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12. Kapitel.
Die Tagespresse.

Von allen Faktoren, die es dem Individuum ermöglichen, zu einem bald geringeren, bald höheren Grade der Gekanntheit zu gelangen, ist das Zeitungswesen der modernste. Ein flüchtiger Blick auf seine Geschichte belehrt uns, daß die schwächlichen Triebe aus dem 17. Jahrhundert im 18. zwar Ansätze zu einer Blüte zeigen, daß diese Ansätze aber – vor allem durch Napoleon – alsbald gründlich vernichtet werden und erst seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts eine wirkliche Blütezeit eintritt. Aber sie wird nicht allein durch eine Verschiebung der politischen Verhältnisse ermöglicht, die das allmähliche Durchdringen der Preßfreiheit zur Folge hat. Zum mindesten ebenso bedeutsam ist die gerade in den letzten Jahrzehnten eintretende Vervollkommnung der technischen Mittel zur Herstellung und, was nicht weniger wichtig ist, zur Verbreitung der Presse.

Aus dieser Modernität des Faktors ergibt sich für unser Problem eine besondere Sachlage: der Weg, den in früheren Perioden das Individuum von der Nichtgekanntheit zum Ruhme machte, ist von dem jetzigen sehr verschieden. Früher konnte es, nachdem vielleicht die historisch-biographische Wissenschaft sich seiner angenommen hatte, nur auf dem Wege über die Schule in die Masse dringen. Heute sind die beiden Vorstufen – Wissenschaft und Schule – nicht nur unnötig, sondern die Entwicklung erfolgt, man kann fast sagen: stets umgekehrt. Zunächst interessiert sieh die Presse, die infolge ihrer Verbreitung ja der Masse gleichgesetzt werden kann, für das Individuum und ermöglicht ihm erst dadurch das Ein [139]dringen in die Wissenschaft und in die Schule. Papins Dampfschiff wird, als der Erfinder es 1707 auf der Fulda vorführt, von Schiffern zerschlagen und alsbald vergessen. »Hätte es damals so etwas wie eine Presse unserer Tage gegeben, so hätte es unmöglich geschehen können, daß ... ein volles Jahrhundert vergehen mußte, bis diese Erfindung durch Fulton sozusagen neu erfunden wurde.« EMIL LÖBL, Kultur und Presse. Leipzig 1903, 225. Ein Gegenbeispiel aus moderner Zeit bieten die Röntgenstrahlen. »Die Erfindung des Professor Röntgen, welche längst die Welt mit ihrem Ruhm erfüllt, war viele Wochen vor ihrem wirklichen Bekanntwerden bereits in einem exklusiven gelehrten Fachblatte publiziert und in einer Fachvereinigung von ihrem Erfinder besprochen worden. Aber man darf doch sagen: niemand wußte davon. Da kam ein Wiener Tageblatt »Die Presse« und machte als erstes unter allen Kollegen am 3. Juni 1896 Mitteilung von der Sache. Erst von diesem Augenblick war die Photographie des Unsichtbaren wirklich bekannt und machte wieder nur durch das Mittel der Tagespublizistik, ihren Rundgang über den ganzen Erdball. Und nicht etwa bloß die Laien, auch die gelehrte Welt erfuhr die große Neuigkeit zumeist nur aus den politischen Tagesblättern. Wer mag wissen, wieviele herrliche und fruchtbare Ideen vordem im Keime ersterben und ungenützt verderben mußten, weil ihnen diese mächtige Resonanz im großen Publikum fehlte, die ihnen Unterstützung und Kapital in reicher Menge zugeführt hätte« (LÖBL, 225).

Der Fall Röntgen ist deshalb von besonderem Interesse, weil es sich hier um eine Materie handelt, die eigentlich nur Fachleuten zugänglich ist. Ist das Werk des Individuums jedoch für die Masse leicht begreifbar oder kann es ihr ohne große Mühe mundgerecht gemacht werden, so ist die ruhmbildende Macht der Zeitung noch stärker. Bei jeder politischen und bei den meisten künstlerischen Eminenzen ist das zu beobachten. Der Name Walthers von der Vogelweide ist Jahrhunderte hindurch fast vergessen. Jetzt taucht er ab und zu einmal in der Tagespresse auf, nachdem und weil sich die germanistische Wissenschaft mit ihm abgegeben hat. Gerhart [140] Hauptmann jedoch ist ohne diese Hilfe und nur durch die Macht der Presse in die Masse gedrungen, und es wird erst später Sache der zünftigen Germanistik sein, ihn zu behandeln.

So ist – in neuerer Zeit, wie nochmals hervorgehoben sei – ein Ruhm ohne die Mitwirkung der Presse völlig undenkbar. Besonders die Ruhm anfänge, die für das Individuum aus älteren Epochen regelmäßig halb oder ganz dunkel bleiben, sind dadurch für das moderne der Erkenntnis verhältnismäßig leicht zugänglich. Die Zeitung ist also zunächst nur die Schöpferin der elementaren Ruhmformen, d. h. des lokalen und des ephemeren Ruhmes. Unter welchen Bedingungen sich aus diesen Formen der räumlich und zeitlich nicht mehr begrenzte, also der vom tätigen Individuum immer wieder ersehnte Ruhm entwickelt, wird erst später darzulegen sein. Hier ist bloß hervorzuheben, daß die Ruhmformen, die die Tagespresse schafft, für die Erkenntnis der Erscheinungsformen des Individuums nicht etwa bedeutungslos sind: zwischen dem durch die Zeitung erzielten und dem endgültigen Ruhme besteht nur ein quantitativer, nicht ein qualitativer Unterschied. Werden und Wesen eines so schwer überschaubaren kollektivpsychischen Phänomens, wie es der Ruhm ist, läßt sich in seinen noch unausgebildeten Formen naturgemäß leichter erkennen als in den vorgeschrittenen, mit denen wir es bisher meist zu tun hatten.

Es fragt sich nun zunächst, welchen Individuen die Zeitung ihr Interesse zuwendet. Aber bevor wir diese Frage beantworten, ist darauf hinzuweisen, daß es durch die Presse jedem Individuum ohne irgend eine Ausnahme möglich ist, in einem bestimmten Kreise zu einer Art von Gekanntheit zu gelangen, die ohne die Presse nicht zu erzielen wäre, und zwar durch die von ihm selbst ausgehende, bezahlte Anzeige. Dabei ist hier in erster Reihe nicht an das häufig wiederholte, möglichst auffallende geschäftliche Inserat gedacht, das dem Inserenten – namtlich in Amerika und Deutschland – ja oft zu einem zwar zeitlich begrenzten, aber an sich gar nicht mehr unbedeutenden Ruhme verhilft. Nachdem in der Mitte des 17. Jahrhunderts in englischen Blättern die ersten Familienanzeigen erschienen sind, überwindet man die Scheu vor dem Hinauszerren persönlicher Angelegenheiten in die [141] Öffentlichkeit, und heute ist es allgemeiner Brauch, rein biographische Tatsachen – wie Geburt, Verlobung, Hochzeit, Tod – durch einen willkürlichen Akt öffentlich bekannt zu machen. Gerade an der Familienanzeige läßt sich der Übergang von dieser primitivsten durch die Zeitung erzielten Form der Gekanntheit zur nächst höheren genau verfolgen. Ein Individuum, das bereits vorher das Interesse der Zeitung ein wenig geweckt hat, also an der Grenze der Zeitungsreife steht, – etwa ein Großkaufmann oder ein Durchschnittsabgeordneter – wird vielleicht noch eine bezahlte Familienanzeige erlassen, aber in vielen Fällen werden rein biographische Tatsachen, vor allem sein Tod, auch im redaktionellen Teil erwähnt werden. Ist er sich seiner Gekanntheit oder gar seines Ruhmes völlig bewußt, so wird er oder seine Familie auf das Inserat verzichten, in der sichern, kaum je getäuschten Erwartung, daß die Zeitung auf das Ereignis hinweisen wird.

Der redaktionelle Teil der Tagespresse wird völlig beherrscht von dem Prinzip, dem sie fast allein ihre gewaltige Macht verdankt und das denn auch in theoretischen Betrachtungen stets gebührend hervorgehoben wird: von dem der Aktualität. Die Bedeutung dieses Prinzips ist stets zu beachten, wenn wir die vorher gestellte Frage nach der Art der von der Zeitung behandelten Individuen beantworten wollen. Um pressereif zu werden, muß jedes Individuum eine Beziehung zu Ereignissen oder Zuständen haben, die der unmittelbaren Gegenwart entnommen sind.

Das Durchschnittsindividuum erregt das Interesse der Zeitung zunächst überall da, wo ein Ereignis seines Lebens das Sensationsbedürfnis der Masse befriedigt. Daß dieses Bedürfnis unter gewissen Umständen auch mehr als einen bloß ephemeren Ruhm erzeugen kann, hat sich bereits gezeigt ( S. 85ff.). Für die Zeitung aber, die ja ein kapitalistisches Unternehmen ist und daher jedes Konkurrenzunternehmen zu schlagen suchen muß, ist die Erregung von Unruhe, die Nervenaufpeitschung so sehr Lebensnotwendigkeit, daß sie jedem nur irgendwie sensationellen Vorkommnis sofort die stärkste Beachtung schenkt, ja es fast regelmäßig aufbauscht. So versetzt sie zunächst den Verbrecher und denjenigen, der sein Opfer geworden ist, weiterhin auch das Opfer eines Un [142]glücksfalles in gewisse Vorstadien des Ruhmes. Am 10. März 1906 kommen in den Minen von Courrières infolge einer Explosion 1100 Arbeiter um. Drei Wochen später, als niemand mehr daran denkt, daß sich noch ein lebendes Wesen in der Tiefe befinden könnte, verlassen 13 Männer ziemlich wohlbehalten den Schacht. Sie erzählen erst ruhig ihre Erlebnisse, werden aber, nachdem sie eben einem grausigen Geschick entgangen sind, alsbald die Opfer einer anderen Macht: der französischen Presse, die sich natürlich mit Lust auf dieses aus zwei Gründen sensationelle Ereignis stürzt. Es läßt sich nun genau verfolgen, wie sich die Erscheinungsform der harmlosen Leute für die Umwelt und auch für sie transformiert: einige erhalten einen Orden und lassen sich Postkarten drucken mit der Unterschrift: Chevalier de la légion d'honneur. Ein anderer schafft sich Tassen und Teller an, auf denen zu lesen ist: Héros de Courrières, ein dritter reist nach Amerika und zeigt sich dort als Wunder von Courrières usw. Vgl. »Die Umschau« 1912, 391ff. Ähnliche, wenn auch nicht ganz so krasse Fälle sind fast täglich in der Zeitung zu verfolgen: bald ist es die kühne Flucht eines Verbrechers, bald seine Zugehörigkeit zu höheren Gesellschaftsständen, bald ein sexuelles Moment, das ihn für eine gewisse Zeit in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Auch eigene Ruhmsucht, die von der des eminenten Individuums wiederum nur graduell verschieden ist, spricht zuweilen mit.

Steigen wir in der Stufenleiter ein wenig höher, so kommen wir zu der Kategorie von Individuen, die sich bereits in einer bestimmten Beziehung auszeichnen, sei es durch eine einmalige Handlung, sei es durch Fähigkeiten, die sie besitzen, oder durch den Stand, dem sie angehören. Der Lebensretter, der Wohltäter, der Reiche, der Adlige, sie alle werden von der Presse sorgfältig beachtet. Dieser »Personenkultus« Das Wort gebraucht in diesem Zusammenhang L. SALOMON, Allg. Geschichte des Zeitungswesens, Leipzig 1907, 81. ist besonders ausgedehnt in der englischen und amerikanischen, etwas weniger in der deutschen Presse. Auch das Interesse, das dem Artisten, dem Sportsmann, dem Schachmeister, ja auch einigen Gruppen von produktiven Künstlern bezeugt [143] wird, gehört noch in diese Kategorie und findet seine Haupterklärung in dem Sensationsbedürfnis der Masse. Zur Illustrierung mögen zwei – völlig typische – Beispiele dienen, in denen ein bewußter Wille zur Ruhmpropagierung vorhanden ist, die Presse also nur auf die Intentionen des Individuums eingeht. »Der Ameisenhaufen im Salon. Unser Pariser Korrespondent telegraphiert: Eine liebenswürdige Sängerin der Opéra Comique, Madame Vix, scheint der Ansicht zu sein, daß in der letzten Zeit nicht genug von ihr geredet worden ist und hat deshalb eine neue Spielerei ausgesonnen. Sie hat in ihrem Salon einen Ameisenhaufen etabliert, den sie allen ihren Freunden zeigt. Man sieht die fleißigen Ameisen sich ihre Gänge bauen, ihre Eier hin und her transportieren und ihre Jungen füttern ... Und Frau Vix hat ihren Zweck erreicht: 300 Reporter kamen herbeigelaufen, und alle Zeitungen, die etwas auf sich halten, bilden die Vix mit ihren Insekten ab« (Berl. Tageblatt, 19. Februar 1912). – »Die Kunst berühmt zu werden. Aus Paris wird gemeldet: Mit einem »Schlage« berühmt geworden ist der junge Bildhauer Cellier. Der Künstler hatte sich um den Rompreis für Bildhauer beworben, fiel jedoch durch. Als er hörte, daß sein Werk nicht prämiiert werden konnte, entschloß er sich, es zu vernichten. Durch diese Tat hat er auf einmal das Ansehen erlangt, nach dem er so lange vergeblich gestrebt hat. Alle Pariser Zeitungen interessieren sich nun für ihn, bringen sein Porträt und weisen auf seine Schöpfungen hin« (ibid. 26. Juli 1912).

Wir sehen hier bereits alle Merkmale, die für den wahren Ruhm notwendig sind, im Keime vor uns: derselbe Korrespondent, der einen etwas ironischen Ton anschlägt, vermeidet es doch nicht, den Namen des Individuums zu nennen, und er macht aus der nationalen Gekanntheit, die durch die Presse des Heimatlandes erzielt worden ist, durch seinen Bericht sogar eine internationale. Überall da, wo ein Wille, bekannt zu werden, vorliegt, wird die Macht der ruhmbildenden Faktoren besonders deutlich: das Individuum erreicht seinen Zweck nicht durch die Tat‚ sondern dadurch, daß diese Tat eine geeignete Resonanz, hier also in der Presse findet.

In der Reihe der eminenten Individuen hat es der Gelehrte verhältnismäßig schwer, ein mehr als vorübergehendes [144] Interesse bei der Zeitung zu finden. Das Werk des Philosophen, des Historikers, des Mathematikers, des Astronomen usw. entbehrt in den meisten Fällen der Aktualität und ist für die Masse auch schwer faßlich. Aber sowie etwa der Astronom einen neuen Stern entdeckt hat, ist das Moment der Aktualität gegeben, und er dringt in die Tagespresse ein. Der Geograph, der in der Heimat schwierige theoretische Untersuchungen veröffentlicht, bleibt unbeachtet; aber sobald er ein unbekanntes Land bereist, vor allem sobald er große Strapazen überstanden hat, ist nicht nur die Aktualität vorhanden, sondern auch – darauf wurde bereits hingewiesen – das Sensationsbedürfnis geweckt. Starke Beachtung findet nur der Gelehrte, dessen Werk leicht erkennbare praktische Erfolge hat, also der Chemiker, der Physiker, der Mediziner, soweit sie zur Gruppe der Erfinder und Entdecker gehören. Auch sie bleiben, mag ihre Eminenz noch so groß sein, im Schatten, wenn sie abstrakte Wissenschaft treiben.

Eine besondere Stellung nimmt der Großkaufmann ein, und zwar – wenn er nicht als Wohltäter, als Besitzer von Reichtümern oder aus ähnlichen Gründen in den übrigen Teil eindringt – durch die in jedem großen Blatte vorhandene Handelszeitung. Dieser Teil befriedigt nicht nur, wie es die übrigen doch fast ausschließlich tun, das primitive Bedürfnis nach Neuigkeiten, sondern will auch unmittelbaren Nutzen stiften, indem er durch Hinweis auf Tatsachen und auf Meinungen vor ungünstigen Geschäften warnt und auf günstige aufmerksam macht. Am ehesten wären ihm noch die sogen. »Tips« im sportlichen Teil zu vergleichen. Auch das Handelsblatt gibt Tips. Das einzelne Individuum spielt in ihm also eine sehr bedeutsame Rolle und würde alsbald zu stärkeren Ruhmformen aufsteigen, wenn das Handelsblatt allgemein gelesen würde. Das ist aber nicht der Fall. Es wird fast nur von wirklich Interessierten beachtet, während den politischen Teil natürlich auch Nichtpolitiker, das Feuilleton auch Nichtkünstler lesen.

Dieses Feuilleton ist derjenige Teil der Zeitung, den sie dem Künstler einräumt. Und zwar ergibt sich hier die zunächst auffallende Tatsache, daß die bloß reproduktiven [145] Persönlichkeiten, also der Schauspieler, der Sänger, der Musikvirtuose – besonders das Wunderkind –, zusammen einen nicht viel geringeren, ja oft einen größeren Raum einnehmen als die produktiven. Heute erscheint es selbstverständlich, daß man den Reproduzenten »Künstler« nennt. Das ist an sich aber gar nicht selbstverständlich und wahrscheinlich nur durch die Presse herbeigeführt worden. Zu erklären ist es vor allem durch das nun schon so oft erwähnte Moment der Aktualität, auf dem die Zeitung beruht. Ein Drama, das nicht aufgeführt, ein Musikstück, das nicht zu Gehör gebracht wird, sind nicht aktuell. Aktuell wird das Kunstwerk erst dadurch, daß es vor die Masse gebracht wird, und hierzu ist der Reproduzent nötig. Dazu kommt die ebenfalls aus der ganzen Eigenart der Institution der Presse sich ergebende Notwendigkeit, das Abstrakte konkret, das Unpersönliche persönlich zu machen. Die Person des Künstlers wird in seinem Werke nur dem liebevoll sich Versenkenden erkennbar und bleibt im übrigen verborgen. Die Masse aber will eine Person, will sie nicht nur ahnen, sondern leibhaftig sehen und dann in ihren Äußerungen beschrieben haben. So kommt es, daß ihr der Schauspieler wichtiger erscheint als der Dramatiker und sie diesen fast regelmäßig erst dann beachtet, wenn das Theater sich seiner annimmt. Das Kunstwerk an sich, also das unaufgeführte Drama, wird von ihr in den allermeisten Fällen achtlos übergangen.

Für den reproduktiven Musiker, also den Sänger oder den Instrumentalvirtuosen, liegen die Verhältnisse ähnlich. Wenn wir von dem Wunderkind absehen, das ja fast nur aus sensationellen Gründen Interesse erregt ffenbar bewundern wir die immerhin mangelhafte Leistung eines noch so genialen Wunderknaben nicht allein und nicht zuerst nach ihrer Höhe, sondern nach ihrem Verhältnisse zu der physischen Entwicklung des Kleinen, an der gemessen sie außerordentlich ist. Das beweist unter anderem die Tatsache, daß Wunderkinder nach Erreichung des normalen Alters mit der gleichen und durch Übung eher besseren Leistung keinerlei oder nur schwachen Beifall erzielen« (PLATZHOFF-LEJEUNE, Werk u. Persönlichkeit, 174)., ist das Mißverhältnis zwischen der Beachtung, die dem produktiven, und der, die dem bloß reproduktiven Künstler zu teil wird, hier sogar noch größer als beim Drama. Man vergegenwärtige sich, welchen [146] großen Raum in der Tagespresse die Besprechung moderner Virtuosen einnimmt gegenüber dem geringen, der modernen Komponisten gewidmet wird. Die Konkretisierung, ohne die die Masse, also auch die Zeitung als Massenumschmeichlerin niemals auskommt, ist hier auch wirklich notwendiger als beim Drama: ein nicht aufgeführtes Drama kann noch gelesen werden; aber ein nichtaufgeführtes Musikstück bleibt völlig »abstrakt« und ist höchstens einer ganz erlesenen Schar von Kennern – und auch diesen nur unvollkommen – zugänglich.

Unter den produktiven Künstlern, deren Erscheinungsform die Zeitung vermittelt, nimmt der Dichter die erste Stelle ein. Die Gründe dafür sind bereits vorher erwähnt (vgl. S. 39f.); die Materie, mit der der Dichter arbeitet, die Sprache, ist der Masse am leichtesten, d. h. ohne jede besondere theoretische Vorbildung, zugänglich, und die Reproduktion seines Werkes, zu der ja nichts anderes als der für die Zeitung ohnehin notwendige Buchdruck gehört, ist besonders einfach. So findet denn auch das Dichtwerk selbst, sei es nun ein Roman, eine Novelle, Humoreske, ein lyrisches Gedicht oder ähnliches, in der Tagespresse sehr leicht eine Stelle. Wo dieser nicht allzu bedeutsame Fall nicht eintritt, hat der Dichter doch auf andere Weise die Möglichkeit, in die Zeitung einzudringen: er wird Gegenstand der literarischen Kritik. Die stärkste Beachtung findet der dramatische Dichter. Zwar gelangt sein Werk selbst nur selten in die Zeitung. Aber von dem Interesse, das das Theater im allgemeinen und der Schauspieler im besonderen erregen, profitiert auch der Dramatiker. Er ist, eben weil die Sichtbarmachung seines Werkes die Masseninstinkte so sehr befriedigt, stets Gegenstand eingehendster Kritik und hat es denn auch viel leichter als seine Genossen, zu großer Gekanntheit zu gelangen. Die Eminenz des Lyrikers oder Romanciers mag noch so groß sein: ihre Erscheinungsform, wenigstens soweit sie durch die Tagespresse gestaltet wird, wird an Größe unter allen Umständen hinter der des Dramatikers zurückbleiben. Bezeichnend ist, daß das Feuilleton ursprünglich nur für Theaterberichte bestimmt war (vgl. BÜCHER in Hinnebergs »Kultur der Gegenwart«, 2. Aufl., I, 1, 526. Das gibt sich schon [147] äußerlich im Zeitungsbetriebe dadurch kund, daß der Literaturkritiker viel schlechter bezahlt wird als der Theaterkritiker.

Der Musiker, der Maler und der Architekt stehen, was ihre Beachtung durch die Presse angeht, untereinander etwa auf gleicher Stufe. Dem Musiker kommt derselbe Faktor zugute wie dem Dramatiker: er partizipiert an dem Interesse, das dem Vermittler seines Werkes, dem Virtuosen, dargebracht wird. Der Opernkomponist, der dem Theaterbetriebe ja besonders nahe steht, wird wiederum sehr viel mehr beachtet als der Schöpfer der reinen Instrumentalmusik, dessen Werk der Masse nur schwer eingeht. Daß von der Aufführung hier noch viel mehr abhängt als beim Dichtwerk, ist bereits hervorgehoben. Ja sie zieht durch die Kompliziertheit ihres Apparates die Aufmerksamkeit zuweilen stärker auf sich als das Drama.

Der bildende Künstler entbehrt des Vermittlers. Er wirkt unmittelbar auf den Kunstkritiker als den Vertreter der Tagespresse. Schon hieraus ergibt sich, daß der Raum, den die Zeitung ihm gönnt, verhältnismäßig gering sein muß, geringer jedenfalls, als bei der Bedeutung des bildenden Künstlers für die Volkskultur zu erwarten wäre. Aber für die Erscheinungsform des Künstlers selbst ist die Kunstkritik, die sich vor allem an die Ausstellungen anlehnt, von der größten Bedeutung. Zu derselben Zeit nämlich, in der die Tagespresse eine Macht zu werden beginnt, also etwa mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, verschieben sich auch in volkswirtschaftlicher Beziehung die Verhältnisse des Malers und des Bildhauers: der Künstler arbeitet nicht mehr für einen einzelnen, ihm vorher bekannten Käufer – wie es früher meist der Fall war –, sondern sozusagen auf Vorrat, ohne Rücksicht auf die Verkaufbarkeit des Werkes und wirtschaftlich einzig abhängig vom Kunsthandel oder der mit dem Kunsthandel in engster Beziehung stehenden Kunstausstellung. Beide Faktoren aber, Handel und Ausstellung, wären ohne die Mitwirkung der Presse fast bedeutungslos. Die Meinung, die sich die Umwelt von einem Künstler bildet, geht nur zum geringen Teil auf die – doch immer ziemlich beschränkte Anzahl von Personen zurück, die beim Kunsthändler kaufen oder Ausstellungen besuchen. Der Hauptbildner der Erschei [148]nungsform ist der Kunstkritiker, der die Macht hat, seine persönliche Ansicht Tausenden von Individuen aufzuzwingen, die das Werk selbst nie zu Gesicht bekommen.

Den größten Teil ihres Raumes aber, ja einen größeren als allen übrigen Gruppen zusammen, widmet die Tagespresse dem politischen Individuum, also – wenn wir von den Herrschern absehen, die ja außerhalb stehen – den Heerführern, Diplomaten, Abgeordneten, sowie den Persönlichkeiten, die nur vorübergehend politisch interessant sind. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es zunächst scheinen könnte. Die Presse nennt sich gern den »Spiegel der Zeit«, und es wäre zunächst noch ein Zweifel daran denkbar, ob denn wirklich das politische Individuum für die Zeitgeschichte, namentlich die moderne, wichtiger sei als etwa das volkswirtschaftlich tätige, also der Bankdirektor, der Großindustrielle, der Großgrundbesitzer. Aber selbst wenn wir diesen Zweifel unterdrücken, steht doch sicher die Politik der Gesamtheit der übrigen Zeiterscheinungen nicht um so vieles voran, daß das außerordentliche Übergewicht, das in der Presse der politische Teil über die anderen hat, dadurch zur Genüge erklärt wäre. Man denke z. B. daran, wie in Zeiten irgend eines Krieges ganze Spalten mit den ausführlichsten, zum Teil sogar sich selbst widersprechenden Kriegsberichten angefüllt sind, und zwar auch dann, wenn das eigene Land an dem Kriege nur sehr mittelbar interessiert ist. Durch die Sache können also jene Berichte nicht hervorgerufen sein. Bedenken wir aber, daß jede Kriegsdepesche etwas Erregendes und im höchsten Maße Aktuelles an sich hat‚ so wird es uns leicht, für das Überwiegen auch des übrigen politischen Teils Gründe zu finden, die völlig außerhalb der Sache liegen und sich allein aus den – uns bereits bekannten – Prinzipien ergeben, auf denen das Institut der Presse beruht. Das Objekt wäre dann also nur Vorwand für eine auf rein persönlichen Motiven beruhende Betätigung des Subjekts.

Die Tagespresse ist in den allermeisten Fällen entweder Organ einer bestimmten politischen Partei oder vertritt doch – bald versteckt, bald offen – die Interessen einer solchen. Auch die sog. farblose Presse macht hiervon keine Ausnahme: früher oder später nimmt sie eine Spezialfärbung an. Sehr [149] oft ist die Abhängigkeit von der Partei so stark, daß sie sich auch im Feuilleton und bei der Besprechung der »faits divers« kundgibt. Bei der Feindschaft der einzelnen Parteien ergibt sich aus dieser Abhängigkeit nun die ständige Erhebung und Verteidigung des der eigenen und zu gleicher Zeit die ständige Polemik gegen das der fremden Partei angehörige oder doch nahestehende Individuum, mag dieses nun ein Heerführer oder ein hoher Staatsbeamter oder ein Abgeordneter sein. Schon an dieser Stelle ist auf einen Umstand aufmerksam zu machen, der später noch mehrfach erwähnt werden wird: auch die Polemik kann – freilich muß nicht immer – die Erscheinungsform des Individuums im günstigen Sinne verändern, also ruhmverstärkend wirken. Der Glaube, eine Eminenz vor sich zu haben, entsteht hier bei der Masse vor allem durch die Tatsache, daß man die Taten und Meinungen eines Individuums überhaupt immer wieder beachtenswert findet, zu ihnen immer wieder Stellung nimmt, auch wenn diese Stellung ausgesprochen feindlich ist. Was eine Persönlichkeit, die voran stehen will, fürchtet, ist daher nicht die Polemik – sie kommt sogar oft erwünscht –, sondern das Totgeschwiegenwerden. Wieviel z. B. Bismarcks Ruhm gerade auf die bismarckfeindliche Presse zurückgeht, wird auch schon bei oberflächlicher Betrachtung klar.

Es fragt sich nun noch, wie denn diese nahen Beziehungen der Presse zu politischen Parteien zu erklären sind. Nur ziemlich selten ist die Zeitung Eigentum und danach offizielles Organ einer bestimmten Partei. Meist gehört sie einem oder mehreren Unternehmern, die zwar ihre politische Meinung haben, diese Meinung auch im Blatte in gewisser Beziehung geltend machen, aber wirtschaftlich von der Partei völlig unabhängig sind. Man hat darauf hingewiesen, daß wir jetzt in einem »ausgesprochen politischen Zeitalter« leben, während frühere Epochen mehr schöngeistig, noch frühere mehr theologisch interessiert waren und daß die Zeitung nur diese Tatsache wiederspiegele. Aber damit ist ihr Einfluß zweifellos zu gering veranschlagt. Sie wird nicht nur durch Tendenzen beeinflußt, sie erzeugt auch selbst Tendenzen und übt dadurch ihrerseits Einflüsse aus. Zu dem Satz: »Die politische Zeit macht die Presse politisch« gehört zum mindesten der [150] Ergänzungssatz: »Die politische Presse macht die Zeit politisch«, und wir sind mit unserem Erklärungsversuch nicht viel weiter als vorher.

Die nahen Beziehungen der Presse zu politischen Parteien und damit das Übergewicht des politischen Teils überhaupt werden durch den Hinweis auf andere Tatsachen überzeugender erklärt. Zunächst wird dadurch, daß die internationale Politik die eigene stärker beeinflußt als etwa die internationale Kunst und Wissenschaft die eigene, der Kreis gerade der politischen Individuen, die zu betrachten sind, außerordentlich erweitert. So wird ein ständiger Wechsel der Persönlichkeiten innerhalb der Presse und damit eine ständige Aktualität ermöglicht. Die Zeitung braucht immer wieder neue Individuen. Sollen die alten öfters beachtet werden, so müssen sie zum mindesten in neuen Verhältnissen und neuen Gruppierungen auftreten. Gerade in der Presse ist der Heutige der Feind des Gestrigen, der Morgige der des Heutigen. Nirgends ist nun das ständige Fließen, das Auftauchen und Verschwinden der Persönlichkeiten so stark wie in der Politik. Dazu kommt ein zweites, worauf bereits hingewiesen wurde: nirgends ist die Möglichkeit zur Polemik, sei es zwischen den Angehörigen verschiedener Nationen, sei es zwischen denen verschiedener Parteien einer Nation, so groß wie in der Politik. Polemik aber wirkt erregend, d. h. sie erzeugt eine Art von Sensation.

Bei dem ungewöhnlichen Interesse, das den politischen Individuen aus all diesen Gründen zuteil wird, müßte deren Erscheinungsform alsbald in ebenso ungewöhnlichem Maße verzerrt werden, wenn nicht ein Umstand korrigierend wirkte; der sich wiederum aus der Eigenart der Tagespresse von selbst ergibt: die Notwendigkeit des stetigen Wechsels bringt es mit sich, daß eine Persönlichkeit, die 1 oder 2 Wochen lang in der grellsten Beleuchtung stand, bald danach wieder in völlige Dunkelheit zurücktritt. Es tritt also nach der starken Verzerrung jener Wochen schon in der unmittelbar darauf folgenden Zeit ein Ausgleich ein. Aber nicht immer ist dieser Ausgleich natürlich: auch der zweite Zustand, der des völligen Vergessens, kann unnatürlich sein, und es ergäbe sich dann – im politischen Teil der Zeitung ebenso wie in den anderen – [151] eine von den später noch zu besprechenden Tendenzen, die ruhmvermindernd wirken.

Aber noch haben wir die für uns wichtigste Frage nicht beantwortet: wie sich die Tagespresse zu den bereits historisch gewordenen Individuen stellt, also zu denen, deren Ruhm nicht von ihr selbst mitbegründet ist, sondern auf die übrigen bereits genannten und noch zu nennenden Faktoren zurückgeht. Ihrem Hauptprinzip wird die Zeitung auch diesen Individuen gegenüber nicht untreu: sie erwähnt sie nur dann, wenn sie durch irgend einen Umstand aktuell geworden sind. Eine solche Beziehung zur unmittelbaren Gegenwart kann nun bei einem an sich nicht aktuellen Individuum auf die mannigfachste Weise zustande kommen. Am leichtesten ergibt sie sich bei den Erscheinungen, die sich unter dem Begriff » Jubiläum« zusammenfassen lassen. Haben wir S. 82 die »Jubiläumsfreudigkeit« als einen Ausfluß des durch das Verehrungsbedürfnis verstärkten Gemeinschaftsgefühles erkannt, so zeigt sich jetzt die Tagespresse als Hauptpropagator dieser Freudigkeit. Die Aktualität ist am größten, wenn die zu feiernde Persönlichkeit noch lebt. Aber auch ein 100. oder 200. Geburts- oder Todestag eines eminenten Individuums, nicht weniger die nach bestimmten längeren Zeitabschnitten stärker werdende Erinnerung an die Schaffung eines seiner Werke bietet für die Zeitung willkommensten Anlaß zum Hinweis auf die Persönlichkeit. In vielen Fällen ist das Verehrungsbedürfnis das Primäre, die Presse nur das Schallrohr, das einen leisen Ton machtvoll anschwellen läßt. Aber zuweilen ist es umgekehrt: die Tagespresse weist im voraus auf das Jubiläum hin und suggeriert dadurch der Masse den Willen zur Feier. Stets aber handelt es sich, wenigstens seit die Zeitung der Machtfaktor geworden ist, den sie heute darstellt, um eine Wechselwirkung zwischen der »öffentlichen Meinung« und den Tendenzen, die erst von der Presse geschaffen werden.

Ein anderer, wenn auch viel weniger bedeutsamer Faktor der Aktualisierung historischer Individuen ist das Erscheinen eines neuen biographischen Werkes über sie. Aber da die Zeitung der Besprechung wissenschaftlicher Bücher, wie Biographien es doch meistens sind, naturgemäß nur geringen [152] Raum gewährt, muß schon irgend ein besonderer Umstand hinzutreten, der das Individuum selbst interessant macht: die Biographie gibt eine neue, womöglich sensationelle Auffassung (man denke an die Bücher, die die Existenz Jesu oder das Dichtertum Shakespeares bestreiten), oder das Individuum kommt in Autobiographien, Memoiren u. ä. noch Jahrzehnte nach seinem Tode selbst zum Wort.

Die künstlerische Eminenz hat es im allgemeinen leichter als die Tateminenz, noch lange nach ihrem Tode bei der Presse Beachtung zu finden. Voran stehen wiederum diejenigen, deren Werke erst der Konkretisierung durch einen Vermittler bedürfen. Jede Neuaufführung eines Dramas oder einer Oper, jede Wiedergabe eines Musikstückes machen den Dramatiker oder den Komponisten aktuell. Sophokles, um den sich die Zeitung wenig bekümmern würde, taucht trotzdem immer dann in ihren Spalten auf, wenn seine Werke aufgeführt werden, und mit Shakespeare, Goethe, Händel, Bach u. a. ist es ähnlich. Der historisch gewordene Maler wird aktuell, wenn sein Bild den Besitzer wechselt und etwa ein sensationeller Preis dafür bezahlt wird. Weniger bedeutsam ist die Reproduktion künstlerischer Werke auf technischem Wege: der Neudruck von Dichtungen und Noten, die Vervielfältigung von Bildern ist wiederum ein zu wissenschaftliches Ereignis, als daß die Presse ihm ein mehr als vorübergehendes Interesse widmen könnte. Hingegen stellt die Auffindung unbekannter Werke, zumal wenn sie völlig unerwartet erfolgt, ein in gewissem Sinne sensationelles Ereignis dar, auf das die Presse stets nachdrücklich hinweist.

Handelt es sich in dem bisher Besprochenen im Grunde nur um den Nachweis des Weges, auf dem das Individuum in neuerer Zeit in die Masse dringt, so ist nun noch zu zeigen, inwiefern auf diesem Wege bereits eine Transformierung der Erscheinungsformen vor sich geht. Einiges hierher Gehörige wurde schon vorher beiläufig erwähnt.

Wenn sich z. B. gezeigt hat, daß die Presse aus ganz bestimmten Gründen das politische Individuum mehr als jedes andere, daß sie unter den Künstlern den reproduktiven mehr als den produktiven und unter den letzteren den Dramatiker und Opernkomponisten vor allen anderen hervorhebt. so liegt [153] schon hierin ein Mißverhältnis, das notwendigerweise die Erscheinungsform des so hervorgehobenen Individuums stark transformieren muß. Noch stärker aber tut sie es dadurch, daß sie jetzt nicht mehr – wie sie es in ihren Anfängen fast allein tat – bloß referiert, sondern auch kritisiert, daß sie Urteile und Ansichten gibt, ja daß sie solche Wertungen in vielen Fällen dem Tatsachenberichte voranstellt. Selbst der Parlamentsbericht, bei dem noch am leichtesten eine gewisse Objektivität zu erzielen wäre, wird durch ein »Stimmungsbild«, zuweilen sogar durch einen kritischen Sonderartikel eingeleitet. Noch bedeutsamer ist diese kritisierende Tätigkeit der Presse da, wo sie dem Leser das Werk des Individuums selbst gar nicht vorführen kann und der Kritiker als Vermittler notwendig ist.

So kann denn der Einfluß, den der Redakteur im allgemeinen und der Kunstkritiker im besonderen auf die Gestaltung der Erscheinungsformen eines modernen Individuums haben, kaum hoch genug veranschlagt werden. Dieser Einfluß brauchte sich freilich nicht in einer Transformierung zu äußern, sondern könnte wahrheitsfördernd wirken, wenn etwa der Redakteur stets auf das sorgfältigste aus einer Anzahl ganz besonders, nicht bloß journalistisch tüchtiger, sondern in der Sache selbst urteilsfähiger Personen ausgewählt würde. Daß das fast nie der Fall ist, bei der Institution der Zeitung auch die journalistische Tüchtigkeit, d. h. Schnelligkeit der Auffassung, Flüssigkeit des Stils, Fähigkeit zu leicht verständlicher Darstellung, im Vordergrund stehen muß, braucht hier im einzelnen nicht auseinandergesetzt zu werden. Es genügen die Worte eines anerkannten Fachmannes, der im übrigen ein ausgesprochener Apologet des Zeitungswesens ist: »Die Tatsache schaffen die Zeitungen nicht aus der Welt, daß in vielen Fällen der Grad von Bildung, den ein Redakteur hat, im umgekehrten Verhältnis zu dem Aufsehen steht, das seine Artikel hervorrufen ... Bei der Fülle von Persönlichkeiten, die im Zeitungsberufe angestellt sind, ist die durchaus nötige Vorbildung nicht immer erreichbar; schon die materiellen Opfer wären zu schwer. Deshalb oft die Berichte und Expektorationen, die bei Fachleuten ein unfreiwilliges Lächeln hervorrufen. Das größte Unwesen aber wird dadurch getrieben, [154] daß jeder aus irgend einem Berufe übernommene Journalist in dem gleichen Augenblicke, in dem er sich auf einem Redaktionsstuhl niederläßt, sein Urteil de omnibus rebus et quibusdam aliis abgeben zu dürfen glaubt.« BRUNHUBER, Das moderne Zeitungswesen. Leipzig 1907, 74f. Es kam hier darauf an, gerade die Worte eines Fachmannes wiederzugeben, der höchstens im günstigen Sinne voreingenommen sein kann. Daß im übrigen die hervorragendsten Persönlichkeiten – wie Goethe, Wagner, Gobineau, Eduard v. Hartmann, Nietzsche, Bismarck – sich noch viel schärfer geäußert haben, ist bekannt und sei hier nur nebenher erwähnt.

Diese Mängel verringern sich natürlich in dem Maße, in dem die Größe und der Reichtum des einzelnen Blattes wächst, und so verfügen denn auch die größten Tageszeitungen – namentlich in ihrem kunstkritischen Teile – zuweilen über Spezialisten, die ein fast im wissenschaftlichen Sinne zuverlässiges Urteil besitzen. Aber abgesehen davon, daß das ganz besondere Ausnahmen sind, sind auch bei diesen Kritikern Faktoren wirksam, die die Erscheinungsform des kritisierten Individuums stark transformieren. Auf die Wichtigkeit persönlicher Beziehungen zum Kritiker wurde S. 126f. bereits hingewiesen. Selbst der ehrlichste, vom besten Willen zur Objektivität beseelte Kritiker wird sich der Macht dieses – rein zufälligen – Faktors nicht entziehen können. Den Freund und den Freundesfreund beurteilt jeder nachsichtiger als den Fremden. Es sei auch für diese, fast selbstverständliche Tatsache ein vorurteilsloser Kenner zitiert. A. KLAAR in WREDES »Handbuch der Journalistik« 181f.: »Die Buchkritik wird vielfach nur als Liebhaberei betrieben, so daß die Autoren, die persönliche Beziehungen haben, in ein helles Licht rücken, und die anderen, denen jede Beziehung zu Redakteuren und Redaktionen fehlt, im Schatten der Vergessenheit untertauchen.« Dazu kommt als gefährliches transformierendes Moment gerade beim hervorragenden Kritiker die Entdeckerfreude. Sie wird ihn um so eher zu Übertreibungen veranlassen, als er durch den Hinweis auf ein noch unbekanntes, erst von ihm entdecktes Individuum seine Unabhängigkeit von allgemeinen Ansichten zu erkennen gibt und damit seine kritischen Fähigkeiten ins beste Licht stellt. Es werden also auch hier wieder rein persönliche Motive wirksam, die mit dem Individuum oder gar mit seiner Eminenz nur sehr mittelbar etwas zu tun haben. Natürlich [155] beschränken sich die Entdeckungsmöglichkeiten nicht auf das lebende Individuum, und es ist auch dem längst gestorbenen »verkannten Genie«, das also aus zwei Gründen unaktuell ist, durch solche Entdeckung ermöglicht, aktuell zu werden. Aber in der Tagespresse sind diese letzterwähnten Fälle nur selten, weil der Weg zur Aktualität hier ein wenig lang ist.

Der Durchschnittsleser sucht in der Zeitung jedoch nur selten die Ansicht bestimmter Mitarbeiter, sondern sieht in ihr, zum Teil infolge der noch meist bestehenden Anonymität, ein Ganzes, das – eben als einheitliche Äußerung einer einheitlichen Weltanschauung – auf ihn bestimmend wirkt. Betrachtet man die Presse als solches Ganze, so ergeben sich neben den bereits genannten noch einige andere transformierende Faktoren.

Am wichtigsten ist der, den man allgemein die Ehrfurcht vor dem gedruckten Wort nennt. Sie ist etwas – wenigstens in unserer Zeit – recht Auffallendes, stammt offenbar aus einer Epoche, in der der Buchdruck etwas Seltenes und Kostspieliges war und in der deshalb nur das gedruckt wurde, was ganz besonders wertvoll und deshalb der Aufbewahrung würdig schien. Die Ehrfurcht ist zwar mit der außerordentlichen Verbreitung des Buchdrucks ein wenig gesunken, aber nicht in dem Maße, in dem die Wertlosigkeit des gedruckten Wortes, d. h. vor allem der Umfang der Tagespresse, gestiegen ist. Die Masse, auch die 2. Grades, die nicht allzu zahlreiche wertvolle Druckwerke in die Hand bekommt, überträgt die Ehrfurcht, die sie diesen wenigen entgegenbringt, auf die Zeitung, ohne sich bewußt zu werden, auf welche fragwürdigen Quellen und noch fragwürdigere Quellenbenutzer deren Inhalt oft zurückgeht. So kommt es zu dem sonderbaren Zustand, daß die Meinung eines Menschen nicht deshalb von vielen angenommen wird, weil er urteilsfähiger ist als sie, sondern weil er zufälligerweise Beziehungen zu einer Institution hat, die auf dem Buchdruck beruht und deshalb einen außerordentlichen Einfluß besitzt. Zwar ist, um nur ein Beispiel herauszugreifen, der Theaterbesuch, also der äußere Erfolg eines Stückes, etwa zu gleichen Teilen von der Zeitungskritik und der mündlichen Propaganda in Familie und Gesellschaft [156] abhängig So A. KLAAR, a. a. O. 149., aber die Erscheinungsform des dramatischen Dichters, also das, was man den inneren Erfolg nennen könnte, geht fast nur auf den Kritiker zurück. Und beim bildenden Künstler ist das in womöglich noch stärkerem Maße der Fall.

Zu dieser Ehrfurcht vor dem gedruckten Wort kommt ein zweites Moment, das hier mit den treffenden Worten LÖBLS auseinander gesetzt sei. »Die an und für sich sehr bedeutende Wirkung des gedruckten Wortes ... empfängt durch die stete Wiederholung eine suggestive und hypnotisierende Kraft. Was heute eine noch zu beweisende Aufstellung war, wird morgen als eine bewiesene Tatsache hingestellt und dient übermorgen bereits als Präsumption, als der selbstverständliche Ausgangspunkt für weitere Deduktionen. Insbesondere diese stille, unauffällige Umwandlung einer These in ein Axiom ist ein ganz vorzügliches Mittel, um den Leser zu der These zu bekehren« (a. a. O. 248f.). Von solchen Thesen kommen hier nur die in Betracht, die sich nicht auf Ereignisse, sondern auf Personen beziehen und diese Personen nicht in ungünstige, sondern in günstige Beleuchtung stellen. Man könnte einwenden, daß die Presse nicht nur positiv, sondern auch negativ‚ d. h. nicht nur ruhmverstärkend, sondern auch ruhmvermindernd, wirkt; aber das ist häufiger zu beobachten nur in Deutschland – schon in Frankreich ist z. B. die literarische und besonders die Theaterkritik fast lediglich bejahend –, und auch die verschiedenen deutschen Zeitungen setzen meist nur die Individuen herab, die ihnen in kultureller, vor allem politischer Beziehung fernstehen. Zu allen anderen sagt sie lieber ja als nein So schreibt der einflußreiche Kritiker einer einflußreichen Zeitung: »Seit fast 20 Jahren ist die Sünde der künstlerischen und doch wohl überhaupt aller Kritik durchaus nicht mehr die harte Ablehnung, sondern ganz im geraden Gegenteil die Überschätzung des Neuen. Die Signatur dieser Periode ist nicht die große Anzahl verkannter Persönlichkeiten, sondern die – man kann fast sagen – Masse mit Unrecht als Persönlichkeiten proklamierter Begabungen.« FRITZ STAHL im Berliner Tagebl, 26. Juli 1913, Nr. 375., und besonders bei solchen, die in politischer Beziehung indifferent sind, also bei den meisten Künstlern, verzerrt sie die Erscheinungsform fast allein im günstigen [157] Sinne. Es braucht hier nicht an das erinnert zu werden, was etwa von der endgültigen Erscheinungsform Wagners, Tolstois, Ibsens, Gerhart Hauptmanns auf die Presse zurückgeht; denn »es hat sich herausgestellt, daß alles sich bis zu einem bestimmten Grad von Notorität, ja Berühmtheit bringen läßt, wenn es nur mit dem genügenden Nach- und Hochdruck angepriesen wird. Man muß nur berechnen können, wie weit man gehen darf, will man nicht den Widerspruchsgeist des Publikums herausfordern und nicht das Mißverhältnis der Proportionen und der Mittel offenbaren, welche zu seiner Verherrlichung aufgeboten werden.« I. I. DAVID, Die Zeitung. Frankfurt a. M. o. J. 73.

Dieses Mißverhältnis wird durch einen anderen Umstand verstärkt. Die Presse leidet zweifellos an einem gewissen Stoffmangel. Das ist nicht etwa so zu verstehen, daß sie – sei es von besonderen Mitarbeitern, sei es von Korrespondenzen – nicht genügend Material zum Füllen ihrer Spalten erhielte. Im Gegenteil: die Redaktionen haben Stoff meist im Überfluß, und verfügen auch stets über einen »Übersatz«,« d. h. über einen Vorrat an bereits gesetzten Artikeln, die als Füllsel dienen und jeder Zeit zurückgeschoben werden können. Aber jener Stoffmangel ist doch in dem Sinne vorhanden, daß der äußere Umfang der Zeitungen in sehr viel stärkerem Maße gewachsen ist als die Menge der wirklich bedeutsamen Ereignisse oder – da Ereignisse uns nicht interessieren – der wirklich bedeutsamen Individuen. Gewiß stehen heute – namentlich infolge der Vervollkommnung von Post und Telegraph – mehr Individuen in unserem Gesichtskreise als vor 100 Jahren; aber es sind nicht so viele, daß sie in einigermaßen wahrheitsgetreuer Darstellung Blätter füllen könnten, die täglich in zwei, drei und mehr Ausgaben von z. T. sehr großem Format erscheinen. Um die Füllung doch zustande zu bringen, müssen Individuen beachtet werden, die nicht beachtenswert sind, und diejenigen, die es sind, derartig ins Große verzerrt werden, daß ihr wahres Wesen kaum noch erkennbar ist.

Endlich sei noch ein Faktor genannt, der ebenfalls transformierend wirkt, aber von geringerer Bedeutung ist. Daß [158] durch bezahlte Reklame in dem dafür bestimmten Teil das Individuum bis zu einem gewissen Grade der Gekanntheit gelangen kann, ist bereits erwähnt. Bei geschicktem Vorgehen gelingt es dem Individuum aber auch, diese persönliche Reklame in den redaktionellen Teil der Zeitung überzuleiten und so sehr viel wirksamer zu gestalten. Auf das Erscheinen eines Buches wird im voraus hingewiesen; von einem Drama wird zunächst bekannt, daß es an verschiedenen Bühnen angenommen ist, daß die Proben begonnen haben, welche Schauspieler in ihm beschäftigt sind, usw.; vor der Aufführung einer Oper liest man in der Zeitung, welch hohen Preis die Instrumente kosten, die das Orchester verwenden wird Dies geschalt vor der Premiere von »Ariadne auf Naxos« von RICHARD STRAUSS.; der Schauspieler, der Virtuose läßt sich vor seinem Auftreten »interviewen«. Um ein Beispiel von der Raffiniertheit zu geben, die bei dieser versteckten Persönlichkeitsreklame zuweilen angewendet wird, sei der Fall eines sehr bekannten Violinvirtuosen näher geschildert. Vor einem Konzert in London überlegt er mit seinem »Preßleiter«, durch welche Mittel die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt werden kann. Es soll zunächst in den Blättern verbreitet werden, daß die Geige, auf der er spielen werde, 5000 Guineen koste und daß ihm bereits 10 000 dafür geboten seien. Aber die Erwägung, daß es Krönungszeit sei und die Presse deshalb derartige Lappalien vielleicht übergehen könnte, führt zu einem anderen Plan: einem armen Wunderknaben wird eine Geige gekauft, und es werden Journalisten und Photographen eingeladen, vor denen der Virtuose dem Knaben das Instrument übergeben soll. Am nächsten Tage wird die Szene, die sich hierbei abspielt, in der gesamten Presse wiedergegeben, und der Zweck ist erreicht. vgl. dazu die authentische Darstellung in der Frankfurter Zeitung, 10. Juli 1912, Nr. 189 »Der Fall Kubelik«. Natürlich braucht das Individuum bei dieser Inszenierung seiner eigenen Person nicht selbst hervorzutreten: es genügt, wenn gute Freunde, Konzertdirektionen und andere interessierte Leute die Nachrichten weiter befördern. Der »Nimbus« ist vorhanden; über seine Genesis weiß man nichts. Daß es sich hier in vielen Fällen nicht [159] nur um Ruhmerweiterung, sondern auch um völlige Ruhmschöpfung handelt, ist evident: gerade bei modernen Individuen, deren Erscheinungsform hauptsächlich auf die Presse zurückgeht, ist man nie sicher, wie großen Anteil daran die versteckte Reklame hat.

So zeigt sich die Macht der Presse überall: bei dem bereits historisch gewordenen wie bei dem Individuum, dessen Bild noch im Werden begriffen ist. Wenn auch im ganzen die Fälle, in denen das an sich nicht mehr aktuelle eminente Individuum für eine kurze Zeit aktuell wird und so in die Zeitung Eingang erhält, nicht gerade selten sind, ist doch der Einfluß der Tagespresse auf die Gestaltung der Erscheinungsformen des noch lebenden Individuums sehr viel größer. Nicht nur weil hier die Möglichkeiten, aktuell zu werden, zahlreicher sind (im Grunde handelt es sich gar nicht um ein Aktuell werden: der Lebende ist aktuell). Vor allem beschränkt sich die Presse dem lebenden Individuum gegenüber nicht darauf, Echo der »öffentlichen Meinung« zu sein, sondern ist – namentlich bei der politischen Eminenz in sehr vielen Fällen Mitgestalterin dieser öffentlichen Meinung. Darin vor allem liegt ihre Bedeutung für die uns hier beschäftigenden Fragen. Das Bild des historisch gewordenen Individuums wird fast stets von der Presse so wiedergegeben, wie es durch die anderen ruhmbildenden Faktoren gestaltet ist. Für das Bild des lebenden jedoch sind jene Faktoren immer erst das Sekundäre: zunächst muß ihm Gelegenheit gegeben sein, auf irgend einem der soeben bezeichneten Wege in die Presse einzudringen.


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