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Unter den Aussagen, die der Historiker über das Individuum macht, sind als völlig heterogene die darstellenden von den wertenden zu scheiden. Zu den darstellenden gehören alle die‚ die sich mit der Herkunft, dem Aussehen, dem Beruf, dem Alter des Individuums usw. beschäftigen. Auch die Aufzählung und Beschreibung der Werke, die Frage nach ihrer Echtheit oder Unechtheit, ihren Quellen usw. ist in diese erste Gruppe einzureihen. Sowie ich aber von einem Individuum oder einem seiner Werke sage: es ist gut oder schlecht, es ist ernst oder heiter, es ist klug oder dumm, – mache ich, wie ohne weiteres einleuchtet, eine wertende Aussage. Um Wertungen genau derselben Art handelt es sich nun auch bei den Ausdrücken: mittelmäßig oder begabt oder talentiert oder genial.
Schon an dieser Stelle könnte ein Einwand erhoben werden. Extreme Individualisten – freilich nur sie – könnten darauf hinweisen, daß namentlich die Bezeichnung »genial« nicht wertender, sondern darstellender Art sei, d. h. daß eine geniale [8] Persönlichkeit sich von den übrigen ebenso unterscheide wie etwa ein Kaukasier von einem Äthiopier. Denn als genial seien alle die zu bezeichnen, bei denen eine bestimmte Begabung in dem Maße vorhanden sei, daß sie mit Hilfe dieser Begabung Neues, Originales zu schaffen vermögen. Dies ist die heute gebräuchlichste Definition des Begriffs »Genie«. Vgl. z. B. REIBMAYR, Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies, München 1908, I, 4. Nun ist freilich das Wort »neu« darstellender Art, was schon aus einer Zusammenstellung des darstellenden Ausdrucks: »das neue Buch« mit dem wertenden »das schöne Buch« hervorgeht; aber es wird hier in einem übertragenen, mit dem ursprünglichen sich gar nicht mehr deckenden Sinne gebraucht. Von dem Mechaniker, der einen Druckknopf erfunden hat, wird man mühelos sagen können, worin das Neue, Originale seines Werkes besteht. Aber sehr schwer wäre es, das Neue, Originale etwa in GOETHES »Faust« zu bezeichnen, ohne sofort in Wertungen zu verfallen. Trotzdem hält niemand den Mechaniker für genialer als GOETHE. Die Erklärung hierfür liegt, wie bereits angedeutet, darin, daß das Wort »neu«, zum mindesten wenn es auf künstlerische Eminenzen angewandt wird, nur eine Umschreibung von Wertworten ist, daß in Wirklichkeit unter Genialität etwas völlig anderes verstanden wird als die Fähigkeit, »Neues« zu schaffen. Die ausgedehnte rein philosophische Diskussion über das Wertproblem bleibt hier unberücksichtigt, da sie zum Gegenstand dieses Buches keine unmittelbaren Beziehungen hat.
Es wird schon nach diesen flüchtigen Darlegungen evident, was im Grunde kaum zu bezweifeln ist: daß zwischen den Sätzen »GOETHE ist ein deutscher Dichter« und »GOETHE ist ein genialer Dichter« eine starke prinzipielle Verschiedenheit besteht, d. h. daß der erste auf ganz andere Weise zustande gekommen ist als der zweite. Die Richtigkeit des ersten Satzes kann nur ein Ignorant oder ein Narr bestreiten: dieser Satz drückt eine Tatsache aus, die allein vom Objekt, also von GOETHE, abhängt, an deren Gestaltung aber das Subjekt, der Sprechende, gar keinen Anteil hat.
Wer hingegen daran zweifelt, daß GOETHE ein genialer Dichter ist, braucht weder ein Ignorant noch ein Narr zu sein, [9] und wir werden später noch sehen, wie so manche recht urteilsfähige Menschen GOETHEs Genialität bestritten haben und auch heute noch bestreiten. Ihnen kann man nicht – wie es bei dem ersten Satze möglich ist – die Unrichtigkeit ihres Standpunktes nachweisen, eben weil ihr Widerspruch sich nicht gegen die Feststellung einer Tatsache, sondern nur gegen die Formulierung eines Werturteils richtet.
Am Zustandekommen eines Werturteils sind nun, wie kaum hervorgehoben zu werden braucht, zwei Faktoren beteiligt: ein Objekt, das bewertet wird, und ein Subjekt, das wertet. Dem Subjekt kann das Objekt aber nur in einer bestimmten Form »erscheinen«. Während der Satz: »A. ist ein Deutscher« bereits eine allgemeingültige historische Erkenntnis darstellt, müßte der Satz: »A. ist ein Genie« in genauerer Formulierung lauten: »A. erscheint einem B. als Genie.« Schon hier ergibt sich also, daß zwischen dem Begriff »A.« und dem Begriff »Genie« eine scharfe Scheidung zu machen ist: die zwischen dem, was man » Individuum an sich«, und dem, was man » Erscheinungsformen des Individuums« nennen kann. Diese Kantisch klingenden und KANT bewußt nachgebildeten Ausdrücke dürfen nicht verwirren. Sie sind, wie schon aus dem vorhergehenden ersichtlich ist, hier nicht im streng Kantischen Sinne gebraucht. Denn auch das »Individuum an sich« wird – wie es sich in solcher nicht spekulativen Untersuchung von selbst versteht – im folgenden stets als diesseits der Erfahrung liegend angenommen. Ja es wird sogar immer vorausgesetzt, daß es nicht nur erforschbar, sondern auch bereits erforscht ist, und zwar durch die historische Richtung, die im vorigen Kapitel die »vermittelnde« genannt worden ist.
Nur hat man dabei zu erwägen, daß diese ganze Forschung, selbst die soziologisch orientierte, das geniale Individuum in einem bestimmten Sinne stets als isoliertes Wesen betrachtet hat. In Wirklichkeit ist es nicht zu trennen von einem anderen, von dem, das im obigen zweiten Satze als »B« bezeichnet worden ist, also von der urteilenden, wertenden Persönlichkeit. Halten wir uns das gegenwärtig, so kann die viel erörterte Frage, die eine der Grundfragen aller Historie ist, nicht mehr lauten: »Wie kommt das mehr oder weniger eminente Indi [10]viduum zustande?« Sondern: » Wie kommt das Urteil zustande, daß ein Individuum mehr oder weniger eminent ist?« Mit anderen Worten: das Problem ist vom Objekt der Betrachtung in ihr Subjekt zu verschieben.
Wir sehen im eminenten Individuum entweder den Träger bestimmter menschlicher Eigenschaften oder – und dies ganz im besonderen – den Schöpfer bestimmter Werke: in LUTHER den Umformer der katholischen Kirche, in SHAKESPEARE den Dichter gewisser Dramen, in BISMARCK den Gründer des Deutschen Reiches. Es ist also gleichgültig, ob das »Urteil«, von dem eben die Rede war, das Individuum im allgemeinen oder eins resp. mehrere seiner Werke betrifft, ja auch ob es über Werke gefällt wird, deren Urheber unbekannt geblieben sind (man denke an die Venus von Milo, das Nibelungenlied und ähnliche). Wichtig ist nur, daß bei dem Wesen »B«, unter dem nichts anderes zu verstehen ist als die Mit- und vor allem die Nachwelt, ein solches Urteil über die größere oder geringere Eminenz gewisser Werke überhaupt zustande gekommen sei, daß es sich eine Meinung darüber gebildet und diese Meinung geäußert habe.
Aber versuchen wir, die vorläufig noch etwas unbestimmten Begriffe »Urteil«, »Meinung« schärfer zu umreißen und damit den Unterschied zwischen dem »Individuum an sich« und seinen »Erscheinungsformen« deutlicher zu machen. Es sei dazu angenommen, daß die bereits genannten wertenden Adjektiva: mittelmäßig, tüchtig, talentiert, genial – eine Rangordnung in der Eminenz, also verschiedene Arten von »Individuen an sich« darstellen. Jeder dieser Stufen würde nun unter normalen Verhältnissen – wir werden später noch sehen, daß und warum solche Verhältnisse fast nie eintreten – eine bestimmte »Erscheinungsform« entsprechen. Schon vom mittelmäßigen Individuum hat man eine »Meinung«. Es ist im Kreise seiner Familie, seiner Freunde, seiner Berufsgenossen »bekannt«. Dieser zunächst noch ziemlich enge Kreis der Meinenden erweitert sich etwas beim tüchtigen Individuum. Es wird »beachtet«, und zwar nicht nur bei seinen unmittelbaren nächsten Bekannten, sondern auch bei einer großen Anzahl von Menschen, die nur vom Hörensagen etwas [11] von ihm erfahren haben. Die talentierte Persönlichkeit »erregt Aufsehen«. Wer als Kaufmann, als Arzt, als Beamter, als Künstler oder in sonst einem Berufe über das Mittelmaß weit hinausragt und Besonderes leistet, bei dem wächst die Menge derer, die irgendeine Meinung von ihm haben, so rasch und so stark, daß sie in kurzer Zeit nicht mehr überschaut werden kann. Denn die Meinung verbreitet sieh jetzt nicht allein von Mund zu Munde, sondern auch – und wir werden die Bedeutung dieses Momentes später noch würdigen lernen – durch das gedruckte Wort. Aber auch dieser Kreis der Meinenden erscheint klein gegenüber dem, den die geniale Persönlichkeit zieht. Sie ist » berühmt«. Man versuche es, die Massen derer zu überschauen, die von MICHELANGELO oder von SHAKESPEARE, von FRIEDRICH DEM GR. oder NAPOLEON, von GOETHE oder BISMARCK irgendetwas gehört, sich aus dem Gehörten eine Meinung gebildet und diese Meinung an andere weiter gegeben haben. Der Versuch wird mißlingen. Beim genialen Individuum wird die »Meinung« zum Sturm, der dem sich Entgegenstellenden jeden Halt nimmt und den Haltlosen mit sich fortreißt.
Was soeben dargestellt wurde, wie sich nämlich um das Individuum an sich, als das zeitlich Primäre, die Erscheinungsform, das zeitlich Sekundäre, legt, ist die historische Reihenfolge, die beim Werden statthat. Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß sich dem Betrachter des Gewordenen genau das umgekehrte Bild ergibt. Die Seidenraupe, das Primäre, spinnt sich in einen Kokon und wird von ihm völlig verdeckt. Aber was der Betrachter zuerst sieht, ist das Sekundäre, der Kokon, die den Inhalt verbergende Schicht. Ganz ebenso hat der Betrachter des »Genies« zunächst nichts anderes vor Augen als das Sekundäre, die Erscheinungsform, also die Wolke, die das Individuum einhüllt, und es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn er glaubt, daß er sofort dem Primären gegenübersteht. Es wird sich später noch zeigen, ob überhaupt und bis zu welchem Grade die Möglichkeit zu völlig unbefangener Betrachtung namentlich solcher Individuen gegeben ist, um die sich eine starke Schicht gelegt hat, die also über besonders große Ruhmformen verfügen. Hier sei zunächst nur darauf hingewiesen, daß beim Werden – selbstverständlich – die [12] Reihenfolge: Kern –› Hülle statthat, bei der Betrachtung des Gewordenen aber die Reihenfolge: Hülle –› Kern.
Kehren wir noch einmal um: unseren obigen 4 Rangstufen: mittelmäßig, tüchtig, talentiert, genial würden, falls die Entwicklung rational verlaufen würde, 4 verschiedene Arten der Gekanntheit oder 4 verschiedene Erscheinungsformen entsprechen: die der Bekanntheit, des Beachtetwerdens, des Aufsehenerregens und des Ruhmes. Wenn im folgenden, wie auch schon im Titel des Buches, nur vom Ruhm die Rede ist, so hat dies den rein äußerlichen Grund, daß das Wort von den in Betracht kommenden das kürzeste und deutlichste ist. Es werden hier natürlich auch die geringeren Ruhmformen beachtet, die dann eben mit einem einschränkenden Adjektivum bezeichnet werden. Ruhm bedeutet also im folgenden jede Form der Gekanntheit, mag sie sich über einen größeren oder einen geringeren Kreis erstrecken.
Nehmen wir das Wort »Ruhm« in seiner eigentlichen Bedeutung, also als die Erscheinungsform des besonders eminenten Individuums, so ist zwischen den beiden Begriffen Genialität und Ruhm jetzt eine Verbindung hergestellt, die von der bisher stets vollzogenen stark abweicht. Man hat jederzeit gefühlt, daß die beiden Begriffe irgendwie zusammengehören, ist sich aber über die Art dieser Zusammengehörigkeit nie klar geworden und hat die Begriffe daher einfach miteinander verwechselt. In der Unterhaltung spricht man von dem »berühmten« Künstler X., wo man den »genialen« meint, Wörterbücher übersetzen »illustre, célèbre« nicht nur durch »berühmt, gefeiert« sondern auch durch »erlaucht, vortrefflich« So bei SACHS-VILLATTE, Große Ausgabe; in englisch-deutschen Wörterbüchern ganz ähnlich bei den Wörtern: »illustrious« und »famous«., Konversationslexika beginnen biographische Artikel mit den Worten »N.N., berühmter Seefahrer« oder »berühmter Schriftsteller«, und selbst Biographiensammlungen wissenschaftlicher Art bringen die Ausdrücke unaufhörlich durcheinander. Man vgl. – aus einer großen Reihe hier zu nennender Beispiele nur: SANDERS, The Celebrities of the century, London 1890 – D'AUBIGNYY, Vie des hommes illustres de la France. Paris 1739-57 – Vite e ritratti di illustri Italiani, Padua 1872 etc. [13] – und daneben die zutreffenden Titel: BETTELHEIM, Führende Geister, Dresden 1890-94 – »Geisteshelden«, Berlin 1894-1904 usw.
Die Erklärung für diese ständige Verwechslung ist unschwer zu finden. Man hat sich stets gesagt: wenn der Künstler X. oder der Gelehrte Y. berühmt geworden sind, so sind sie es allein infolge ihrer Eminenz geworden, – und hat danach die Gleichsetzung der fraglichen Begriffe vollzogen. Daß die Zurückführung auf die Eminenz als den einzigen Grund ein Fehler ist, wird sich mit völliger Evidenz erst später ergeben. Aber bereits an dieser Stelle ist die Verwechslung, auf die jener Fehler zurückgeht, wichtig für uns; denn sie ist ein neuer Beweis für das Ergebnis, auf das wir bereits früher gekommen sind: was der Wertende, das Subjekt der Betrachtung, beim historischen Individuum, zumal wenn es eine große Wirkung gehabt hat, zunächst vorfindet, ist die Erscheinungsform, also der Ruhm; erst aus ihr macht er einen Rückschluß auf das Individuum an sich, das Objekt der Betrachtung. Wir dürfen also jetzt nicht mehr sagen, wie bisher stets gesagt worden ist, wo überhaupt vom Ruhm im Zusammenhang mit der Genialität die Rede war: diejenigen, die uns als Genies erscheinen, verdanken ihren Ruhm allein ihrer Genialität –; sondern müssen den Satz sehr viel vorsichtiger fürs erste folgendermaßen formulieren: n ur von denen, die aus gewissen Gründen berühmt geworden sind, erscheinen uns einige als Genies.
Vorbedingung dafür, daß ein Individuum uns als Genie erscheint, ist also, daß es berühmt ist. Man emanzipiere sich von den vorhergehenden Ausführungen und stelle sich unbefangen einige von den Persönlichkeiten vor, die die Welt für die genialsten hält: etwa HOMER oder PLATO oder REMBRANDT oder SHAKESPEARE oder KANT oder GOETHE oder BISMARCK. Sie alle sind von einer mächtigen Ruhmeswolke umhüllt, d. h. sie verfügen über eine Form der Gekanntheit, die sich über einen gewaltigen Raum und, soweit sie vergangenen Epochen angehören, auch über eine gewaltige Zeit hin erstreckt.
Hat es ein Individuum zu einem zwar großen, aber nur ephemeren Ruhm gebracht, haben also bestimmte Umstände die zeitliche Ausdehnung des Ruhmes verhindert, so erscheint [14] es uns eben als geringere Eminenz. Auch in diesem Falle ist der Kausalzusammenhang nicht so, wie er zunächst zu sein scheint: wer eine geringere Eminenz ist, der bringt es höchstens zu ephemerem Ruhm, – sondern ebenso wie vorher liegt dem Wertenden zunächst nur die Erscheinungsform: der Nichtruhm oder genauer: der Nichtmehrruhm vor, und erst von ihr aus macht er einen Rückschluß auf den Grad der Eminenz, also das Individuum an sich.
Wir dürfen freilich nicht vergessen, was im Grunde selbstverständlich ist: daß Ruhm ein relativer Begriff ist, abhängig von der Nation, der Bildung, dem Beruf, dem Lebensalter und dem Geschlecht dessen, der die Schätzung vollzieht. Würde die Aufgabe gestellt, etwa die 20 Persönlichkeiten aufzuzählen, die der Welt als die genialsten erscheinen, so würde die Antwort anders lauten, je nachdem ein Deutscher oder ein Engländer, ein Gelehrter oder ein Arbeiter, ein Naturwissenschaftler oder ein Literarhistoriker, ein 30 oder ein 15jähriger, ein Mann oder eine Frau sie erteilt. Aber unter diesen 20 würden doch wahrscheinlich etwa zehn sein, die in jeder Antwort wiederkehren, die also außerhalb jeder Relativität stehen. Und abgesehen von diesen Ausnahmen wäre immer noch die Frage offen, warum bestimmte Individuen den meisten Deutschen, andere den meisten Engländern, bestimmte den meisten Literarhistorikern, andere den meisten Naturwissenschaftlern als genial erscheinen, warum sie bei ihnen berühmt geworden sind. Was jeder dieser wertenden Menschen zunächst sieht, ist die Hülle; was er zu sehen glaubt, ist der Kern. Es bedarf keines Beweises, daß die Hülle erst beseitigt werden muß, wenn man zum Kern gelangen will.