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5. Kapitel.
Die ruhmvermindernden Faktoren.

Die Erscheinungsform eines für eminent gehaltenen Individuums läßt sich, wie bereits mehrfach nebenher erwähnt wurde, graphisch nicht etwa in einer gerade ansteigenden Linie darstellen. Denken wir, um nur ein Beispiel herauszugreifen, an Schiller, der bald als bedeutender, bald als mittelmäßiger, bald als minderwertiger, dann aber wiederum als mehr und mehr bedeutender Dichter erscheint, so wird klar, daß sich in jedem Falle eine gebrochene Linie ergibt, bei der höchstens die Häufigkeit und die Intensität des Wechsels zwischen Auf und Nieder von Fall zu Fall verschieden ist. Es wäre daher ein Irrtum zu glauben, daß für die Erkenntnis der Erscheinungsformen eines Individuums die Darlegung der ruhmzeugenden und ruhmerweiternden Faktoren genügt. Auch die ruhmvermindernden wollen beachtet sein. Ja man könnte annehmen, daß in einer rein theoretischen Untersuchung, wie die vorliegende sie ist, diesen hemmenden Umständen ein ebenso großer Raum zugewiesen werden müßte wie den fördernden. Aber das wäre nicht zutreffend und würde die – an sich nicht zu leugnende – Bedeutung der negativen Faktoren stark übertreiben. Nicht durch Zufall heißt der Titel dieses Buches »Die Genesis des Ruhmes«, enthält er also allein das positive Wort. Wer eine lange Bergwanderung macht, wird streckenweise auch über eine Ebene, ja zuweilen wohl gar ein Stück abwärts gehen müssen; aber sowie er am [265] Gipfel angelangt ist, wird er die Bewegung, die er vollzogen hat, selbstverständlich eine Aufwärtsbewegung nennen.

Und nur mit solchen Bergwanderungen, nicht etwa mit Grubenfahrten, hat es alle Historie zu tun. Denken wir an den bereits erwähnten extremen Fall eines Malers von der größt vorstellbaren Eminenz, der keinerlei Beziehungen zu einflußreichen Leuten hat, dessen Bilder niemals aus seinem Hause gekommen sind und dem dieses Haus mit allem, was darin ist, eines Tages abbrennt. Es ist schon gesagt worden, daß ein solcher Maler trotz seiner gewaltigen Eminenz für die Historie genau so bedeutungslos wäre wie irgendein Stubenstreicher. Die ruhmvermindernden Faktoren, also in diesem Falle der Nichtbesitz von Beziehungen und der Brand des Hauses, hätten hier ein so starkes Übergewicht über den einzigen ruhmfördernden, die Eminenz, daß das Individuum für alle Menschheitsgeschichte einfach eliminiert wäre. Wie häufig sich solche und ähnliche Fälle abgespielt haben, läßt sich natürlich nicht feststellen, und man wird dafür niemals andere als imaginäre Beispiele finden können. Aber wir können aus ihnen eine wichtige Erkenntnis für die anderen, weniger extremen Fälle ableiten, die für die Historie bereits in Betracht kommen und vom Historiker wahrnehmbar sind: die Grenze der Wahrnehmbarkeit eines Individuums liegt nämlich genau an der Stelle, wo die ruhmvermindernden und die ruhmverstärkenden Faktoren sich das Gleichgewicht halten. Erst wenn sich dieses Gleichgewicht zugunsten der letzteren verschiebt, wird das Individuum wirklich beachtet und schließlich Gegenstand der Forschung. Es erscheint als um so wichtiger für die historische Entwicklung, je größer das Übergewicht der ruhmverstärkenden über die ruhmvermindernden Faktoren ist. Das wird besonders deutlich, wenn wir nochmals an die sog. »verkannten Genies« denken: bei ihnen sind die hemmenden Umstände zunächst in der Überzahl; würden sie es bleiben, so wäre niemals von einer »Verkennung« und noch viel weniger von einer »Genialität« die Rede; aber in einem bestimmten Zeitpunkt erhalten die fördernden Umstände das Übergewicht über sie; erst von da an erscheinen jene Individuen als wichtige Faktoren der historischen Entwicklung.

Und was wichtiger ist: alle diejenigen Individuen, die [266] nicht reine Tateminenzen sind, deren Wirkung also auf Imagination beruht, erscheinen nicht nur von jenem Zeitpunkt an als bedeutende Faktoren der historischen Entwicklung, sie sind es auch wirklich erst von da an. So lange die Griechen, d. h. die Homer, Plato, Sophokles usw., nicht für eminent gehalten werden, haben sie keinerlei Einfluß auf die Entwicklung des deutschen Geisteslebens. Sie gewinnen diesen Einfluß aber sofort, werden also sofort wichtige Faktoren der historischen Entwicklung, sowie sie – durch eine Verkettung der verschiedenartigsten Umstände – in der Epoche des Humanismus und dann des Neuhumanismus als eminente Individuen erscheinen. Und in ähnlicher Weise ist eine wirkliche Beeinflussung der Kultur durch Shakespeare oder Schiller, durch Giotto oder Raffael, durch Bach oder Beethoven immer nur in den Epochen eingetreten, in denen die ruhmverstärkenden Faktoren das Übergewicht über die ruhmvermindernden hatten.

Die Bemühungen um die Erkenntnis dieser letzteren werden daher auch nur in solchen Epochen intensiv sein, in denen das Individuum eben durch jenes Überwiegen beachtenswert geworden ist und an ihm alles, also auch die hemmenden Umstände, interessieren. Nur weil bei Schiller die fördernden stärker sind, d. h. nur weil er heute als besonders eminentes Individuum erscheint, konnte ein Buch wie das LUDWIGsche entstehen, in dem auch die ruhmvermindernden Faktoren ausführlich dargelegt werden. Ja bei Goethe sind die fördernden so stark, daß eine besondere Untersuchung »Aus dem Lager der Goethegegner« (von MICHAEL HOLZMANN, Berlin 1904) erscheinen konnte, in der also nur über die Ruhmverminderer gehandelt wird. Es bleibt uns nun also noch zu erörtern, welches die negativen Tendenzen sind, die – neben den wichtigeren positiven – bei der Entwicklung der Erscheinungsform eines eminenten oder eminent scheinenden Individuums in Betracht kommen.

Nochmals ist hier an einen Unterschied zu denken, auf den bereits früher hingewiesen wurde (vgl. S. 22ff.); an den zwischen Umfang und Art der Erscheinungsform. Wirklich ruhmvermindernd wirken nur die Faktoren, die die Ausdehnung ihres Umfanges beschränken oder völlig verhindern. In den oben angeführten imaginären Beispielen sind stets der [267]artige Faktoren am Werke: die Individuen haben keine Möglichkeit, eine Massenwirkung auch nur geringster Art zu erzielen; sie werden totgeschwiegen. Wir wissen bereits, daß ein Individuum, welches den Wunsch hat zu wirken oder anerkannt zu werden – und jegliche Eminenz führt zu diesem Wunsche –, die Gegnerschaft weniger fürchtet als die völlige Nichtbeachtung. Was zunächst nur persönlicher, vielleicht auf egoistische Motive zurückgehender Wunsch zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine tiefe historische Erkenntnis, namentlich für die künstlerische und die religiöse Eminenz: je geringer die Masse ist, der ein Individuum zu »erscheinen« vermag, desto geringer ist seine Bedeutung für die historische Entwicklung. Der Maler, dessen Bilder zwar von der Jury angenommen, aber von der Kritik nicht besprochen werden, ist bereits schlimm dran. Noch schlimmer aber natürlich der, dessen Bilder nicht einmal in die Ausstellung gelangen. Die ruhmvermindernden Faktoren, Nichtbeachtung durch die Presse und Zurückweisung durch die Jury, sind zwar hier nicht so stark, daß sie ein allmähliches, vielleicht nach Jahrhunderten erfolgendes Durchdringen völlig verhindern, aber sie erschweren es. Der Maler Matthias Grünewald gilt erst seit etwa 10 Jahren als Eminenz allerersten Ranges. Seine lange Nichtbeachtung geht zweifellos vor allem darauf zurück, daß von seinen Werken nur wenige – im ganzen 8, davon einige nur in Bruchstücken – erhalten sind, daß diese wenigen sich an entlegenen Orten befinden und daß er – anders als z. B. Dürer und Holbein – kein Graphiker war, d. h. daß seine Werke nicht in Stichen und Holzschnitten schnell und weit verbreitet werden konnten. Als ruhmvermindernde Faktoren ergeben sich also in diesem Falle: Zerstörung zahlreicher Werke; Aufbewahrung der übrigen an Orten, die eine Massenwirkung unmöglich machen; Ausschaltung der Reproduktionstechnik und damit des Handels.

Der allgemeine Satz, der sich aus diesen Darlegungen mit Einfachheit ergibt, lautet: überall da, wo es einem Individuum unmöglich ist, einen von den Faktoren zu benutzen, die wir vorher als ruhmfördernde erkannt haben – also Presse, Populärwissenschaft, Schule, Kunst, Sammelstätten, Handel usw. –, wird diese Unmöglichkeit zum ruhmvermindernden Faktor. [268] Die Verminderung tritt zunächst nur in bezug auf den Umfang des Ruhmes ein, d. h. sie hat eine geringere Gekanntheit des Individuums zur Folge. Aber in vielen Fällen hat unter ihr auch die Art der Erscheinungsform zu leiden: sie wird in ungünstigem Sinne transformiert. Wer hört, daß die Bilder eines ihm bekannten Malers von der Jury zurückgewiesen oder von der Presse nicht besprochen sind, wird anfangen, diesen Maler gering zu schätzen, ohne ihn doch deshalb ganz zu vergessen.

Erscheint nun zwar eine Kritik, aber eine, die den Maler herabsetzt, so liegt natürlich auch hier ein ruhmvermindernder Faktor vor. Aber er ist von geringerer Bedeutung, weil er nur die Art der Erscheinungsform im ungünstigen Sinne beeinflußt. Auf ihren Umfang kann er sogar in günstigem Sinne wirken. Angriff durch einen Feind ruft Verteidigung durch einen Freund hervor. Eine Diskussion setzt ein, das Individuum ist zur ersten Vorbedingung des Ruhmes, zu einer gewissen Gekanntheit, gelangt. Die Konfiskation eines Buches, die als ruhmvermindernder Faktor gedacht ist, hat, wie wir bereits gesehen haben, in vielen, ja den meisten Fällen eine ganz andere Wirkung: sie ruft die Neugierde hervor, weckt Mitleid mit dem Schriftsteller und ist somit imstande, seine Erscheinungsform gerade im günstigen Sinne zu beeinflussen, also selbst auf die Art des Ruhmes günstig zu wirken. Daß sie seinen Umfang vergrößert, ist womöglich noch klarer: ist das Buch schon schwerer zu kaufen, so wandert es doch heimlich von Hand zu Hand, und nach der Aufhebung einer Konfiskation weiß der Verleger ihm nichts Empfehlenderes vorzudrucken als die Worte: »Konfisziert gewesen«. Ähnlich ist es mit Satire und Karikatur. Sehen wir von den schon erwähnten Fällen ab, in denen sie gar nicht negierend wirken wollen (vgl. S. 182ff.), so können doch selbst ihre bösartigen Formen den Ruhmumfang vergrößern: das Individuum, das z. B. in Witzblättern immer wieder angegriffen wird, muß eben dadurch einer großen Masse bekannt werden, ja es kann ihr allmählich als so wichtiger Faktor des öffentlichen Lebens erscheinen, daß auch die Ansicht von seiner Eminenz dadurch immer allgemeiner wird.

Ebenso wie die Zugehörigkeit zu der einen Nation, dem [269] einen Stande, dem einen Berufe dem Ruhm des Individuums förderlich sein kann, vermag die Zugehörigkeit zu einer anderen Nation, einem anderen Stande, einem anderen Berufe ihn zu verringern. Die diplomatische Eminenz, die aus dem Kaufmannsstande hervorgeht oder ihm angehört, hat es sehr viel schwerer, sich durchzusetzen, ja auch nur zur Betätigung zu gelangen als die von adliger Herkunft. Der bedeutendste Dichter wird, wenn er in einer wenig bekannten Sprache schreibt, nur äußerst langsam zum Ruhme kommen, und in ähnlicher Weise ist der Lyriker schlechter dran als der Dramatiker, weil sein Werk sich immer nur einem einzelnen Leser und im besten Falle einem beschränkten Kreise vorführen läßt.

Neben diesen Fällen sind nun noch die anderen zu beachten, in denen die hemmenden Umstände auf die Art der Erscheinungsform ungünstig einwirken. Wiederum kommen wir auf die einfachste Weise zu den ruhmvermindernden Faktoren, wenn wir uns einige der früher als ruhmfördernd erkannten entweder in ihr Gegenteil verkehrt oder als negativ wirkend vorstellen. So entspricht dem Verehrungsbedürfnis als ruhmförderndem Faktor ein Verkleinerungsbedürfnis als ruhmvermindernder. TARDE stellt in seiner »Opposition universelle«, Essai d'une théorie des contraires, Paris 1897, auch »admiration« und »mépris« gegenüber: »La symétrie de ces deux sentiments contraires est aussi importante qu'évidente: ils alternent ou collaborent dans la création des institutions et des états, et on ne saurait dire si c'est en imitant les voisins qu'ils admirent ou en se gardant d'imiter les voisins qu'ils méprisent, que les individus et les peuples travaillent le plus efficacement au déroulement de leurs destinées. Ces deux sentiments sont solidaires: sans le mépris de telle elasse ou de telle nation, on n'admirerait point‚ on n'imiterait point telle autre« (236). Er spricht dann (237) von dem »trouble causé par cette agitation du c?ur public, ballotté de l'apothéose aux gémonies, de l'adoration à l'exécration, pour les mêmes objets, au gré d'une puissance capricieuse, intangible et impunissable.« Neid, Freude am Negieren, Sucht herabzusetzen sind menschliche Eigenschaften, die jederzeit und jeden Ortes zu beobachten sind. Überblicken wir z. B. die ziemlich lange Reihe der Goethe-Gegner, so gehört eine ganze Anzahl von ihnen hierher: Spaun, Span, Glover, Pustkuchen, Grabbe, Menzel, Müllner, Schütze. Ein Negierungs [270]bedürfnis liegt auch der Goethe-Gegnerschaft Eugen Dührings, der Shakespeare-Gegnerschaft Shaws zugrunde, und wenn wir an die Entthronung denken, die Nietzsche in den »Streitzügen eines Unzeitgemäßen« an einer ganzen Masse von Heroen vollzieht – z. B. an Rousseau, Schiller, Kant, Dante, Victor Hugo, Zola, Renan u. a. Taschenausgabe. Leipzig 1906, X, 293ff. –, so geht das ebenfalls auf eine Freude am paradoxalen, negierenden Denken zurück.

Aber zugleich ist in diesen letzten Beispielen noch ein anderes, tiefer liegendes Motiv wirksam: die Wesensfremdheit, die eine intensive Apperzeption verhindert. Nietzsche sucht Kant auch deshalb herabzusetzen, weil er, der unsystematische Denker, sich dem systematischen wesensfremd fühlt. Den meisten Menschen, namentlich allen eigenwilligen, selbstherrlichen, fehlt das Aufnahmeorgan für das Wesen anderer, die ihnen nicht seelisch verwandt sind. Unter den Goethegegnern gibt es auch »solche, die den ganzen Mann Goethe, den jungen wie den alten, als einen der gewaltigsten Faktoren der deutschen Kultur anerkannten, aber deshalb gegen ihn sich wandten, weil sie ihn anders, nach ihrem eigenen Ideal umgeformt sehen wollten, seinen Einfluß als eine Gefahr für diese ihre Ideale erkannten und überschätzten« (HOLZMANN, a. a. O., 92f.). Dazu gehören die Hengstenberg, Knapp, Görres und vor allem Börne. »Börne wollte die Dichtergröße im Dienste der politischen Freiheit – wie er sie verstand – verwendet wissen, die Hengstenberg, Knapp, Görres im Dienste des pietistischen Rigorismus« (a. a. O., 97). Wirklich ruhmvermindernd wirkte von all diesen höchstens Börne, und zwar, weil er über das nötige Prestige verfügte, d. h. weil es ihm möglich war, seiner Meinung eine starke Resonanz zu geben. Ist aber derjenige, der sich wesensfremd fühlt, ein Mann mit so gewaltigem Prestige wie Goethe, so ist seine ruhmvermindernde Macht von der größten Bedeutung. Das mußte Heinrich v. Kleist spüren. Wenn er jahrzehntelang als Eminenz minderen Grades erschien, so ging das vor allem auf Goethes abfällige Äußerungen über ihn zurück.

Zuweilen wirkt sogar das Verehrungsbedürfnis selbst als ruhmvermindernder Faktor, und zwar für dasjenige Indi [271]viduum, das dem zu verehrenden im Wege steht. In Rümelins Shakespeare-Gegnerschaft ist die Negation erst etwas Sekundäres. Primär ist sein von nationalem Empfinden eingegebener Wunsch, den deutschen Klassikern, vor allem Schiller und Goethe, zu der nach seiner Ansicht ihnen gebührenden, aber von Shakespeare eingenommenen Stellung zu verhelfen. Um zu seinem Ziele zu gelangen, mußte er das Hindernis, also Shakespeare, erst aus dem Wege schaffen. Shakespeare-Studien eines Realisten«, 2. Aufl. Stuttgart 1874. Vgl. besonders den Abschnitt »Der deutsche Shakespearekultus und Vergleichung Shakespeares mit Schiller und Goethe«: »Man sucht die Splitter in des deutschen Dichters Auge und sieht die Balken im Auge des Fremden nicht: was wir nicht vernünftiger und gerechter finden können, als wenn andere Völker es umgekehrt halten« (261). Ferner: »Es handelte sich ... darum, eine tendenziöse Verherrlichung auf Kosten der einheimischen Größen zurückzuweisen« (305). Ähnlich ist Lessings Stellung zu den Franzosen zu erklären. Zugrunde lag seiner Gegnerschaft wiederum ein nationales Empfinden, das ihn zu Shakespeare, als dem germanischen Dichter, hinführte.

Damit dieser in möglichst hellem Lichte erstrahlte, mußte der Hintergrund, von dem er sich abhob, möglichst dunkel gefärbt werden. Lessing mit seinem mächtigen Prestige war also bis spät ins 19. Jahrhundert hinein für die Romanen Corneille, Racine, Voltaire usw. ruhmvermindernder Faktor ersten Ranges.

Ebenso wie die Zeittendenzen, namentlich die politischen, ruhmfördernd wirken können, werden sie unter bestimmten Umständen zu Ruhmverminderern. Beispiele ergeben sich aus dem früher angeführten Material von selbst. Für die Erscheinungsform Friedrichs des Großen ist die Romantik ungünstig. Schillers Schätzung sinkt während des 19. Jahrhunderts immer in den Epochen, in denen konservative oder quietistische Tendenzen die Macht gewinnen. Goethe hingegen tritt in den Hintergrund, als in den 40er und 50er Jahren liberalistische Ideen die herrschenden sind. Hierdurch werden nun auch die übrigen Faktoren, die die Macht haben, ruhmfördernd zu wirken, in ungünstigem Sinne beeinflußt. Widerspricht ein Werk den politischen oder ästhetischen Zeittendenzen, so wird es als Buch vom Verleger, als Drama vom [272] Theaterdirektor, als Bild vom Museumsleiter usw. gar nicht oder nur schwer aufgenommen und, falls es glücklich diese erste Schwierigkeit überwunden hat, von der Kritik nicht beachtet oder herabgesetzt.

Es ist endlich noch auf einen Faktor zu verweisen, der an sich zwar von geringerer Bedeutung ist, aber zuweilen eine starke ruhmvermindernde Wirkung hat. Zweifellos nämlich entspricht dem von TARDE mit so großem Nachdruck hervorgehobenen Nachahmungstriebe ein anderer von genau entgegengesetzter Art: das Bedürfnis, anders zu handeln, zu fühlen, zu denken als eine zeitlich oder räumlich nahestehende Gemeinschaft. In seiner »Opposition universelle« geht TARDE auffallenderweise nur sehr flüchtig darauf ein. Dieser Abwechslungstrieb läßt sich in der Kulturgeschichte in zahllosen Fällen nachweisen. Nebeneinander wohnende Völker streben danach, sich in ihren Sitten, aufeinanderfolgende Epochen, sich in ihren Moden zu unterscheiden. Auf eine Epoche der Klassik folgt eine der Romantik, auf die Reaktion der Liberalismus, auf den Naturalismus der Symbolismus usf. Ein reiner Abwechslungstrieb liegt freilich zunächst nur beim »inventeur« vor, und diejenigen, die ihm folgen, unterliegen gerade dem, wovon sie sich befreien wollen und nur er sich befreit hat: dem Nachahmungstrieb. Aber sie würden dem »inventeur« nicht so bedingungslos folgen, wenn nicht auch bei ihnen eine Prädisposition zur Abwechslung, d. h. eine gewisse Übersättigung mit dem von alter Zeit oder aus fremden Orte Überlieferten, vorhanden wäre.

Bei der Persönlichkeitsbewertung liegen die Verhältnisse nun völlig analog. Der Satz: auf den Naturalismus folgt der Symbolismus, besagt, falls man ihn auf das hier allein zur Erörterung stehende Subjekt der Betrachtung anwendet, nichts anderes als: nachdem in der einen Periode naturalistische Dichter geschätzt worden sind, werden in der darauf folgenden symbolistische geschätzt. Der Abwechslungstrieb wirkt also in diesem Falle für die naturalistischen ruhmvermindernd. Die Bedeutung dieses Kontrastierungsbedürfnisses für die Erscheinungsform bestimmter Individuen wird namentlich in der [273] Kunstgeschichte evident. All die Persönlichkeitsmoden, von denen früher gesprochen wurde (vgl. S. 231ff.), wirken in genau demselben Maße, in dem sie den Ruhm des neuentdeckten Individuums fördern, hemmend auf den des vorher geschätzten. Eine derartige Übersättigung oder Müdigkeit, ja ein gewisser Überdruß an einem lange Zeit hindurch verehrten Individuum tritt in den allermeisten Fällen ein, und selbst der Ruf »Goethe und kein Ende!« erscholl – in einer bekannten Rede DU BOIS-REYMONDs – schon vor Jahren und wurde weitergegeben. Daß er nicht durchgedrungen ist, braucht wiederum nicht allein an der Eminenz Goethes zu liegen, sondern kann auf eine Reihe anderer Faktoren zurückgehen: der erste Rufer besaß nicht ein so großes Prestige, d. h. er hatte nicht soviel Einfluß auf die übrigen Faktoren, daß er gegen die ganz besonders gewaltige Macht der traditionellen Goethe-Beurteilung ankämpfen konnte, und – was nebenher sehr wohl zu beachten ist – er beschränkte sich aufs Negieren. Welchen Erfolg solch ein Entthronungsversuch hätte, wenn man zugleich auf einen würdig scheinenden Thronerben hinweisen könnte, ist nicht abzusehen. Das stets vorhandene Verehrungsbedürfnis will einen Throninhaber, einen Mittelpunkt, auf den sich aller Augen richten können. Haben die ruhmbildenden Faktoren, unter denen die Eminenz ja nie zu vergessen ist, einen Prätendenten geschaffen, so ist es sicher, daß aus der Goethe-Müdigkeit ein Goethe-Vergessen wird und eine neue Sonne über dem geistigen Deutschland zu strahlen beginnt.


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