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Es ist, wie schon erwähnt, positiv falsch, anzunehmen, der Masochist würde in jedem Falle geboren, das heißt, er bringe seine erotomanische Begabung schon mit auf die Welt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß jene verwerfliche Erziehungsmethode, die oft überzeugungsgemäß, oft aus sadistischem Trieb von Pädagogen in allen Ländern ausgeübt wird, den Grundstein zu einer Reihe von geschlechtlichen anormalen Vorstellungen und Ausübungen bildet.
Man muß nicht nur der Justiz und der meist schlecht orientierten Öffentlichkeit den Vorwurf machen, dieses Krebsübel im Staat viel zu wenig zu beachten, Kindermißhandlungen viel zu sehr zu bagatellisieren. Nein, auch berufene Vertreter der Wissenschaft haben sich noch immer nicht dazu bekennen können, in den Mißhandlungen Jugendlicher das Erbübel zu erkennen, das später zu den schwersten Anormalien des Betroffenen führt.
Vor einigen Jahren ereignete sich in Wien ein typischer Fall. Edith C., eine eigenartige Erzieherin, wurde zu sechs Jahren schweren Kerkers verurteilt, später begnadigt. Diese seltsame Erotomanin führte nach ihrer Entlassung einen unfruchtbaren Kampf um ihre Rehabilitierung. Sie stellt den Typ jener Erzieherinnen dar, die unermeßliches Elend über die ihr anvertrauten Kinder bringt.
Ich halte mich mit Absicht bei der Erörterung dieses Falles nicht an die von mir gesammelten Prozeßberichte, sondern an die Darstellung, die Erich Wulffen in seinem Werk »Irrwege des Eros« gibt. In einem Briefe schrieb Frau Edith C. an Wulffen, der in seiner Eigenschaft als Richter und bereits berühmter Sexologe mit ihr in Berührung gekommen war:
»Ich selbst war schon 16 und 17 Jahre alt, als ich noch immer gezüchtigt wurde. Es war mir eine unbeschreibliche Sensation, eine beispiellose Erschütterung der Nerven, ein Zusammenströmen des Blutes in rasendem Tempo und ein mit nichts zu vergleichendes seelisches Erlebnis von solcher Stärke, das die höchsten Fähigkeiten und fast überirdischen Eigenschaften meinem innersten Wesen entlockte. (Edith war also, wie die Selbstgeißler, sadistisch und masochistisch zugleich gestimmt.) Nach solcher Erschütterung war ich am fähigsten, das Höchste an Leistungen zu vollbringen, ich war emporgehoben und befreit von aller irdischen Schwere des Körpers. Alles Schlechte in mir schwieg, und ich fühlte mich einem Engel gleich. Natürlich sprach niemand über solche Wirkungen. Der Gedanke kam mir oft, daß vielleicht Niemand die Wollust des Schmerzes und Leidens restlos auskostete. Aber alles war unbewußt in mir, und ich dachte auch nicht weiter darüber nach. Ich halte meine Veranlagung für etwas ganz Natürliches und sehe gar nichts Besonderes darin. Diese Veranlagung war immer latent in mir vorhanden, ich betrachtete sie als normal und glaubte fest, daß die andern Menschen ebenso beschaffen wären. Ich sprach ja mit niemand darüber. Und meine Jugenderziehung ohne schwächliche Verzärtelung hat das Phänomen gezeitigt.«
Wulffen, dieser verehrungswürdige Psychologe und feinsinnige Schriftsteller, quittiert dieses Schreiben mit der Bemerkung:
»Das sind wundersame, für den Sexologen übrigens durchaus glaubhafte Bekenntnisse, die einen tiefen Blick in unser Menschliches-Allzumenschliches und dessen Zusammenhang mit wichtigsten Kulturerscheinungen gewähren. Hinter diesem Menschentum versinken die kleinlichen Kriminalia des Falles Edith C. und eine Märtyrerin steigt uns empor.
Frau C. hat immer wieder die innere seelische Befreiung von Schuld und die Gehobenheit ihrer Kräfte zur Besserung nach einer empfangenen Züchtigung betont. An dieser Bemerkung ist etwas Richtiges. Wir wissen aus unseren Kinderzeiten, daß die erlittene Züchtigung unser Vergehen, unsere Unart sühnte und den erwünschten Ausgleich mit den Eltern brachte, also tatsächlich eine Erlösung von der Schuld. Viele Kinder spüren auch, ohne den Zusammenhang zu ahnen, eine sich ihrem ganzen Wesen mitteilende Wohligkeit, weil von dem gezüchtigten Gesäß ein lebhafterer Blutumlauf ausgeht und die wohlige Wärme sich über die Sexualorgane verbreitet. In dieser so erzeugten Stimmung können tatsächlich beste Vorsätze Platz greifen und sich für eine Zeit Geltung verschaffen. In solchem Zustand fühlte sich Frau C. »rein wie ein Engel«, wobei die Beschämung der Züchtigung und die erlittenen Schmerzen ganz in den Hintergrund traten. Es ist auf die »Reinigung« durch die körperliche Züchtigung bisher kaum aufmerksam gemacht worden. Könnte sie erzieherische Bedeutung haben?
Deshalb will Frau C. – im Widerspruch mit sich selbst – eine geschlechtliche Färbung solchen Zustandes nicht gelten lassen. »Man kann nicht kaltblütig und völlig gleichgültig die aufregende Prozedur einer Kinderzüchtigung, bei der ja immer der Widerstand des Kindes überwunden werden muß, vollziehen: das Blut beginnt zu rasen, Herz- und Pulstätigkeit erhöhen sich ganz gewaltig, die Nerven vibrieren ... es ist vielleicht Machtrausch oder Lust am Überwältigen, ich weiß es nicht, ich kann es nicht erklären, aber es ist sicher keine Sensation geschlechtlicher Art ... vielleicht ist es aus nur ästhetischer Lust am nackten Körper, am Schauspiel der Machtentfaltung.«
An anderer Stelle schreibt mir Frau C.: »Ich kann aus eigener Überzeugung sagen, daß ein Kind – vielleicht jedes Kind – die Sensation der körperlichen Züchtigung durch die Mutter oder die dazu berufene Frau braucht, um nicht in trostloser Eintönigkeit einer rein materiellen Erziehung sein Empfindungsleben, seine Phantasie und künstlerische Neigungen verkümmern zu lassen. Warum vermeidet man so ängstlich, das Kind »aufzuregen?«
Ich finde im Gegenteil, daß nur durch »Aufregungen« der Geist und das Empfindungsvermögen des Kindes ins Ungeahnte gesteigert werden können. Es gibt so viele armselige Menschen, die erotisch gar nicht empfinden können und deshalb auch nicht das Wesen der Kunst begreifen.«
Deshalb behauptete Frau C. mit Hartnäckigkeit, daß ihre Richter sie brutal zu einer Sadistin gestempelt haben, anstatt zu erforschen und zu sehen, was sie innerlich sei, und was sie im tiefsten Grunde betroffen habe: die »Dämonie der Unschuld!«
Diesen Standpunkt kann sich der Gegner der Prügelstrafe nicht zu eigen machen. Man mag die Frau Edith C. beurteilen, wie man will: Die Opfer ihrer abwegigen Triebe sind auf alle Fälle für das spätere Leben irgendwie geschädigt, manche weniger, manche mehr. Und man muß immer wieder mit allen Mitteln verhüten, daß Kinder in Hände solcher Menschen fallen, die die Züchtigung als erotisches Reizmoment – und welch erotisches Reizmoment! – betrachten.
In einem andern Briefe schreibt diese Erzieherin, die auch wegen unzüchtiger Berührungen der Kinder verurteilt wurde:
»Meine erotischen Machtgelüste erreichen die höchste und schönste Erfüllung als Mutter und Erzieherin. Auch dem Manne gegenüber fühle ich als Mutter. Übrigens ist für mich das Geschlecht eines Menschen von keiner Bedeutung: ich kann erotisch mit einem Manne wie mit einer Frau verbunden sein, die Stärke der Empfindungen ist durch nichts beeinträchtigt. Sinnliche Funktion als solche ist mir widerwärtig, das Strafen der Kinder, das höchst selten geschah, wirkte erregend auf mich, ohne daß ich aber darin etwas Besonderes gesehen hätte: ich habe gedacht, daß alle Menschen so empfinden, und nahm es als selbstverständlich, ohne darüber nachzudenken. Mein Prozeß war jüdische Mache in Verbindung mit polizeilicher Borniertheit und Taktlosigkeit. Ich habe nie über meine Veranlagung als etwas Anormales nachgedacht, sondern alles ganz natürlich gefunden – daß jemals eine so schmutzige Angelegenheit daraus gemacht werden könnte, hielt ich nie für möglich!«
Nun, man vergegenwärtige sich einmal einen kurzen Lebensabschnitt aus dem Leben dieser Erotomanin, um alles zu begreifen. Ich folge der Darstellung Wulffens:
»Sie trat in ein Pariser Kloster als Hilfslehrerin für die Klosterschülerinnen, wo eine Tante, Vaters Schwester, tätig war. Hierzu schreibt mir Frau C. noch: »Die Vorliebe und Neigung zum Lehr- und Erziehungsberuf war in mir frühzeitig bemerkbar. Ich fühlte die lustbetonten Momente, die in dieser Betätigung des Führens, Leitens und Lehrens liegen, schon früh heraus. Ich bewunderte als Kind die Erziehungsgewaltigen in ihrer unumschränkten Macht über ihre Unterstellten.«
Sie träumte als junges Mädchen mit Vorliebe davon, daß sie einmal selbst, Mutter oder Lehrerin geworden, in ihrer Tätigkeit die gleichen lebenssteigernden Machtgefühle erfahren werde. Das ließ ihr die Mütterlichkeit und die Erziehung als einen Quell der Freude und der Lust erscheinen, was sie ihr auch später wurden. Eine 42jährige Schwester, Marie-Thérèse, gerät in den Bann der Zwanzigjährigen. Die Ältere läßt die Jüngere bei Bestrafung ihrer Schülerinnen anwesend sein. »Die klassische Methode des Rutenstrafens führte sie so wundervoll aus, daß eine solche Prozedur, abgesehen von den erregenden Momenten, einen wirklich ästhetischen Genuß bedeutete. (Edith C. bezeichnete sich selbst als Ästhetin, darf als solche anerkannt werden, hier setzt ihre seltsame Idealisierung ihrer Veranlagung ein, die noch weiter zu verfolgen sein wird). Die leidenschaftlichen Forderungen der Strafenden und die demütige Hingabe der Gestraften verschmelzen zu einem Akkord vollkommener Schönheit. Ich als Zuseherin empfand solche Eindrücke als Erlebnis, das tagelang in meiner Seele fortwirkte. Marie-Thérèse fühlte das Beben meiner Nerven, das Rasen meines Blutes und den Taumel meiner Sinne, welche sie in mir durch ihr künstlerisches Wirken auszulösen imstande war, und triumphierte. »Eine Zehnjährige hat einer Mitschülerin ein Heft gestohlen. Edith wird von Marie-Thérèse gebeten, die Rutenstrafe unter ihrer Assistenz an dem Kinde zu vollziehen. Das Mädchen wird in den Bußraum geführt, in einem Kasten hängen Peitschen, Ruten für Geißelungen, Rohrstöcke, Keulen, auch zur Selbstkasteiung der büßenden Nonnen bestimmt. Die Kleine faltet weinend die Hände und schluchzt unter Bekenntnis ihrer Dieberei: »Ich bitte um meine Strafe.« Sie zieht sich selbst das Höschen ab, legt sich wie selbstverständlich auf eine gepolsterte Bank der Länge nach, die Nonne schlägt ihr die Röcke auf den Rücken. Edith hat die Birkenrute zu zehn Schlägen in der Hand. »Meine Nerven bebten, mein Blut raste, ich hob die Rute, die auf den entblößten Körper erst langsam, dann rascher niederfiel ... Das Kind erhob sich, bedankte sich für die Strafe und versprach, sich zu bessern. Es küßt mir und der Schwester Marie-Thérèse spontan die Hände und hüpfte mit heiterer Miene zur Tür hinaus. Marie-Thérèse und ich standen uns allein gegenüber. Der ekstatische Ausdruck ihres Gesichtes, ihrer ganzen Haltung wirkte unheimlich. Ich selbst konnte kein Wort sprechen. Und ehe ich wußte, wie es geschah, fiel sie vor mir auf die Knie.« Abends kommt Marie-Thérèse zu Edith, erklärt ihr, daß sie willenlos in ihrem Banne stehe, will verachtet, geschlagen, gepeitscht sein. Es erfolgte eine Liebesvereinigung. So verfiel Edith dem »Dämon der Macht«. Ihre sensiblen Nerven wurden eine Beute der innerlich und äußerlich in ihr ausgelösten Empfindungen. Ihr physischer Körper war vollkommen androgyn. Ihr Geist, ihre Energie, ihr Drang nach Unabhängigkeit waren männlich. »Ich war groß, schlank, hüftenlos, von grazilem Bau und zarten Formen, meine Augen waren blau, die Haare blond.« Der Mann im Manne war ihr völlig gleichgültig, eher suchte sie in ihm das Kind. Sinnliches Begehren eines Mannes verletzte sie, stieß sie ab.
Das Verhältnis mit Schwester Marie-Thérèse nahm ganz folgerichtig seinen Lauf zum Höhepunkt der Leidenschaft. »Der Machtrausch fiel mich an ... Plötzlich fühlte ich: sie war die Ergänzung zu meinem Wesen, mit ihr verbunden sein, hieße für mich: vollkommen sein. Sie und ich sind einzeln nur Halbheiten, die ein Ganzes werden sollten.« Marie-Thérèse ließ sich von Edith geißeln, aber die Jüngere liebte jene nicht, der Machtrausch dauerte nur wenige Monate, die Ältere begann ihr bald lästig zu werden. Die Atmosphäre des Klosters, in der sie über vier Jahre lebte, ward ihr zu schwül, sie stand im 25. Lebensjahr. Sie ging nach Wien ...
Der Leser beachte: Die Kinder mußten um ihre Strafe bitten und sich nach erhaltener Strafe für diese bedanken. Und solch eine Sadistin wie diese Edith C. hielt das Schicksal unschuldiger Kinder in Händen. Ähnliche Sadistinnen bleiben oft Jahre hindurch unerkannt und richten entsetzliches Unheil unter Kindern an, bis ihnen – und parallel veranlagten männlichen Sadisten – vielleicht das Handwerk gelegt wird. Fraglos ist Edith C. ein sehr interessanter Typ für die Sexualforschung. Für die Menschheit und für die Jugend war sie – mag sie sich in ihrem verirrten Triebleben auch noch so unschuldig gebärden – eine schwere Gefahr, das Vorbild jener »Herrinnen«, bei denen sich später die Opfer ihrer Erziehungsmethode einstellen – sei es als masochistische Männer, sei es als entartete Frauen!