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Nehmen wir die Erfassung der Lehre von der animalen Abstammung des Menschen als gegeben an. Die neuere Forschung, insbesondere Ernst Haeckel, hat die naive Anschauung der Alten, wonach die ältesten Vorfahren der Menschen Zwitter waren – ich verweise auf die biblische Legende von der Erschaffung Evas aus einer Rippe Adams und die Auseinandersetzung des Aristophanes im platonischen Gastmahl – vollauf bestätigt. Erst aus dem Hermaphroditismus entwickelte sich durch Verteilen beiderlei Geschlechtszellen – Gonochorismus – auf verschiedene Individuen eine Geschlechtstrennung, und durch die dadurch bedingte geschlechtliche Zuchtwahl selectio sexualis – entstanden die sekundären Sexualcharaktere, wie z.B. die Entwicklung der weiblichen Brust im Gegensatz zu der männlichen. Die enge Verwandtschaft der männlichen Spermazelle und der weiblichen Eizelle bedingte natürlich eine starke Anziehung der Geschlechter, die sich in dem rein physischen Geschlechtstrieb äußerte. Albert Moll zerlegte in seiner Untersuchung über die libido sexualis den Geschlechtstrieb in den Detumeszenztrieb und den Kontraktionstrieb, d.h. in den rein physischen und rein geistigen Drang der Geschlechter, sich zu verbinden. Als ersten und deshalb wichtigsten Teil der Liebe leitet Moll folgerichtig den rein physischen Trieb ab, während er den Kontraktionstrieb nur als sekundäre Begleiterscheinung gelten läßt.
Mit diesem Resultat gelangen wir auf das Gebiet der Metaphysik der Liebe, zugleich ist das Problem als solches gelöst: Eine natürliche und darum gesunde Auffassung des Geschlechtsverhältnisses ist auch die ideale, weil das Prinzip der Liebe sich nicht auf äußerliche, durch menschliche Phantasie erfundene Einwirkungen stützt, sondern lediglich auf den durch die Natur seiner Entstehung bedingten physischen Geschlechts- oder Detumeszenztrieb. So dürfen wir, auch als aufrichtige Idealisten, die Anschauung Schopenhauers teilen, der sagt: »Alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstrieb, ja, ist durchaus nur ein näher bestimmter, spezialisierter, wohl gar im strengsten Sinne individualisierter Geschlechtstrieb ...
Der Endzweck aller Liebeshändel ist darum wirklich wichtiger als alle andern Zwecke im Menschenleben. Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres als die Zusammensetzung der nächsten Generation.«
Natürlich kann man das alles auch anders sagen, der Sinn aber bleibt der gleiche.
Die Leidenschaft und den Überschwang der Empfindungen des Liebenden läßt Schopenhauer des Weiteren nicht als individuelle Gemütsäußerung, sondern lediglich als causale Bewegung des allgemeinen Gattungstriebes gelten. »Denn die Gattung ist bestrebt, sich selbst zu erhalten, und da der Egoismus im Menschenleben die allein treibende Kraft für alle Handlungen ist, so kann die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen, daß sie dem Individuum einen gewissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen wähnt, bei welchem Hergang eine bloße, gleich darauf verschwindende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle einer Wirklichkeit vertritt. Dieser Wahn ist der Instinkt.«
Den Naturgesetzen, die – wie den Tieren – eine freie Auslebung des Geschlechtstriebes vorschreiben, standen natürlich die Menschen am nächsten, die durch lokale und temporäre Entwicklung am meisten von der Natur abhängig waren, die Menschen der Urzeit. Diese lebten in einem Zustande fortgesetzter Prostitution. Als bekannteste Quelle leitet Bebel seine Ausführungen über die Promiskuität der ältesten Vertreter des Menschengeschlechts von den wissenschaftlichen Untersuchungen eines Bachofen, Morgan und Kohler ab. Es soll die Behauptung Professor Westermarcks, die Ehe lasse sich als primitivste soziale Erscheinung schon bei den niedersten Kulturvölkern nachweisen, als möglich gelten.
Aber man darf sich wohl eher Dr. Iwan Bloch anschließen, der schreibt:
»Wer die Natur des Geschlechtstriebes kennt, wer sich über den Gang der Entwicklung des Menschengeschlechts klar geworden ist, und wer endlich die noch heute herrschenden Zustände auf dem geschlechtlichen Gebiete bei den primitiven Völkern und modernen Kulturvölkern studiert, dem kann gar kein Zweifel darüber aufkommen, daß in den Anfängen der Menschheitsentwicklung tatsächlich ein Zustand der geschlechtlichen Promiskuität geherrscht hat.«
Mantegazza behauptet von den Bhutias-Frauen in Indien, ihr Leben sei eine ununterbrochene Prostitution. Nicht viel anders urteilt Eyre von den Austral[neger]innen und Dr. Ploß von den Frauen Tahitis. Doch brauchen wir aus dem Sittenleben moderner halbzivilisierter Völker gar keine Rückfolgerung auf das Geschlechtsleben unserer Vorfahren zu ziehen, nachdem wir die historischen Beweise für das Vorherrschen der Promiskuität bei den ältesten Kulturvölkern besitzen. Im Sanskrit lesen wir, daß die Frauen in Indien nach Belieben umhergeschweift seien. Später scheint diese Promiskuität der Vorliebe für Monogamie gewichen zu sein, welche durch das Erstarken kultureller Bestrebungen bedingt wurde. Aus den Gesängen der Veden können wir wenigstens eine Verherrlichung des Familienlebens entnehmen, gleichzeitig aber finden wir auch Beweise für das Bestehen der Polygamie durch Redewendungen, wie: »Zwischen der Gabeldeichsel bewegt sich das Zugtier wie ein Mann auf dem Lager, der zwei Frauen hat,« eine Sentenz, die bereits die Hörigkeit des scheinbar herrschenden Mannes stark betont.
Oder ein anderer Ausspruch: »Wie ein Gatte mehrere Frauen nimmt, so soll Indra die Burgen der Dämonen einnehmen.« Solche in Form von rhetorischen Wendungen gebrauchte Sprüche lassen auf die Selbstverständlichkeit des polygamischen Geschlechtslebens schließen. Auch in späteren Zeiten, so unter der strengen Herrschaft der Brahmanen, dürfte die Vorliebe der Vornehmen für Polygamie dem immer mehr wachsenden Einfluß der gepredigten Askese keineswegs gewichen sein, wie beispielsweise die Mahnung besagt: »Wenn man eine Frau hat, die ihren Pflichten und der Geburt von Kindern gewachsen ist, nehme man sich keine andere.«
Mit der Vorherrschaft des Buddhismus, der da lehrte: »Gattin, Mutter und Tochter müssen gerade so viel gelten als eine Hure,« begann die Ziellosigkeit des Geschlechtslebens, wie es denn überhaupt eine bei jedem Kulturvolk jedes Zeitalters zu beachtende Tatsache ist, daß unter den strengsten Gesetzen, die die Individualität einengen, die Entartung der Geschlechter vorherrscht.
Damit soll jedoch keineswegs eine abfällige Kritik der buddhistischen Lehre an und für sich gegeben sein. Aber die Stellung des Weibes bei den Buddhisten ist den natürlichen und religiösen Empfindungen der europäischen Menschen fremd.
Gerade in die Zeit des weibfremden Buddhismus fallen Verwilderung religiöser Anschauungen und Gebräuche, wie Lingamkultus und Phallusverehrung, in deren Orgien sich krankhafte sexuelle Ausartungen einschlichen. Als gesunde Reaktion gegen die Askese sehen wir Verklärung der sinnlichen Liebe in der Verehrung von Bajaderen und Buhlerinnen, die die Gottesdienste besorgten.
In damaliger Zeit entstand auch die von glühender Phantasie durchwehte ars amatoria des Newani, das Kamasoutram und das Drama Vasantasena. Bei einem so vorgeschrittenen Kulturvolke wie den Indiern mußte natürlich die Ehe eine notwendige Folge des staatlichen Egoismus werden. War ursprünglich das Symbol der Verbindung von Sorna (Mond) und Surya (Sonne) das Vorbild für die Ehe, so wurde sie unter den Brahmanen eine rein gesellschaftliche Form. Im Ramajana, dem größten Epos im Sanskrit, wird von dem Gläubigen Dreierlei verlangt:
Opferspendungen, Lesen der Veda und – Kindererzeugung. Um dieser Sorge für eine Nachkommenschaft eine gesetzliche Basis zu geben, wurde die Ehe als notwendiges Übel geheiligt!
Dem Buddhisten war geboten, wenn er seiner Pflicht an das Leben genügt hatte, sich aus der Welt in die Einsamkeit zurückzuziehen, um von den sinnlichen Leidenschaften erlöst zu werden.
Natürlich waren die Ehen Werke der Vernunft, wie denn sog. Liebesheiraten – »Ehen der musizierenden Engel«, wie sie in Indien genannt wurden – verpönt waren. Die Ehe wurde durch strenge Vorschriften und Gesetze geschützt. So wurde Ehebruch immer mit Todesstrafe belegt, während Unfruchtbarkeit einen Grund zur Scheidung bedeutete. Abtreibung der Leibesfrucht wurde gleich schmählichem Morde wie schweres Verbrechen geahndet. Auch hier zeigt sich deutlich der Egoismus des Staates als leitendes Prinzip seiner Gesetzgebung.
Aber auch die Religionsstifter hatten eines erkannt: Eros macht den Menschen irgendwie hörig – Liebe verpflichtet, bindet.
»Alles Persönliche,« lesen die Rishis, die Erleuchteten, aus dem »Dharma« dem Gesetz Buddhas: »Alles Persönliche ist verknüpft mit Wünschen. Alle Wünsche suchen das Leben. Das Leben verlangt nach Glück (lies Eros). Glück aber bringt Leid. Und Leid ist alle Ursache des Todes (des geistigen und leiblichen Todes).«
Es gibt eine Sage, die (ähnlich dem chaldäischen Mythos von Astarte und Gischdubarra, von dem später die Rede sein wird) – den Glauben an die Hörigkeit als unvermeidliche Folge der Liebe, als warnende Stimme durchklingen läßt. Es ist die Geschichte vom Sündenfall der Bibel, von dem Elend, das über Adam kam durch Eva, die Mutter aller Geliebten.