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Aber man zog ja auch nicht dieser paar Zimmer wegen nach Charlottenburg zu Frau Könnecke, – ausgerechnet zu Frau Könnecke – das war Zugabe, war nur ein menschenwürdiger Unterschlupf für die Nacht und für Regentage. Das Haus stellte auch gar nicht so die Ansprüche, wie sie ein Berliner Haus stellt, das, es mochte noch so klein sein, immer sagte: hier bin ich. Nein, es stand so ganz verloren und verträumt und schweigsam mit seinen zurückgeschlagenen, weißen Jalousien in all dem Grün, das es in einem Ring umschloß. Die Zweige der Linden vor der Tür und die der Kastanien auf dem Hof streckten sich über das Dach fort die Hände entgegen und renkten die grünen Arme nacheinander aus.
Der Hof, der Garten, der tiefe, schmale Hintergarten, das war es, weswegen man hierher kam. Wenn man die paar Holzstufen hinten herunterging, dann war man eigentlich gleich im Garten, denn selbst der Hof mit seinem höckrigen Pflaster war ganz mit Kastanien bestanden, dicken, schwarzen, glatten Stämmen, die schon in geringer Höhe ihre ausladenden Kronen breiteten. Jetzt, als Jettchen herauskam, hatten sie gerade vor wenigen Tagen die braunen, klebrigen Hüllen abgeworfen, aber schon hoben sich die breiten, grünen Finger zur Sonne, und die braunen, steilen Knospenschäfte waren schon besetzt mit weißen Kügelchen, die sich morgen vielleicht zu den weißen Kerzen erschließen konnten, um dann an den langen Frühlingsabenden, bis noch weit in die Dunkelheit hinein, seltsam und träumerisch im Grün zu brennen.
Ganz unmerklich ging dieser Hof in den Garten über. Eine niedere Hecke und man stand mitten im Grün. Da war sogar ein kleiner Hügel, und die Wege kreuzten sich, bildeten Schleifen und Winkel. Drei, vier Lauben gab's im Garten, ganz ummauert von Rotdorn und Faulbaum; Akazien und Ulmen, Eschen und Ahorn schlangen in der Höhe darüber ihre Zweige ineinander. Und sogar Nachtigallen übten ihre Kehlen in dem dicht verwachsenen Buschwerk nach dem Nachbargrundstück zu.
Wenn Jettchen in der Laube saß, kamen die Finken bis auf den Holzboden und pickten in die Fugen; und sowie sie aufsah, stand sicher irgendeine schwarze Drossel auf dem Weg mit einem langen Regenwurm im Schnabel, der sich wand und drehte. Aber die Drossel kümmerte sich nicht darum, stand nur nachdenklich da und machte ein philosophisches Gesicht. Solch ein Garten war das!
Aber nicht genug damit, hinter den hohen Wipfeln, hinter der schattigen Kühle, die nur von einzelnen hellen Flecken durchwirkt war, tat sich der Obstgarten auf mit seinen ganz schmalen Wegen, auf denen Jettchen die Himbeerruten ins Gesicht sahen und die Stachelbeerbüsche nach dem Rock griffen, wo auf den Beeten die Erdbeeren mit saftigen Blättern den Boden überkrochen und zwischen ihnen die alten, knorrigen Stämme der Obstbäume standen, mit rissiger Rinde und quellenden Harztropfen, klein, nieder, gebückt und breit mit zackigen Zweigen, immer von der Sonne übergossen.
Jetzt blühten sie, der Pfirsich war schon fast zu Ende, und seine rosigen Wolken stäubten ab. In den Wegrändern lagen die zarten, rosigen Blütenblättchen in Streifen. Die Kirsche streckte ihre weißen, mannesstarken Arme empor und langte mit ihnen weit und segnend aus; blendend weiß, silbern und rein, rundumsponnen von Blüten die Zweige. Und Pflaume, Apfel und Birne, die begannen erst; weiß und bläulich und mattrosa, zaghaft in zierlichen Pünktchen und Knospen wagten sie sich aus schwarzen Ästen und aus dem spärlichen Grün.
Man konnte in dem Obstgarten Plätzchen finden, wo alles andere draußen versunken war, und wo man nicht mehr ahnte, daß es Häuser gab oder andere grüne Bäume oder Straßen; wo man nur blauen Himmel sah, in den Blütenzweige schnitten und griffen; und wo von allen Lauten dieser Erde nur das Summen der Bienen, der Flügelschlag eines Falters und das Zwitschern eines Meisenpaares im alten Birnbaum übriggeblieben war.
Solch ein Obstgarten war das!
Wenn aber Jettchen bis an sein Ende schritt, dann kam sie an Hecke und Holzzaun, vor denen sich ein Sandweg zog, mit tiefen, ausgefahrenen Gleisen, und drüben lag dann eine andere Welt: die gelben, feuchten Wiesen und die schwarzen, schwergrundigen Felder. Sie zogen sich hin bis zur Spree, die träge in weiten Windungen zwischen Pappelzügen und kleinen Weidenketten, zwischen sumpfigen Niederungen und kleinen Wäldchen dahinglitt, bis sie hinten das Laubmeer des Schloßparkes und die breiten, alten Pappeln des anderen Ufers aufnahmen und den Blicken entrückte.
Da, in diesem Garten, war Jettchen Alleinherrscherin. Dort konnte sie stundenlang auf den Wegen gehen oder in der Holzlaube sitzen, lesen, sticken, nichts tun und Lieder summen; – und nur, wenn ihr die Sonne aufs Buch schien, rückte sie etwas zur Seite. Jettchen wich den Menschen nicht aus, aber sie brauchte sie nicht und befand sich ganz gut ohne sie. Hier war sie völlig ungestört von ihnen, ja selbst vor ihren Lauten sicher. Die Kinder spielten auf dem Hof, und das Buschwerk dämpfte und verschlang ihre Rufe. Frau Könnecke selbst aber betrat den Garten nur ganz früh am Morgen und am Spätnachmittag, um drin zu harken, zu jäten und zu gießen; ja, sie haßte den Garten, weil er ihr Arbeit machte, und für sie war ein blühender Kirschzweig durchaus keine Offenbarung der allgegenwärtigen Schönheit, sondern einzig eine Ernteaussicht und die Anwartschaft auf einen Silbergroschen.
Denn die gute, dicke Frau Könnecke war zwar, wenn man sie hörte, eine Seele von einem Menschenkind, aber in Wahrheit gieprig auf den Pfennig, und sie kratzte und scharrte wie nur eine Henne.
Auch die Tante störte Jettchen nicht in ihrer selbstgewählten Einzelhaft. Sie kam vorerst noch gar nicht in den Garten, trotzdem sie aller Welt von seinen Wunderherrlichkeiten erzählte – sie fuhr an den Vormittagen mit dem Torwagen nach Berlin, so oft es nur ging, denn sie wollte sich schon lange eine neue Enveloppe kaufen und war schon seit Wochen auf der Suche nach diesem Kalb mit fünf Beinen. Da aber der Kreis der Geschäfte Berlins, die sie hierbei noch betreten durfte, ohne sich Unannehmlichkeiten auszusetzen, täglich ein engerer wurde, so war doch immerhin ein Ende ihrer vormittäglichen Stadtreisen abzusehen. Wann aber ihre nachmittäglichen Ausflüge aufhören könnten, darüber gab es nicht einmal Mutmaßungen. Sie pendelte zwischen Muskows Kaffeegarten, dem Türkischen Zelt, der Madame Pauli, ja selbst den Zelten und dem Hofjäger, einzig, um bei einem Strickstrumpf und einer Tasse Kaffee Musik zu hören und Menschen zu sehen. Sie mußte Menschen sehen, recht viele Menschen, Bekannte und Fremde. Sie hielt es keinen Tag aus, ohne nicht wenigstens einmal das Rauschen des Menschenstromes an ihrem Ohr vernommen zu haben, – sie brauchte das. – Und es war ihr Bedürfnis, wenn Jettchen sie begleitete, hinter jedem, der vorüberging, herzureden, seinen Gang, seine Kleidung, sein Vorleben, seine Finanzen einer Kritik zu unterziehen. Sie tat das mit einem redseligen Scharfsinn, der das erstemal belustigte, aber ins Endlose gedehnt zum Sterben langweilte. Aber sobald Jettchen daheim blieb und Tante Rikchen sonst auch niemand hatte, bei dem sie ihre Urteile anbringen konnte, dann behielt sie sie wohl und getreu für sich, und wenn sie dann nach Hause kam, gefüllt bis zum Rand mit Neuigkeiten und kleinen Erlebnissen, dann ruhte sie auch nicht eher, ging nicht eher zu Bett, als bis sie bei Jettchen sich des letzten erdbeerfarbenen Lüsterrocks mit drei breiten, russisch-grünen Volants von Hannchen Simon (die auch etwas Besseres tun könnte) entledigt hatte.
Von Bekannten wurde sie draußen zuerst wenig gestört, denn aus Berlin kam man noch kaum herüber, und für die Sommerwohnungen war es ebenso noch zu früh im Jahr.
Jason ließ sich nicht sehen und schrieb nur manchmal an Jettchen ein paar Zeilen, in denen er seinen unmäßigen Fleiß im Geschäft beteuerte und zugleich andeutete, daß er ja wohl einmal kommen möchte, wenn nicht auch seine freie Zeit so außerordentlich von neuen Studien in Beschlag genommen würde. Welcher Art aber diese seine neuen Studien waren, darin weihte er seine Nichte Jettchen nicht ein.
Der Onkel schrieb aus Karlsbad ganz lustige, lange Briefe in seiner ausgeschriebenen Kaufmannshand mit den schönen s-Zügen, auf die er so stolz war. Er war einer von denen, die sich ganz gaben, sowie sie Briefe schrieben. Hier brach seine alte Natur durch, er war voller Witz, ja fast geistreich, Eigenschaften, die sich im Laufe seiner langen Ehe verflüchtigt hatten oder sich doch nie hervorwagten, wenn seine Frau auch nur dreißig Schritte zu riechen war.
Der Posttag war für die beiden in Charlottenburg ein Freudentag, und Tante Rikchen versäumte nie, am Nachmittag den Brief mitzunehmen, um ihn vielleicht irgendwelchen Bekannten, die ihr in den Wurf liefen, vorzulesen. Denn sie war so, daß sie eben das, was sie im Hause bekrittelte und vernörgelte, draußen über den grünen Klee lobte; – und vielleicht war sie auch in Wahrheit stolz darauf.
Von Tante Minchen und Onkel Eli hörte man nur, daß Minchen sich schon wieder hatte Blutegel setzen lassen und daß Onkel Eli immer schwerhöriger würde, aber dabei still und freudig seinem schweren Geschäft nachginge.
Bei Hannchen wäre alles ruhig; nur daß Wolfgang sehr blaß aussähe und hustete und infolgedessen vielleicht schon jetzt die Sonnabende und Sonntage nach Charlottenburg zu ihnen kommen sollte. Man wollte noch eine Woche abwarten. Für Ferdinand war jetzt Saison, und sie ließ sich gut an.
Der neue Vetter Julius war vom »Damhirsch« bald in die Klosterstraße zu anständigen Leuten gezogen und sah sich von da nach einem geeigneten Lokal für sein zukünftiges Geschäft um, – konnte aber in dem armseligen Berlin keins finden. So lange machte er sich noch ein wenig in der Firma Salomon Gebert & Co. nützlich, und Jason stellte ihm brieflich das Zeugnis eines flinken und umsichtigen Menschen aus, was ja für den neuen Vetter ganz schmeichelhaft war, aber für seine kaufmännische Tüchtigkeit eigentlich gar nichts bewies.
Von Kößling aber hörte Jettchen nichts.
Und draußen kam der Frühling. Die in Berlin sahen ja nur seine Vorposten, seine verirrten Boten, aber die beiden in Charlottenburg hatten ihn ganz, mit jedem Blütenblatt und jedem Lächeln. Und immer, wenn Jettchen meinte, es könnte gar nicht mehr reicher werden, nun wäre es genug der Blüten, – dann hatte er für den nächsten Morgen eine ganze Schürze voll neuer Überraschungen vorbereitet, wie ein aufmerksamer, nimmermüder Liebhaber. Erst hatte es noch kleine blaue Blumen in dem welken Laub im Schatten des Buschwerks gegeben, doch plötzlich waren sie wie weggewischt, und hellgrünes Kraut überwucherte ihre Stätten. Und die paar Flecken weißer Anemonen, die schon rosig erglühten, gleichsam als wäre ihnen die Sonne zu warm, verstoben, – aber dafür rückten die blanken Blättertüten der Maiblumen jeden Tag ein Stückchen höher.
Und kaum, daß die Stachelbeeren ihre kleinen Blütentrauben verloren, da pendelten andere an den Johannisbeeren. Und dann kamen die kleinen roten Geißblattbüsche, und der Flieder, der sich an die Hauswand lehnte, in seinem violetten Rock. Und zwischen ihm – ein paar Tage danach –, gelockt von einer warmen, abendlichen Feuchtigkeit, brachen an den steilen Stämmen des Goldregens die schwankenden, flatternden gelben Fähnchen auf, mit ihren goldigen, hängenden Strahlenbündeln. Und – als ob das noch nicht genug der Farbe, da zündeten die Kastanien auf dem Hof und drüben über dem Haus, über dem schrägen, braunen Ziegeldach, ihre Kerzen an, die bis tief in die Nacht hinein weiß leuchteten, und der Rotdorn im Garten, die alten, gewundenen Stämme dort hinten, wo das Obstland anstieß, – zogen die feurigste Abendwolke vom Himmel, um sich darein zu hüllen.
Jeden Tag kam Neues, und jeden Tag schwand Altes. Es ging ganz unvermerkt, so wie sich ein Gast aus einer reichen Gesellschaft stiehlt und man erst nach Stunden empfindet: Herrgott, er ist schon fortgegangen. Heute dachte man, daß die Fliederbüsche, die ihre Duftwolken in Jettchens Zimmer trieben, ihre letzten Dolden geöffnet hätten, – aber morgen erkannte man, daß sie erst jetzt ganz mit Blüten überpudert waren und gestern nur ein leichtes, blaudurchwirktes Kleid getragen hatten. Und wenn dann fürder die Fliederbüsche auch Hände voll ihrer kleinen, blauen Sterne auf den Weg, den Beischlag, die hölzernen Treppenstufen warfen, sie zeigten keine Verminderung in der Fülle ihrer Blüten; nur daß die Farbe der Büsche langsam von dem tiefen Blau der Veilchen zu dem matten Blaurosa halbverblichener Vergißmeinnicht überging.
Und nach blauen, stillen Tagen zogen Abende herauf – lang und sehnlich. Und die Sonne ging widerwillig nieder, und noch Stunden um Stunden war der Himmel hell und von seltsamen Farbenspielen gemustert. Manchmal war er von langen rosa Wolkenballen überbrückt oder wieder von ganz schmalen Streifen durchquert, die starr und reglos auf der meergrünen Himmelsluft standen, um endlich zu schwinden, sich in Nichts zu lösen – rätselhaft, wie sie gekommen waren. Und in keiner Stunde der Nacht verloren sich – wie nach den schwülen Sommertagen – die Wipfel der Bäume oben in die Finsternis und gingen scheidungslos in das dichte Dunkel über. Nein, – immer wenn Jettchen noch an das Fenster trat, so lag oben über den Kronen wie eine Lichtkante ein seltsames, unbestimmtes Leuchten. Und erst über dem tat sich dann die nächtige Himmelswölbung mit ihren müden, verglühenden Sternen auf.
Und ganz früh, mit der ersten, weißen Helligkeit, lange noch bevor die Sonne selbst kam, wurden in den Bäumen und Hecken die Vögel munter und weckten Jettchen mit dem bunten Getriller ihrer Stimmen. Die Finken vor der Linde und die Drossel, die drüben im Nebengarten auf der Spitze eines schwarzen Lebensbaumes ihren Platz hatte, und der Pirol, der hinten durch die Gärten strich, der Kirschvogel und die Spatzen auf dem Dach und die Stare auf dem Rasen, – sie alle scheuchten in den ersten Wochen mit ihrer ungewohnten Musik vor Tau und Tag, in aller Herrgottsfrühe den Schlummer von Jettchens Augen. Ja, sie machten sogar in den ersten Tagen, daß Jettchen aufstand und sich in ihrer weißen Haube und ihrer weißen Jacke ans Fenster stellte, erfrischt und doch leicht fröstelnd in der feuchtkühlen Morgenluft, die ihr an den bettwarmen Körper schlug; und daß sie lange zuhörte, wie sie alle von hie und da, von hüben und drüben, von den Linden herab, hinten vom Hof aus den Kastanien, aus den Gärten und Büschen her, in all ihren Sprachen und Tonarten sich zuriefen und einander Antwort gaben. Aber später hörte sie dann nur noch ihre Strophen wie halb im Traum, in einem weißen, leichten Schlaf unter dünner Decke. Und dann wunderte sie sich endlich, warum denn die Vögel des Morgens gar nicht mehr singen wollten, so laut wie einst, daß ihr Herz davon erwachte. – Aber da waren schon andere Zeiten ...
Zwei, drei Sonntage kamen und gingen. Sie kamen mit einer friedvollen Morgenstille, die etwas vor den anderen voraus hatte, – man wußte nicht, was. Aber selbst die Tauben, die, auf dem Dach sitzend, ihre Federn glätteten, schienen zu ahnen, daß dieser Tag ein anderer werden sollte wie das Gestern und Vorgestern. Und sie gingen mit einer lärmvollen, staubigen Fülle von Sonntagswanderern und Ausflüglern, die in schier unversiegbarem Strom zurückfluteten nach dem Brandenburger Tor, aus den Gärten und Kaffeelokalen, dem Schloßpark und der Heide. Gigs und Landaulettes, breite Viktorias, Tillburys, Torwagen und Kremser schoben sich langsam in breiter Kette auf der Chaussee vorwärts, in einer stauberfüllten Luft. Und neben ihnen, fast in gleichem Schritt, wogten die bunten Scharen der Fußgänger. Das gab ein Gerufe und ein Gelächter, ein Hinüber und Herüber, und mancher Reiche, der im Wagen fuhr, mußte ein dreistes oder bissiges Wort von den Fußgängern einstecken und dazu noch gute Miene machen. Ganze Gesellschaften sangen neue Gassenhauer, wie das Lied von dem Topf mit Bohnen und dem mit der Brühe, – Männer rauchten lange Virginias, Soldaten zogen in Trupps mit ihren Köchinnen, die in ihren Umschlagtüchern und Schuten es den Damen gleichtaten; Familienmütter schoben Kinderwagen, und der Vater gab sich Mühe, die Mädchen in den faltigen, weitabstehenden Kantenkleidchen mit den Stocklaternen in den vorsichtigen Händen und die Jungen mit den Papierfähnchen in Zug und Ordnung zu halten.
Und das wollte und wollte gar kein Ende nehmen. Bis endlich in den späten Abendstunden der Strom doch schwächer und schwächer wurde und mählich versickerte, – bis endlich die ganze Welt zum paradiesischen Urzustand zurückgekehrt war und einzig zu zweit die Menschheit angetroffen wurde, in Hunderten von Liebespaaren, die unter dem Schutz der Linden entlangzogen.
Jettchen sah ihnen dann vom Fenster aus zu, wie sie das spärliche Licht der Öllampen nach Möglichkeit mieden und sich beeilten, schnell wieder in die purpurne Dunkelheit unterzutauchen, in der sie sich in ihrer zärtlichen Anschmiegung unbehelligt von neugierigen Blicken wähnten.
Und wenn dann endlich, nachdem wieder Ruhe eingezogen, an diesen Sonntagen Jettchen sich ins Bett legte, dann war sie wie zerschlagen und zum Weinen traurig, ohne daß sie sagen konnte, weswegen das wäre.
Sie wollte schon einmal in die Stadt hineingehen, ins Geschäft, um Jason aufzusuchen, und von ihm hoffte sie etwas über Doktor Kößling zu hören. Aber sie fürchtete sich, Jason zu fragen, und sie wußte nicht, ob er ungefragt zuerst von ihm sprechen würde. Und dann hatte Jettchen hier draußen in diesen blühenden Tagen eine so seltsame Schwere umfangen, daß jeder Entschluß gehemmt war. Sie hatte auch keine Sehnsucht nach Berlin; höchstens daß sie mal bis zu den Zelten kam und das Brandenburger Tor fern zwischen den Bäumen erblickte. Sonst ging sie nur zum Schloßpark mit einem Buch und suchte hinten in seltsamen Gedanken das kleine Kavalierhaus, das goldig und verschwiegen zwischen den dunklen Eiben stand. Oder sie wanderte langsam um den Teich herum, rechts und links im Schatten auf den schmalen Wegen, zwischen den Büschen am Ufer entlang. Und sie setzte sich endlich dort, wo die kleine Glocke für die Fische am Gitter hing, auf die Bank, deren Lehne ganz überdeckt war mit Herzen, Buchstaben und Namenszügen. Und Jettchen mochte lesen, was sie wollte, – ihre Gedanken blieben nicht lange dabei, und sie wanderten bald in die Ferne, schweiften hierhin und dorthin, taumelten und flatterten wie die verirrten weißen Falter, die vor ihr in der Sonne über den dunklen Wasserspiegel hinzogen und nur, bevor sie es weitertrieb, irgendeine weiße Hahnenfußblüte umgaukelten, die da mitten in der schwarzen, besonnten Fläche aufblinkte.
Waren das sonnig-schöne, ruhige Tage! Und doch waren sie wieder ganz erfüllt von einer zitternden inneren Erregung. Jettchen erinnerte sich nicht, je solche erlebt zu haben. Alles war anders als sonst. Sie wollte sie oft mit früheren vergleichen, die sie hier verbracht hatte – denn sie war nicht das erstemal hier draußen –, aber sie wußte nichts von ihnen. Es fiel ihr nichts ein. Sie waren in ihrem Gedächtnis wie weggewischt. Und es blieb immer nur der Tag und die gegenwärtige Stunde in ihrem stillen Werden und ihrer verhaltenen, zitternden Erregung...
An einem Vormittag hatte es ein wenig geregnet, in schweren, spärlichen Tropfen aus einer warm-feuchten Luft heraus. Und alles im Garten und auf den Wegen stand und reckte sich in dieser erquicklichen Feuchtigkeit.
Die Tante, die es bei dem Regen nicht in Charlottenburg aushielt, war zu ihrer Schwester Hannchen in die Stadt gefahren. Der eine Kutscher beförderte sie schon billiger, weil sie so oft fuhr, und weil er ihr versicherte, daß er sie sich als Kundin erhalten wolle. Und Jettchen gehörte nun für heute Wohnung und Garten ganz allein.
Sie saß an ihrem Fenster, über den Fliederbüschen, die sie umdufteten, und blickte manchmal auf die tropfenden Linden, von denen noch langsam, nur durch ihre eigene Schwere getrieben, Wasserkügelchen herabrollten und von Ast zu Ast, von Blatt zu Blatt sprangen, um dann klatschend und spritzend in den Sand zu schlagen.
Jettchen arbeitete an einer Perlstickerei für die Vorderwand eines Handtäschchens. Sie war fast damit fertig. In einem Rahmen saß da auf einer Bank eine Schäferin in einem gelben Kleid. Und neben ihr stand ein blauer Schäfer, und hinter ihr war ein runder, grüner Baumkegel. Das war fast alles schon fertig – bis auf den grauen Himmelsgrund. Und nur die rosa Perle für den Mund und die schwarzen für die Augen konnte Jettchen nicht in rechter Größe finden. Und sie stocherte schon seit einer halben Stunde mit einem spitzen Nädelchen in der Pappschachtel herum, die vor ihr auf dem Fensterbrett stand, hob solch ein rosiges oder schwarzes Kügelchen ins Licht und ließ es dann wieder als unwürdig zu seinen Brüdern zurück in die Schachtel gleiten. Und als sie das zehnte Perlchen prüfte und auch das zu groß fand – denn eine Schäferin darf keinen Mund haben wie ein Anreißer oder Marktschreier –, da sah sie zufällig an dem rosigen Glasstückchen vorüber und sah jemand ganz hinten den Weg heraufkommen. Er war noch ganz hinten unter den Bäumen. Und da fiel Jettchen durch eine unvorsichtige Handbewegung der Deckel mit den Perlen herunter, daß sie den Fußboden aussternten und in alle Winkel hüpften. Manche konnten sich gar nicht beruhigen und liefen wie närrisch auf den Dielenfugen hin und her. Und wie Jettchen sich danach bückte, wurde ihr noch heißer, und sie merkte, wie ihr das Blut in die Backen schoß, und da sie nicht rot aussehen mochte, ließ sie die Perlen Perlen sein und stellte sich an das offene Fenster. Und da war Kößling an der Gartentür, schaute mit sehr unsicheren Blicken das Häuschen an und wußte nicht, ob er aufklinken sollte. Er war ganz versonnen, sah rot aus vom Gehen, und Jettchen mußte ihn erst anrufen.
»Ja, Herr Doktor!« rief sie, und sie hatte all ihre Lustigkeit und Festigkeit wieder, »hier ist es wirklich, wo Sie hinwollen, wenn ich nicht irre.«
Herrgott, fuhr Kößling zusammen.
»Ach, da sind Sie ja, Fräulein, ich fürchtete schon immer den ganzen Weg, Sie würden nicht zu Hause sein, Sie würden vielleicht gerade nach Berlin gefahren sein; und ich bin doch sonst wirklich kein Glückspilz.«
»Wollen Sie immer da draußen bleiben, Herr Doktor?«
»Ein bißchen noch; Sie stehen da in einem so hübschen Rahmen von Flieder und Goldregen, Fräulein Jettchen; wir haben zu Hause ein Bild von einem Mädchen, das am Fenster steht und einen Vogel füttert, gerade so sehen Sie da aus; – ich hab's jetzt wieder gesehen!«
»Wann waren Sie denn zu Hause, Herr Doktor?«
»Vor kurzem – erst ein paar Wochen –, ich wollte – na, das sage ich Ihnen nachher. Ist denn Ihre Frau Tante auch da?«
»Die ist in Berlin.«
»Ach, schade!« Das kam ihm von Herzen. »Und wollen Sie dann nicht ein wenig herauskommen? Wir gehen in den Schloßpark zusammen.«
»Warum wollen Sie denn nicht hereinkommen?«
»Ja, meinen Sie, ob ich das darf?«
»Ich werde mit mir zu Rate gehen und diese Frage in Erwägung ziehen. Dieses Zimmer ist mein erlauchtes Reich und wird von Ihnen nicht betreten werden; der Eßsaal gilt als neutraler Boden für kürzeren Aufenthalt; – und der Garten ist dem Schloßpark gleichzustellen. Wenn Sie ihn trotzdem aufsuchen wollen, so werde ich als Führerin dienen, denn ich kenne ihn jetzt in- und auswendig.«
Während sie das sprach, war Kößling in den Garten getreten und stand immer noch schüchtern und schwankend auf den kleinen Holzstufen, die zur Tür führten. Drüben war Frau Könneckes Körperfülle in Fensternähe erschienen, und die Dame drückte neugierig die Nase gegen die Scheiben.
Mit doppeltem Schellengeläut – denn unter der Bohle vor der Tür war eine heimtückische Klingel, und beim Türöffnen gab es gleichfalls ein scharfes Ping, Ping – traten sich innen im Flur, im Halbdunkel, das nur bunte Lichter hinten von den Scheiben her durchkreuzten, Jettchen und Kößling entgegen. Und die ganze gärende Schwüle des regenfeuchten Frühlingsnachmittags war in dem Augenblick durch die geöffnete Tür mit in das stille, kühle Haus gedrungen.
Jettchen reichte Kößling die Hand hin, und keiner wußte recht, womit er beginnen sollte. Und erst das Rascheln am Guckloch der weißen Tür, die zum Reich der Frau Könnecke führte, schreckte beide auf.
»Ich dachte, Sie würden eher kommen.«
»Ach, dachten Sie das? – Ja, ja, ich wollte es ja eigentlich auch, – nicht wahr? Aber wenn ich sogleich kam, dann meinte ich, ich würde stören. Und dann bin ich nach Hause gereist, Hals über Kopf, ganz plötzlich. Ich wollte ja schreiben; – ich habe auch öfter geschrieben, – aber dann habe ich es doch nicht abgeschickt, da ich nicht wußte, ob es Ihnen recht wäre.«
»Warum sollte mir das nicht recht sein?« meinte Jettchen, leicht sich färbend, und sie lächelte dazu ganz leise, so daß Kößling wie gefangen sie anstarrte.
Herrgott, war das Mädchen schön, wie ein Sommertag so anmutig. Das starke Haar trug sie in drei breiten Coiffüren, die Schultern waren frei unter einem durchbrochenen Schaltuch, das mit einem leichten Streifen von Schwan besetzt war, und das Kleid war ganz einfach, eng das Mieder und weit der bauschige Rock, hell Linon mit violetten, schmalen Streifen, die zitternd bei jeder Bewegung Jettchens zu Boden liefen.
»Wohin?« fragte Jettchen. »Wollen Sie eintreten, Herr Doktor, in unsere Sommerresidenz, – oder gehen wir gleich in den Garten?«
»Was ist Ihnen denn lieber, Fräulein Jettchen, ich möchte ja gleich in den Garten.«
»Schön, ich hole mir meine Schute«, sagte Jettchen und ging. Und dann kam sie zurück mit einem Täschchen in der Hand, und den Strohhut hatte sie an den breiten violetten Bindebändern über den Arm gehängt.
»Haben Sie gesehen, wie vorn noch mein Flieder blüht? In der ganzen Straße blüht er nicht mehr so. Des Nachts bei geschlossenen Fenstern macht er noch ordentlich Kopfschmerzen.«
Als sie auf den Hof hinaustraten, klatschte und trommelte es noch von den breiten Kastanienblättern, ganz vereinzelt und still für sich hin, und die Sonne, die eben durchkam, trocknete lachend die Feuchtigkeit auf den blanken Blatträndern.
»Sehen Sie, hier fängt der Garten an, und er geht ganz weit hinter. Hier ist meine Laube. – Wollen wir uns einen Augenblick hinsetzen? Oder nachher? Sie müssen aber erzählen, Herr Doktor!«
Was sollte er denn erzählen, er hatte unterwegs alles gewußt, was er sagen wollte, er hatte den ganzen Weg mit Jettchen gesprochen, im Tiergarten hatte er beinahe einen alten Herrn dabei umgelaufen. Seit Wochen war sie die einzige, mit der er sprach, und jetzt bekam er nicht die Zähne auseinander.
Er hatte gar nicht hierher gehen wollen. Er wollte sie überhaupt nicht mehr sehen; er war nur spazierengegangen, und jetzt war er hier neben ihr im Garten, ganz allein, und nur die Vögel sprachen um sie in den feuchten, glitzernden Büschen.
Er hatte sie nicht mehr sehen wollen; er war schon nach Hause gereist, um dort einmal zu sondieren, ob für ihn Boden wäre, und dann wollte er wiederkommen als ein anderer. Aber es hatte sich nicht so gemacht; er hatte alles vermieden, was an sie erinnerte, er war nicht einmal mit Jason zusammen gewesen, der ihm sogar zweimal Eckensteher mit launig sentimentalen Briefchen gesandt hatte, und doch war sie in jeder Tagesstunde seine einzige Begleiterin gewesen – und nun ging er wirklich wieder neben ihr.
»Nein, erzählen Sie, – dann ich. Was macht Ihr Onkel?«
»Er war in Karlsbad, und es geht ihm wieder recht gut. Heute ist er schon in Leipzig, da hat er noch zu tun. Nächste Woche kommt er wieder. Ich freue mich darauf. Ich kann ja nicht sagen, daß ich mit der Tante schlecht stehe, aber ich fühle mich zum Onkel mehr hingezogen. Frauen haben eigentlich immer zu viel schlechte Eigenschaften.«
»Das kann ich nicht finden!«
»Doch, doch, sie haben sie. Im Grunde, glaube ich, sind sie schlechter von Gemüt als die Männer.«
»Aber Sie nicht!« sagte Kößling mit einem Ton, als ob er auf das Testament schwören müsse.
»Warum soll ich denn gerade anders sein wie die anderen, Herr Doktor?«
»Das weiß ich nicht, Fräulein Jettchen. Ich denke auch gar nicht darüber nach; ich weiß nur, daß Sie es sind. Jedes Wunder verliert, wenn man darüber nachdenkt; man muß es eben hinnehmen.«
Der Ernst, mit dem Kößling das vorbrachte, wirkte auf Jettchen erheiternd.
»Nein, Sie lachen nun; aber sehen Sie, wenn ich nicht der festen Meinung wäre, daß Sie –«, hier stockte er.
»Was dann?«
Aber Kößling war nicht zu bewegen, seine Gedanken weiter verlautbaren zu lassen, und so gingen sie beide eine kleine Weile schweigend im Rund der Wege unter den tropfenden Bäumen hin, die in breiten Flecken die grelle, leckende Sonne fingen.
Es ging auf Nachmittag, und die Vögel wurden wieder laut. Auf kleinen Rasenflecken und im feuchten, welken Laub unter Büschen scharrten die Drosseln nach Würmern, die sich reichlich aus dem nassen Boden hervorwagten, und die schwarzen, großen Vögel unterbrachen nur ihre Tätigkeit, um den beiden halb mißtrauisch, halb ärgerlich nachzublicken, warum sie kämen, sie zu stören.
Der Regen hatte ein ganzes Gestöber von weißen Akazienblüten abgeschlagen und sie in den Wegrändern zu breiten Schaumkanten zusammengetrieben, und nun, wo das Wasser von dem durstigen Erdreich aufgetrunken war, lagen sie da und hielten noch Tropfen in ihren Kelchen. Und immer wieder stäubten neue hinzu, in die Büsche, auf den Rasen, über den Weg hin wie Silberfunken, die von einem fernen Feuerwerk herübergeweht wurden.
Wenn man hochblickte, so schwammen – wie weiße Wolken zwischen dem Grün der Linden und Ulmen – die blütenschweren, weißen Gipfel der Akazienbäume in einem Himmel von unerhört klarem und lichtem Blau; eben jenem reinen Lichtblau, das nur so ein später Frühlingsnachmittag haben kann, nachdem der Regen Himmel und Erde gewaschen hat.
Jettchen und Kößling traten nebeneinander unter den hohen Bäumen hervor, in das Obstland hinaus, dessen weiße und rosige Lasten schon längst übergrünt waren vom blanken Laub, und einzig ein alter Birnbaum hatte noch im Blattwerk einige späte silberne Kugeln. Dafür aber war der ganze Boden jetzt weiß besternt von Erdbeerblüten, die mit blanken Augen ins Blaue sahen – und sie waren ebenso weiß wie die paar seltsam geballten Wattewolken da oben, die ganz durchleuchtet in schöner Unbekümmertheit dahintrieben.
Die Wege waren schmal zwischen den Beeten, und Jettchen und Kößling mußten hintereinanderher gehen. Die Stachelbeerbüsche und die schwankenden, wippenden Himbeerstauden griffen nach Jettchens Röcken, und sie nahm sie eng um die Knöchel zusammen. Kößling ging hinter ihr, dicht hinter ihr, und durch die durchbrochenen Kanten des Schals sah er, – in feine, rosige Felderchen geteilt, die breiten, königlichen Schultern und den Halsansatz von Jettchen, und er konnte die Augen von diesen hellen Mustern nicht abwenden, und das atmende, perlmutterkühle Fleisch schien ihm verwandt mit den stolzen Blütenblättern an den geschwungenen Zweigen des Birnbaums.
Diese schlanke, frische Schönheit war ihm hier in dem Garten und dem Frühlingstag erst ganz sie selbst. Jeder Baum, jeder Busch, das Gitter, die efeugepolsterte Mauer nach dem Nebengarten, die Tiefen des Laubdunkels und die Fernen mit den Baumketten hinter gelben Wiesen, alles war nur geschaffen, um Jettchen Folie zu geben, die so stolz, so leichtfüßig und so voraussetzungslos in ihrem hellen Kleid einherschritt, – den Kopf ein wenig ins Genick gelegt, wie das alle Geberts taten. Kößling hatte schon einmal im Gehen nach ihrer Hand gehascht – er wußte selbst nicht, wie er dazu kam –, aber sie hatte sie ihm wieder entzogen.
Wovon sprachen sie denn? Von gar nichts. Von den Erdbeeren und Stachelbeeren, und ob sie bald reif würden. Sie waren glücklich, einander die gelben und schwarzen Fliegen zu zeigen, die still und schwirrend in der Luft über den Himbeerbüschen standen. Jettchen sagte, daß hier hinten im Sommer Stockrosen blühen würden, Amarant, Georginen, Jalappen und Lobelien, – sie hätte sich danach erkundigt; und daß diese feine weiße Wolle, die so still und selig jetzt durch die Luft zog, von der großen Pappel mit dem blitztoten Zweig wäre, die da hinten stände; und daß des Abends hier alles mögliche dufte und leuchte, ganz unheimlich – sie wisse gar nicht, was das alles wäre.
Und Kößling fing an zu sprechen. Lang und heiß. Und mit der Zeit wurde Jettchen immer stiller.
Er sprach zuerst von seiner Reise, und wie er zu Hause alles so verändert gefunden. Die Schwestern sind groß geworden, dienen oder sind verheiratet. Die Brüder sind Handwerker, und sie hätten ihn über die Achsel angesehen, weil er nicht so viel verdiene wie sie. Besonders dem einen ginge es sehr gut. Die Stadt wäre schön und alt und träumerisch am hellen Tag, das habe er jetzt empfunden; ein rechter Poetenwinkel. Alles wäre so still und zehre nur von dem Einst. Aber er könne dort noch nicht leben, er möchte jetzt nach Paris, er brauche das Rollen, er brauche viele Menschen, Meinungen, Werden und Zusammenstöße.
Später einmal wolle er dorthin gehen. Wenn er nur von seinen Zinsen zu leben brauche. Heute müsse er ans Kapital greifen. Er würde zu Hause verarmen. Er rede natürlich nicht von Geld, aber er müsse erst einmal draußen im Leben recht kochen. Er möchte erst einmal wissen, was er eigentlich hier soll – denn offen gestanden, er könne sich nicht zurechtfinden.
Vielleicht sei es immer so hier, und vielleicht hätte es noch kein Mensch gewußt, wozu er eigentlich in diesem Karneval mitspiele.
Manchmal glaube er, daß er dazu auf der Welt sei, um sich ein wenig umzusehen, ein paar Verse zu schreiben und ein paar Geschichten zu plaudern. Aber dann komme ihm wieder all das so nichtig vor, und es schiene ihm, als ob sein Leben der Allgemeinheit gehören müsse. Und dann denke er wieder, daß das alles nur ein Reiten gegen Windmühlen sei und daß er dazu ausersehen sei, der Schönheit zu dienen und zu sehen, wo er sie träfe.
Er wäre jetzt so einsam – so furchtbar einsam –, tagaus, tagein, – nur mit sich selbst. Er glaube, er spräche immer mit sich ganz laut. Und er fühle sich nicht schlecht dabei. Er träume den ganzen Tag alle möglichen Geschichten, und vielleicht würde er auch bald solche schreiben. Welche wären sehr schön und welche sehr grausig. So, wie sie im stillen Zimmer in der Einsamkeit entstehen. Man könnte fast an Hoffmann denken. Da wäre eine Geschichte von einem Mann, der nach Hause kommt und Licht anmacht, weil es ihm unheimlich ist, und wie er an sein Bett geht, da scheint es ihm, als ob er da schon drin liegt. Und wie er hineinleuchtet, da liegt auf dem Bettkissen sein Kopf. Aber ganz allein, ohne den Körper. Nur sein Kopf. Und seine eigenen Augen sehen ihn an und blinzeln so seltsam in die grelle Kerze hinein. Und er bekommt eine furchtbare Angst, daß es aufkommen könnte, daß er sich den Kopf abgeschnitten habe, und er nimmt seinen eigenen Kopf bei den Haaren und trägt ihn in einen Winkel seines Schrankes. Und am nächsten Morgen – aber ich will Ihnen eine andere Geschichte erzählen, die ich schreiben will, – etwas unerhört Schönes. Eine Liebesgeschichte, die in einem großen Garten spielen soll, – von zwei Menschen, die einen ganzen Sommer verträumen und gar nicht merken, daß sie alt werden, daß dieser Sommer ihr ganzes Leben gewesen ist. Die ganze Geschichte soll süß sein und nach Lindenblüten duften. Und Verse sollen darin singen, wie die Bäume hier rauschen. Ein alter Garten soll das sein, mit Steinfiguren in Buchsbaumnischen und einem kleinen Häuschen mit einer goldenen Kuppel, die man kaum sehen kann vor Grün der Bäume, die um sie her die Wache halten. Und die Tulpen sollen da das ganze Jahr über blühen.
»Und dann will ich einen Roman schreiben, – einen großen Roman. Der soll bei Borsig spielen. Unter den Arbeitern der Eisengießerei. Und durch das ganze Buch soll immer das dröhnende Hämmern erklingen auf den riesigen, gewalzten Platten.
Das sind so Pläne, Fräulein Jettchen. Was liegt an ihnen! Vielleicht ist das eine Narrheit, und man sollte das Leben anders packen. Aber ich weiß nicht, wie ich's soll. Ich bin doch Lehrer gewesen, ich habe sogar junge Herren zum Doktorexamen gedrillt, – und es macht mir keine Freude mehr. Ich tue es mit Widerwillen. Ich könnte ja auch zu Hause unterrichten, sie haben mich schon zweimal aufgefordert. Jetzt wieder. Sie wollen sich meine Kraft nicht entgehen lassen, schreiben sie, – sie stellen mir eine Karriere in Aussicht, wollen mich einspannen. Aber ich wüßte nicht, was ich den Jungen sagen sollte. Ich halte das alles für so selbstverständlich und eigentlich für so wenig wissenswert. Sie mögen recht haben zu Hause, daß ich entwurzelt bin; denn sie messen nur nach dem Erfolg. Und die Menschen sind so, daß sie sich beleidigt fühlen, wenn man nicht das erfüllt, was sie erwarten. Ebenso wie sie meinen, daß alles, was wir machen, nur ihr Werk ist. Ich hätte längst klein beigegeben und wäre untergekrochen, wenn ich nicht eigentlich wenig forderte und das Wenige schon immer so oder so zusammenbrächte. Aber ein Mensch, der seine Jugend, seine ganze Jugend hier und da – und da – an knappen Freitischen gesessen hat, – drei-, viermal die Woche, – und sonst gar nichts zu Mittag bekommen hat, der hat es sich abgewöhnt, sich durch die Aussicht auf den täglichen Rinderbraten locken zu lassen.
Natürlich, wenn ich aus reichem Hause wäre, könnte ich solch Leben, wie ich es geführt habe, auf die Dauer nicht ertragen. Und doch muß ich manchmal mit Angst denken, daß man nicht immer jung bleibt und daß man im Alter eine warme Stube haben will.
Noch ist ja die ganze Welt voll von Schönheiten, und kein Morgen kommt, der mir nicht neue bringt, sie mir kostenlos zuträgt. Aber wenn man erst einmal wie Lessing wünscht, daß die Bäume im Frühjahr rot würden statt grün, weil das langweilig ist, weil man das schon kennt aus Dutzenden von Jahren her... und dann wie ein herrenloser Hund vor den Türen herumläuft und nicht weiß, wohin und zu wem man gehört –«
Das alles sagte Kößling. Er war dabei rot, sprach weitschweifig, umständlich und hastig.
Irgendwo hinten am Gartenzaun waren sie stehengeblieben, einander gegenüber. Jettchen trug immer noch die Schute an den Bindebändern über dem Ann wie ein Körbchen, und beide sahen sie nun ziemlich ratlos über die weiten Wiesen hin, die jetzt gelb von Hahnenfuß und rot von Ampfer waren. Der Weidenweg vorn mit seinen gekröpften, ausgebrannten Stämmen hatte etwas Geducktes, Verbrauchtes und Bettelhaftes. Aber weiter drüben spannte ein hoher, schattiger Laubgang seine stolzen Zelte. Kein Mensch war zu sehen ringsum unter dem blauen Himmel mit seinen weißen, abgeplatteten Wolken, eine über der anderen; nur ganz hinten auf einem Feldweg ratterte ein Wagen in einem Wirbel rötlichen Staubes, und hinten, dort, wo die Spree sein konnte, ragten ein paar Mastspitzen, fein und gerade. Sonst war es ganz still und kein Mensch ...
Da lehnten sie so eine ganze Weile an dem Zaun nebeneinander und schwiegen – jeder in seinen Gedanken.
»Ich weiß nicht, wie ich dazu komme, Ihnen all das zu sagen – ich fürchte fast, Ihnen damit lästig zu fallen, Jettchen.«
»Nein, Herr Doktor, das nicht! Aber –«, Jettchens Lippen zuckten. »Sie machen mich damit traurig, denn ich möchte gern, daß Sie glücklich würden, – wirklich, das wünsche ich Ihnen!«
»Warum? – Ich bin nicht unglücklich, solange es soviel Schönheit und eine solche Anmut vereint in der Welt gibt. Ich glaube aber, daß man dumm sein muß, – wissen Sie, gedankenlos, um wirklich glücklich sein zu können. Wir müssen uns einmal damit aussöhnen, daß das Leben eines jeden Menschen, der nicht mit den anderen mitlaufen will, eine Tragödie ist. Ich glaube Künstlertum ist eine Dornenkrone, die mit Blüten umwunden ist; und während uns der Wind den Duft zutreibt, rinnen uns die Blutstropfen in die Augen... Aber reden wir von etwas anderem, – es ist so albern, so selbstquälerisch ... ich tue mir und Ihnen weh damit. – Fräulein Jettchen, Sie müssen mir jetzt von sich etwas sagen!« Er ergriff ihre Hand. »Entschuldigen Sie all das. Ich komme mir vor wie der Kuckuck da, der nur seinen Namen ruft. Hören Sie, da drüben ruft er... Reden Sie von sich! Irgendwas! Was lesen Sie? – Machen Sie Handarbeiten? Erzählen Sie vom Onkel. Wann gehen Sie hier schlafen? Gehen Sie mit der Tante weg? Gehen Sie noch des Abends in den Garten? Ich stelle Sie mir vor, wie Sie aus einem dunklen Weg kommen und langsam Ihre hohe, helle Gestalt auftaucht, deutlicher und deutlicher wird.«
Jettchen sah ihn groß an und lächelte fast dankbar; aber sie spann an den alten Gedanken.
»Nein, ich glaube, daß man glücklich sein kann, sowie man aufhört, sich zu quälen. Ich glaube, daß das Glück ein kleines, übersehenes Unkraut ist wie die Vogelmiere, die überall am Wege wächst, und die sich jeder pflücken kann, er muß sich nur bücken. Ich glaube, Herr Doktor, daß Glück und Unglück keine Schicksale, sondern Gemütsarten sind.«
Kößling war das Weinen näher als das Lachen... er wußte selbst nicht, warum.
»Ich spreche da nur von mir. Gewiß, es gibt auch Tage, wo ich traurig bin und abends sitze und weine. Ich fürchte manchmal zu ersticken, und ich bin eigentlich schon ebenso alt wie Onkel und Tante. Und dann habe ich wieder Tage und Wochen, wo ich so ruhig bin und so freudig, so wunschlos. Was habe ich jetzt hier in diesem Garten für ein paar schöne Wochen verbracht, – ganz einsam, ganz klein und eng. Ich erinnere mich gar nicht, je ähnliches erlebt zu haben. Ich habe manchmal an den stillen Vormittagen geglaubt, draußen die ganze Welt wäre längst verstorben, und nur dieses Haus, der Garten, die Felder hinten und der Lindenweg vorn wären übriggeblieben. Das habe ich mir steif und fest eingeredet. – Wenn Sie einige Zeit hier draußen lebten, würden Sie auch anders werden, und all das, was Ihnen erst so wichtig schien, würde in nichts einschrumpfen und von Ihnen abfallen. Eigentlich hat mir eins noch gefehlt, – es ist schlecht, so alle Gedanken für sich allein denken zu müssen... ich hätte manchmal irgend jemand haben mögen – – Sie lachen? Gewiß, was kann ich Ihnen denn sagen! Was weiß ich denn vom Leben! Gott ja, ich bin früher ernster gewesen als andere, – aber ich verstehe Sie schon, eigentlich nur zu gut, denn was Sorge heißt, was es heißt, morgen nicht wissen, ob man noch etwas zu essen haben wird, und wenn man einen Taler hat, sich fragen: wie lange wird er reichen, – das habe ich nie kennengelernt. Dafür bin ich eigentlich hier oft undankbar, denn ich habe es nie zu vermissen brauchen, daß ich selbst nichts besitze. Und doch wieder, ich habe solch inneres Gefühl, daß ich nicht hierher gehöre, – und manchmal möchte ich dem Bettler die Hand geben und mit ihm weggehen.«
All das sagte Jettchen ganz schmucklos und leise; mehr für sich als für Kößling.
Kößling hatte von einem Ligusterbusch ein paar Blättchen abgezupft und zerzauste sie.
»Warum sagen Sie das zur mir?« bat er. Und Jettchen empfand, daß ihm das Schmerzen bereitete.
»Sehen Sie, Fräulein, Sorgen und Unglück und Leidenschaften, – was hat das mit Ihnen zu schaffen? Es darf nicht zu Ihnen – verstehen Sie, es darf nicht! Wo Sie gehen, müssen Blumen sein, wie hier zu Ihren Füßen. Und das Gras muß sich wieder aufrichten, kaum daß Sie darüber gegangen sind. So muß Ihr Leben sein! Wie dürfen Sie es mit dem meinen vergleichen? – Sehen Sie, ich habe die ganze Zeit an Sie gedacht, nur an Sie gedacht!«
Jettchen wurde glühend rot und verlegen.
»Ja, das habe ich! Nicht eine Stunde, Tag oder Nacht, habe ich an etwas anderes gedacht, – so wie man im Winter an den Sommer denkt. Dann ist es nur ein einziger langer, blauer Tag, und keine Nacht, kein Regen und kein Wind. Und so will ich weiter an Sie denken als an ein Etwas, das so schön ist und so freudenvoll und so wunschweit, – und es darf einfach nicht sein, daß dieser eine Lichtpunkt mir von Wolken verhangen wird! Ein einziges Mal meinethalben und hundertmal Ihretwegen nicht!«
Kößling sprach das noch halb lächelnd, aber aus seiner Stimme klang eine verhaltene Verzweiflung, die Jettchen fast zu Tränen rührte. Und doch mußte sie lachen, – nicht spöttisch, nur freudig – und mit diesem Lachen fand sie ihre ganze Überlegenheit wieder.
»Es liegt wohl nicht ganz in unserer Macht, Herr Doktor«, – und sie hörte selbst auf ihre Stimme – »uns unser Leben zu formen. Aber ich will Ihnen versprechen, was an mir ist, Ihnen keinen Grund zur Beängstigung zu geben, trotzdem unser Leben nicht ganz wäre, wenn es einzig über Blumen ginge. Mögen Sie das Salz in Ihren Speisen missen? Es soll heute abend keine Prise Salz auf unseren Tisch kommen, und ich werde sehen, ob Sie es nicht fordern!«
Kößling nickte sehr nachdenklich mit dem Kopf und sah starr vor sich hin. Und dann lächelte er, denn dieser Vergleich hatte den Schriftsteller in ihm berührt. Er schämte sich jetzt seiner letzten Worte und der dumpfen Stimmung, die aus ihnen emporschlug; und war es nun die frische Stille der grünen Umgebung, war es die Anwesenheit seiner schönen Partnerin, – im Augenblick waren an seinem verhangenen Himmel alle Wolken von einem frischen Wind auseinandergeblasen, und das hoffnungsfreudige Blau von Jugend und Gesundheit – denn er war aus Stahl und Sehnen – lachte ihm aus allen Winkeln zwischen dem abziehenden Gewölk.
Er griff Jettchens Hand. »Sie müssen mir verzeihen«, sagte er lustig und unbefangen, »aber am Brunnen läuft der Eimer leicht über.«
»Oh«, sagte Jettchen und lachte hell wie eine Glocke, »was hätte ich Ihnen wohl zu verzeihen? Sie haben mir nichts gesagt, was für mich kränkend wäre.«
Kößling empfand plötzlich, daß der Zaun, an den er sich lehnte, sich nach vorn neigte, – ganz langsam – und daß ebenso der Weg drüben schräg abfiel, ganz schräg, wie ein Abhang. Aber das war nur ein Augenblick. Dann war ihm wieder hell und frei. So frei, wie ihm, soweit er zurückdenken konnte, noch nie gewesen. Denn auch er hatte sein ganzes Leben bisher unter einem nie endenden Druck verbracht, der sich wohl manchmal etwas von den Schultern hob, ganz wenig, – aber nur, um im Augenblick darauf wieder desto schwerer herniederzupressen.
»Wollen wir gehen und sehen, ob wir unser Häuschen bekommen? Vielleicht wird es dieses Jahr vermietet«, lachte Kößling. Er sprach jetzt überhaupt nichts mehr, er lachte nur, – lachte das beste von seiner Rede fort. Denn er hatte eigentlich trotz seiner Dreißig in seiner Schlankheit mit seinem roten, freudigen Gesicht, etwas prächtig Jungenhaftes.
Jettchen sagte nicht nein. Sie meinte, ihre Pflicht wäre ja erfüllt, sie hatte ihm den Garten gezeigt; er hätte sich von den guten Aussichten der Erdbeerernte überzeugt, und damit stände weiteren Exkursionen nichts im Wege. Gestiefelt und gespornt wäre sie auch, so daß sie nicht noch einmal herauf brauche, – oder nur einen Augenblick, um mit dem Mädchen zu sprechen. Denn sie müsse noch etwas für den Abend bestimmen. Es wäre zwar möglich, daß die Tante nicht zurückkäme, aber auf jeden Fall müsse eine Schüssel mit Essen für sie bereitstehen.
Und sie kehrten dem weiten Himmel und seiner Helligkeit den Rücken, gingen die paar Schritte auf schmalen Wegen durch das Obstland hintereinander her und liefen dann beide zusammen schnell durch die Laubdämmerung unter den Rüstern und Eschen, an den Lauben vorbei, und sie sprachen gar nichts, und wenn ihre Hände sich versehentlich – der Zufall hat ja die Binde vor den Augen, aber er schielt ein wenig –, sich versehentlich trafen, dann lachten sie und fanden es beide sehr albern, daß sie lachten, – aber sie mußten doch lachen.
Auf dem Hof unter den Kastanien trafen sie die brave Frau Könnecke, die mit energischen Handbewegungen irgendeinem ihrer Kinder, einem elfjährigen Burschen mit einem Kopf wie ein Apfel und einem Gesicht wie eine aufgeplatzte Pellkartoffel, Verhaltungsmaßregeln für seine Zukunft gab in den leicht lesbaren Lettern der Keilschrift.
Und Frau Könnecke unterbrach ihre turnerischen Übungen, um die beiden mit erlesener Freundlichkeit zu begrüßen und zu fragen, ob das vielleicht der Bräutigam von Fräulein Jettchen wäre. Denn sie setzte dessen Existenz schon lange im stillen voraus, da ihr ein Mädchen in diesem Alter ohne jeden Bräutigam in ihren Kreisen bisher noch nicht vorgekommen war.
Kößling nahm die Antwort auf sich und sagte, daß bis zur gegenwärtigen Stunde beiden davon noch nichts bekannt wäre, doch fühle er sich sehr geschmeichelt und wäre sehr erfreut über die Rolle, die ihm Frau Könnecke zugedacht hätte. Er hoffe aber dagegen, daß Frau Könnecke dieses Jahr recht viel von ihren Johannisbeeren haben würde, die hätten ja sehr gut angesetzt.
Doch damit war Frau Könnecke nicht einverstanden und gab einen kleinen Überblick über die Geschäftslage und Konjunktur in Beerenfrüchten.
»Ja, ja«, meinte sie, »das ist so mit die Äser: wenn man ihnen brauchen könnte, dann hat man se nich; un wenn man se wieder hat, denn sind so ville da, daß se einem orntlich metzenweise nachjeschmissen wern. Das is nu mal mit die Äser nich anders!« Das sagte Frau Könnecke sehr langsam, sehr würdig und nach ihrer Meinung in einer sehr schönen, gebildeten und gewählten Sprechweise, – weil doch das Fräulein dabei war.
Als die aber heraufging, um noch etwas zu holen und anzuordnen, ließ sie sich schon etwas mehr gehen, so daß Kößling, als Jettchen wiederkam, wohl unterrichtet war, daß Frau Könnecke bei Karl sogar einen Arzt hätte haben müssen, während sie sonst überhaupt nie – nicht mal 'ne Hebamme gehabt hätten, und daß sie zu ihrer Tochter Emilie, die jetzt siebzehn Jahre würde, täglich sagte: »Emilie, det eene rat ick dir nur, lasse dir nicht mit de Männer in. Kaum daß de se ankiekst, haste schon 'n Kind!« – Und ob sie da nicht recht hätte? Man könnte gar nicht genug auf die Mädchens aufpassen.
Kößling hatte aber keine Zeit mehr, Frau Könnecke beizupflichten und ihr seine Ansichten über die strittige Frage zu entwickeln, weil eben Jettchen zurückkam. Und da sie noch nach dem Schloßpark gehen wollten, so nahmen sie von Frau Könnecke schweren Herzens Abschied, die über dieses Gespräch ihre Mission nicht vergessen hatte. Denn die beiden waren noch nicht im Flur, als Frau Könnecke sich schon wieder mit wuchtigen Handbewegungen an den kleinen Dickkopf heranmachte, der die Zeit nicht einmal benutzt hatte, um zwischen sich und seine freundliche Erzeugerin etwas mehr Zwischenraum zu bringen, – eine Tatsache, die immerhin auf eine sehr gering entwickelte Verstandestätigkeit bei Könnecke junior schließen ließ.
Und noch im Vorgarten hörten sie die schallenden Äußerungen des Mißfallens der braven Frau Könnecke.
Als das kleine Holzgatter zufiel, standen beide ziemlich ratlos da. Kößling wußte nicht, ob er jetzt Jettchen den Arm anbieten dürfte. Er zögerte, denn sie hätten doch jemand treffen können. Aber er nahm es sich für nachher vor.
Er war immer noch wie verzaubert und wiederholte sich im Gehen den langen, geraden Weg hinunter irgend etwas, von dem er annahm, daß es Jettchen ihm vorhin geantwortet hätte.
Sie gingen selbst im Schatten, aber links über ihnen in den grünen Lindenwipfeln hing der Sonnenschein; und den weiten Weg hinunter, der wie ein grüner Goldstreifen vor ihnen lag und sich mählich verengerte, war in der Stille des Frühlingsnachmittags kein Mensch zu sehen.
Und plötzlich fing Jettchen irgend etwas an zu singen oder eher zu zwitschern, – mehr für sich, – ganz einfache Liedchen, die jedes Kind kennt. Und Kößling fiel ein mit der zweiten Stimme, und ehe sie sich versahen, hatten sie sich beide an den Händen gefaßt wie Kinder und gingen im Rhythmus ihres Liedchens frei und offen, hoch und gerade, mit den Händen taktierend nebeneinander her.
Es war gar nicht zu sagen, wer damit angefangen hatte. Jeder meinte, es wäre der andere gewesen; aber er meinte auch, daß er sich hiermit irren könnte.
Und als Jettchen aufhörte, ließen sie doch die Hände nicht los, sondern gingen immer noch im Takt weiter. Es war ihnen, als ob die Hände zusammengewachsen wären, und als ob es ihnen Schmerz bereiten müsse, sie voneinander zu trennen. Dabei hatte Kößling die ganze Zeit Jettchen nicht mehr angesehen. Und Jettchen ihn auch nicht. Sie sahen beide vor sich hin starr den geraden, langen Weg hinunter, als ob von dort das Glück auf sie zukommen müßte.
Hin und wieder sprach Kößling etwas von Dingen, die er gesehen, und die sich ereignet hatten. Denn Jettchen hatte gemeint, sie wisse überhaupt nicht mehr, was in der Welt vorginge. Er sprach vom Tonmodell der Amazone, das er bei Kiß im Lagerhaus gesehen hätte, und er wäre ganz überwältigt von dieser Lebendigkeit des Aufbaues gewesen. Aber der König hätte gesagt, er möchte den Narren kennenlernen, der das Geld zum Guß gäbe.
Und bei alldem, was Kößling sagte, hatte er nur das Gefühl einer unerhörten Zärtlichkeit für Jettchen, das ihm in seiner Süße fast Tränen entlockte. Er hatte die Empfindung, als ob er alles an ihr streichle mit unmerklich tastenden Fingern; die Empfindung hatte er einer so grenzenlosen Verehrung, daß sein Ich sich ganz darin auflöste wie Nebel in der Sonne. Er fühlte sich einzig als Bewunderer dieses schönen, an Leib und Seele geraden Menschenkindes, und in ihm war nicht ein Gedanke, daß er vielleicht an dieser Schönheit irgendwelchen lebendigen Anteil haben könnte.
Und der lange Weg vor ihnen nahm mählich ab, und schon wurde es hinten hell zwischen dem letzten Baumpaar. Die beiden gingen so hübsch im Takt, daß ordentlich der Boden unter ihren Schritten klang. Und sie gingen immer schneller und lustiger; dabei sprachen sie, – aber die Hände ließen sie nicht los.
Jettchen begann von Jason, den sie lange nicht gesehen hatte, und Kößling sagte, daß auch er sich ihm fast entfremdet hätte. Nicht daß sich sein Urteil über ihn geändert hätte, aber er hätte ihn in der letzten Zeit kaum gesehen.
Welches Urteil er denn über ihn habe? Ganz offen und ehrlich, er solle mal nicht daran denken, daß sie seine Nichte wäre.
»Nun gut, ich meine, Jason Gebert gehört zu jener großen Gruppe von Menschen, die immer enttäuschen. Bei denen man wartet, wartet, sein Lebtag wartet – und mit einem Male ist die Zeit dahin, und es ist nichts geschehen. Aber ich schätze seine Freundschaft, denn er ist ein Feinschmecker in allem; in der Lektüre und in jedem sonst, was seinen Schönheitssinn zu reizen weiß. Es ist sicher auch hierin ein Stück Künstlertum.«
Jettchen nickte.
»Aber was tut das, Fräulein Jettchen? Was tut das? Wer enttäuscht nicht? Habe ich nicht bisher auch alle enttäuscht, die auf meine Karte etwas gesetzt haben? Mit je mehr Menschen uns das Leben zusammenführt, desto häufiger wird uns die Enttäuschung. Ich habe junge Studenten kennengelernt, von denen ich fest überzeugt war, daß ihre Namen den eines Hegel und Fichte verdunkeln werden, junge Dichter, von denen ich glaubte, man wird sie einmal neben die größten stellen, und sie sind verschollen, fortgeweht vom Leben, irgendwohin in einen stillen Winkel getrieben. Und gerade die, von denen man es nicht erwartet hat, die einem nie sonderlich aufgefallen sind, von denen liest man, hört man und horcht auf – aha, da ist auch einer! Das hätte ich dem nie zugetraut.
Aber zum Tischgenossen werde ich Ihren Onkel ernennen, wenn ich hier meine Tafelrunde zusammenrufe.«
Jettchen sah ihn ungläubig an.
»Habe ich Ihnen nicht schon davon erzählt«, lachte Kößling, »ich werde mir doch hier das Schloß mieten, und dann werde ich mit einer Zahl junger Leute darin leben, ein wenig anders als meine Herren Vorgänger hier: Gymnasium, zugleich Ringhalle und Rednerschule; wie Byron werden wir alle Romane der Welt lesen, uns einen zahmen Bären halten und bogenschießen; – und da steht als erster auf meiner Liste: Jason Gebert.«
»Und ich?« schmollte Jettchen.
»Ja, ich glaube nicht, daß das für Sie etwas sein wird«, sagte Kößling ernst. »Es sollten eigentlich da nur Männer unter sich sein, die Geister aufeinanderprallen, daß es Funken gibt wie bei Stahl und Stein. Sind Sie mir böse? Gut, seien Sie meine Wirtin. Sitzen Sie obenan bei der Tafel, und haben Sie die Fäden der Gespräche in der Hand. Und wenn die Mahlzeit zu Ende, dann biete ich Ihnen den Arm, führe Sie zur Tür; Sie reichen mir stolz und ruhig die Hand zum Kusse, gehen in Ihre Gemächer, ich wende mich zu meinen Freunden, die Diener geben die langen Pfeifen herum, der Wein wird noch einmal aufgetragen, und es blitzen die Raketen von Tiefsinn und Laune, von Sentimentalität und Zynismus. Und zum Marschall der Tafelrunde will ich da Jason Gebert ernennen. Das habe ich mir vorgenommen.«
»Sie Närrchen! Aber ich verstehe. Ich glaube, es ist etwas sehr Hübsches um Männerfreundschaft, weil sie nicht kleinlich ist, und weil sie neidlos ist.«
Und dann öffnete sich der Weg, und sie zogen wieder beide schweigend ein kurzes Stück unter silbrigen Platanen dahin, an den glatten, fleckigen Stämmen vorbei. Und bald tauchte links über den Wipfeln das Wahrzeichen, die flatternde goldene Puppe auf, die da oben auf ihrer durchbrochenen Kuppelspitze lustig tänzelte, tauchte auf plötzlich wie eine Vision und ganz seltsam durch die späte Nachmittagsonne von einer sprühenden Gloriole umzogen. Und dann wieder, kaum ein paar Schritte weiter, da lag schon der Bau in seiner vollen Ausdehnung vor ihnen mit seinen langgestreckten niederen Flügeln und mit seiner hohen Kuppel. Unten blickte er zwischen schwarzen Stämmen mit hohen weißen Fensterrahmen aus dem goldigen Gelb der Mauer, und oben hüllte er seine schweren Hauben der Dächer in die noch hellgrünen Laubmassen, deren höchste Wipfel jetzt tief und rot bestrahlt waren.
Soldaten übten drüben, daß der Staub um sie aufflog und sich lange, groteske Schatten auf dem Sand zeichneten. Und über den leeren Schloßhof schritt gelangweilt ein weißhaariger Schloßdiener. Sonst lag alles ruhig und friedsam unter den schrägen Strahlen der späten Sonne.
Die beiden blieben einen Augenblick aufatmend und unschlüssig vor dem Tor stehen, und über ihren Häuptern zückte das steinerne Fechterpaar seine Schwerter in erstarrter Pose gegeneinander.
»Seltsam«, sagte Kößling, »ich denke bei diesen alten Lustschlössern niemals an Herrscher und Staaten oder an Kriege und Feldherren, sondern ich denke einzig in diesen langen Gängen und Zimmerfluchten, daß es dort heimliche Stelldicheins mit Hofdamen und verliebten Pagen gegeben hat und Briefchen, die in Kaminecken geschoben wurden, und Amoretten, die auf den Konsolen über den Fenstern lauerten. Es ist überall so etwas hängengeblieben wie der Duft verflossener Liebesgeschichten. Vielleicht liegt das in der Einsamkeit, in der Verlassenheit, in der Schönheit der Räume; man meint immer, die Liebe muß solche Winkel suchen, wo sie ganz sich selbst überlassen sein kann, wo alles nur für sie Spiegel und Echo ist, wo jeder Blick und der Schatten jedes Baumes vor dem Fenster, der breite Gang zwischen den Linden und die verschwiegenen Wege durch die Büsche für sie geschaffen sind.«
Jettchen sah ihn an, und so etwas wie Lachen, ein schalkhaftes Lachen war dabei tief auf dem Grunde ihrer Augen, die samtig glänzten wie die Blüten schwarzer Stiefmütterchen.
»Wir wollen doch lieber in den Park gehen, Herr Doktor«, sagte sie mit einer verhaltenen Lustigkeit und hing sich plötzlich an Kößlings Arm, »und dann haben Sie ja gesagt, daß Sie mich im Schloß nicht haben wollen, daß Sie mich in meine Gemächer führen werden und mit Ihren Freunden zechen – also, gehen wir darum in den Park!«
»Nein«, sagte Kößling, »so habe ich das nicht gemeint. Wollen Sie denn das Schloß allein mit mir teilen? Was würden wir beide wohl mit einem Schloß anfangen, – mit einem ganzen Schloß für uns allein? Wo uns alles gehört? Ich glaube, wir würden uns darin verflattern wie ein paar verirrte Vögel.«
Hierbei zog Kößling Jettchens Arm, dessen volle Kühle er durch den Stoff seines Rockes spürte, recht nahe an sich heran, und das erstemal tauchten hierbei die beiden Augenpaare ineinander. Und das Spiel gefiel ihnen so, daß sie es nun oft wiederholten, in immer kürzeren Pausen und zu immer längerer Dauer, zu geeigneten Momenten und zu ungeeigneten, bei gleichgültigen und bei bedeutsamen Worten.
»Gehen wir also in den Schloßpark«, sagte Jettchen und hing sich so recht schwer – gleich einem ungezogenen Kind – an Kößlings Arm, als sie durch das schwarze Gittertor mit den goldenen Ordenssternen traten.
»Hier herunter?« sagte Kößling und zeigte den langen Lindenweg hinab, hinter dem die Sonne stand und die Luft mit roten Strahlen durchwebte, daß jede Mücke und jedes schnurrende Käferlein wie ein Goldfunken blitzte – »hier herunter?« – und zeigte den Lindenweg hinab, der hier und da von schrill aufzwitschernden Drosseln überflogen wurde.
»Nein«, sagte Jettchen, »ich mag diesen Weg nicht. Kommen Sie, ich führe Sie hier durch«, – und sie hielten sich am Schloß, schritten an Stiefmütterchenbeeten vorbei, die in bunten Mustern zwischen großen, grünen Buchsbaumkugeln wie zwischen großen, grünen Steinen lagen und die von den kleinen Linien gradgeschnittener Büsche fein wie mit Zirkel und Lineal umfangen waren. Und dann traten sie durch die Orangerie ins Freie, und der ganze Park mit seinen langen, geraden Lindenwegen, seinen Wiesenflächen und den Fliederbosketten, mit seinen hohen, runden Baumgruppen, die die Wiesen säumten, lag von ihnen wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie nach Lust und Laune blättern durften. Hier standen in den Kübeln die kurzen, schwerstämmigen Orangenbäume neben den niederen Steinbänken und neben den Büsten der römischen Cäsaren mit ihren dicken, selbstsüchtigen Köpfen. Und vor dem Schlosse selbst war ein großes Adlerbeet nur mit bunten, schweren Tulpen in mancherlei Färbungen besetzt. »Kennen Sie das?« sagte Jettchen:
»Es glänzt der Tulpenflor...
Durchschnitten von Alleen,
Wo zwischen Taxus still...
Die weißen Statuen stehen.«
»Nein«, sagte Kößling lächelnd, »das kenne ich nicht.«
»Ich habe es in einem von den Almanachen gefunden, die mir Onkel Jason geliehen hat.«
»Wissen Sie nicht, wie es weitergeht, Jettchen?«
»Nein, eigentlich nicht«, meinte Jettchen und wurde sehr verlegen.
»Ach bitte, bitte, warum sagen Sie es nicht?«
Jettchen konnte dieser Bitte nicht widerstehen und deklamierte mit schnurriger Lustigkeit und so laut, daß ein paar alte Herren, die in eifriger Diskussion einherwandelten, erstaunt stehenblieben:
»Die schöne Chloe heut spazieret in dem Garten,
Zur Seit' ein Kavalier, ihr höflich aufzuwarten,
Und hinter ihnen leis' Cupido kommt gezogen,
Bald duckend sich im Grün, bald zielend mit dem Bogen.«
Diese Gelegenheit hielten die beiden für geeignet, sich durch einen langen und fröhlichen Blick von ihrem gegenseitigen Vorhandensein in dieser schönen Frühlingswelt genau und gewissenhaft zu überzeugen.
»Da schießt Cupido los, und er hat gut getroffen«, meinte Kößling nach einer ganzen Weile so recht behaglich.
Und richtig, schon hatte er wie von der Chloe in dem Gedicht Eichendorffs wegen seines heuchlerischen und lügenhaften Wesens von Jettchen, die ihn schon wieder losgelassen hatte, einen ganz kräftigen Schlag auf die Hand bekommen.
Und dann setzte sich Jettchen in Bewegung und lief in ihrem hellen Kleid sehr schnell und trippelnd auf ihren kleinen Schuhen ein Stückchen vor ihm her, den dichten, laubgrünen Weg hinunter, in dem Glauben, Kößling würde das nicht auf sich sitzen lassen.
Aber der blieb ganz still und versonnen stehen und sah ihr nach. Der Gedanke, daß er jetzt irgendwelchen lebendigen Anteil an all dieser lebensprühenden Schönheit hatte, machte ihn plötzlich ganz verwirrt vor Glück. Und im Augenblick stand doch dabei sein ganzes Schicksal vor ihm, und die Tränen schossen ihm in die Augen.
Aber das war nur ein Augenblick, und er wischte sie fort mit einer Handbewegung. Dann lief er, Jettchen, die nun schon ein ganzes Stück voraus war, zu fangen. Und er blieb hoch aufatmend neben ihr stehen; denn sie hatte schon einen ordentlichen Vorsprung gehabt.
Und da Jettchen sah, daß Kößling weiter keine bösen Absichten hatte und den Schlag ganz ruhig als verdient hingenommen hatte und sich nur freute, daß er wieder bei ihr sein konnte, hing sie sich gelassen wieder ein. Und sie gingen zusammen am Teich entlang, auf schmalen, laubüberdachten Wegen, deren grüne Bogen sich hier ganz niedersenkten und das Wasser den Blicken entzogen, daß es nur mit Silberaugen durch die Maschen und Luken des Grüns emporblickte, während sie dort auf kurze Schritte den Blick offen ließen auf hohe Baumgruppen hinaus, drüben, jenseits der Wasserfläche.
Immer wieder sah das Schloß goldig und rot in der Abendsonne zu ihnen her, mit seiner tanzenden, goldglühenden Puppe. Sowie sie sich umsahen, stand es da; – hinten, jenseits des Wassers, am Ende der geraden Wege und zwischen den schönen Baumgruppen und hinter den kleinen, schmalen Teichläufen mit ihren linden Buchtungen und sanften Rasenwangen, die ganz weiß waren vom Schaumkraut und rot dazwischen vom Bachnelkenwurz. Und wieder und wieder tauchte es empor... hinter weiten Durchblicken, die von Wiesen, Wasserläufen und Wegen durchschnitten und durchkreuzt waren; unter der Brücke, die ihren Bogen spannte; und hinter dem geröteten Spiegel des Teiches. Es war gleichsam vervielfältigt, bot sich überall dem Blick.
Jettchen und Kößling gingen hin und her, untergefaßt auf schmalen Wegen und, getrennt und jeder für sich, auf breiten Lindenalleen. Sie saßen eine kurze Weile auf der Bank am Teich und sahen, wie die Schwalben, sich jagend, dicht über dem Wasserspiegel hinschossen und weiß und silbern aufblitzten, wenn sie im Fluge umwandten. Sie waren sehr still beide, sprachen nur ganz wenig und fühlten sich sehr glücklich. Über Kößling war eine Traumstimmung gekommen, die alles versinken machte, was je in seinem Leben gewesen war und sich begeben hatte. Und Jettchen fühlte nur das eine, daß sie geliebt wurde, verehrt mit einer keuschen Anhänglichkeit, und das tat ihr wohl, und daß sie Kößling gern hatte und mehr als eigentlich nur gern hatte. Und sie dachte auch nicht im geringsten daran, daß dieses Gernhaben nun irgend etwas nach sich ziehen könnte oder für jenen bindend sei. Sie war nur frei und froh darüber, daß es zwischen ihnen so zu einer stummen Aussprache gekommen war.
Sie redeten von diesem und jenem. Kößling sprach wieder von Braunschweig, wo die Straßen so merkwürdige Namen hätten, und wo es eine Bolkerstraße gäbe wie in Düsseldorf. Er sprach von seiner harten und stolzen Jugend, denn er war arm gewesen, der Allerärmste. Und er war stolz gewesen, weil er immer über all den Söhnen reicher Leute gesessen hatte mit seinem zerrissenen Rock, und weil er sie an die Tafel hätte schreiben können, wenn sie gelärmt. Aber das war nur in den ersten Jahren seiner Schulzeit gewesen. Später hatte er den Schulzwang sehr hart empfunden, denn ihm hatte die Schule nicht genügt; und wer weiß, wie es gekommen wäre, wenn er nicht eben das Pensum so leicht und mühelos bewältigt hätte. Wenn er erst die auf den letzten Bänken verachtet hätte, so hätte er später nur mit ihnen verkehrt. Und seine besten Erinnerungen hätte er an seine Jugendfreunde aus der letzten Zeit, von denen manche, die von den Lehrern verkannt und gequält und von den Mitschülern gehänselt wurden, ein reiches und schönes Innenleben geführt hätten. Und von da an wäre es immer so mit ihm gewesen, daß er sich nie wo hätte einfügen können und daß er immer die Ausnahme zur Regel gemacht hätte.
Damit hatten sie sich langsam in Gegenden verloren, wo der Park in sumpfige Wiesen und in Bruchland ausging, und wo sich in weiten Windungen hinten träge der Fluß hinschleppte und fern, ihn begleitend, ein feines, dunstiges Band – denn die Sonne stand schon niedrig darüber – sich der Wald zog. Und sie kehrten um, gingen neben einem schmalen fließenden Wasser einen hohen Steg entlang, der ganz von Weiden überhangen war, gingen ein Stückchen heimlichen Saumpfades, so daß einer hinter dem anderen schreiten mußte und jeder fast noch mehr als vordem, da sie Arm in Arm waren, den anderen fühlte.
Und dann standen sie an dem kleinen, runden Bau, um den unter dem Dach riesiger Pappeln dunkle, alte Eiben Wache hielten. Oben, an ewig verschlossenen Jalousien, blinzelten Karyatiden schläfrig in die tiefe rote Sonne, die durch das Laub sah, und die steinernen Putten mit dem Fruchtkorb schwangen ihren Reigen auf dem gelben Häuschen.
»Nun wollen wir sehen, ob man es uns vermieten wird«, sagte Kößling. »Für den Sommer oder für das ganze Jahr?«
»Für das ganze Jahr«, meinte Jettchen.
Aber es war niemand zu sehen, niemand zu finden, keine Seele; trotzdem irgendwo hinten in einem Winkel bei einem Schuppen Wäsche hing. Nur die Blumen standen in kleinen Reihen dicht und schweigsam um das Häuschen, Narzissen und Stiefmütterchen, Maiglöckchen und bunte Zerealien. Und sie leuchteten schon grell und unirdisch in der beginnenden Dämmerung, die hier unter den Bäumen eben ihre ersten Schatten breitete.
»Wir haben kein Glück«, sagte Kößling ernst.
Und jetzt beschlich auch Jettchen so etwas wie Traurigkeit. Ein Ton klang von unten aus den dumpfen Saiten. Und er schwang weiter, als sie heraus an das Wasser traten, das so träge und breit dahinfloß, nur hier und da ganz leicht gerauht von einem abendlichen Wind+,... der wie mit weicher Hand auch drüben über die Wipfel der hohen Bäume strich, daß alle Blätter ihre silbernen Unterseiten zum Licht kehrten. Und selbst dieser leichte Wind machte Jettchen frösteln.
Kößling fühlte das.
»Ich habe auch neulich ein Gedicht in einem Almanach gefunden, du Süße«, sagte er und legte seine Hand wärmend auf Jettchens Schulter:
»Heut stehe ich, ein Bettler noch,
Am Wege deines Lebens
Und halte meine Mütze doch
Vergebens, nur vergebens.
Doch, kehre ich zu dir zurück,
Heb' ich dich auf mein weißes Roß
Und führe dich, mein Weib, mein Glück
In mein verschwiegnes, weißes Schloß.«
Jettchen stand ganz still an ihn gelehnt, zitternd und glutübergossen. Und dann umschlangen sie sich plötzlich; es war, als ob sie zueinander gezogen wurden, als ob eines zum andern hin müsse, ganz nah und ganz eng. Und ihre Lippen trafen zusammen und lösten sich wieder und trafen wieder aufeinander und ruhten aufeinander, als ob sie diesen Platz nie mehr verlassen wollten. Und Kößling sah, wie aus Jettchens samtig schwarzen Augen ein paar Tränen kamen, ganz langsam sich sammelnd und lösend, sah, wie sie ganz langsam über die Wangen liefen; – und er suchte mit den Lippen ihr Gesicht, die Wangen, die Augen, die Stirn, das Haar an den Schläfen; nichts ließ er unbenetzt von seinen Küssen, die ein Echo hatten, ein nahes, rotes Echo.
Plötzlich riß sich Jettchen zusammen und sagte:
»Komm, mein lieber, guter Junge, wir wollen vernünftig sein, ich muß gehen.« Und dann neigte sie sich wieder vor und küßte ihn so lange, so lange, daß Kößling fast die Sinne schwanden.
»Das ist der letzte«, sagte sie und wandte sich.
Und jetzt jagten sie sich nicht, jetzt gingen sie ganz still und zögernd nebeneinander auf den dämmrigen Wegen, an den kleinen Teichläufen, an der blanken Wasserfläche, in deren Tiefe sich der helle und rosige Abendhimmel spiegelte.
Sie sprachen von dritten Dingen, aber sie vermieden es geradezu, einander anzureden, denn im »Sie« stockten sie, und das »Du« wollte ihnen nicht von den Lippen.
In den Baumgruppen häuften sich die Schatten, und der Himmel stand flammend darüber. Die Drosseln hatten hohe Plätze gesucht und sangen wild in den Abend hinaus, während sonst schon alles stumm war und nur ganz fern irgendwo unten am Wasser – – eine Nachtigall ein paar erste schwermütige Gluckser und Triller wagte.
In Kößling wechselten die Stimmungen wie Sonnenschein, Regen, Hagel und Schnee an einem Apriltag. Eben noch triefend und weiß überschüttet, blitzte im nächsten Augenblick alles an tausend Ecken und Enden auf.
Er hatte das Gefühl, als ob er jetzt etwas errungen hätte, das ihn vor allem feite; und daß er, möge kommen, was da wolle, nie mehr in das alte Elend zurücksinken könnte. Alles, was ihn bisher beschäftigt und erfüllt, kam ihm so klein, nichtig und gleichgültig vor gegenüber dem, was ihm jetzt als ein unverdientes Glück zugefallen war.
Da ist Politik und Gesamtheit und Dichtung und Lebensaufgabe und Lebensbedeutung und Nahrung und Sorgen und Ringen und einsame Qualen, und plötzlich kommt ein Wirbelwind über uns, und all das ist auseinandergeblasen, als ob es nie dagewesen wäre, uns nie gedrückt und uns nie erfüllt hätte.
Jettchen ging fest und aufrecht neben Kößling und gab sich Mühe, alles in sich niederzuringen, was ihr an Angst und Bedenken um ihre Zukunft aufstieg, – denn sie fühlte jetzt, daß ihrer beider Zukunft zusammengehörte. Nein, sie wollte sich durch all das auch nicht eine Sekunde dieser schönen und seltenen Gegenwart verkümmern lassen, wo alles zu ihr sprach und der Duft von dem immer noch ein wenig regenfeuchten Laub und die Nähe des Geliebten, die lichte Glut des Abends, alles ringsum bis auf die verschwiegenen Steinfiguren im Dickicht sie schmeichlerisch einwiegte.
Als sie wieder vor dem Tor mit den goldenen Spitzen und den goldenen Sternen waren, blieben sie stehen, um noch einen Blick zurückzuwerfen auf den dämmrigen Lindenweg und die breiten Laubmassen des Parks, die hinter der niederen Orangerie wie eine dunkle Wand standen. Aber der Wachtposten, der, mit dem Gewehr im Arm, in schweren, klappenden Schritten auf und nieder pendelte, ein grobschlächtiger, vierschrötiger Bursche, sagte, daß sie jetzt den Park verlassen müßten, sie wären schon die Letzten, und das Tor müsse geschlossen werden.
Und Kößling wurde aufgebracht und wollte grob antworten. Aber Jettchen zog ihn angstvoll am Arm, sich ganz an ihn flüchtend, und tuschelte ihm zu, daß er um Himmels willen still sein möchte.
Und dann war sie wieder da – die goldene Puppe, die jetzt oben auf der Kuppel dunkel wie ein Schattenbild in den tiefen, lichten Abendhimmel mit seiner sengenden Glut schnitt. Und sie zog an ihren Blicken vorbei, und das Halbdunkel des langen Weges umfing die beiden dicht und traulich, wie nach einem schönen Tag mit wechselnden, farbigen Bildern uns die stille Kammer mit ihren Heimlichkeiten wieder umschließt.
Und je näher sie zum Haus der Frau Könnecke kamen, desto langsamer gingen sie, zögernd und schrittweise, sie blieben minutenlang stehen in Worten und schönem Schweigen, dicht an den Bäumen, fern den kleinen gelben Lichtkreisen, genauso, wie es Jettchen an den Sonntagabenden immer von den andern gesehen hatte.
Sie sprachen beide nicht davon, wie es werden sollte zwischen ihnen, von Plänen, Hoffnungen und Aussichten, von Hindernissen und Schwierigkeiten; grad, als ob sie übereingekommen waren, nicht darüber zu reden und nichts zwischen sich aufkommen zu lassen, was das Glück und die stille Freudigkeit der Gegenwart vergällen könnte. Denn Jettchen, der wunderschönen, stolzen Jettchen Gebert war ihr Entschluß von vorhin, daß das der letzte sein sollte, längst leid geworden, und es wurde den Lippen immer leichter, sich zu finden, und immer schwerer, sich zu trennen. Es war gerade, als ob die Wellen eines Flusses, der ins Meer strömt, und die Wogen des Meeres, die zum Land ziehen, gegeneinander prallen und aneinander empordrängen.
Und sie gingen langsam – langsam –, schwenkten noch ein paar kurze Schritte in eine kaum erleuchtete Seitenstraße mit niederen Häuschen ein, um dann wieder zum Hauptweg zurückzukehren. Und die Dämmerung wandelte sich mählich in zage Dunkelheit, und die Dunkelheit mählich in warme Nacht, in die die nasse Erde noch ihre Nebel und Dämpfe emporschickte, so daß der Himmel ganz tief hing und oben die paar einsamen Sterne wie mit rotgeweinten Augen blinzelten.
Und zehnmal nahmen sie sich es vor und versprachen sich mit heiligen Eiden, daß sie nun vernünftig sein wollten und ihrer Würde eingedenk, – und zehnmal brachen sie lachend ihre Versprechungen wieder. Und auf kurze Weilen der Lustigkeit und des kindlichen Lachens folgten Zeiten der versonnenen Nachdenklichkeit, und auf Scherzworte und nichtiges Geplauder – sie hatten sich mit einmal beide so furchtbar viel zu erzählen von Dingen, die weit zurücklagen, kleinen Eigenheiten, Jugend- und Schulerlebnissen –, auf Nichtigkeiten, die nur für die beiden irgendwelchen Sinn hatten, folgten ernste und nachdenkliche Worte.
»Weißt du, mein Liebling«, sagte Kößling, »daß ich mich in den Wochen jetzt – denn du mußt nicht glauben, daß du erst seit heute bei mir bist, du bist gar nicht von meiner Seite gewichen –, daß ich mich über nichts so gewundert habe, wie, daß ich dich doch getroffen habe. Denn mein Glaube ist: es gibt in der ganzen Welt immer nur zwei Menschen, die füreinander bestimmt sind, und sie werden so lange über die Erde gesandt und wandern ruhelos, bis sie einander getroffen haben. Schon zehn-, schon dreißigmal bin ich gewiß hier geboren worden und wieder zurückgekehrt, um immer wiederzukommen und nach dir zu suchen. Erinnerst du dich noch damals, wie ich dir sagte, daß es hoffentlich nicht wieder fünfhundert Jahre dauern wird, bis ich dich wiedertreffe?«
Und Jettchen erinnerte sich.
Und dann sagte Kößling, wie seltsam das wäre, und er sähe seit Tagen und Wochen alles in einem anderen Licht. Und er wolle sich zwar immer noch einreden, daß er hinaus in das Leben gehöre, auf die Vorposten, zu den anderen, dort, wo es am heißesten kocht, wo es wird und sich weiterbildet, – aber immer wieder frage er sich erstaunt, was ihn denn all das anginge, und was er denn damit zu tun habe, und ob das vielleicht seine Reichen und seine Armen und seine Könige und seine Konstitutionen wären und seine Mucker und seine Bücher. Und er hätte jetzt das Gefühl, als ob ihn all das nicht mehr beträfe, und er wisse gar nicht, was er damit beginnen solle, es wäre ihm, als ob er nur Ruhe brauche, um er selbst zu werden, und als ob ihm nur ein kleiner Winkel selbst gehören müsse, auf dem er glücklicher sein könnte als in dem weiten Palast; er wollte ja nichts, er wolle ja gar nichts vom Leben wie nur das Almosen von Glück, das ihm jetzt in den Schoß gefallen. Und wenn er sein Lebtag deswegen mit allen anderen im Zug Steine karren müsse, er würde es sich keinen Augenblick bedenken, und es würde ihn keinen Augenblick je reuen.
Aber Jettchen meinte, daß er das jetzt wohl nur so hinspräche.
Und dann waren sie nun doch fast an das Haus der Frau Könnecke gelangt, und der Duft von den Flieder- und Goldregenbüschen, die als trübe, verschwommene Massen am Zaun lehnten, kam schon her zu ihnen, überschrien und übertäubt von dem Orangenhauch der weißen Akazien, die hinten vom Garten her ihre Atemzüge in die dunstige Nacht sandten. Und ihrer beider Herzen schlugen schwer und drängend, daß sie sich nun trennen mußten. Und wie sie noch so still im Schatten der Linde standen, da wurde es hell im Zimmer der Tante, und ein breiter Lichtkegel goß sich hinaus auf die Büsche und die Blüten, so daß man jedes einzelne Blatt des Flieders ganz deutlich sah, – goß sich hinaus und ertrank mählich im Dunkel der tiefen Frühlingsnacht, ja, er kam nicht einmal bis zu der Linde, die die beiden schützte.
Und dann trat die Tante an das Fenster und sah hinaus. Aber da sie im Hellen stand, so war ihr draußen alles in doppelte Finsternis gehüllt, und sie ahnte nicht, daß wenige Schritte von ihr Kößling und ihre Nichte Jettchen mit angehaltenem Atem unter dem Baum standen. Und nachdem die Tante die Jalousien hineingezogen, warfen sich Jettchen und Kößling ein letztesmal einander in die Arme, und Jettchen, die stolze Jettchen Gebert schüttelte ein Schluchzen, und Kößling streichelte ihr Haar und Schläfen und Wangen und sprach auf sie ein und tätschelte und herzte sie und küßte sie unter leisen Schmeichelworten, so wie man ein müdes, unglückliches Kind beruhigt.
Und dann nahmen sie Abschied voneinander und reichten sich stumm die Hände, preßten sie und küßten sich und gaben sich wieder die Hände und küßten sich wieder und rissen sich endlich voneinander, schmerzhaft und gewaltsam. Und als Jettchen Kößling schon lange nicht mehr sehen konnte, glaubte sie immer noch, ihn im Dunkel zu gewahren und seine Schritte zu hören. Und endlich schlich sie ganz leise, daß nur die Gartentür nicht knarrte, hinein, das Treppchen hinauf, so daß sie die kühlen Blätter der Ligusterbüsche raschelnd streifte. Sie fürchtete schon, daß die Tür geschlossen wäre, aber die hatte Frau Könnecke offengelassen und den Schlüssel hineingesteckt, damit Jettchen von innen abschließen könnte.
Frau Könnecke selbst brannte den ganzen Sommer über kein Licht und ging mit den Hühnern zu Bett oder doch kaum ein, zwei Stunden später.
Auf Jettchens leises Klopfen rappelte es sich im Zimmer der Tante, – aber die Tante kam nicht. Und dann, nach einer ganzen Weile, klatschte das Dienstmädchen mit bloßen Füßen über den Korridor, denn sie war auch schon bettreif. Sie sagte, daß sie für das Fräulein noch Abendbrot gemacht hätte, und ob es Fräulein Jettchen vielleicht in ihr Zimmer haben wollte; aber Jettchen wollte nicht. Sie ging sofort in ihr Stübchen, stieß die Fenster, die nur angelehnt waren, weit auf und sah in die feuchte Nacht und in den Himmel, der da oben mit einer leichten Lichtkante über den Bäumen hing, und dann dachte sie, wo Kößling wohl jetzt schon wäre, und ob er schon am Steuerhäuschen wäre, und ob es nicht sicherer sei, wenn er fahren würde, und ob er nicht doch vielleicht selbst so klug sein würde und einen Torwagen benutzen.
Und dann begann Jettchen sich leise, ganz leise im Dunkeln auszuziehen, denn es konnte sie ja niemand sehen da drinnen in ihrem finstern Zimmer. Und sie nahm sich vor, zu schlafen, fest und süß. Aber ihr Blut kochte, und wenn sie die Decke über den Kopf zog und die Augen schloß, dann war es ganz dunkelrot um sie. Und wenn sie versuchte, an irgend etwas zu denken, was sie beide betraf, so floh das und glitt davon wie Laub und Blumen, die ein Windstoß in den Bach getrieben – da ziehen sie noch, und wo sind sie nun?
Und plötzlich schien es Jettchen, als ob es um sie lebendig wurde, – oder war es nur der Nachthauch, der von den Bäumen her hereinzog? Und als ob all das Geflüster, das einmal in diesen Räumen gelebt, die Liebe, die einmal in diesen Kissen geruht, wieder zum Dasein erwachte und mit ihren unerhörten Zärtlichkeiten sie betörte.
Und Jettchen lag eine ganze Weile da, heiß, zitternd, verängstigt; auch nicht ein Glied wagte sie zu rühren, und eine Sehnsucht kam über sie, daß sie schreien mochte, und sie fühlte wieder diesen ganzen Sprühregen von Küssen um Haar und Mund und Wangen, der sie überstäubt hatte.
Diese wehrlose Schwäche ertrug Jettchen nicht länger. Und leise, wie sie sich gelegt, erhob sie sich wieder, zog ein paar von ihren Sachen über, die weiß und deutlich in der Dunkelheit vom Stuhl leuchteten, fand einen Schal in der Ecke, den sie um die Schultern nahm, steckte die bloßen Füße in die leichten Pantoffel; und dann schlich sie mit verhaltenem Atem und angstvoll wie eine Diebin, nach jedem Schritt lauschend, ob sich auch nichts regte, bei jedem Schritt zusammenschreckend, weil vielleicht die Diele knarrte und es irgendwo knisterte, angstvoll aus ihrem Zimmer über den Korridor und das Treppchen hinab.
Und sie atmete erst auf und blieb einen Augenblick stehen, als sie unter dem dichten Laubdach der Kastanien war, das eine warmfeuchte Treibhausluft daniederhielt. Aber als drüben im Nachbarhof ein Hund anschlug und mit seinem dicken Kopf heulend gegen den Zaun stieß, ging Jettchen doch schnell weiter und auf vertrauten Wegen in das Dunkel des Gartens hinein.
Dort war es kühler als unter den Kastanien, und sie mußte das Tuch fest um die Schultern ziehen, weil ihr die Frische der Frühlingsnacht überall durch die leichte Bekleidung bis auf die Haut schlug und sie schaudern machte. Und Jettchen ging rastlos durch den Baumgarten, der ganz nach Akazien duftete, und wo hin und wieder oben Sterne zwischen dem Laub blitzten, und rastlos hinten im Obstland auf den kleinen Wegen zwischen den betauten Himbeerbüschen, wo sie den ganzen Himmel wie eine dunkle, funkelnde Glocke über sich hatte. Und sie dachte an die Worte Kößlings, der sie sich vorstellte, wie sie hell aus dem Dunkel eines Weges heraustrat, und sie dachte an Kößling und an ihr Glück und an ihre Hoffnungslosigkeit – immer wieder. Und sie lebte jedes Wort des Nachmittags und jeden Kuß des Abends noch einmal durch+... Es war so still im Garten, daß sie von weitem die Turmuhren schlagen hörte. Sie wußte nicht, woher das kam, aber ganz deutlich, alle viertel Stunden, alle halbe Stunden und in langen Zwischenräumen die Stunden. Und sie wußte gar nicht, wie spät es war, weil sie die Glockenschläge wohl hörte, aber nicht zählte. Und es wurde beinahe schon licht oder ihr schien das doch so, als sie endlich hinaufging, müde, ach so müde+...
Und als Jettchen wieder in ihrem Zimmer war, konnte sie kaum noch die Fenster schließen, da fiel sie schon auf ihr Bett, willenlos und schwer wie ein Stein, und schlief dumpf und traumlos bis in den hellen Vormittag+...