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Es ist nun an der Zeit, der bisherigen weitgehend biographisch angelegten Darstellung die Einzelinterpretationen an die Seite zu stellen.
Besonders aufschlußreich ist für den Beginn des poetischen Schaffens Hilles »Prometheus«. Hier tritt die Dichterpersönlichkeit auf ihrem historischen Hintergrund hervor. – Nicht nur von der Antike her, sondern vor allen Dingen in Beziehung zu Goethes »Prometheus« bietet sich die Betrachtung an. Hilles Prometheus ist ein leidender Prometheus, der in den Folgen seiner Tat – die Bestrafung für den Raub des Feuers – Glückserfüllung findet. Dieses Leiden erfährt deshalb einen Umschwung in Glück, weil der Mensch als Schöpfung Prometheus' diese Leiden wert ist. Es ist nicht der sieghafte Prometheus Goethes, der den Göttern in unabhängiger Macht begegnet, sondern es ist der machtlose gefesselte Held, der durch die von ihm erduldeten Qualen das Recht des Menschen auf seine Selbstverwirklichung erkämpft. Hilles Prometheus fordert die einmalige Tat, deren Folgen für den einzelnen Leiden und Qual, für die Menschheit jedoch Entwicklung bringt. Frühzeitig bildete sich in Hille dieses auf Isolation zielende, aber für die Gemeinschaft tätige Menschenbild heraus. Die Kommunikation zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft ist jedoch einseitig: Zum Schöpfer kann der einzelne nur werden, wenn ihm seine Position an der Peripherie der Gesellschaft erhalten bleibt; er ist für die Menschen tätig, ohne je Resonanz zu erwarten. Das war für die Sagengestalt des Prometheus durchaus realisierbar, weil die Folgen seiner Tat auch ohne die entsprechende zweiseitige Verständigung zwischen Prometheus und den Menschen bewußt sind. Schwieriger wurde es für Hille, den Verzicht auf den Dialog für sich und die Gestalten der Gegenwart einzuhalten. Deshalb finden sich sowohl in der Lyrik als auch in Prosa und Dramatik fast ausschließlich Gestalten einer überschaubaren und bewertbaren Vergangenheit, Sappho und Sophokles, Salome und Antinous, Lord Byron und Kleist, Giordano Bruno und Petöfi. Diese willkürliche Reihung ließe sich fortsetzen; aber auch dann würde eines deutlich werden: Sie alle wurden von Hille als Verkörperung der Kunst, der Schönheit, der Bewußtheit und eines individuellen Auslebens gesehen. Sie entsprechen seiner Vorstellung vom Menschen: »Des Menschen Natur ist Kunst und Bewußtsein. Der Mensch ist eine Pflanze, er kann sich nicht allzu weit von seinem Klima entfernen. Er spürt es.« Der Dichter ist für Hille derjenige, der diese Entfernung von der eigentlichen Bestimmung des Menschen als einer der ersten spürt und seine Stimme warnend erheben soll. Dafür stehen ihm seine Intuitionen, nicht wissenschaftliche Analysen zur Verfügung. Intuitionen bedeuten jedoch auch Verlust der Kommunikation, da der Dichter auf gestaltete Intuitionen nicht mit einer Resonanz rechnet.
Hilles Lyrik ist nicht nach metrischen Ordnungen und poetischen Plänen her zu bewerten. Häufig findet sich zwar der Reim, selten fügen sich jedoch die Silben metrischen Gesetzen. Fast alles ist geprägt vom Charakter der Intuition. Das wird sogar darin deutlich, daß sich die lyrischen Formen, die Hille stets als sekundär gegenüber dem Inhalt betrachtete, oft ihrem Gegenstand fast von selbst angleichen. So stellen sich in der Prosa des Romans »Sappho« fast von selbst antike Strophenmaße ein: »Silbrig flüstern Oliven. Offenbar werden ihre reinen Geheimnisse. Gekrümmt und gespalten die Stämme vor zähem Duft und lodernder Wildheit der Säfte.« Aber auch Versmöglichkeiten, die sich ausschließen, werden miteinander verbunden, wenn damit größere Einprägsamkeit erreicht wird: So bricht z. B. mehrfach die Alliteration in das Reimgedicht ein und löst den Reim auf. Dieses Zerbrechen fester Formen, die Formlosigkeit als Prinzip und die Gleichgültigkeit gegenüber Stilregeln und ästhetischen Gesetzmäßigkeiten weisen Hille als späten Nachfahren auch des Sturm und Drang aus, dem er sich, wie zahlreiche Aphorismen dokumentieren, zeit seines Lebens polemisch verbunden sah. »Genie ohne Form« wurde er in einem von Bierbaum verfaßten Steckbrief genannt. Der Verachtung und Ablehnung einer den Menschen tyrannisierenden Ordnung, sich als Ablehnung des bürgerlichen Staatswesens ausdrückend, setzte der Dichter das individuelle Erlebnis als innerlichen Vorgang gegenüber, ordnungslos und damit gestaltenreich. Bei aller ästhetischen Unbeholfenheit bringt eines der zahlreichen Gedichte über Hille, Wilhelm Arents »Der König der Aphorisme«, diese Zusammenhänge zum Aufdruck:
»Um uns tobt ein neuer Sturm und Drang
Und geht zu neuem Gral den Gang.
Auch heut lebt an Spreas grünen Borden
Ein Mann wie einst der Magus im Norden.
Er schmiedet goldne Aphorismen,
Ein wackrer Todfeind aller Ismen,
Ein goldner Magier, nennt sich Hille,
Ein weiser Mann der siebten Stille.«
In Hilles Lyrik ist jedes Wort als sachlicher Ausdruck für einen momentanen Zustand zu nehmen. Umschreibungen und Vergleiche sind selten, dafür stehen Wortblöcke stellvertretend für bildhafte Vergleiche. Selbst dort, wo sich noch Vergleiche und Metaphern finden, schwinden diese im poetischen Ablauf und realisieren sich als Tatsache. Das Gedicht »Abbild« setzt die Seele zartem Silber gleich, hier noch durch »wie« verbunden. Bereits der zweite Vergleich verzichtet auf die Vergleichspartikel »wie«: »Zwei flinke Fittiche weißer Möwen / Deine beiden Füße.« Schließlich verselbständigt sich diese Bilderwelt, erhält eigenes Leben und damit eine eigene Wirklichkeit, die Wunder ermöglicht:
»Und dir im lieben Blute auf
Steigt ein blauer Hauch
Und sind die Dinge darin
Alle ein Wunder.«
Der Titel des Gedichtes – »Abbild« – weist auf die programmatische Bedeutung hin; Hille will das künstlerische Abbild der Wirklichkeit als neue Realität verstanden wissen, die sich kaum mit ihrer Vorlage vergleichen läßt. Aus Metaphern sind Evokationen geworden.
Scheinbar Sprunghaftes fügt sich antithetisch; die Dialektik der Natur und Gesellschaft, von Hille jederzeit anerkannt, führt zu polar sich gegenüberstehenden Wortgebilden, die neue Zusammenhänge provozieren und Eingang in die poetisch geschaffenen Welten ermöglichen. Besonders auffallend ist diese Erscheinung in dem Gedicht »Tasteride Tage«: »Ziegelglut« und »Erdenschnee« stehen sich gegenüber, »Apostelhäupter« und »Kartenspieler«. Bis in die Partizipialkonstruktionen hinein führt Hille dieses Prinzip durch:
»Ein streckendes Zittern, ein schwellendes Glühen.« Im Bilde des Überganges vom Winter zum Frühling gestaltet Hille die sich wiederholende Entwicklung der Natur, verdeutlicht wird diese ständige Wiederholung durch die Deckungsgleichheit der ersten und letzten Strophe. Dieser unaufhaltsam sich vollziehenden Veränderung ordnet sich auch der Mensch ein, der nur scheinbar göttlichem Wollen unterworfen ist: Die Apostelhäupter sind in Wirklichkeit »der Kartenspieler trübe Gemeinde«. Der Säkularisierung – fast ist es eine Verunglimpfung – der Apostel setzt Hille wiederum die Ausnahmegestalt des Dichters gegenüber: Nicht nur die Welt entwickelt sich, sondern auch der Dichter; er ist nicht abhängig von ihr, sondern gleichbedeutend:
»Einsamkeit der Einsamkeiten,
Welt und ich: wir beide schreiten.«
Hilles Dichtung will poetische Sinnlichkeit sein; sie konstituiert sich selbst als Natur und verzichtet dabei auf überprüfbare logische Zusammenhänge. Logik gehört für Hilles lyrisches Subjekt zu den Bestandteilen der negierten offiziösen Welt. Hille verzichtete auf eine Distanzierung seiner lyrischen Subjekte von sich selbst; es war ihm deshalb nirgends möglich, sein Ich zu objektivieren. Der Dichter wurde für ihn zu einem Helfer der Menschheit, nicht durch Aktion, sondern durch seine Anwesenheit. Parodistisch überhöht, aber durchaus sehr ernst gemeint, formulierte Hille: »Ich bin, also ist Schönheit.« Diese Schönheit ist durch den Dichter vorhanden, solange er seine Dichtung für die Menschheit schafft. Fast leitmotivartig kehrt diese Formel wieder: Sie steht am Ende des Romans »Die Hassenburg«, als Motto vor »Sappho auf der Hochzeit« und als Aphorismus in »Ecce poeta«. Der sonst so großzügig mit seinen Ideen und Werken verfahrende Dichter kehrte immer wieder zu diesem Leitsatz zurück.
Die Freunde wissen zu berichten, daß Hille tagelang nach einem Wort suchte, das eine bestimmte Erscheinung nicht nur poetisch abbildete, sondern auch deren emotionale Wirkung in sich trug. Das waren für Hille künstlerische Gesetzmäßigkeiten, nicht Metrik und Reim, Versfüllungen und Strophenbau. Sprache war ihm als Teil der Natur den Naturgesetzen unterworfen und damit in der Lage, Natur zu reproduzieren. Ja, Dichtung wurde ihm nicht nur Abbild der Wirklichkeit, sondern selbst reflektierbare Wirklichkeit, die sich des Menschen als Entäußerung der Reflektionen bedient. Das besondere Verhältnis zum Wort wird auch darin deutlich, daß Hille einzelne Ausdrücke auf ihren ursprünglichen Gehalt zurückführte oder, wie er glaubte, deren Bedeutung von einem konservativen Überzug befreien mußte. Kinder sind ihm z. B. »köstlich blöd und dumm« (»Maienfrühe«); er will damit ihre Unerfahrenheit beschreiben, die ihnen einen natürlichen Zugang zu seiner fiktiv-harmonischen Welt erlaubt, und bezieht sich deshalb auf die ursprüngliche Bedeutung des »blöd« als »scheu, schüchtern«. In einem Huldigungsgedicht auf Heinrich Heine wird davon gesprochen, daß das Lied dieses hochverehrten Dichters den Spießer »roh hoch gezwungen« habe, wobei »roh« anerkennend gemeint ist und das im Lateinischen angelegte »hart« (crudus) assoziieren soll. Das bei Hille häufig auftretende Wort »lallen« soll nicht Sprachunfähigkeit ausdrücken, sondern lautmalerisch den Beginn der Sprachfähigkeit beschreiben. So wird es am Beginn des Gedichtes »Schaumgeboren« verwendet, wobei die sprachlichen Bestandteile, mit denen das Gedicht einsetzt, diesem Lallen entsprechen und sich erst später zu vollständigen syntaktischen Einheiten erweitern. So erhält Hilles Lyrik eine Sprachkraft, die auf den kommenden Expressio1nismus vorausweist wie auch die Spracherneuerungsversuche Arno Holz' in Hilles Werk angelegt sind, so z. B. tauchen die von Holz theoretisch ausführlich begründeten Wortmonstren in Hilles,Gedicht »Der Tag und die Sonne« auf: »Tagvergießerin, / Blumensprießerin, / Traubensüßerin, / Erdengrüßerin, / Glutansauserin, / Lichterbrauserin, / Raumaufspalterin, / Kraftzaumhalterin.«
Die Sprache war für Hille ein Mittel, um seinen fiktiven poetischen Welten in ihrer Begrenztheit eine möglichst große Harmonie und Richtigkeit zu geben. Hier liegt auch der Grund, weshalb sich in Hilles Dichtungen relativ häufig Begriffe aus der christlichen Sphäre finden. Hille glaubte an eine elementare Schöpferkraft, für die er einen Gott einsetzte, der weder Gläubigkeit im religiösen Sinne noch kirchliche Institution bedeutete, aber dem Dichter das Arsenal der christlichen Begriffswelt öffnete. Der von Hille beschworene
Gott war Sinnbild einer perfektionierten Schönheit, der sich der Dichter nähern wollte. Für Hille hatte nur der Dichter Zugang zu dieser Vollendung, die er aber mit dem Leben bezahlen mußte. Aus dieser Schönheitsgläubigkeit, die bürgerliche Literaturwissenschaftler gern dem Katholizismus zuordnen wollten, entstanden Hilles Ansprüche, selbst gottähnlich sein zu wollen. Hier liegen die Ursachen für die Beinamen »Magus des Nordens« (Arent) und »St. Peter« (Lasker -Schüler). Poetisch finden sich Parallelen zwischen Christus und Hille, so heißt es z. B. in dem Gedicht »Mein Kreuz«:
»An meinen Werken bin ich aufgenagelt,
Ich bin so tot, wie sie lebendig sind.
Mein Blut ist all in sie hineingeflossen.
Zerwühltes Himmelslager.«
Aber Hille wich nicht aus ins Transzendente, sondern verstand diese Gleichsetzung ganz in dem persönlich-privaten Sinne, wie er sein Leben führte. Um nicht die Interpretationsmöglichkeit aufkommen zu lassen, daß er sich als Gott fühle, relativierte er in dem genannten Gedicht den Gedanken, daß sein Kreuz, die Dichtung, dem Kreuz Christi, Zeichen der Erlösung der Menschen, gleichzusetzen sei, indem Hille in dieses Bekenntnisgedicht eine höchst profane Kaffeehausspießigkeit einbrechen läßt:
»Und wie ich niederschaue totverloren,
Da wiehert auf das Kaffeehaus und reicht
Aus spitzem Keil dem tintengiftumgrünten –
Aasfliegen strotzen so im Schillerpanzer –
Mir einen Wisch mit Lauge.
Von Doktor So und so.«
Bekenntnisdichtungen dieser Art finden sich mehrfach; immer sieht der Dichter die Aufgabe, zum Weltbeglücker zu werden, wobei er sich, bei erreichtem Ziel, in Schönheit auflöst. Auf der Suche nach der »schönen Welt« wurde für Hille die Dichtung immer mehr zur Heimat. Nicht seine Anmut und sein Vagantendasein interessierten ihn, sondern sein Schloß im Roman »Die Hassenburg«; nicht die oft erlebte Einsamkeit bedrückte ihn, sondern er lebte in der poetisch vorhandenen Zweisamkeit seiner Gedichte »Brautseele« und »Brautmorgen«. Nicht die von ihm erlebte und schmerzlich empfundene Kinderlosigkeit wurde sein Thema, sondern die Liebe zum Kind, wie sie kein Vater hätte trefflicher ausdrücken können, und Erziehungsfragen wurden Gegenstand seiner dramatischen Werke. Die poetischen Welten traten an die Stelle der Wirklichkeit; in ihnen ist ein freies und glückliches Leben möglich. Selten sind in Dichtungen um die Jahrhundertwende Poesie und gesellschaftlich-politische Wirklichkeit so weit auseinandergefallen wie hier. Hille verzichtete darauf, ein gesellschaftliches Wesen zu sein, um sich die poetische Schönheit und die natürliche Empfindungskraft erhalten zu können. Seelenverwandt sah sich Hille den Kindern; »Kind« ist eines der Leitworte durch das Gesamtwerk. Das Kind bedeutete dem Dichter noch Naivität und natürliches Lebensgefuhl. Eine der wenigen Aktionen, die sich in Hilles Dichtung finden, wird von ungeborenen Kindern inszeniert, die sich weigern, Nachkommen von Bankdirektoren zu werden, weil sie dort mißhandelt werden. Hille läßt diese Ungeborenen eine Lebensführung propagieren, die auf finanzielle Sicherheit verzichtet, aber in ihrer Natürlichkeit eine Alternative zur »Fäulnis der heutigen Gesellschaft« (»Einstimmiger Beschluß«) bedeutet.