charlottenburg. Wirklich, man kommt sein ganzes Leben lang nicht zu sich selbst. Ich habe seit Tagen kaum ein Buch in die Hand genommen. – Aber richtig: Sonntag war ich in der Singakademie im Judas Makkabäus. Grell hat wundervoll dirigiert. Wie der seine Stimmen zusammen hat!«
»Ja, gewiß, Grell, das ist eine Freude! Das ist ein ernster Musiker. Ein Genie ist er ja nicht, aber er bietet doch der Geniewirtschaft, dem Virtuosentum hier Paroli, und so einen brauchten wir in Berlin.«
Sie standen an der Ecke Kloster- und Königstraße. Jettchen schien unschlüssig, wohin sich wenden.
»Wo geht weiter die Reise hin?« fragte Kößling.
»Hier hinunter. Ich will nach dem Neuen Markt hinüber zu den Schlächterscharren und noch etwas zum Abend mitnehmen.«
»Darf ich Ihre Einkäufe überwachen?«
Jettchen zögerte. »Ach ja, kommen Sie nur. – Oder wollen wir nicht lieber – ach nein, kommen Sie nur hier mit entlang, Herr Doktor!«
»Wenn es Ihnen hier hinunter nicht recht ist, Fräulein Jettchen, – viele Wege führen nach dem Neuen Markt, genau ebenso viele wie nach Rom; und mir sind die, die über Potsdam gehen, wenn ich aufrichtig sein will, solange ich mit Ihnen zusammengehen darf, die liebsten.«
Jettchen lachte. »Ich habe heute gerade nicht so viel Zeit, den Potsdamer Umweg zu wählen; also kommen Sie!«
»Darf ich den Korb nehmen?«
»Jetzt nicht, – nachher.«
Jettchen wußte schon, weswegen sie »nachher« sagte, und weswegen sie, trotzdem Kößling auf die nahe Vetternschaft eines Korbes mit einem Fischnetz aufmerksam machte, auf diesem »Nachher« bestand.
Jettchen hatte ganz recht vermutet. Denn da drüben saß schon – wie sie es nannte, um Luft zu schöpfen –, saß schon die Tante Hannchen auf der Steinbank neben der Haustür. Tante Hannchen hockte auf dem niederen Bänkchen wie die Bulldogge vor dem Schlächterladen. Sie hatte die Beine auf ein gesticktes Fußkissen gestellt, musterte wortlos und aufmerksam die Passanten und glubschte giftig in den schönen Frühlingsnachmittag hinein. Irgend etwas in dieser besten der Welten hatte sie nämlich schon wieder verärgert. Ihr Mann oder Wolfgang oder daß ihre Schwester mehr Geld, aber dafür keine Kinder hatte, – irgend etwas hatte sie verärgert. Da kam Jettchen, und zwar mit einem Herrn; und die schwarzen Jettknöpfe, die Tante Hannchen als Augen im Kopf trug, wurden doppelt so groß, wie sie es noch eben waren.
Was sollte das heißen?! – Ihre Nichte Jettchen zieht am hellen Tage mit einer Mannsperson daher wie ein ganz gewöhnliches Dienstmädchen! Natürlich, – kaum, daß Salomon den Rücken kehrt. Aber sie hätte ihr das immer zugetraut. Jettchen grüßte herüber, und Kößling zog den Hut. Der Weg über Potsdam wäre ihm also noch aus einem anderen Grunde lieber gewesen.
»Jettchen! Na, – Salomon ist heute früh gefahren!« rief Tante Hannchen über die Straße fort, süß wie Honig. Und da Jettchen keine Lust hatte, die Unterhaltung durch das Schallrohr zu fuhren, ging sie über den Damm, vorsichtig von Stein zu Stein tastend. Und Kößling folgte ihr in gemessener Entfernung, Tante Hannchen nebst ihrer ganzen Sippe dorthin wünschend, wo der Pfeffer wächst. Auch murmelte er etwas von der »schönsten aller Stunden« und »dem« trockenen Schleicher, was hier bei Tante Hannchen doch nicht so ganz passen wollte. Er begrüßte die Tante und sagte, daß er eben hier Fräulein Jettchen getroffen hätte.
Aber er hätte sagen können, was er wollte. Kein Demosthenes und kein Cicero hätte die verfahrene Karre aus dem Schmutz gebracht. Darüber belehrte ihn ein Blick der Tante, die dabei von Liebenswürdigkeit überlief wie eine Wassertine unter dem Stadtbrunnen und ihm gar nicht genug über sein göttliches Spiel sagen konnte; den Zusammenstoß von neulich abend schien sie ganz und gar vergessen zu haben.
Jettchen sagte, daß sie sich freue, die Tante zu sehen. So brauche sie sich nicht noch einmal von ihr zu verabschieden. Sie hätte Glück. Herrn Doktor hätte sie auch eben getroffen.
Hannchen konnte sich nicht enthalten, hier über das Glück Jettchens eine spitze Bemerkung zu machen, die Jettchen bewog, dieses Zwiegespräch nicht weiter auszudehnen und sich zu verabschieden, da sie noch viel zu besorgen hätte und wirklich, wirklich – so leid es ihr täte! – keine Minute Zeit mehr hätte.
Und Jettchen und Kößling gingen. Hannchen aber sah ihnen nach – starr – sprachlos. So etwas war ihr noch nicht vorgekommen! Und sowie die beiden verschwunden waren, hinten um eine Straßenbiegung, da erhob sich Tante Hannchen, nahm das Fußkissen unter den Arm und suchte ihren Mann in der Lackiererei und in den Remisen, um ihm das Erlebte brühwarm in reicher Verschnörkelung zu berichten. Und sie war tief verstimmt, als sie hören mußte, Herr Gebert hätte gesagt, er würde auf einem wichtigen Geschäftsgang bis zum Abend abwesend sein. Welcher Art aber dieser Geschäftsgang war, darüber konnte niemand Auskunft geben.
Daß Ferdinand Gebert leider gerade an diesem Nachmittag wieder einmal geschäftlich verhindert war und daß so Tante Hannchen mit ihrem Geheimnis sich einige Zeit selbst überlassen blieb, war für Kößling und Jettchen nicht von Vorteil. Denn man mochte alles Schlechte Tante Hannchen nachsagen, – aber eine klassische Zeugin konnte sie niemand schimpfen. Nein, jede Begebenheit veränderte sich in ihrer Phantasie durchaus proportional zu dem Quadrat der zeitlichen Entfernung. Und während sie sogleich diesen Vorgang ungefähr der Wahrheit gemäß berichtet hätte, war anzunehmen, daß sie nach fünf Minuten erzählen würde, daß beide Arm in Arm auf sie zugekommen wären und daß sich hieraus innerhalb der doppelten Zeit Küsse und Liebesbeteuerungen zwischen den beiden Parteien auswachsen würden. Nach weiteren fünf Minuten glaubte Tante Hannchen es sogar selbst und beschwor es mit allen heiligen Eiden. –
Und so war sie, als sie zu ihrer Schwester Rikchen kam, gerade dabei, das, was sie ihr erzählen wollte, zur Hälfte selbst für wahr zu halten. Denn zwischen dem Entschluß und der letzten Ausführung lag ungefähr, aber noch nicht ganz, eine Viertelstunde Zeit.
»Nun, Doktor«, sagte Jettchen und nahm das alte Gespräch wieder auf, »nun wissen Sie, wie ich meine Tage hingebracht habe. – Darf man hören, was Sie getan haben und wie Sie Ihren Wünschen und Hoffnungen eine gute Handbreit näher gekommen sind? Denn Sie haben doch Wünsche und Hoffnungen? Bei Ihnen fließt nicht so ein Tag in den anderen, wie das bei uns Frauen der Fall ist. Erzählen Sie was! Was arbeiten Sie? Was tun Sie? Was treiben Sie? Machen Sie auch Soutacheaufnähungen für Ihre werten Tanten? Sind Sie neulich abend gleich nach Hause gegangen?«
»Nein, gleich nicht; wir sind noch lange Zeit durch die Straßen gegangen, Ihr Onkel und ich. Es war schön, milde und ganz heller Mondschein dabei. Ich weiß gar nicht, wann wir auseinandergekommen sind, und wir haben noch viel gesprochen, allerhand wichtige und ernste Dinge, Fräulein Jettchen, über die man nicht so alle Tage in der Woche redet.«
»Ist das auch etwas für meine Ohren?«
»Ja und nein, Fräulein. Aber eigentlich glaube und hoffe ich, daß Ihnen das Begreifen dafür fehlt. Hören Sie, wir haben von unserer seltsamen Stellung zur Gesellschaft gesprochen, zum Staat, zur Familie, von unserem Unbeteiligtsein an alledem, was die anderen bewegt. Daß wir nicht mit dem Strom schwimmen, davon haben wir gesprochen, und wir haben einander zugestimmt, daß – wie die Dinge liegen – es hienieden besser, reinlicher und einfacher ist, Eckensteher zu sein, als selbst Souverän auf dem Parnaß oder erbberechtigter Thronfolger; – ganz zu schweigen von all den Prinzen aus den Nebenlinien, die nie zur Herrschaft kommen werden, wie wir es sind.
Vielleicht hätte ich von ganz anderen Dingen gesprochen, von denen mir gerade das Herz voll war, von ganz anderen, schöneren und besseren. Von solchen, Fräulein Jettchen, die auch angenehmer zu hören sind; denn an diesem Abend war ich gar nicht in der Laune, mir ernste Gedanken zu machen. Das wäre auch eine schlechte Quittung gewesen über all die Liebenswürdigkeiten, die Sie mir erwiesen haben. Aber Ihr Onkel hatte einmal seinen ernsten Tag; und zum ersten Male sah ich, daß er eigentlich im letzten Grunde nicht mehr ist als andere auch, nämlich ein zerrissener Mensch. Und merkwürdig, ich hatte ihn bisher immer beneidet, weil er keine Geldsorgen hat, weil er älter, reifer ist als ich, weil er ein gutes Wissen sein eigen nennt und ein feines Verständnis; und vor allem, weil ihm das Leben leicht wird, weil ich dachte, daß er es sich am gedeckten Tisch des Lebens wirklich schmecken läßt. Er hätte eigentlich all das nicht sagen sollen, er hat dadurch bei mir verloren, – nicht an Zuneigung, denn solche Gespräche spinnen ein geheimes Band, aber der Nimbus ist dahin. Doch vielleicht ist es unrecht, daß ich überhaupt davon zu Ihnen spreche, aber ich glaube auch nicht, daß ich zu irgend jemand sonst über unsere nächtigen Plaudergänge etwas verlauten ließe; aber jetzt liefern Sie mir das Körbchen aus, denn wem sollten wir wohl noch in die Arme laufen?«
Jettchen reichte ihm das Körbchen nach langem Hin und Her, und Kößling hätte fast die Hand geküßt, die es ihm gab. »Aber Sie wollten mir doch noch sagen, was Sie sonst getrieben haben? Ja, was Sie jetzt arbeiten, was Sie für Aussichten und Hoffnungen haben, oder darf man davon nichts hören?«
»Warum fragen Sie danach, Fräulein Jettchen? Ich freue mich, weil ich Sie getroffen habe; ich danke dem Zufall, der es mal gut mit mir meint, und Sie machen aus meinem Sonntag einen Wochentag.«
»Nun, gar so schlimm –«, warf Jettchen ein.
»Ach, wozu denn von solchen Dingen reden! Sprechen wir von etwas Nettem – von Ihnen – von Ihrem hübschen, neuen Kleid, – von Frau Könnecke, – vom Charlottenburger Schloß, – von kleinen Kindern, – von Wolfgang und Jenny, – der Junge gefällt mir – aber warum von mir, Fräulein Jettchen? Was ist wohl von mir zu sagen. Ich tue das, was wir Schriftsteller eben tun, um zu leben. Ich habe doppelte Buchführung; ich schreibe meine Rezensionen, Musikkritiken und auch meine Erzählungen. Ich arbeite an der ›Biographie‹ mit. Ich habe so meine paar literarischen Steckenpferde, die ich ausreite. – Man findet genug zu tun; und daneben – aber selten – schreibe ich das, was mir Freude macht, was ich will, was ich in mir habe. Es liegt mir nicht mal daran, diese Sachen fertig zu machen, ich mache das ganz für mich. Aber es kommt nicht oft vor, denn unsere Arbeit wird schlecht bezahlt, und wir können nicht wie der Kaufmann durch einen Federstrich, durch eine Transaktion hundert Taler verdienen. Bei mir geht's um Groschen für Groschen, und ein Friedrichsdor ist ein gelbes, rundes Ding, das soundso lange herhalten muß. Aber gerade die verbotene Freude der eigenen Arbeit macht das, was ich mir abtrotze, geheimnisreicher, stärker, inniger, vielleicht auch verträumter, Fräulein. Ja, eigentlich wünsche ich mir auch nichts anderes, ich bin ganz zufrieden so, denn gerade dadurch, daß mir wenig Zeit für mich selbst bleibt, kenne ich nicht die Mutlosigkeit und die Leere und bin davor behütet, ewig auf der Jagd nach meinen Empfindungen zu sein. Ich will nichts anderes. Meinen Sie nicht, daß ich irgendeine Redaktion hier bekommen könnte? Dann habe ich eine Stellung, ein Auskommen und bin brachgelegt – Oder ich könnte vielleicht als Bibliothekar nach Braunschweig kommen oder als Lehrer. Sehen Sie, wenn das mein Endziel wäre, wenn ich diese Dinge wirklich ernst nähme, ich würde schon meinen Weg machen, ich würde schon offene Türen finden. Aber mir liegt nichts daran. Ich halte es für übrig. Ich finde, die Verpflichtungen gegen uns selbst sind bindender. Was habe ich davon, wenn ich wirklich im Monat dreißig Taler mehr verdiene und mich als nützliches Mitglied des Staates in Würde wiege? Es geht auch so. Bisher habe ich mein Zimmer stets bezahlt, mein Essen auch und meinen Schneider beinahe.« All das brachte Kößling langsam und stoßweise hervor und mit verlegenen Pausen zwischen den einzelnen Sätzen.
»Sie sind ein merkwürdiger Mensch. Ich glaube, es gehört Mut dazu, so leben zu wollen.«
»Vielleicht, Fräulein, – ja – sicherlich! – denn es ist alles so aussichtslos heute. Dafür können wir nichts. Wir sind nichts schlechter wie die vor uns; aber sehen Sie auf unsere Schriftsteller, da wird keiner etwas erreichen; vielleicht einer ist heute da, der in die Zukunft weist, und er muß in Paris leben, weil Deutschland kein Boden für ihn ist.
Aber wer wird in fünfzig Jahren noch etwas von Gutzkow wissen und lesen oder von Laube oder von Mündt oder von Halm oder vom Grafen Pückler? Kein Mensch, – höchstens ein paar kritische Maulwürfe. Eigentlich sollte heute nichts geschrieben werden. – Wir sollten vorerst leben, nur leben. Ein Goethe kommt nicht aus unseren Reihen, auch kein graziöser Wieland, auch kein naiver, jungfräulicher Novalis. Wir sind zu zerrissen, zu unruhig. Wir stehen zwischen Tür und Angel; das Alte gehört uns nicht mehr und das Neue noch nicht. Für uns gibt es nur die Zukunft, – und die wird es uns nicht danken.«
»Arbeiten Sie denn auch für politische Zeitungen, Herr Doktor?« fragte Jettchen, denn sie fühlte so etwas, als müsse sie Kößling in das rechte Fahrwasser lenken.
»Politische Zeitungen? – Haben wir doch gar nicht, Fräulein Jettchen. – Das müßten Sie als Nichte des Herrn Jason Gebert doch wissen. Gibt es bei uns denn überhaupt Politik? Ich glaube, dieses alberne Hin und Her, diese Geheimnistuerei, dieses ewige Herumgehen wie die Katze um den heißen Brei nennen Sie so. Lassen Sie irgendeinen Mann heute das aussprechen, was er denkt, und er wird morgen auf der Hausvogtei zu Mittag essen. Nächstens wird noch jeder Druck verboten werden außer dem Staatsanzeiger. Sehen Sie doch unsere Besten, die uns nützen könnten, sie sind alle draußen im Exil. Börne, der Feuerkopf, mußte in der Fremde und in den Sielen sterben. Hier in Berlin politischer Schriftsteller sein, heißt – wie die Dinge heute liegen – Seiltänzer und Feuerfresser oder Selbstmörder sein. Und wozu für eine Sache verbluten, die man doch nicht glaubt? Denn mag es ja brutal klingen: mein Wohl, mein seelisches Wohl ist mir mehr wert als das der Menge. Ich glaube, ich würde mich in einem konstitutionellen Staat wie England genau ebenso glücklich und ebenso unglücklich fühlen wie hier.
Und doch liegt vielleicht etwas darin. Vielleicht wirkt die Freiheit der Bewegung auf uns, und wir werden anders. Sehen Sie, der Deutsche ist ja nie er selbst. Erst ist er Schüler, dann Student, dann Soldat, dann Beamter, Kalkulator, Auskultator, Professor, Lakai oder Kommis, – alles ist er, nur nicht er selbst. Keiner kommt bei uns über die Grenzen seiner Stellung fort. Und darum ist es besser, man hat gar keine. Sie meinen, daß das freventlich wäre. Man müßte an später denken. Weiß Gott, wo wir dann sind, Fräulein Jettchen. Ich habe mir abgewöhnt, auf weiter hinaus als auf acht Tage zu denken. Ich will nur vom Tag leben, und der schenkt mir auch genug. Heute, zum Beispiel, hat er Sie mir entgegengeführt.«
Jettchen sah ihn fast dankbar an, denn es war ihr angenehm zu wissen, daß sie ihm eine Freude gemacht hatte, eine unschuldige Freude mit ihrer einfachen Gegenwart.
»Ich verstehe das wohl, lieber Herr Doktor, aber es ist doch wieder so fremd für mich und so seltsam. Sehen Sie, – bei uns ist das anders. Bei uns kommt keiner los von der Familie, bei uns nicht.« Sie wurde rot vor Erregung. »Keiner kann, wie er will. Jeder wird von allen geschoben und gestoßen im Guten wie im Bösen. Denken Sie an Onkel Jason. Wenn Onkel Jason nichts im Leben erreicht hat bei seinen Gaben, so sind sein Vater, seine Brüder, sein Onkel Eli, die Frauen, alle, alle sind dran schuld. Aber daß Onkel Jason trotzdem immer oben geblieben ist, daß er sich trotzdem nie verloren hat, das ist ebenso ihr Werk. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll. Die Familie hätte heute gewiß fünfzigtausend Taler für Onkel Jason, um Spielschulden zu bezahlen, und dabei hätte sie wieder nicht zweiundeinen halben Silbergroschen, wenn er sich ein Buch kaufen möchte. Und bei mir ist es ähnlich.«
Jettchen biß sich auf die Lippen, als ob sie zu viel gesagt hätte, und schwieg.
»Na, jetzt wollen wir aber wirklich von anderen Dingen reden, erzählen Sie mir von Charlottenburg. Ich möchte mal wieder nach dem Schloßpark fahren. Was muß der jetzt schön sein mit den alten Bäumen und dem Karpfenteich, die so gerade ahnen, daß es Frühling wird. Sind Sie im Schloß gewesen? Nicht – es ist hübsch – die ganze Anlage, die stolze Kuppel mit dem goldenen Gitterchen und der goldenen Puppe oben?«
»Ja, wenn sie zwölf schlagen hört, dreht sie sich um, – – aber nur, wenn sie's hört, Herr Doktor.«
»Haben Sie die vielen chinesischen Porzellanvasen gesehen und die Teller und die Tassen und die Türkennäpfchen und die Figürchen und die fletschenden Ungeheuer aus Porzellan? Aber eine Frau sieht ja so etwas eher als wir. Sind Ihnen auch die Säle in der Erinnerung mit der hohen, eichenen Täfelung, den tiefen Fenstern und den weißen, gewölbten Decken wie ein Winterhimmel? Ich habe immer, wenn ich dort hinauskam, davon geträumt, einmal dort zu leben, aber der Kastellan sagte mir, daß diese Sommerwohnung nicht zu vermieten wäre. Auch hinten in dem Freundschaftstempelchen, in dam Kavalierhaus zwischen den Eiben möchte ich ebenso gern wohnen. Da im Wasser in dem runden, gelben Bau, in dem kleinen Lustschloß, wissen Sie?
Aber während mich in dem Schloß selbst jeder sonst stören würde, während ich da allein sein müßte, hier möchte ich um alles in der Welt nicht allein sein; hier müßte jemand bei mir sein und mir die Einsamkeit ertragen helfen. Irgend etwas Liebes, mit dem ich Tag und Nacht sprechen kann, singen und musizieren und Spazierengehen, und wenn es mir dabei noch gar gut wäre, ich würde nach der ganzen Welt nichts mehr fragen, und ich würde auch den Winter über dort wohnen. Ich möchte es mir nie anders wünschen. – Aber auch da ist nichts zu vermieten – sagte mir der Kastellan –, und dann habe ich immer noch nicht jemand gefunden, die mit mir das Haus teilen würde.«
Jettchen lachte verlegen. »Nun, das Wichtigste ist ja zuerst, daß man Ihnen das Tempelchen vermietet und daß es Ihnen dann auch nicht zu teuer sein wird, – denn sie wissen ja in Charlottenburg gar nicht mehr, was sie für die paar Monate nehmen sollen. – Das andere wäre später zu erwägen, und ich bin sicher, daß Sie es finden werden.«
»Nein, ich glaube, das andere muß das erste sein, denn ich würde nach einer Stunde Alleinsein in dieser lieblichen Einsamkeit vergehen. Aber wir wollen uns lieber nicht um des Kaisers Bart streiten.«
Indes waren sie auf den Marienplatz getreten. Drüben um die Schlächterscharren, um dieses Geschachtel kleiner Holzbauten, das an der Kirchenmauer klebte, drängten sich Frauen und Dienstmädchen. Der lärmende Strom trieb unten im Schatten von Fleischbank zu Fleischbank, während über ihm, über diesem kleinen Hin und Her, unbewegt und ewig schweigsam, der grüne Turm der Kirche gegen den mattblauen Frühlingshimmel wies und seinen von der Sonne vergoldeten Helm auf eine einsame weiße Wolke lehnte.
»Da drüben kaufe ich. – Aber jetzt geben Sie mir den Korb wieder. Ich könnte Bekannte treffen, und die würden sich wundern, warum mein Diener keine Livree trägt.«
Kößling reichte das Körbchen; sie gingen hinüber, mischten sich in das Gewühl und ließen sich von Stand zu Stand schieben. Weiße, dicke Gestalten mit fleischigen, bloßen Armen nahmen fast den ganzen freien Raum in den beengten Buden ein. Es blieb ihnen nur gerade soviel Platz, um mit den Armen zu hantieren, ein halbes Kalb vom Riegel zu nehmen, über den Kopf zu heben und es dann schwer und klatschend auf die Fleischbank fallen zu lassen. Mehr Raum blieb ihnen nicht – denn an den Budenwänden, an den Haken hingen die Reihen; von blutigen Vierteln der Rinder und von ganzen Kälbern mit abgeschlagenen Köpfen; Schafe und Hammel hingen da mit durchschnittenen Kehlen, aus denen langsam Blut sickerte. Und ganze Berge von Tierköpfen waren aufgeschichtet und reichten fast bis zu den braunen und roten Würsten, die von der niederen Decke pendelten.
Es war eine wilde Orgie in Rot, die sich in das dunkle Innere der lichtlosen Buden verlor. Ewig klirrten und knirschten dazu die Beile über den Hauklötzen, von muskelkräftigen Armen geführt, daß man meinte, die Schneide würde tief im Holz steckenbleiben, oder die Messingringe, die den Klotz umspannten, würden zerspringen. Mit roten Fleischstücken schwebten die Messingwaagen blitzend auf und nieder; hier wog jemand eine Kalbskeule an einem Bessemer, sie weit von sich streckend, und hier suchte jemand das Kalbsgeschlinge unter einem Berg von anderen heraus; – und dazu der Lärm – der Lärm, das Durcheinander von Frauenstimmen – und der Staub von den vielen Schuhen und Röcken.
Jettchen wußte schon, wo sie kaufen wollte. Der hatte keine gute Ware, der war zu teuer, der zu unfreundlich, der wog zu knapp, und endlich fand sie ihren Mann, bekam für ein paar Groschen ihre Ware und dazu noch einen schönen Markknochen von dem galanten Schlächter als Zugabe in den Korb geschoben.
»So, damit wären meine Einkäufe erledigt. Wenn der Onkel fort ist, wird bei uns gespart.«
Und sie ließen das Gewühl, schwammen noch ein Stück gegen den Menschenstrom an, zur Unlust derer, die sich ihnen entgegendrängten, und sie stolperten fast über die Straßenjungen, die, nach Abfällen haschend, sich überall zwischen den Füßen der Käufer hindurchwanden. Endlich waren sie froh, wie sie diesem Geruch von Blut, diesem Klappern der Waagen und Gewichte, dem Klirren der Geldstücke, dem Hin und Her von Angebot und Nachfrage, all den Witzen und Redensarten, die aus den Ständen flogen, entronnen waren und auf dem freien Platz standen, wo all das Getön nur noch wie ein Summen zu ihnen drang.
Kößling wandte sich noch einmal um. »Und auch das ist schön, weil es wahr ist. Sehen Sie, Fräulein Jettchen, sehen Sie die Scharren, die sich an der Kirchenwand quetschen wie Pilze, die im Herbst um einen alten Baumstrunk emporgeschossen sind. Lachen Sie, Fräulein, auch das ist schön. Es ist nicht nur lustig – wie Glasbrenner meint –, es ist geradezu schön, weil es Leben ist, heiß und zuckend.«
»Möglich, – aber darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich habe nur immer gedacht, wo ich das beste Fleisch herbekomme.«
Kößling war mißmutig, daß etwas, was ihn beschäftigte – und schon lange und innig beschäftigte –, das ihm eine Lebensfrage schien, so mit einem Wort von jener abgetan wurde; denn er wußte eben nicht, daß dieses eine kühle »Möglich« bei Jettchen eine ganze Kette von Gedanken und Erwägungen nachschleifen würde.
Das enge Netz kleiner Straßen des alten Stadtteils nahm sie wieder auf. Die schmalen, holprigen Steige an den Häusern gestatteten kaum den beiden, nebeneinander zu gehen. Und nun erst die Holzhauer, die auf dem Damm mit ihren Sägeböcken standen und auf ihren Klötzen die zersägten Kloben zerspalteten, sie zwangen Kößling oft genug, als ferner Trabant hinter Jettchen herzuziehen.
Neben den Türen saßen die Bürger mit Frauen und Kindern und sahen aus dem Dunkel der schmalen Gassen über die Dächer von drüben zu dem weißen, lichtstrahlenden Frühlingshimmel. Aus jedem Hausflur kamen andere Gerüche. Hier von frisch gegerbtem Leder und hier von Kattunballen, hier roch es nach Kaffee und Muskat und hier nach Pferdeställen oder Kühen. Und viele der Leute, die da ihre Feierstunde hielten, grüßten Jettchen und sahen ihr und ihrem Begleiter erstaunt nach wie einer Vision.
Der Milchmann stand sogar von seinem Bänkchen auf, zog seine Kappe tief und ehrerbietig und wünschte mit sonorer Stimme Mademoiselle Jettchen – als einer guten Kundin – einen guten Abend. Daß er damit Jettchen zwang, den schmalen Streifen Bürgerweg zu verlassen und sich auf ihren feinen Lackschuhen mitten hinein in die Grundlosigkeit des Dammes zu flüchten, lag nicht in seiner Absicht.
Kößling wollte das Gespräch von vorhin wieder aufnehmen, denn bei diesem Hinterherspazieren, Nebeneinanderstolpern, bei dem Ausweichen und Ausbiegen war nicht viel an ein zusammenhängendes Geplauder zu denken gewesen, und er wollte eben wieder beginnen, als Jettchen angerufen wurde und vor einem Parterrefenster, in das sie gerade gut hineinsah, stehenblieb. Es war Tante Minchen. Sie saß in einem silbergrauen Schlafrock auf einem hohen Stuhl, der auf dem Fenstertritt stand, und blickte freundlich und gutmütig aus ihrem runzeligen Gesicht in die Welt hinaus. Sie hatte neben sich einen hohen Korb mit weißer Wäsche und besserte gerade ein großes Stück aus, das auf ihrem Schoß lag. Die Nadel ruhte nicht, ob sie nun sprach oder die Nachbarschaft beobachtete.
Am anderen Fenster, gleichfalls auf dem Fenstertritt und auf einem hohen Stuhl, saß, ganz wie er auf die Straße ging, in seinem blauen Frack der alte Onkel Eli. Er saß stocksteif, hatte eine Hornbrille auf und las seinen »Beobachter an der Spree«, den er mit beiden Armen weit von sich hielt, – und wenn er las, war alles andere für ihn versunken. Er hörte und sah nichts. Ob Jettchen und Kößling kamen und sonst irgendwer, davon nahm er keine Spur von Notiz.
»Tag, Tante!« rief Jettchen und stellte sich zwischen die geöffneten Fensterflügel, während Kößling etwas zur Seite blieb.
»Ach, Jettchen, was machst du? Komm ein bißchen 'rein! Weißt du was Neues? Wann zieht ihr nach Charlottenburg?«
Etwas Neues wußte Jettchen nicht. Nur, daß sie schon morgen nach Charlottenburg übersiedeln wollten.
»Na, komm 'rein, Jettchen. Herr Doktor kommt mit. Er hat uns sowieso versprochen, uns die Ehre zu schenken.«
Kößling weigerte sich, aber Jettchen sagte, er könne unbesorgt mitkommen.
Es war ein altes Haus, das Onkel Eli und Tante Minchen bewohnten. Es hatte keinen breiten Torweg wie das von Onkel Salomon oder Onkel Ferdinand, sondern als Zugang nur ein kleines, hübsches, eichengeschnitztes Türchen mit lustig geschweiften Füllungen und einem blanken, geschnittenen Schlüsselschild und einem blanken Messinggriff. Das Oberlicht über der Tür war in ein Muster von vielen kleinen Scheibchen geteilt, und rechts und links neben der Tür fielen von oben aus der Urne, die sie bekrönte, zwei graue Tücher herab, Tücher aus Stuck gebildet, mit flatternden Enden und vielen tiefen Falten.
Jettchen öffnete, ging voran, und Kößling folgte zaghaft und beklommen.
Es war ein schmaler, halbdunkler Gang, in den sie traten, und hinten stieg eine Treppe mit steilen Stufen fast gerade zu dem oberen Stockwerk hoch.
Wie kommen die alten Leute da nur herauf und herunter? fragte sich Kößling. Aber da stieß schon Jettchen eine Tür auf, und sie traten ein.
Das Zimmer war hell; es war weiß getüncht, und in der Mitte stand ein Tisch auf krummen Füßen, mit bronzenen Beschlägen – und der war über und über mit eingelegten Blumen verziert. Zwei geschweifte Kommoden, aus denen große Schlüssel ragten, hatten gleichfalls auf jedem Schub ganze Sträuße von Blumen in farbigen Hölzern. Und auf anderen Kommoden an der Wand standen Porzellanfigürchen, kleine und große, – Jagdszenen, Schäferinnen, eine Reifrockdame mit einem Mops auf dem Schoß, eine stürmische Liebesszene und Calas Abschied von seiner Familie, bunte Vögel und kleine Vasen mit rotbrauner Bemalung in ganz willkürlichem und blitzendem Durcheinander. Und dann eine Porzellankuh, eine große, gescheckte Porzellankuh mit einer Fliege auf der Nase, daß es aussah, als ob sie niesen wollte. An der Wand langweilten sich Reihen hochlehniger goldener Stühle, an denen alles vergoldet war, auch das Rohrgeflecht des Sitzes und der Lehne. Eine alte Kristallkrone aber mit breitem, gelbem Bronzereifen, von dem die schlanken Glasperlen herabtropften, schwebte breit und selbstgefällig über dem Ganzen und fing all das Licht, das von den weißen Wänden kam.
An den beiden Fenstern saßen die beiden alten Leute auf erhöhten Tritten auf ihren goldenen Stühlen mit den hohen, breiten Lehnen, – und Kößling kam der Gedanke an Thronsessel.
Jettchen warf Kößling einen Blick zu, der zu sagen schien: Nun, tut es Ihnen leid?
Onkel Eli merkte immer noch nichts, oder er wollte nichts merken. Plötzlich sah er auf.
»Tag, Jettchen! Nu, was is? – Ach, Herr Doktor, es freut mich, daß Sie den Weg hierher gefunden haben ... Sage mal, Minchen, hast du Rosalie Zimmermann gekannt?«
»Woher soll ich Rosalie Zimmermann gekannt haben?« gab Tante Minchen ziemlich indigniert zurück, so, als ob sie eben irgendeine Reiberei mit ihrem alten Freund und Ehegatten gehabt hätte.
»Nun, Minchen, wenn de se nicht gekannt hast«, sagte der Onkel – und man merkte, daß ihm der Schalk im Nacken saß, »so wirst du den Schmerz der trauernden Hinterbliebenen wohl nicht ermessen können. Se is nämlich gestern abend um einhalb sechs gestorben, – hier steht's.«
Jettchen lachte. Aber Tante Minchen hatte heute keinen Sinn für Scherze.
»Na, Herr Doktor«, fuhr Onkel Eli fort, »nehmen Se doch Platz. Hören Se mir zu. Se müssen mer da Bescheid sagen. Hier les' ich eben 'n ›Beobachter‹, ä Sache, daß in Mexiko die Jungens, was nämlich die Jungens sind, de Klapperschlange auf 'n Brett binden und se so lange mit 'ner Peitsche hauen, bis sie sich selbst in 'n Schwanz beißt und daran stirbt. Glauben Sie's? – Jedenfalls is es doch ä gefährliches Spielchen. Und wozu gibt man denn überhaupt ä halbwüchs'gen Kind 'ne Klapperschlange in de Hand? Wozu, Herr Doktor?«
Das wußte Kößling auch nicht.
»Tante, was machst du denn da?« fragte Jettchen, der es peinlich war, daß Tante Minchen die Arbeit nicht beiseite legte.
»De Hemden von deinem Onkel flick' ich – de siehst doch, Schäfchen«, sagte Tante Minchen giftig. »Unglaublich, sage ich dir, was der Mann für Hemden zerreißt! Alle Tage eins.«
»Nu, liebe Mine«, entgegnete Onkel Eli, ohne sich aus seiner Ruhe bringen zu lassen, »ich will der was sagen: da is 's Fenster, wenn's der nich gefällt, schmeiß de Hemden 'raus!«
»Na, hörste, Jettchen? ›rausschmeißen‹ soll ich se, de guten Leinenhemden. Wirklich, dein Onkel – er wird alle Tage komischer! Ich sage der, Jettchen, es is schon gar nicht mehr mit 'm auszuhalten, und manche Tage is er so taub, daß man sich rein de Galle mit ihm ausschreien kann!«
Jettchen beschwichtigte, und auch der Onkel ging nicht auf den Disput ein, sondern wandte sich an Kößling.
»Herr Dokter, haben Se schon das Neueste gehört? Es wird wohl Krieg geben!«
Jettchen fuhr zusammen. Das Wort Krieg hatte für sie einen messerscharfen Klang.
»Nu, Jettchen«, sagte der Onkel, der heute seinen lustigen Tag hatte, »genau weiß man es ja noch nich, – aber man fürchtet doch, daß sich Rußland und Frankreich wegen de Taglioni 'n Krieg erklären werden. Denn de Taglioni soll doch in Paris und Petersburg zugleich auftreten – und se weiß noch nich, wie se's meglich machen wird!«
Kößling und Jettchen lachten, und auch Tante Minchen nickte gnädig, denn sie war immerhin stolz darauf, einen Mann zu haben, dessen Worte Beifall fanden.
»Na, Onkel«, sagte Jettchen, »du bist doch heute so vergnügt?«
»Warum soll ich's nicht sein, Jettchen? Man kann nie wissen, wie lang ich's noch sein kann. Denn ich muß der das eine leider doch mal sagen: mit 's Ballettanzen will's bei mir nich mehr recht gehen un mit 's Turnen schon gar nich!«
Kößling blickte indes interessiert zu den Möbeln hinüber.
»Gefallen se Ihnen, Herr Doktor, de Möbeln? Ich weiß nich, es ist doch was anders als de steifen Stühlchen von heute! Sehn Se, wie die gearbeitet sind. Die sind alle über fünfzig Jahr alt, und dabei is noch nicht ein Tippchen von de Vergoldung abgesprungen. Hier im Schloß haben Se dieselben Stühle. Die haben damals viel Geld gekostet – ich glaube, der Stuhl fünfzehn Taler, oder vielleicht sogar noch mehr. Ich muß mal nachsehn. Ich hab's noch aufgeschrieben. Heute könnt' ich se mer nich mehr kaufen. Was meinen Se, Herr Dokter, habe ich besessen? – Dreimalhunderttausend Taler reichen nich! Ich hab viel in de Kriege verloren – sehr viel, und de Franzosen haben mir's genommen! Nu, davon krieg' ich nicht ein Achtgroschenstück wieder. Und ich sage mir, wenn ich wirklich all das Geld noch hätte – was dann? Und für wen vielleicht? Mehr wie sattessen kann ich mich doch auch nich, und heut zu Mittag hat's bei uns sogar sehr gut gegeben. – Da müssen Se meine Frau kennen... Natürlich so 'n Glück wie mein Neffe Salomon hab' ich nich gehabt; der braucht bloß 'n Achtgroschenstück in de Hand zu nehmen, da is es schon ä Taler! Ich bin eigentlich immer, wenn ich mer de Sach jetzt überlege, immer bin ich ä Posttag zu spät gekommen.«
Minchen schüttelte unwillig ihren alten Kopf, daß die puffige Tüllhaube hin und her flog.
»Was schüttelste mit 'n Kopp, Minchen? Es is doch keine Schande, mal Geld gehabt zu haben! –«
»Sage mal, Jettchen«, fiel Minchen ein, die fürchtete, daß der Onkel noch mehr ausplaudern würde. – »Sagen Sie, Herr Doktor, was kann ich Ihnen geben? – Ich habe da noch sehr gute Mürbekuchen« – bei dem Wort Mürbekuchen horchte Onkel Eli auf. »Nu gib schon!« sagte er – »und vorzügliche Hagebutten und einen ›grünen Jäger‹ – wie Rosenwasser! Er ist nich die Spur scharf!«
Aber Jettchen sagte, daß sie jetzt vor Abend nicht essen und am wenigsten einen »grünen Jäger« trinken wolle, und Kößling schloß sich dem an. Onkel Eli war ungehalten.
»Man fragt nich, – man gibt!«
Aber Tante Minchen achtete nicht auf seine Einwendung. Ihr genügte die Ablehnung.
»Sage mal, Jettchen, wenn de schon nichts nimmst, geh doch mal rein hinten ins Zimmer; dein Onkel hat mir nämlich 'n neuen Lehnstuhl geschenkt – versuch 'n mal, – ich glaube, da schläft sich's göttlich drin.«
Jettchen fürchtete die Zeit zu verschlafen und schob das Ausprobieren des neuen Lehnstuhls für später einmal auf. Wenn sie wieder in Berlin wäre. Oder sie käme ja wohl auch einmal von Charlottenburg herein, und dann würde sie gern ein Stündchen auf dem neuen Lehnstuhl in dämmernder Selbstbeschaulichkeit verbringen.
Die Unterhaltung schien stocken zu wollen, und Kößling war ungeduldig, ob nicht Jettchen aufbrechen würde. Da begann Onkel Eli mit sehr gewichtiger Miene, als ob von dieser Frage Wohl und Wehe abhinge:
»Nu sagen Se, Herr Dokter – was für ä Dokter sind Se eigentlich? Bei Gericht sind Se doch nicht? Und de Menschen verkurieren tun Se doch auch nich? – Also: – was fer ä Dokter sind Sie eigentlich?«
Kößling lachte. »Wie soll ich das erklären? Ich habe als Abschluß meiner Studien hier in Berlin ein Examen gemacht und kann nun den Doktortitel führen – Doctor phil. – Doctor philosophiae.«
»Schön«, sagte Onkel Eli. »Nu sagen Se, entschuldigen Se, daß ich danach frage: aber bringt Ihnen das eigentlich was ein? Ich frag' ja nur so, ich verstehe doch von gelehrten Dingen nichts«, setzte er mit Unschuldsmiene hinzu.
»Ja und nein. Es ist in meinem Beruf eine gute Empfehlung, und mir steht dadurch immer noch ein Rückzug offen. Es ist solche Hintertür für mich. Wenn ich vielleicht bei mir zu Haus eine Anstellung haben wollte, als Lehrer am Gymnasium oder als Bibliothekar, oder wenn ich ein Journal einmal übernehmen will – dazu muß man schon Doktor sein.«
Jetzt saß Jettchen auf Kohlen. Aber Onkel Eli merkte nichts oder wollte nichts merken.
»Nu, entschuldigen Se, Herr Doktor – ich versteh' ja nichts von gelehrten Dingen – aber soweit ich die Sache übersehe, scheint's mir doch eher ä Vordertür für Sie zu sein wie ä Hintertür!«
»Wie man es nehmen will, Herr Gebert.«
Jettchen war aufgestanden. »Lieber Onkel Eli«, sagte sie etwas förmlich, »ich muß jetzt nach Hause. Ich muß noch alles zurechtlegen zu morgen, und Tante läßt sich auch vielmals empfehlen. Sie kommt ja bald mal herein zu euch, oder ihr kommt doch mal heraus? Ecke Berliner und Rosinenstraße bei Frau Könnecke wohnen wir – Könnecke, – vergeßt nicht.«
Auch Kößling verabschiedete sich und schüttelte den beiden Alten die Hand. Eli ließ es sich nicht nehmen, sie bis an die Tür zu bringen. Minchen winkte ihnen aus dem Fenster nach und rief noch hinter Jettchen zehnerlei Aufträge her, bis sie sich überzeugt hatte, daß sie aus Hörweite waren. Dann fiel sie über Onkel Eli her, der ruhig seine Zeitung wieder aufgenommen hatte, und zwar genau an derselben Stelle, wo er vorher aufgehört.
»Ich begreife dich nicht, Eli«, sagte sie so laut wie möglich, damit er sich nicht hinter seine Schwerhörigkeit verschanzen könnte, »wie du den Mann so in Verlegenheit bringen kannst.«
Aber Eli ließ das und alles ruhig über sich ergehen.
»Ich weiß schon, warum ich es getan hab'«, sagte er dann mit der Miene eines Pfiffikus, der etwas ganz besonders Feines im Schilde führte.
»Ich wüßte nicht«, entgegnete Minchen, die ihn sofort verstanden hatte.
»Nu, ich denke mer nur so: es is doch ä hübscher Mensch. Ich wollte mal wissen: was is er denn eigentlich?«
»Gewiß, ein hübscher Mensch, das is er«, bestätigte Minchen.
»Was geht es dich an!« fuhr Onkel Eli sie an. Denn er war mit seinen neunundsiebzig und einem halben Jahr noch eifersüchtig wie ein Türke, und Tante Minchen vergalt Gleiches mit Gleichem.
»Na, das wird man doch wohl noch sagen dürfen«, verteidigte sich Tante Minchen.
»Nu, weißte, und deswegen wollte ich mal so zusehen. Man kann nich wissen, vielleicht is es was für Jettchen! – Was schüttelste mit 'm Kopp, Minchen – immer schüttelste mit 'm Kopp! Warum soll es nichts für Jettchen sein?«
»Ich begreife dich nich, Eli«, sagte nun Minchen mit der Langsamkeit eines Orakels, »wie du nur daran denken kannst. Da muß für Jettchen doch ein andrer kommen. Und was is er denn? – Er schreibt! – Meinst du vielleicht, daß Salomon Jettchen gerade dem geben wird? – Da sind doch schon ganz andre da gewesen, die se gewollt haben. Und denkste, Salomon wird vielleicht Jettchen an 'nen Christen geben? Meinst du, daß der das tun wird?«
»Nu, ich fand nichts dabei, meinetwegen könnt er's«, sagte Onkel Eli und nahm seine Zeitung wieder auf. Ein Zeichen, daß er von jetzt an nicht mehr zu sprechen sei.
Jettchen und Kößling gingen eine Weile nebeneinander her wie zwei Freunde, die über eine Sache nachdenken.
Es begann dunkel zu werden, und die Wände der Häuser hinten über dem Alexanderplatz brannten plötzlich von einem hellen, silberfarbigen Leuchten.
Jettchen waren die Fragen des alten Onkel Eli nicht genehm gewesen, sie empfand sie als eine taktlose Einmischung, und doch war sie wieder Weib genug, um herauszufühlen, in welcher Absicht der Alte diese Fallen gestellt hatte.
Und auch Kößling, der kein Falsch und Hehl kannte und allen Winkelzügen fremd war, hatte empfunden, daß hier irgend etwas vorgegangen war, und hatte trotz aller Freundlichkeit, mit der man ihm entgegengekommen, doch ein leichtes Mißbehagen mit fortgenommen. Aber er wollte nicht mehr daran denken. Er wollte jetzt an ganz etwas anderes denken. Er sah, während er gleichgültige Dinge sprach, Jettchen immer von der Seite an. Er sah auf die Stirn wie Opal, auf den Nasenansatz mit den schweren Brauen, über denen Schatten spielten, von dem herabhängenden Spitzenbesatz der Schute hinübergeweht. Er sah heimlich zu ihren Füßen hinab, die sie mit den grauen, hochhackigen Stiefeletten so leicht und fest zu setzen wußte. Er fühlte den Rhythmus ihrer Bewegungen, während sie neben ihm herschritt. All das, all diese lebendige, augenerfreuende Schönheit wollte er eintrinken in durstigen, langen Zügen; denn wer konnte wissen, wann er sich wieder aus diesem Schönheitsquell erletzen durfte. Wer konnte wissen, wie lange er wieder durch die Wüste seines grauen Alltags wandern mußte, bis er von neuem auf diese lebendige Schönheit träfe! Nein, er wollte von ihr mitnehmen, was das Auge, was der Sinn fassen könnte. Nachher, wenn er allein wäre, oben in seinem Zimmer, wenn er über sein Buch weg sähe nach jener Ecke, wo er sie zu erblicken pflegte, da würde es ja immer noch viel zu gering sein, was er mitgenommen. Und das Bild würde doch mit jenem Hauche von Leben zeigen, der jetzt fast schwer und greifbar zu ihm herüberschlug und ihm den Atem benahm.
Morgen würde sie Berlin verlassen, auf Monate still da draußen wohnen, und er würde nicht einmal mehr die Möglichkeit haben, sie hier zu treffen. Das sagte er sich plötzlich, und es packte ihn und drückte ihn nieder, und es machte ihn müde und seltsam traurig – müde und seltsam traurig, wie es der mattrosa Abendhimmel da oben war mit seinen ganz kleinen grauen Wölkchen, die sich nun langsam in Reihen und Linien weithin über den Himmel aufstellten ... müde und seltsam traurig, wie sich jetzt da hinten am Platz jene Häusergruppe ausnahm, die, von unheimlich rotem Licht überstrahlt, eine magische Felswand, den Blick abschloß. Müde und seltsam traurig... warum nur?
Kößling war sich ja gar nicht klar darüber, ob er Jettchen zugetan, ernstlich zugetan wäre. Er hatte sich das hundertmal zu widerlegen gesucht, in den letzten Nächten, wenn er nicht schlafen konnte; er wußte auch nicht, ob sie klug und angenehm oder liebenswürdig wäre, – er hatte noch gar keine Gedanken daran verschwendet, – es war ihm nur Bedürfnis, Jettchen zu sehen, all ihre Schönheiten in seiner Nähe zu fühlen. Er konnte nicht atmen ohne sie und begriff nicht, wie das Leben ohne sie je möglich gewesen. – Aber er liebte sie nicht. Das hatte er sich gesagt. Er haschte nicht nach Gunstbeweisen, Aussichten und Hoffnungen, er stand als ein Bettler vor ihr, der von ihrer Schönheit ein Almosen erbat, das ihn unendlich reich und sie nicht ärmer machte. Er hatte die ganzen Tage nie darüber nachgedacht, wie und was nun werden sollte. Es sollte auch gar nichts werden, – er wollte Jettchen nur sehen. Und wenn ihm der liebe Gott oben in seinem Himmel eine Luke eingeräumt hätte, von der aus er auf sie und nur auf sie herabsehen könnte, er wäre mäuschenstill Tag und Nacht nicht von der Stelle gewichen und hätte darüber Essen, Trinken und Schlafen vergessen – und morgen würde sie Berlin verlassen auf Monate ...
Aber plötzlich begann Jettchen, die eine Weile ernst neben Kößling hergegangen war, und Kößling erschrak. War das nicht gerade, als ob sie Zuhörerin seines lautlosen Gesprächs gewesen wäre?
»Nun, Herr Doktor«, sagte sie und beugte ihren Kopf so tief hinunter, daß Kößling gar nicht ihr Gesicht sehen konnte, »morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen. Dann werden wir nicht mehr unsere Einkäufe zusammen machen. – Haben Sie schon für den Sommer an irgend etwas gedacht?«
Nein, an was sollte er denn denken? – Er hatte die Tage an gar nichts gedacht, was ihn betraf.
»Nun, ich meinte, ob Sie wohl auch fortgehen.«
In dem Augenblick hämmerte und arbeitete es in Kößling wie in einer Schmiede. Er zog hundert Bilanzen, warf jeden guten Groschen hin und her, den er hatte, hätte und vielleicht bekommen könnte, um sich das zu bestätigen, was er wußte: es ging nicht, er konnte nicht nach Charlottenburg, er war auf Berlin angewiesen. Hier waren seine Quellen. Und wenn er selbst Latein lehren und Musikstunden geben sollte, – aber hier mußte er bleiben. Und er konnte auch nicht zwei Zimmer bezahlen. Herrgott, Herrgott, die lumpigen paar Friedrichsdor!
»Nein, ich habe noch gar nicht über meinen Sommer bestimmt; er wird über mich bestimmen. Aber da Charlottenburg so nahe bei Berlin liegt, daß man in ein und einer halben Stunde hingehen kann, so werde ich mich hüten, Berlin zu verlassen.«
»Nun, dann werde ich Sie ja bald sehen.«
»Und wenn Sie nun nicht da sind, wenn ich Sie nicht treffe?« warf Kößling ein, und man merkte seiner Stimme die Angst an ob des Gedankens, daß eine solche Möglichkeit vielleicht bestehen könnte.
»Warum sollen Sie mich nicht treffen«, sagte Jettchen und lachte, »ich werde nicht viel nach Berlin hineinkommen; aber meine Tante, die wird es nicht drei Tage draußen aushalten. Es ist ihr zu einsam, – sie liebt das nicht. Wenn nicht drüben vor ihrem Fenster die Rollwagen halten und sie die Signaturen auf den Kisten lesen kann, wenn sie nicht sehen kann, ob Jonas Stern mehr oder weniger wegschickt als Salomon Gebert & Co., dann hat das Leben für sie keinen Reiz und keine Triumphe.«
»Dann, wenn Sie gestatten, komme ich hinaus. Und vielleicht sehen wir uns öfter. Denn es ist doch hübsch, wenn man so an einem schönen Frühlingsnachmittag vors Tor geht und hat Zweck und Ziel und weiß, dort, wo man hinkommt, da findet man etwas, das einem Freude macht« – fast hätte er gesagt, »das man lieb hat«, und er war sehr froh, daß er es verschluckt hatte.
Da standen sie wieder an der Ecke Spandauer- und Königstraße. Es war schon ziemlich spät geworden, wenig Fußgänger kamen vorbei, und nur vom Alexanderplatz rasselten drei, vier Wagen in voller Fahrt heran, die reichlich Staub machten.
»Nun muß ich heim. Ich glaube, Onkel Jason wird da sein. Ich habe ihn vorhin schon zweimal verkannt, und dann ist er sicher da. Das trügt nie.«
»O doch – ich habe in letzter Zeit einen Menschen wohl zwanzigmal verkannt und habe ihn doch nicht getroffen.«
»Gar nicht?«
»Ja, endlich doch«, gab Kößling zögernd zu.
»So?« sagte Jettchen etwas schnippisch und sah ihn an, daß Kößling brühsiedeheiß dabei wurde und ihm oben an der Stirn Hunderte von Nadelspitzen aus der Haut fuhren.
Und da waren sie wieder vor Jettchens Haus. Der breite Torweg stand offen wie ein schwarzer Rachen, denn man hatte noch kein Licht auf dem Flur angezündet. Und oben geisterte über den verschwommenen Medaillen mit den Kränzchen die ganze Reihe der breiten und hohen weißen Fensterrahmen, die die dumpfglühenden Augen der gewölbten Scheiben umschlossen.
Aus dem Kontor kamen die Leute, denn bei Salomon Gebert & Co. war Geschäftsschluß. Einer nach dem anderen. Und Jettchen grüßte jeden gleich freundlich. Endlich kam auch der alte Buchhalter, der seit zwei Dezennien in jedem Jahresabschluß schon unter dem Inventar mit aufgeführt wurde, – kam dieser alte, schäbige, verzogene Knaster, brummig und wie ein Biber aus seinem Bau getrottet, machte sich mit großen Schlüsseln an der Tür, die nach dem Geschäft führte, zu schaffen, ehe er herausging, seine Nase hob, nach rechts und links schnoberte und von dannen wackelte, nach der Schönhauser Vorstadt, all wo er ein nettes Häuschen mit einem Garten besaß. Er ging, ohne Jettchen auch nur zu beachten.
»Was hat denn nur dieser Demcke wieder? Was hat er denn? – Da hat es gewiß wieder irgend etwas mit ihm und Onkel Jason gegeben, – so ist es nun gottlob jedes Jahr.« Jettchen trat ein wenig in den Torweg, und Kößling sah ihre helle Gestalt gegen den purpurnen, dunklen Grund, der sich hinter ihr auftat. »Nun muß ich hinauf«, sagte sie. »Ende nächster Woche, denke ich, werden wir so ungefähr draußen in Ordnung sein.«
Und sie hielt Kößling die Hand hin, weich und lässig, die schöne, schlanke und doch fleischige Hand mit den runden, wie gedrechselten Fingern, die aus den durchbrochenen Halbhandschuhen kamen. Und Kößling griff danach, ganz vorsichtig, als ob er fürchte, ihr weh zu tun, hob sie ganz langsam – und Jettchens Arm folgte willenlos. Und er strich nur leise mit den Lippen über die Fingerspitzen hin... er hatte die Empfindung, als ob er ein Blumenblatt streife – so weich schien ihm ihre Hand. Er freute sich nur, daß er mit dem Gesicht nach dem Dunkeln zu stand, denn es brannte und prickelte ihm seltsam in den Augen, und die Winkel waren feucht.
»Adieu, ma belle«, sagte er ganz langsam und tonlos, »adieu, ma chère... oder lassen Sie – darf ich ma belle chérie sagen?«
Jettchen antwortete: »Auf Wiedersehen!«
»Also Sonnabend.«
»Vielleicht.«
»Vielleicht.«
Als Jettchen eine halbe Treppe hoch war, hörte sie noch einmal ganz leise »adieu, ma belle chérie!« Aber sie war sich nicht klar darüber, ob ihr das nur noch in den Ohren klang und Kößling schon fortgegangen war, oder ob er immer noch unten am Torweg stand und das Wort vor sich hinsprach. – Und sie lief eilig hinauf.
Oben auf dem Treppenabsatz fiel ihr ein, daß gewiß Tante Hannchen in der Zwischenzeit dagewesen sei und Bericht über sie und ihren Begleiter erstattet hätte. Und sie nahm sich sogleich vor, allem die Spitze abzubrechen, indem sie als erstes ganz ruhig sagen würde, daß sie Doktor Kößling zufällig getroffen und mit ihm eine Nachmittagsstunde verplaudert hätte. Wenn sie hätte denken können, daß dabei irgend etwas Unpassendes sei, so hätte sie Kößling ja nicht zu Onkel Eli mitgenommen. Außerdem würde sie dann der Tante sagen, daß sie nun alt genug wäre, um zu tun und zu lassen, was sie wollte, und sie wisse schon, was sich schickte.
Als Jettchen oben schellte und die Glocke laut und hell anschlug und sich gar nicht beruhigen wollte, immer noch gluckte und trillerte, hörte sie, während sie heiß und erregt da in der warmen Dunkelheit stand, drinnen sprechen. Richtig, – Onkel Jason war das, und dann Tante Rikchens hoher, langsamer Tonfall. Und dazwischen eine Stimme, die sie nicht kannte: klein, fett, guttural, – eine Stimme, die in Jettchen die unangenehme Vorstellung einer alten, dunklen, rotbraunen Wolldecke hervorrief. Sie wußte selbst nicht, woher. Und sie hörte ihren Namen und dann den Kößlings nennen, konnte aber keinen Zusammenhang verstehen.
Nach einer Weile kam die Tante und öffnete. Jettchen wunderte sich, daß jene ihr neues, halsfreies Kleid trug aus grauem, leichtem Foulard mit schwarzen Punkten, und sie sagte sich, daß es ganz etwas Besonderes geben müsse, was die Tante zu dieser nachmittäglichen Maskerade veranlaßt hätte.
Sie wollte schon sofort nach der ersten Begrüßung beginnen, von Kößling zu erzählen, als die Tante ihr ins Wort fiel.
»Nu rate mal, Jettchen, wer da ist?«
Jettchen riet es nicht. Denn daß Onkel Jason da war, wurde hier nicht für voll genommen.
»Julius! Denke dir, Julius!« haspelte endlich die Tante hervor, in einem Tempo, das Jettchen an ihr nicht gewohnt war.
Wenn Tante Rikchen gesagt hätte, daß Vitzliputzli soeben zu den Irdischen herabgestiegen sei und sie in der Spandauer Straße in höchsteigener Person aufgesucht hätte, so hätte das für Jettchen die gleiche Bedeutung gehabt. Oder mehr. Denn von Vitzliputzli wußte Jettchen wenigstens, daß er eine Gottheit war, die die alten Mexikaner mit blutigen Opfern verehrten; – aber wer Julius war, davon hatte sie keine Ahnung. Und so weit sie auch im Buche ihrer Erinnerungen zurückblätterte, sie fand im Augenblick keinen Julius, dessen Anwesenheit Tante Rikchen so in Entzücken und Erregung versetzen konnte, daß sie darüber die Spitzen in Anbetracht Doktor Kößlings ganz vergessen mochte.
Tante Rikchen merkte wohl, daß für Jettchen dieser Julius eine ziemlich imaginäre Größe war, und sagte wieder in ihrer alten langsamen Weise:
»Nu, Jettchen, du weißt doch, – Julius, der zweite Sohn von meine Schwägerin Täubchen aus Bentschen, du weißt doch, ein Sohn von meinem verstorbenen Bruder Nero! Er war doch mal hier. Du wirst dich schon wundern, wie er sich verändert hat. Du wirst ihn überhaupt gar nicht mehr wiedererkennen!«
Das glaubte Jettchen selbst. Denn es war an die achtzehn bis zwanzig Jahre her, daß Julius nicht in Berlin gewesen, und Jettchen erinnerte sich nicht im geringsten mehr, wie Julius aussah. Sie wußte nicht einmal, ob er die Nase gerade oder quer im Gesicht hatte, – sie wußte nur noch, daß er damals – es war auch in Charlottenburg – sich irgendwie recht unliebsam aufgeführt hatte und deswegen schneller nach Hause gekommen als hergelangt war. Denn der Onkel hatte ihn eines schönen Morgens bei der Hand genommen und das Köfferchen in die andere. Und als man des Mittags nach Julius fragte, sagte der Onkel, daß er schon seit halb elf in der Eilpost säße, die sich in der Richtung nach Posen bewegte, und jetzt also mit Gottes Hilfe wenigstens schon bei Strausberg wäre.
Damals war dieser Julius zwölf Jahre gewesen, und auf Jettchen hatte sein geheimnisreiches Verschwinden mehr als seine Person selbst Eindruck gemacht.
»Jettchen«, begann die Tante, während die in ihr Zimmer ging, um abzulegen, »ich denke, er wird dir gefallen. Ein Gentleman von Kopf bis Fuß. Na, du kommst denn.«
Jettchen hing ihr Spitzentuch seufzend fort und sah sich dabei sehnsüchtig in ihrem Zimmer um. Die Fenster waren offen, die weißen Mullgardinen flatterten hinein, und alles war so still und feierlich. Draußen der Nußbaum vor der Galerie hatte nun schon seine jungen schwärzlichen Blätter entfaltet, und hinter seiner durchlässigen Krone brannte auf dem schrägen, braunen Ziegeldach des Hinterhauses so ein letztes, verirrtes und verspätetes Leuchten von der Sonne, die schon vor einer halben Stunde der Erde Valet gesagt hatte, aber wie ein verliebter Liebhaber in dieser Frühlingszeit sich immer noch nicht von ihr trennen konnte, immer wieder sich im Fortschreiten umdrehte und ihr Kußfinger zuwarf. Und der Widerschein von diesem Leuchten auf dem Ziegeldach erfüllte das ganze Zimmer mit einem geheimnisvollen rötlichen Licht.
Jettchen wäre jetzt so gern eine Weile mit sich allein geblieben; aber da war gerade dieser Julius von Tante Täubchen aus Bentschen gekommen – weiß Gott weshalb –, und sie raffte sich auf und ging hinüber ins Eßzimmer. Denn in der guten Stube war es still geworden.
Tante Rikchen hatte eben die Lampe angezündet. Sonst, wenn sie allein waren, brannte sie nur Lichte.
Jason saß im Lehnstuhl, und der neue Vetter erhob sich vom Sofa und ging auf Jettchen zu, geleitet und behütet von den zärtlichen Blicken Tante Rikchens.
Von dem Gentleman konnte Jettchen an ihm wenig bemerken. Der Vetter – oder es war ja gar nicht ihr Vetter – war klein und fett, wie zusammengehämmert, sah sehr wohl und rot aus und hatte starres, dickes Haar, das sich durchaus nicht an die Schläfen und um den Kopf legen wollte, sondern nach allen Seiten stand wie die Borsten eines wehrhaften Igels. Dabei war er ganz hübsch von Gesicht und hatte kleine lustige Augen, in denen Verschlagenheit lauerte. Seine Hand war klein und breit, und als er sie Jettchen reichte und sie für einen Augenblick in der ihren war, hatte Jettchen die Empfindung, als ob die vordersten Glieder der Finger abgehackt waren, so kurz waren diese. Von einem Gentleman konnte Jettchen wirklich nicht viel an ihm merken. Sein Anzug, die flaschengrüne Farbe, der Schnitt, alles schien ihr altmodisch und bäuerisch. Dieser Westenstoff war unten im Lager längst ausrangiert, und diese Art von Uhrketten mit den Talern und den breiten Silbergliedern trugen immer die Bauern, wenn sie herein zum Markt kamen. Gegenüber Onkel Jason, der fast immer wie ein Stutzer ging, machte er doch eine recht klägliche und kleinstädtische Figur.
Aber endlich, was ging Jettchen überhaupt dieser Vetter Julius Jacoby aus Bentschen an, der nicht einmal ihr richtiger Vetter war?
»Nu, Mademoiselle Jettchen, Sie kennen mich wohl nicht mehr?« sagte Julius Jacoby mit der kleinen, fetten Stimme, die ganz zu seiner Erscheinung paßte.
»O doch, gewiß, – Sie haben sich ja nur wenig verändert«, log Jettchen, trotzdem in ihr auch kein Rest irgendwelcher Erinnerung aufdämmerte.
»Und Sie auch nicht, liebe Kusine, Sie sind noch gerade so hübsch, wie Sie damals waren.«
Ich bin doch gar nicht seine Kusine, was redet er denn da! dachte Jettchen und hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, als ob sie unvermutet an irgendein lebendes, naßkaltes Wesen gestoßen hätte, einen Frosch oder eine Raupe.
»Schade, wirklich schade, daß Ihr Onkel nicht da ist«, sagte der neue Vetter, und man merkte ihm an, daß er das sagte, nur um irgend etwas zu reden.
»Ja, er fehlt uns hier«, meinte Jettchen und rückte sich einen Stuhl zum Tisch, wobei der neue Vetter, der gar kein Vetter war, ihr vergeblich zu helfen versuchte. Und im Augenblick erschien es Jettchen, als ob zwischen der Abwesenheit des Onkels und dem Eintreffen des neuen Vetters, der gar kein Vetter war, irgendein geheimnisvoller Zusammenhang bestände, – irgendeine Intrige, etwas, das sie nicht ahnte und nicht wußte, und das doch drauf und dran war, ihr unangenehm, ihr gefährlich zu werden. Und jenes rätselhafte Gefühl von einer naßkalten Berührung kam wieder über sie und machte sie ordentlich schaudern. »Nun, Onkel Jason, dich habe ich doch so lange nicht gesehen; – du siehst doch so böse aus! Ist dir was?«
»Ach«, sagte Jason und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, »ich halte das wirklich nicht aus, dieser ewige Ärger im Geschäft!«
Jettchen wunderte sich einigermaßen, denn von so langer Dauer konnte doch sein Ärger nicht sein, da Jason erst heute nachmittag zum ersten Male seit einem Jahr unten im Geschäft wieder aufgetaucht war. Aber Jettchen war klug und sagte nichts, trotzdem vielleicht Jason am ehesten für diese Einwendung zugänglich gewesen wäre.
»Aber ich werde es Salomon schreiben, – er muß Demcke kündigen. – Er oder ich! Wir beide können unmöglich auf die Dauer zusammenarbeiten. Ich lasse mir die Bevormundung von diesem Esel nicht gefallen!« Er wandte sich an Julius Jacoby. »Es ist nämlich wirklich ein alter Esel, – so ein Kaufmann alter Schule, – ein Kleinigkeitskrämer und Umstandskommissarius. Jedes Jahr nun gerate ich mit ihm zusammen!«
»Ja«, sagte Julius Jacoby, lehnte sich weit über den Tisch und sprach mit den Händen auf Jason ein. »Sehen Sie, genauso ist es mir mit meinem Prinzipal in Posen auch gegangen, – ganz wie Sie sagen, Herr Gebert, ein Kleinigkeitskrämer und ein Umstandsmensch. Das paßt heute nicht mehr. Und wenn's sein Vater und sein Großvater zehnmal so gemacht haben... Für heute paßt das nicht mehr! – Das hab' ich ihm auch gesagt. Heute muß der Kaufmann ein Weltmann sein; er muß de Politik verfolgen; er muß de Augen aufhaben, und er darf sich nicht um 'ne viertel Elle Gingang zu viel oder zu wenig aufhängen. Wir modernen Kaufleute können das nicht mehr tun; hab' ich da nicht recht, Herr Gebert?«
Jason sah ihn ganz ruhig und erstaunt mit seinen großen grauen Augen an, und nur Jettchen merkte den Nebenklang von Spott und Bitterkeit, wie er ganz langsam antwortete, als ob er jedes Wort noch einmal umdrehen müßte, ehe er es weggab: »Gewiß, wir modernen Kaufleute können uns nicht mehr um eine viertel Elle Gingang aufhängen, – da haben Sie ganz recht, Herr Jacoby.«
»Höre mal, Jason, du wirst doch nicht etwa doch an Salomon schreiben wegen Demcke?« unterbrach Tante Rikchen ängstlich, – »du weißt doch, er soll sich nicht aufregen, hat der Geheimrat gesagt. Und Demcke ist doch auch schon so lange im Geschäft. Laß ihn doch, er wird dich auch lassen.«
»Gerade das ist es eben, liebe Tante Rikchen«, fiel Julius Jacoby in belehrendem Ton ein, »dann nehmen sie sich so viel heraus. Bei uns in Posen war auch ein Buchhalter, der war erst bei dem alten Rosenstein eingetreten und ist dann bei Rosenstein Söhne gewesen. Meinst du, er hat sich vom Prinzipal nachher was sagen lassen?«
Jason sah Jettchen an. Und Jettchen las in dem Blick ganz deutlich: Siehst du, jetzt will er mich fangen, der junge Herr Vetter aus Bentschen, aber ich will ihm schon die Zähne zeigen!
»Nun«, sagte er, »und was werden Sie hier beginnen, Herr Jacoby? Wollen Sie sich hier nur zu Ihrem Vergnügen aufhalten?«
Der neue Vetter wurde etwas verlegen, aber er fand schnell heraus, daß es nichts schade, hier die Karten aufzudecken. »Nein, Herr Gebert. Aber wissen Sie, ein Mensch wie ich kann eben nur in der Großstadt leben und weiterkommen. Ich muß Bewegung haben. Selbst in Posen war mir noch alles zu klein. Ich werde mich voraussichtlich hier selbständig machen. Ich habe auch schon einen Kompagnon in Aussicht, – wir haben seinerzeit in Posen zusammen gelernt: Leder en gros. Ich habe da sehr gute Beziehungen zu Rußland. Ich sage Ihnen, es ist heute viel Geld zu machen mit Leder. Leder ist noch 'ne gute Branche, – nicht so 'runter wie Manufakturwaren und Seidenstoffe!«
»So«, sagte Onkel Jason und schüttelte den Kopf, als bedaure er den unabwendbaren Niedergang der Manufakturwarenbranche auf das tiefste, – »Sie in Posen sind da gewiß besser unterrichtet, als wir es hier sind. Hier meint man nämlich, daß durch den Rückgang des englischen Imports gerade alle Manufakturwaren sich in den letzten Jahren ganz besonders gehoben hätten.«
»Die großen Geschäfte, die großen Geschäfte, gewiß, – das will ich nicht gesagt haben, – die verdienen immer, ganz gleich wie sie hegen. Aber Sie müßten mal draußen so die kleinen Macher hören, wie die heute klagen. Und is nicht Selke & Seligmann – und Selke & Seligmann waren fein, waren sogar pikfein – im vorigen Jahr mit Schuh und Strümpfen pleite gegangen?«
Jettchen war mit ihren Gedanken ganz woanders, war noch bei dem Zusammenräumen ihrer Siebensachen, war schon draußen in Charlottenburg und sah nur alles wie durch Schleier und in weiter Ferne. Sie langweilte dieser Vetter Julius, der eigentlich gar kein Vetter war, dieser kleine, lustige Borstenigel mit seiner schwadronierenden Anpreisung der Lederbranche und seiner Vorzüge. Sie gähnte verstohlen, indem sie sich zum Fenster wandte und nach der blauen Dämmerung draußen blickte. Und sie war froh, als sie hinausgehen konnte, um das Abendbrot vorzubereiten.
Julius sprach indessen weiter. Er blieb in einem Sprechen. Sein Mund mit den festen roten Lippen stand nicht einen Augenblick still. Er sprach von seiner Postfahrt, seiner Reisegesellschaft, wie er mit einem Offizier beinahe zusammengeraten, – er hätte es ihm aber schön gegeben, – von seinem ersten Prinzipal in Bentschen und seinem letzten Prinzipal in Posen, die beide heute reiche Leute wären, wenn sie nur seinen Rat befolgt hätten, – er sprach von seiner Schwester Rosalie und seiner Schwester Blümchen, die doch leider etwas schief war, – er sprach von seinem verstorbenen Vater Nero, der eine blättrige Rose gehabt habe, in die die Betthitze hereingeschlagen wäre; – überhaupt hätte er auch an schlechten Säften gelitten. Und er sprach von seiner Tante Goldine, die unberufen noch ohne Brille die feinsten Kreuzstichmuster sticke. Er sprach vom Theater in Posen, in dem er im verflossenen Winter die »Italienerin in Algier« gehört hätte; und dann wäre er einmal beim Improvisator Langenschwarz gewesen. Man solle nur nicht denken, daß vielleicht Posen gegen Berlin zurück sei.
Jason saß ihm gegenüber, nickte ab und zu bedächtig und beistimmend mit dem Kopf und sah ihm scheinbar interessiert mit seinen grauen Augen nach dem Mund.
Ihn belustigte der neue Vetter Julius mit seiner schnalzenden, kleinstädtischen Selbstgefälligkeit, mit diesem Gemisch von Frechheit, Verschlagenheit und Gutmütigkeit. Er tauchte in diese Flut von Geschwätz hinab wie in ein laues Bad; – angenehm, lässig, ohne zu denken. Er hörte eigentlich kaum, was der andere sprach. Ihn ging das alles nichts an. Er kannte die Menschen nicht, die Zustände nicht, und seine Welt hatte gar nichts mit der jenes da zu tun.
Tante Rikchen lauschte ebenso ziemlich wortlos und bekundete nur hin und wieder durch eine Frage ihren Anteil. Sie fühlte sich endlich – endlich wieder in ihrem Element. Das war doch was anderes wie diese ewigen Geberts, von denen man nie wußte, wie sie es meinten, und ob sie sich nicht eigentlich über einen lustig machten, und die sich über hundert Dinge aufregen konnten, die keinen Menschen etwas angingen: über Politik und Bücher und Theater und Zeitungen, – Sachen, die wirklich keinen Menschen was scherten. Tante Rikchen wurde ganz rot, und ihre kleinen schwarzen Jettknöpfe von Augen begannen ordentlich vor Freude zu leuchten. Auf ihr Fleisch und Blut hielt sie etwas. Und das war doch endlich mal wieder einer von den Ihren. Ganz wie ihr verstorbener Bruder Nero. Sie freute sich wirklich, wie ihr Neffe Julius sich herausgemacht hatte, – weit mehr, als sie es erwartet hatte. Und wie er sich zu benehmen wußte, – der reine Gentleman!
Als Jettchen wiederkam, führte Vetter Julius, der eigentlich gar kein Vetter war, das Wort, – und er behielt es auch. Jason aber war sehr kleinlaut geworden und schüttelte nur hin und wieder den Kopf.
»Weißt du, wenn ich einen beneide, so beneide ich diesen Industrieritter«, tuschelte er Jettchen zu. »Ein lustiger Junge! Ihn plagen weder Skrupel noch Zweifel.«
Jettchen nickte. Sie verglich diese aufdringliche Selbstverherrlichung – denn auf was lief es sonst heraus – mit der Bescheidenheit eines anderen, der in einem Satz mehr sagte, wie dieser kleine Borstenigel da den ganzen Abend über vorbrachte.
»Aber eigentlich müßte man so etwas doch totschlagen«, meinte Jason nach einer Weile ganz leise. »Wirklich, man müßte es tun!« setzte er plötzlich heftig und sehr laut hinzu.
»Was müßte man tun, Jason?« fragte Rikchen erstaunt und ängstlich.
»Salomon wegen Demcke schreiben«, knurrte Jason.
»Ich bitte dich, Jason, fang nichts an, – laß sein! Salomon ärgert sich nur drüber und kann dann die Kur noch mal von vorn beginnen.«
Der neue Vetter Julius merkte gar nichts davon, daß er vielleicht ein wenig zu viel spräche. Er war ganz beseligt, sich reden zu hören, und ihm kam kein Gedanke, daß die anderen für die Intimitäten des Geschäfts, in dem er zuletzt in Posen war, nichts übrig haben könnten. Jedesmal, wenn irgendeiner ganz bescheiden versuchte, das Gespräch auf ein neutrales Gebiet zu spielen, dann saß der neue Vetter Julius doch sofort wieder an seinem Prinzipal in Posen fest wie der Gründling an der Angel. Für irgend etwas, was um ihn vorging, hatte er keinen Sinn. Er wunderte sich nicht über das hübsche Porzellan und das alte Silberzeug, das auf den Tisch kam, nicht über die neuen Stahlstiche von Mandel, die Onkel gekauft hatte, und die ihm Tante zeigte, – er sagte auch nicht, ob Berlin irgendwelchen Eindruck auf ihn gemacht hätte, wie er es fände, – alles, was er hier bisher gesehen und gehört, versank spurlos. Er sprach nur von seinem Prinzipal in Posen, der, wenn er seinen Rat befolgt hätte, heute wirklich und wahrhaftig ein steinreicher Mann wäre.
Jettchen aber konnte nicht begreifen, warum der neue Vetter denn nicht selbst diesen Rat befolgt hätte und ihn aus eitel Gutmütigkeit durchaus anderen überlassen müsse.
Jason saß jetzt wie auf Kohlen, das sah man ihm an. Und wer weiß, was es gegeben hätte – denn er ließ nicht mit sich spaßen –, wenn ihn nicht Tante Rikchens gute Küche milde und versöhnlich gegen alle Unzulänglichkeiten und Fehler seiner Mitmenschen gestimmt hätte.
Tante Rikchen hatte aufgefahren aus den geheimen Gründen ihrer Vorratskammer, was sich nur finden ließ. Und es war geradezu ein Naturwunder zu nennen, daß sie jetzt – Ende April – noch Gänsebrust auf die Tafel brachte, so jung und delikat, als ob man eben den I. November schriebe. Und ebenso war der Räucherlachs frisch wie eine Nuß und hatte nicht den geringsten Stich.
Jason beschäftigte sich eingehend mit der Erschließung dieser seltsamen Phänomene. Und er vergaß darüber ganz seinen Zorn gegen den neuen Vetter Julius, der doch eigentlich gar kein Vetter war.
»Höre mal, Jettchen, was bekomme ich von dir, wenn ich dir eine Freude mache?«
»Was du bekommst, Onkel? – Na, was willst du haben? – Meine Liebe aufs neue? Ist dir das genug?«
»Schön, Jettchen, damit bin ich einverstanden. – Sieh mal drüben auf dem Fensterstock in der Ecke, in dem Papier sind ein paar Bücher für dich. Für stille Vormittage draußen in der Laube in Charlottenburg. Ich habe sie mit derselben Vorsicht zusammengestellt wie deine Tante Rikchen für den neuen Herrn Vetter Julius heute das Abendessen.«
Tante Rikchen wurde rot und zupfte an ihrem Kleid. Das war wieder so eine echt Gebertsche Spitze. Als ob es bei ihr nicht alle Tage so wäre! – Aber sie faßte sich schnell und ließ sich den Ärger nicht merken.
»Nun, Jason, schmeckt es dir nicht auch?« sagte sie mit ausgesuchter Freundlichkeit. Denn Tante Rikchen pflegte desto liebenswürdiger zu werden, je mehr sie etwas wurmte und giftete.
Daß es ihm schmeckte, mußte Jason lachend eingestehen, und somit war er geschlagen.
»Was ist denn, Onkel?« fragte Jettchen. Denn sie wagte nicht, die Bücher an den Abendbrottisch zu holen, weil Onkel Jason wie mit seiner Kleidung auch mit seinen Büchern peinlich eigen war, und wenn er in irgendeinem ein Fleckchen fand oder der Umschlag ein wenig abgestoßen war, so mochte er es nicht eine Stunde mehr vor Augen sehen und gab es fort, an den ersten besten, ganz gleich, wer es sein mochte. Mit der Zeit war er auch dahingekommen, so gut wie gar keine Bücher mehr zu verleihen, und nur bei Jettchen machte er eine Ausnahme, die jene wohl zu schätzen wußte, und deren würdig sich zu zeigen sie bemüht war.
»Eigentlich sollte ich dich damit überraschen, mein Kind; aber da du es bist, so will ich meine Reserve verlassen. Höre:
Laß, o Welt, o laß mich sein,
Lockest nicht mit Liebesgaben,
Laß dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein.
Weißt du, wer das ist? Ich glaube, du hast den Namen noch nicht einmal vernommen, trotzdem das Buch nun schon zwei Jahre alt ist. Die Gedichte sind gerade für deine Laube geschrieben. Im Zimmer darf man sie wohl kaum lesen. – Und dann ist weiter ein kleines Bändchen dabei; das ist auch schon über zwei Jahre alt. Der Inhalt wird dich vielleicht gar nicht interessieren, aber es ist gut, daß du es einmal liest, – es stärkt das Rückgrat; und es ist, denke ich, das schönste Stück Deutsch, das in letzter Zeit geschrieben worden ist. ›Meine Freunde beklagen sich,‹ hebt es an, ›daß ich so selten das Wort ergreife für das taubstumme Vaterland. Ach, sie denken, ich schriebe wie sie mit Tinte und Feder. Aber ich schreibe mit meinem Blut und dem Saft meiner Nerven. Und ich habe nicht immer den Mut, mir diese Qual aufzuerlegen, nicht immer die Kraft, sie zu ertragen.‹«
Jettchen sah einen Augenblick vor sich hin. »Börne? Nicht wahr – Börne?!«
»Gewiß, Jettchen, – wer soll's denn sonst sein? Das hörst du doch gleich. – Und dann habe ich noch die letzten beiden Jahrgänge vom ›Rheinischen Musenalmanach‹ eingepackt mit ein paar Gedichten von Eichendorff, Prutz und Freiligrath darin. Doch das sind nur die leichten, feinen Vorspeisen. Neben ihnen findest du kompaktere Nahrung: die breiten Gänsebrüste« – er wies auf den Tisch – »die großen, fetten Bratenscheiben« – er zeigte auf eine andere Schüssel – »Thackerays ›Vanity fair‹ und Balzacs ›Ballspielende Katze‹. Und als Gegengewicht, als leichtere feinere Nachspeise, wie man sagt, als Magenschluß empfehle ich dir Gaudys ›Venezianische Novellen‹ und Eichendorffs ›Schloß Durande‹.« – Das war die längste Rede, die Onkel Jason an diesem Abend hielt.
»Ich begreife dich nicht«, begann nach einer kleinen Pause Tante Rikchen – sie leitete jede ihrer Reden an Jason so ein, denn eigentlich begriff sie nie, was Jason sagte oder tat, – »nu, meinste denn wirklich, daß Jettchen all das lesen wird? Se wird doch draußen in Charlottenburg was anderes zu tun haben. Und du machst wirklich Jettchen noch ganz dumm mit deinen vielen Büchern!«
»O nein, liebe Tante«, fiel der neue Vetter Julius ein, »das soll man nicht sagen. Warum nicht? Ich lese auch gern, sogar sehr gern. Ich habe früher sehr viel gelesen. Jetzt hab' ich ja nicht so die Zeit; aber ich hab' mir sogar Bücher mitgenommen aus der großen Leihbibliothek bei uns, auf 'm Neuen Markt. Ich kenne den Mann, ich habe sie da billig gekauft. Wissen Sie, Mademoiselle Jettchen, solche, die nicht mehr gelesen werden. Einen halben Koffer habe ich voll davon im Gasthof stehen. Ich bin nämlich hier im ›Goldenen Damhirsch‹ abgestiegen. Ganz gute Bücher von Leibrock und Ritter und Lafontaine noch – alles gute Bücher. Und eine ganze Reihe von den kleinen Vergißmeinnichttaschenbüchern.«
»Ach, die von Clauren?«
»Ich weiß nicht, Herr Gebert, aber der Mann hat sie mir sehr warm empfohlen. Er sagt, sie würden gewiß recht lehrreich und anregend für mich zu lesen sein. Und der muß sie doch kennen. Es ist doch nu mal seine Ware.«
»Gewiß, da hat der Mann Ihnen ganz richtig Bescheid gesagt.«
»Vielleicht, Fräulein, darf ich Ihnen auch mal welche davon nach Charlottenburg hinausbringen. Ich werde die besten aussuchen. – Und was kriege ich denn dafür, Fräulein?«
»Bemühen Sie sich nicht«, sagte Jettchen, und sie war bestrebt, ihren Unmut sich nicht anmerken zu lassen, »aber Sie sehen ja, ich habe fürs erste genug und übergenug zu lesen. Wenn ich an Büchern Mangel habe, werde ich mich an Sie wenden, – und ich will Sie jetzt auch nicht berauben.«
»Aber, Fräulein Jettchen, mir macht's doch nichts aus?! Sie berauben mich gar nicht?! Und ich weiß auch nicht, ob ich jetzt zum Lesen kommen werde?! Ich werde viel zu tun haben, und ein Geschäftsmann kann eben, wenn er selbst wollte, keine Bücher lesen, so gern er mag.«
Onkel Jason begann von neuem, sich mit dem Abendbrot zu beschäftigen, denn das schien ihm die einzige Art zu sein, um seine Tatkraft auf ein anderes Gebiet zu lenken.
»Verzeihe, liebe Tante«, sagte nach einer Weile der neue Vetter Julius, »verzeihe, wenn ich bald weggehe. Aber ich möchte noch 'n bißchen was sehen. Man hat mir in Posen so viel vom Berliner Nachtleben erzählt. Das soll man ja nicht versäumen, hat man mir gesagt. Ich bin ja sonst nich für so was, aber als Fremder möchte ich's mir doch gern mal ansehen. Wo kann man da am besten hingehen, Herr Gebert? Ins Orpheum? Meinen Sie nicht auch, ins Orpheum? – Ich frage nur der Wissenschaft wegen.«
Die Tante sah auf ihren Teller, aber Jettchen lachte ganz unbefangen: »Nun, Onkel Jason?«
»Leider, Herr Jacoby«, und Jason unterbrach mit nachdenklichem Gesicht seine Beschäftigung, »kann ich Ihnen das wirklich nicht sagen, denn das Berliner Nachtleben ist nur für die Fremden da, die aus Posen kommen. Aber – Verzeihung, meine verehrten Damen – der Hausdiener Karl im ›Goldenen Damhirsch‹, der hat, soviel ich weiß, eine gedruckte Liste all der Orte, die man hier besuchen muß, um in Posen davon erzählen zu können. Hat er sie Ihnen noch nicht aufs Zimmer gebracht? – Nein? – Passen Sie auf, Herr Jacoby, Sie werden sie nachher neben Ihrer Unschlittkerze finden. Wenn nicht, dann erinnern Sie ihn nur daran; – er gibt sie Ihnen sicher.«
»Wirklich?« fragte Tante Rikchen ungläubig.
»Ja, weißt du denn das nicht, Rikchen? Und du bist nun schon fast dreißig Jahre in Berlin?!«
»Aber Jason, woher soll ich denn so etwas wissen?!«
»Ja, ich habe aber auch schon davon gehört«, akkompagnierte ein wenig schnippisch Jettchen, die nun mal eine echte Gebert war.
»Ich begreife nicht, wo du so etwas hören kannst, Jettchen. Hier im Hause hörst du doch so etwas gewiß nicht.«
Damit erhob sich der neue Vetter Julius, der ja eigentlich gar kein Vetter war, um sich die Liste vom Hausdiener Karl aus dem »Goldenen Damhirsch« geben zu lassen. Und Jason sprach ihm sein Bedauern aus, daß er schon gehen wollte. Aber Tante Rikchen sagte, daß sie ihn nicht halten möchte, denn ein junger Mann könnte wohl in Berlin – jetzt fühlte sie sich als Großstädterin – amüsantere und anregendere Gesellschaft finden wie die ihre.
Die Tante forderte ihn noch auf, daß er recht bald und recht oft nach Charlottenburg kommen sollte, und nachdem man sich allerseits versichert hatte, daß man von der neuen Bekanntschaft sehr erfreut und befriedigt sei, ging der neue Vetter, und Tante Rikchen gab ihm das Geleit.
»Höre mal, Rikchen, wenn du nicht bald wiederkommst, dann werde ich mich doch genötigt sehen, von dieser Sache Salomon in Kenntnis zu setzen!« rief ihr Jason bedeutungsvoll nach.
Aber Rikchen, die immer noch bei Demcke war, entgegnete: »Ach – laß doch, Jason, du weißt, Salomon ärgert sich, und dann kann er mit der Kur noch mal von vorn anfangen.«
»Nun, Onkel«, begann Jettchen nach einer Weile, legte die Wange gegen die bloßen, aufgestützten Arme und sah Onkel Jason, dem sie gegenüber saß, forschend in die Augen. »Man hat dich sehr vermißt.«
»Du?« meinte Jason. Und innerlich fragte er sich: Woher ist nur das Mädchen heute so schön? Wirklich so seltsam schön heute?
»Ja, Onkel – ich.«
»Nur du? Nur du allein?«
»Nein, noch jemand sonst, Onkel.«
»Ich kann's mir denken. – Tante Hannchen war schon hier, Jettchen.«
»Aber wir haben uns zufällig getroffen. Ganz zufällig – wirklich, Onkel! – Und ich habe mich auch gefreut, mich von Doktor Kößling verabschieden zu können. Denn er hätte uns doch sicher in den nächsten Tagen besucht und dann keinen mehr gefunden. Wir sind sogar nachher einen Augenblick bei Onkel Eli gewesen. Er hat uns hereingerufen, wie wir vorbeikamen.«
Zusammen bei Onkel Eli gewesen? – Der Onkel wußte nicht recht, wie er sich dazu verhalten sollte! Er wollte nicht gern die Angelegenheit aufbauschen und ihr vielleicht dadurch erst in Jettchens Augen eine Bedeutung verleihen, die sie vordem bei ihr nicht hatte – er sah ein, daß das gefährlich sein könnte; aber sie wollte sie ebensowenig als ordnungsmäßig anerkennen. Auch durfte er es nicht mit seinem Gewissen vereinen, eine Sache zu unterstützen, von der er meinte, daß sie zu keinem guten Ende führen möchte. Und endlich schätzte er auch Kößling viel zu sehr, um irgend etwas gegen ihn sagen zu können. All das drängte auf ihn ein, und Jason wurde ganz heiß vor all diesen Bedenken, und er wußte wirklich nicht recht, was er erwidern sollte.
»Ja«, meinte er endlich, »richtig, ich habe Kößling wirklich einige Zeit nicht gesehen.«
»Er ist doch wohl viel jünger als du?«
»Wenigstens fünfzehn Jahr, Jettchen, wenn nicht mehr.«
»Siehst du, das freut mich, daß ihr euch trotzdem so gut versteht; ich finde, das wirft ein gutes Licht auf euch beide.«
»O ja, Jettchen, ich kann dir das nicht so erklären. Ich glaube aber, er wird einmal etwas, etwas ganz Besonderes. Er hat das Zeug dazu. Und selbst wenn er nichts wird – und ist es denn unsere Pflicht, etwas zu werden? –, ich habe ihn gern, weil ich so viel an ihm sehe und wiederfinde, was mal in mir war, ja, weil eigentlich mehr in ihm ist, als je in mir war. Und weil er eine seelische Keuschheit allen Eindrücken gegenüber hat, verstehst du? Weil er eigentlich das reine Kind geblieben ist. Weil alles an ihm vorübergegangen ist und nur seine Haut genetzt hat, – nicht tiefer gedrungen ist. Sieh mal, es ist ein ganz armer Junge gewesen, von irgendeinem Gelbgießer in Braunschweig, – ganz arm, und er hat sich immer in Kreisen bewegt, die über ihm waren. Er hat immer an vollen Schüsseln gesessen und selbst nichts zu essen bekommen, – und auch das hat ihm nichts angehabt. Ich glaube, es geht ihm jetzt gut gegen früher. Und doch weiß ich, daß er manchmal wochenlang schlechter lebt als ein Eckensteher, – vielleicht nur, um sich ein Buch zu kaufen, von dem er glaubt, daß er es haben müßte.«
Jettchen hatte sich bei diesen Worten Jasons weit über den Tisch gelehnt und hörte gespannt zu, als ob sie jeden Satz wiederholen müsse und Strafe bekäme, wenn ihr auch nur ein Prädikat oder Bindewort entfiele.
Da Jason an Jettchens Gesicht erkannte, daß es wohl nicht gerade klug von ihm gewesen, die Ruhmestrompete für Kößling zu blasen, so ging er – wenigstens schon in Gedanken – auf das zweite Thema des Abends über und fragte:
»Nun, Jettchen, wie gefällt er dir? – Nun?«
Jettchen wurde ganz verwirrt, sah auf den Tisch und gab sich alle Mühe, ihr Urteil einfach und unauffällig abzufassen.
»Ich finde ihn sehr bescheiden und liebenswürdig«, brachte sie nach einer Weile hervor.
»Bescheiden und liebenswürdig? – Ein ganz arroganter Esel ist er!«
»Aber Onkel, eben redest du noch so, und jetzt sagst du das von ihm?« Jettchen war aufgebracht, wirklich aufgebracht und sah schön in ihrem Zorn aus.
Charlotte Corday, sagte sich Jason.
»Herrgott, Mädel, wen meinst du denn? – Natürlich Kößling? Kößling – immer Kößling! – Von deinem neuen Vetter rede ich. Wie findest du ihn denn?«
»Ganz gute Mittelware, Onkel. Ich glaube, er wird hier schon als Kaufmann seinen Weg machen.«
»Natürlich wird dieser Junge seinen Weg machen. Das ist es ja eben, was einen so ärgern kann, daß es solch Kerl zu was bringt und nachher wunder glaubt, was er ist! So etwas pflegt mit acht Groschen hierherzukommen und mit vierzig Jahren in der Kutsche zu fahren, – so etwas pflegt sich zu etablieren, reich zu heiraten, und das Geld jungt bei ihm wie die Katzen im Mai. Paß auf, wenn jemand deinen neuen Vetter –«
»Warum denn mein Vetter?«
»Bedaure, es ist dein Vetter! Ich habe gar nichts mit ihm zu tun. Also, wenn heute jemand deinen neuen Vetter fragt, wo er her ist, so sagt er: aus Posen. Nicht wahr? Das sagt er. Ich kenne das. – Und wenn ihn in fünf Jahren jemand fragt, so sagt er zwar, er wäre aus Posen, wäre aber als ganz kleines Kerlchen schon nach Berlin gekommen und erinnere sich nur noch ganz dunkel an seine Vaterstadt. Und wenn man ihn in zehn Jahren fragen wird, so wird er zur Antwort geben, ob man es ihm denn nicht ansieht, daß er Berliner ist. Er kann dann gar nicht mehr begreifen, daß man irgendwo anders geboren sein kann wie in Berlin.«
Jettchen lachte. »Da magst du recht haben, Onkel.«
»Und weißt du, wo er eigentlich her ist? Aus Bentschen! Kennst du Bentschen? Na, ich kenn' es. Du mußt es dir ungefähr so vorstellen: der ganze Ort ist eine Straße, und wenn du hier 'rein kommst, bist du schon wieder beim anderen Ende draußen. Nur eine Gefahr hat's damit: du mußt nämlich in Bentschen de Augen zumachen, wenn du durch de Hauptstraße gehst, ganz feste zu, – sonst stehlen sie dir sicher das Weiße aus den Augen. Die Löwenberger sind Scharlatane gegen die Bentschener. Natürlich, dieser kleine Junge aus Bentschen wird hier seinen Weg machen. So etwas kommt nach Berlin wie die Fliege nach dem Siruptopf.«
Jettchen war nicht ganz der Meinung oder wollte es sich wenigstens nicht eingestehen. Sie nahm den neuen Vetter in Schutz, er könne doch noch werden. Aber da fuhr ihr Jason gehörig über den Mund, – er könne ihr das nicht alles so auseinandersetzen, und er wolle das auch nicht tun, aber er sehe die Sache mit anderen Augen an.
Mitten in diesem erregten Disput kam Tante Rikchen. »Ganz recht, Jason«, sagte sie, wie sie in die Tür trat und dort breit, mit eingestemmten Armen stehenblieb, – »ganz recht, Jason, daß du es Jettchen gegeben hast; so was darf sie nicht tun! Das schickt sich nicht für ein anständiges Mädchen, Jettchen.«
Damit trat die Tante Rikchen in das Zimmer, aber sie war noch nicht am Tisch, da stand Jettchen auf, ging, – was keiner erwartet hatte, wortlos an ihr vorüber, hinaus, ohne auch nur auf Jasons Einwände und der Tante Beschwichtigungen zu achten. Und sie schloß ihre Stube hinter sich, zog den Schlüssel ab und setzte sich im Dunkeln auf den Bettrand. Sie wollte gar nicht weinen, aber die Tränen, große, einzelne Tränen, fielen ihr nur so aus den Augen und schlugen ihr wie warme, schwere Regentropfen auf die Hände. Die Fenster waren offengeblieben, und sie war eingehüllt in die brodelnde, dunkle Nachtluft und in den schweren Duft, der von dem Nußbaum hereinfloß. Das alles, diese Nacht, das Gespräch von vorhin, der Nachmittag mit Kößling machte sie plötzlich so seltsam matt und unglücklich. Und es war ihr, als ob ihre Glieder nicht mehr zusammenhalten wollten, als ob sie nur eine willenlose Masse wäre, und sie weinte und weinte und bemitleidete sich und wußte selbst nicht, weshalb. Endlich stand sie auf und ging ans Fenster. Draußen war eine tiefe, blaue Dunkelheit nun herabgefallen, und nur langsam unterschied das Auge drüben die Dächer und die Krone des Baumes auf dem blauen Grund. Und langsam tauchten noch aus dem schweren Brodem einzelne Sterne auf, die ganz fein wie Nadelstiche da oben flimmerten und zitterten, einmal hier, einmal da. –
Von drinnen war noch keiner gekommen, um Jettchen zurückzuholen. Sie hörte nur immer, daß der Onkel und die Tante miteinander laut und erregt sprachen, ohne daß sie selbst Worte verstehen konnte. Und sie drückte die Stirn gegen die Scheiben und träumte sich alles zusammen, so wie sie es gern mochte und wünschte. Darin war sie von je Meisterin gewesen. Und wenn ihr irgend etwas verquer ging, so entschädigte sie eine Welt des Erträumten und Ersehnten, in der alles so geschah – und noch viel schöner geschah, – als es ihr lieb und genehm war.
Endlich kam der Onkel und pochte an die Tür. Warum sie denn drin im Dunkeln wäre. Er wolle gute Nacht sagen. Und auch die Tante kam mit ihm und entschuldigte sich, sie habe ihr doch gar nichts sagen wollen.
Aber Jettchen wollte sich nicht so verweint zeigen und schloß nicht auf. Sie müsse noch packen, sagte sie und gab sich alle Mühe, daß ihre Stimme heiter und unbefangen klang. Sie hätte es sich dazu schon etwas leicht gemacht, so daß sie sich nicht mehr sehen lassen könnte.
Und dann hörte sie, wie Onkel Jason die Treppe hinuntertappte und die Tante die Sicherung vor die Tür legte.
»Jettchen«, bat wieder die Tante, »mach doch auf.«
Jettchen schlug schnell Feuer, steckte eine Kerze an und öffnete.
Die Tante kam langsam herein, setzte sich auf einen Stuhl und sah unschlüssig zu Jettchen hinüber, die wieder auf dem Bettrand Platz genommen hatte. Daß Jettchen es sich noch keineswegs leicht gemacht hatte, schien sie nicht bemerken zu wollen.
»Nu laß mich 'n bißchen setzen, Jettchen«, begann sie. »Sieh mal, du bist immer gleich so. Ich habe das gar nicht so gemeint. Ich weiß ja, du denkst dir nichts dabei, aber man tut's nicht. Nicht wahr, die Leute sehen dich, und es schad't dir. Du meinst, es schad't dir nicht? Hör' auf mich, es schad't dir doch. Was kommt raus? Klatscherei kommt raus! Und nu sag mir das eine: Was hat es für 'n Zweck? Wozu ist's gut? Und zu welchem Ende soll es führen?«
Tante Rikchen sprach noch langsamer als sonst, und die trostlose Melodik ihrer Worte lullte Jettchen ein, die wie gebannt, wortlos in die flackernde Kerze starrte.
»Ich weiß ja, du hast dir nichts bei gedacht, und du denkst dir jetzt noch nichts bei. Aber wozu? Du hast hier deine Freude an dem Menschen gehabt – gut. Es war nu mal, – nu aber sei auch vernünftig.«
Da Jettchen nichts antwortete – denn sie war eigentlich mit ihren Gedanken ganz woanders –, so nahm Tante Rikchen das als eine Zustimmung, und sie stand auf und ging zu Jettchen und streichelte ihr über die Backen.
»Siehst du, ich weiß doch, du bist vernünftig!«
Jettchen war über die Liebkosung so erstaunt und erfreut, denn sie war solche Gunst von der Tante nicht gewöhnt, daß sie selbst der Tante Hand in die ihre nahm und leise strich und tätschelte. Das tat ihr wohl. Ach Gott, sie fühlte sich plötzlich so klein und kindlich-hilflos.
»Nu, Jettchen, nu packste noch deine Sachen, – willste denn wirklich all die Bücher von Jason mitnehmen? Ich werde auch noch 'n bißchen nach meinem Zeug sehen. Gute Nacht.« Sie drehte sich nochmals um. »Und sieh mal, wir haben doch so lange, wie du hier im Hause bist, Freude an dir gehabt, und wir wollen se doch unberufen haben, so lange bis de mit Gottes Hille als Braut von uns weggehst.«
Jettchen blieb allein. Die letzten Worte hatten sie belehrt, daß die Zärtlichkeit der Tante doch nicht so ganz ohne Grund und ohne Überlegung als Herzensbedürfnis sich ergeben hatte, sondern in kluger Berechnung an die rechte Stelle gesetzt war.
Jetzt war alle Bedrücktheit und Bekümmernis von Jettchen gewichen, war ganz wie weggeblasen. Und Jettchen wurde mit einem Male lustig und trällerte wie ein Vogel auf dem Zweig, während sie die Schübe auf- und zumachte, Filetnetze, Kämme, Nadeln, Haarbänder, Kantentücher, die perlgestickten Ridiküles, die Knicker und die langen Handschuhe, die hochhackigen, grauen Stiefeletten, das Schächtelchen mit Briefbogen, das versilberte Reiseschreibzeug von Onkel Jason, den Achatschmuck – und wer weiß, was noch alles sonst – alles ganz fein säuberlich auf den Tisch ausbreitete. Und sie sang dabei so laut Lieder, die sich eigentlich gar nicht für sie ziemten, wie das von Nante, der seine Uhr aufs Regreßamt trägt, und ›Combin je regrette‹, das sie von Jason gehört hatte – so laut, daß die Tante endlich anklopfte, der Nachtwächter würde heraufkommen, wenn sie nicht bald aufhöre.
Und lange, lange konnte Jettchen nicht einschlafen, und sie war so froh, als ob sich wunder, wunder was ereignet hätte, und immer wieder schickte sie ihre Gedanken fort, und sie ließ sie reich beladen wieder heimkommen.