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Umgeben von den Äußerungen eines vielgestaltigen Heroenkultes wächst das Kind auf. An den Zimmerwänden hängen die Bilder eminenter Individuen, auf dem Bücherbrett stehen die Werke von Dichtern, die es Klassiker nennen hört, auf den Plätzen [129] der Heimatstadt sieht es Denkmäler von Männern, deren Namen es in Ehrfurcht vom Erzieher oder vom erwachsenen Kameraden vernimmt. So entsteht im Kinde, nicht nur bevor es willens, sondern auch bevor es irgendwie fähig ist, sich ein Urteil zu bilden, eine Stimmung, die man noch nicht einmal Vorurteil nennen kann, sondern die eine eigenartige Mischung ist von Staunen, Ehrfurcht und dem Gefühl unerreichbarer Ferne.
In der ersten Zeit versucht der Erzieher nur selten, das Kind mit dem Werke des so angestaunten Individuums bekannt zu machen: der Name – laute er nun Bismarck oder Schiller oder Goethe – muß zunächst genügen. Allmählich kommt zur Kenntnis des Namens die des Berufes hinzu: es hört, daß Bismarck ein Staatsmann, Goethe ein Dichter war, und läßt sich dann weiter berichten, daß Bismarck das Deutsche Reich gegründet, Goethe das größte deutsche Drama, den Faust, geschrieben habe. Nun beginnt sich langsam in ihm ein Bild des Individuums zu formen, und zwar in einem Maßstabe, der von Anfang an notwendigerweise riesenhaft ist. Die Verzerrung muß um so größer sein, als ihm – selbst wenn es bereits lesen kann – jegliche Fähigkeit fehlt, das meist sehr komplizierte Werk der Individuen, mit denen es so früh bekannt gemacht wird, selbständig zu beurteilen. Ähnliche heroenkultische Einflüsse wirken auch auf den reifer werdenden Menschen überall ein. Er sieht in Theatern »klassische« Dramen, hört in Konzerten »klassische« Musik, besucht in der Heimatstadt oder auf Reisen Museen und Kunstsammlungen, in denen ihm vom Führer bestimmte Werke als höchste, über aller Wertung stehende Leistungen des Menschengeistes vorgeführt werden.
Die Bedeutung gerade dieser Einflüsse kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie wirken, da jeder Mensch einmal jung gewesen ist, naturgemäß auf jeden Menschen, etwa der Masse zweiten Grades, ein, und zwar um so tiefer, als sie in einer Periode auftreten, in der ein nennenswerter Widerstand ihnen nicht entgegengesetzt werden kann. So kommt es auch, daß Bücher, die im besonderen Maße Jugendbücher sind oder es – infolge bestimmter transformierender Tendenzen – geworden sind, in noch ganz [130] anderem Maße zu Verbreitung und damit zu Ruhm gelangen als eminente – oder eminent scheinende – Bücher, die nur von Erwachsenen gelesen werden. Gerade bei den verbreitetsten von ihnen zeigt sich die sonst nur selten zu beobachtende Tatsache, daß nicht der vorher vorhandene Ruhm eine allmähliche Transformierung zur Folge hat, sondern daß die Transformierung erst eintreten muß, um sie zu Jugendbüchern zu machen und daß dieser Umstand dann ihren Ruhm hervorruft. Es seien dazu die – wenigstens in Deutschland – meist gelesenen Jugendbücher betrachtet: Grimms Märchen, Defoes Robinson und Swifts Gulliver.
Verhältnismäßig gering ist die Transformierung bei den Grimmschen Märchen, die ja schon durch ihren Stoff zum Jugendbuch prädestiniert sind. Aber auch bei ihnen ist sie noch groß genug. Bei Jakob Grimm wenigstens überwiegt das rein wissenschaftliche Interesse bedeutend. Er sagt es selbst, daß ihm das Märchenbuch gar nicht für Kinder geschrieben sei, daß seine Lust an der Arbeit auf dem der Poesie, Mythologie und Geschichte erwachsenden Gewinn beruhe, gibt deshalb gelehrte Anmerkungen bei und druckt Vorlagen aus dem 16. und 17. Jahrhundert wortgetreu ab. Und als Wilhelm Grimm später das Buch neu herausgibt, hebt er besonders hervor »wie wenig bei den Kinder- und Hausmärchen von den Sammlern damals an den alleinigen Gebrauch für Kinder und Haus gedacht wurde; in erster Linie kam es den Brüdern darauf an, diese bis dahin unbeachtet gebliebenen Blumen, die der dichtenden Phantasie des Volkes entsprangen, als einen Teil des allgemeinen nationalen Reichtums überhaupt ans Licht zu bringen.« Vgl. dazu ERICH SCHMIDT, Zur Jahrhundertfeier der Grimmschen Märchen (Deutsche Rundschau 39, 1912, 352ff.).
Sehr viel stärker ist die Umformung beim Robinson. Auch er war nicht als Jugendbuch gemeint, war es ebenso wenig wie die etwa 250 anderen abenteuerlichen, historischen, phantastischen Erzählungen Defoes. Wodurch die Umformung zustande kam, ist an anderer Stelle bereits erwähnt und interessiert hier nicht. Hier kommt es nur darauf an, daß der Robinson niemals das Weltbuch hätte werden können, wenn [131] er nicht – infolge der notwendigen Transformierung und Kürzung – gerade ein Jugendbuch geworden wäre.
Am stärksten endlich ist die Umwandlung bei Swifts Gulliver. Ist es schon auffallend, daß überhaupt ein Werk eines der grimmigsten Pessimisten und Menschenverächter zum Jugendbuch wird, so wächst das Befremden gerade beim Gulliver, der als beißende Satire auf die Menschheit, besonders auf das England des 18. Jahrhunderts, gemeint ist und namentlich in den letzten Teilen einen schwer zu überbietenden Menschenhaß bekundet. Weshalb und wie die Transformierung vor sich ging, ist noch nicht untersucht. Die Erklärung liegt wahrscheinlich darin, daß der Inhalt abenteuerlich ist, die politischen Anspielungen später nicht mehr verstanden wurden und so das Ganze durch seine etwas groteske Form einen fast belustigenden Eindruck macht. An dieser Stelle ist wiederum nur das eine hervorzuheben: seinen Weltruhm verdankt das Werk vor allem – hier könnte man fast sagen: allein – dem Umstande, daß es Jugendbuch geworden ist.
Handelt es sich bei der Erscheinung des berühmten Jugendbuches nicht mehr um Formen des reinen Heroenkultes, wie wir sie vorher als Folge der Erziehung kennen gelernt haben, so wird das vom Elternhause begonnene Werk doch von anderer, höchst bedeutungsvoller Seite fortgesetzt: von der Schule. Und zwar geschieht hier bewußt, was dort unbewußt und ganz nebenher vor sich geht. Die zünftige Pädagogik hat frühzeitig den starken erzieherischen Wert erkannt, der in dem Hinweis auf das eminente Individuum liegt. Sie kam darauf, weil sie die Pflicht und den Willen hatte, dem Kinde nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine ethische Ausbildung zu geben, und weil unter den Mitteln zur Erziehung des Willens der Hinweis auf das große Vorbild, also die verehrungswürdige Persönlichkeit, mit an erster Stelle steht. Daß die Lehre von den »Gesinnungsfächern«, d. h. den Unterrichtsgegenständen mit besonders starken ethischen Wirkungsmöglichkeiten, von der Herbartschen Schule – vor allem von Ziller – alsbald in allen Einzelheiten ausgebildet wurde und daß als die wichtigsten der Gesinnungsfächer sich Religion und Geschichte ergaben, ist bekannt. Wir lassen die [132] Religion, da sie für unsere Zwecke naturgemäß weniger ergiebig ist, beiseite und betrachten vor allem die Geschichte.
Goethes stets wiederholter Satz: »Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt« zeigt – eben durch die stete Wiederholung – am deutlichsten, was in Laien- und in Zunftkreisen allgemein als Hauptzweck des Geschichtsunterrichtes angesehen wird. Und Herbarts Worte: »Solche Männer, deren der Knabe einer sein möchte, stellt ihm dar« führen noch näher an die hier zu betrachtenden Erscheinungen heran. Wer die Entwicklung des Geschichtsunterrichts im 19. Jahrhundert überblickt, sieht das Bild eines langen und zähen Kampfes zwischen den Vertretern der mehr intellektuellen und denen der mehr ethischen Richtung. Daß schließlich die letztere gesiegt hat, wie sie in einer gesunden Pädagogik siegen mußte, kann heute einem Zweifel nicht mehr unterliegen. Ein typisches Beispiel hierfür bieten die »Verhandlungen der Direktorenversammlungen in den Provinzen des Königreichs Preußen«, 13, 1882. H. K. STEIN hat auf dieser Versammlung im Anschluß an ein Referat Thesen aufgestellt, in denen das ethische Moment nicht genügend zum Ausdruck kommt. Es erhebt sich sofort eine heftige Debatte darüber, und schließlich wird unter starker Mehrheit eine Fassung angenommen, in der es u. a. heißt: »Der Geschichtsunterricht soll zugleich einen Verstand und Gemüt bildenden Einfluß ausüben, indem er das sittliche Wollen des Schülers kräftigt, Begeisterung für alles Gute, Wahre und Schöne in ihm erweckt, insbesondere seine Liebe zum Vaterlande belebt« (S. 164). Ohne in tendenziöse Entstellung oder in aufdringliches Moralisieren zu verfallen, wird der historische Unterricht das eminente Individuum, namentlich das für die nationale Entwicklung bedeutungsvolle, in den Mittelpunkt stellen und so am gründlichsten erreichen, was er vor allem erreichen soll. Natürlich wird die rein biographische Methode, die in den unteren Klassen die einzig gegebene ist, allmählich einer mehr kulturhistorischen Platz machen, und man wird neben den Persönlichkeiten auch Institutionen, Gesellschaftsformen, Volksmassen in den Kreis der Betrachtung ziehen. Aber – und es seien hiermit die Worte eines erfahrenen Fachmannes zitiert – »ohne ein Stück Carlylescher Heldenverehrung kommt der Geschichtslehrer auch in [133] Prima nicht aus. ... Dem Ziel, eine Begeisterung zu erregen, die den Wunsch der Nachahmung in sich trägt, strebt der Geschichtsunterricht nach, mag er dem noch geschichtslosen Knaben von Siegfried oder Odysseus erzählen oder dem angehenden Studenten die Größe Kaiser Wilhelms I. oder Bismarcks darstellen.« NEUBAUER in REINs »Handbuch der Pädagogik«, sub »Geschichtsunterricht auf höheren Schulen«.
Unter dem Einfluß solcher pädagogischer Tendenzen muß beim Lehrer, auch wenn er den stärksten Willen zur Objektivität hat, allmählich eine – natürlich nicht zum Bewußtsein gelangende – Transformierung des Individuums eintreten. Noch stärker aber wird sie beim Schüler, namentlich beim jugendlichen, sein. Die Hemmungen, die dort die wissenschaftliche, an das Individuum näher heranführende Ausbildung bietet, sind hier noch nicht vorhanden. Es kommt die starke Autorität hinzu, die dem Lehrer zur Verfügung steht und den Schüler, auch wenn er bereits die Fähigkeit zur Kritik hat, förmlich dazu zwingt, an das Gehörte zu glauben. Eine Schwierigkeit, die auch bei anderen Fächern vorliegt, ist beim Geschichtsunterricht besonders groß: er kann dem Schüler nicht die Taten des eminenten Individuums, wie es etwa der deutsche Unterricht tut, vorführen, sondern ihm nur Urteile über diese Taten geben. Staatsarchive bleiben der Schule naturgemäß verschlossen. Die Konzentrierung der Geschehnisse endlich, die bedingt ist durch den Willen, in kurzer Zeit und mit einfachen Hilfsmitteln einen Überblick über gewaltige Zeiträume zu ermöglichen, muß zu einer überstarken Betonung der wichtigeren Persönlichkeiten führen, die dadurch einer weiteren Transformation unterliegen.
Der deutsche Unterricht steht, was die ruhmbildende Wirkung angeht, an zweiter Stelle. Auch er gehört noch zu den »Gesinnungsfächern«, hat also neben einer didaktischen Aufgabe ebenso wie Religion und Geschichte eine ethische zu lösen. Wiederum gelingt ihm dies vor allem durch seinen Hinweis auf eminente Individuen. Ein solcher Hinweis kann erfolgen durch literarhistorische Belehrung oder durch Vorführung der Werke selbst. In der ersten Hälfte des 19. Jahr [134]hunderts – früher gibt es kaum etwas, was man deutschen Unterricht nennen kann – wird fast nur die erste Form gewählt: dem Schüler werden einige Epochen der deutschen Literatur vorgeführt, d. h. er erhält über bestimmte Individuen fertige Urteile, die er hinnehmen muß. Die Gefahr, die in einem solchen Verfahren liegt, bleibt nicht lange verborgen, und so bereitet sich denn auch – besonders nach dem Erscheinen des Buches von R. H. HIECKE Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien«, 1842. – allmählich ein Wandel vor: statt Werturteile zu geben, legt man dem Schüler bestimmte Werke bestimmter Individuen selbst vor; der literarhistorische Unterricht wird durch die Lektüre von Dichtungen abgelöst. Die preußischen Lehrpläne von 1882 fordern demgemäß, »daß auf Grund einer wohl gewählten Klassen- und Privatlektüre die Schüler mit den Hauptepochen unserer Literatur bekannt gemacht und für die Heroen unserer Literatur durch das Verständnis der bedeutendsten ihrer zugänglichen Werke mit dankbarer Hochachtung erfüllt werden.« Der große Fortschritt, der hierin liegt, ist nicht zu verkennen; aber die Gefahr, die letzten Endes jedes Unterweisen eines Jüngeren durch einen Älteren hat, die also für alle Zeiten und alle Völker völlig unvermeidlich ist, wird auch hierdurch nur verringert, nicht aufgehoben: schon in der Auswahl der Individuen und der Auswahl ihrer Werke liegt eine Wertung, die dem Schüler ein unbefangenes Urteil unmöglich macht Er weiß, daß die Schule ihn nur auf Dichter hinweisen wird, die ihr selbst als die größten erscheinen, trägt also ein Bild von ihnen, noch bevor er sie selbst kennen lernt, fast fertig geformt in sich. Der Einwand, daß die eingehende Analyse, wie so häufig behauptet wird, dem Schüler die Dichtwerke »verleide«, ist für die vorliegende Untersuchung belanglos: was dem Schüler widerstrebt, ist die – ebenfalls unvermeidliche – Analyse, nicht das Individuum, dem sie zu Teil wird. Er kann sich vielleicht für eine gewisse Zeit nach dem Verlassen der Schule nur schwer entschließen, eine dort besprochene Dichtung noch einmal zu lesen, mag wohl auch als junger Student etwa die übliche Schillerverachtung hegen, aber das Urteil, daß bestimmte Dichter unsere Klassiker, d. h. unsere größten sind, [135] steht in ihm fast unverrückbar fest, die Transformierung gewisser Individuen hat begonnen, und was vorhanden ist, ist fast nur noch eine im günstigen Sinne veränderte Erscheinungsform.
Ähnliche, nur in einigen Punkten abweichende Verhältnisse liegen für den Unterricht in den fremden, namentlich in den antiken Sprachen vor. Der Schüler, der ein Werk Shakespeares oder Molières oder Racines in der Ursprache liest, steht diesem Werke ebenso befangen gegenüber wie einem Goetheschen oder Schillerschen. Noch stärker ist die Befangenheit vor Homer, Sophokles, Plato und den anderen antiken Schriftstellern; denn hier stützt sich das Vorurteil nicht auf eine hundert- sondern auf eine zweitausendjährige Überlieferung. Aber es kommt beim fremdsprachlichen Unterricht ein Moment hinzu, das dem deutschen fehlt: die Lektüre von Werken eminenter oder eminent scheinender Individuen verfolgt hier nicht nur ethische und ästhetische, sondern auch rein didaktische Zwecke. Das Kunstwerk soll zugleich die Kenntnis der fremden Sprache vertiefen, es wird also Lehrmittel. Jedes weitverbreitete Lehrmittel wirkt nun schon an sich in noch stärkerem Maße ruhmverstärkend als irgend ein anderes weitverbreitetes Buch; denn es kommt, da durch die Macht der Schule zu gleicher Zeit hunderte von einzelnen Individuen veranlaßt werden, es zu benutzen, alsbald zur raschesten Zirkulation. Namentlich die mittelalterlichen Lehrbücher wie Donat, Priscian, das Doctrinale des Alexander de Villa Dei, aber auch manche modernen haben ihren Verfassern zu einem Ruhme verholfen, der weit über die rein äußerliche Form des Namenruhmes hinausgeht.
In noch weit stärkerem Maße ist das da der Fall, wo das Werk eines Individuums, das bereits vorher – sei es aus ästhetischen, sei es aus anderen Gründen – die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, zum Lehrmittel wird. Der Einfluß der Antike auf die geistige Struktur der ganzen Welt geht, wenn auch nicht allein, so doch zum sehr großen Teil auf solche rein formalen Gründe zurück. Am Homer entsteht – aus dem einfachen Bedürfnis heraus, ihn zu verstehen schon im 5. Jahrhundert die Philologie, soweit sie nicht Sprach [136]philosophie ist Vgl. darüber v. WILAMOWITZ-MÖLLENDORFF, Homerische Untersuchungen. Berlin 1884, 383f., und was im Mittelalter Aesop, Cato‚ Livius, Cicero, vor allem Vergil als Lehrbücher bedeuten, ist aus der Geschichte der Pädagogik bekannt. Vergil und die Grammatik hören im Mittelalter geradezu auf, zwei verschiedene Dinge zu sein und werden synonym« (COMPARETTI, Vergil im M. A. 73). Der Humanismus mit seiner veränderten Stellung zu den Werken der Antike erhöht noch die Bedeutung dieser Werke als Lehrmittel, und sie wächst noch weiter vom Ende des 18. Jahrhunderts an, nachdem sie in der vorhergehenden Periode des Rationalismus und Pietismus etwas gesunken war. Vollends in der Neuzeit geht die Erscheinungsform der antiken Autoren fast allein auf die Schule zurück. Eine an sich wirkende Macht sind sie nicht mehr. Nicht nur Vergil, Cicero, Livius, auch Homer, Plato, Thucydides wären außerhalb der zünftigen Philologie halb oder ganz vergessen, wenn nicht die Schule sie zu einer Art Scheinleben erweckte. Es stehe hier nur das Zeugnis eines Mannes, bei dem gewiß von Voreingenommenheit gegen das Altertum keine Rede sein kann. WILAMOWITZ gesteht: »Homer ist zurzeit kein vielgelesener Dichter mehr. Auch wo der Zwang seine Lektüre durchsetzt, ist seine Wirkung nicht mehr nachhaltig, wenigstens nur unbewußt. Denn wie viele Erwachsene lesen ihn noch zu ihrer Erbauung? Die konventionelle Bewunderung wird weiter geredet: sie beweist nichts. Homer ist eine Macht, aber eine überwundene« (a. a. O. 381).
Es fragt sich nun noch, unter welchen Bedingungen ein Individuum Gegenstand des Unterrichts, also »schulreif« wird. Im voraus ist daran festzuhalten, daß bei all denen, die aus irgend welchen Gründen nicht in die Schule eindringen können, die Transformierungsmöglichkeiten sehr viel geringer sind als bei den anderen, die man nun entweder als die glücklicheren oder die unglücklicheren bezeichnen mag. Den Ausgeschlossenen fehlt zum Durchdringen ein Faktor, der, wie bereits hervorgehoben, von ganz besonderer Wichtigkeit ist, da er allgemein und in einem Alter wirkt, das fast gar keine Fähigkeit zum Widerstand gegen ein von außen andringendes Urteil besitzt.
Die besonderen Verhältnisse unserer Schule bedingen den [137] Ausschluß ganzer Gruppen von künstlerischen Individuen, mag deren Eminenz auch noch so groß sein: weder der Musiker, noch der Maler, noch der Bildhauer, noch der Architekt sind Gegenstand des Unterrichts im eigentlichen Sinne des Wortes. Freilich werden sie vom Lehrer je nach seiner Individualität gelegentlich erwähnt, und schon eine solche Erwähnung kann, ja muß ruhmbildend, d. h. transformierend, wirken. Wirklicher Gegenstand des Unterrichts wird, da die Schule auf die sprachlichen Fächer von jeher das größte Gewicht gelegt hat, von Künstlern nur der Dichter. Aber wann und warum wird er es? Der lebende ist es fast niemals. Erst muß die Nachwelt über ihn gerichtet, d. h. in unserm Sinne: erst müssen die übrigen ruhmbildenden Faktoren auf ihn gewirkt haben. Schon die literarhistorische Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit jedem, der jemals etwas hat drucken lassen. Sie siebt, wenn auch freilich mit großlöchrigem Siebe. Die Schule setzt diese Siebung fort und läßt schließlich nur ganz wenige, d. h. die besonders eminent Scheinenden, durch. Aber auch unter diesen noch wählt sie aus, da sie noch andere als künstlerische und historische Maßstäbe anlegen muß. Sie kann nur diejenigen Werke berücksichtigen, die dem Verständnis der Jugend angepaßt sind und in sittlicher Beziehung keine Bedenken bieten.
Von den übrigen Gruppen steht die der religiösen Eminenzen in erster Reihe. Es folgen die politischen Individuen – also Herrscher, Staatsmänner, Feldherrn –, da die Schule, wie sich gezeigt hat, der rein politischen Geschichte einen sehr viel größeren Raum anweist als allen sonstigen historischen Wissenschaften. Hier ist die nationale Bedingtheit besonders groß. Die ethischen – hier also vaterländischen – Ziele, die die Schule jedes Landes verfolgt und verfolgen muß, werden je nach der Nation die Auswahl und auch die Behandlung der Ausgewählten völlig verschieden gestalten, also in besonders starkem Maße transformierend wirken. Die übrigen Tateminenzen, die Erfinder, Entdecker, Gelehrten, Kaufleute, Ärzte usw.‚ sind ebenso wie die erst genannten Künstlergruppen auf gelegentliche Erwähnung im Unterricht beschränkt.
Ihnen wird das Indiemassedringen vor allem durch den Weg ermöglicht, der – wenigstens in den letzten hundert [138] Jahren – der allgemeinste geworden ist und schließlich jeden zum Ziele führt, der ihn überhaupt beschreiten kann. Es ist bereits mehrfach auf die Bedeutung hingewiesen worden, die die Presse für die Gestaltung der Erscheinungsformen des Individuums hat. Aber noch sind die Gründe ihres Eingehens auf das Individuum nicht dargelegt, die ihr zur Verfügung stehenden Mittel nicht untersucht.