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3. Kapitel.
Der Glaube an das Urteil der Nachwelt.

Stellen wir uns auf den Standpunkt, zu dem das vorige Kapitel uns geführt hat, so kommt eine der ältesten und scheinbar unerschütterlichsten Stützen der Geschichtswissenschaft stark ins Wanken: der Glaube an das Urteil der Nachwelt. Was für diesen Glauben spricht, ist von kaum einem klarer und eindringlicher gesagt worden als von HIPPOLYTE TAINE. Er führt zunächst aus, daß bereits die einander bekämpfenden Urteile der Zeitgenossen eben durch ihre Verschiedenartigkeit einen rationalen, an die Wahrheit heranreichenden Ausgleich herbeiführen, daß der Beurteilungsprozeß in den folgenden Jahrhunderten immer wieder revidiert wird und daß so allmählich »autant de rectifications profondes et de confirmations puissantes« zustande kommen. Dann fährt er fort: »Quand l'?uvre, aprés avoir ainsi passé de tribunaux en tribunaux, en sort qualifiée de la même manière, et que les juges, échelonnés de toute la ligne des siècles, s'accordent à un même arrêt, il est probable que la sentence est vraie. Car si l' ?uvre n'était pas supérieure, elle n'aurait pas réuni des sympathies si différentes en un seul faisceau. Que si la limitation d'esprit propre aux époques et aux peuples les porte parfois, comme les individus, à mal juger et à mal comprendre, ici, comme pour les individus, les divergences redressées et les oscillations annullées les unes par les autres aboutissent par degrés à cet état de fixité et de certitude, où l'opinion se trouve assez solidement et légitimement établie pour que nous puissions y acquiescer avec confiance et avec raison.« »Philosophie de l'art.« Paris 1899, 8. Aufl. II, 270f. Wir [240] sehen hier deutlich, was für Taine – wie für jeden anderen Geschichtsphilosophen – das Bestechende an dem Urteil der Nachwelt ist: die allmählich eintretende Übereinstimmung unter Richtern von verschiedener Herkunft und verschiedener Veranlagung. Es erscheint undenkbar, daß sich eine solche Übereinstimmung ergibt, ohne daß sie in der Eminenz des Individuums oder seiner Werke begründet wäre. So sagt denn auch – an dieser wichtigen Stelle sei noch ein zweiter gehört – A. D. XÉNOPOL: »L'écart entre l'appréciation des poètes, des artistes et des savants de premier ordre n'existe presque pas. Qui a jamais contesté la grandeur d'Homére, de Dante, de Goethe, de Molière ou celle de Praxitèle, de Michel-Ange, de Dürer ou de Beethoven, ou bien encore celle d'Archimède, de Newton, de Kepler ou de Pasteur? Le principe du vrai étant universel et celui du beau l'égalant presque en étendue, au moins pour la sphère supérieure de la civilisation, les opinions ne peuvent être partagées à ce sujet et le ›consensus omnium‹ peut être plus facilement obtenu.« »Théorie de l'histoire.« Paris 1998, 145. – Der »consensus omnium« ist also das Ausschlaggebende. Aber er ist auch – und darauf muß hier nochmals mit allem Nachdruck verwiesen werden – das Primäre. Das Urteil, daß es sich um Individuen »de premier ordre« handle, kommt erst zustande, nachdem und weil dieser »consensus omnium« eingetreten ist. Man sagt sich etwa: Wagners musikalische Größe wurde in den 70er und 80er Jahren von der einen Partei anerkannt, von der anderen geleugnet. Der Kampf war lange unentschieden. Heute sind die Leugner mit ganz geringen Ausnahmen verstummt. Also muß die musikalische Größe Wagners eine unbezweifelbare Tatsache sein. Vier Erwägungen sind demgegenüber anzustellen.

1. Aus der Tatsache eines consensus omnium läßt sich nichts darüber ersehen, ob das Werturteil, über das jener consensus omnium besteht, gerechtfertigt ist. Wir haben gefunden, daß auch da, wo sich die Übereinstimmung über einen besonders großen Raum und eine besonders große Zeit erstreckt, irrationale Nachahmungsakte vorliegen können – [241] gewiß nicht müssen – und daß ein rationales Motiv für die Handlung, das Gefühl, das Urteil erst nachträglich gesucht und, was nicht weiter wundernehmen kann, auch gefunden wird. Erstreckt sich die Übereinstimmung aber nur über einen kleinen Raum oder eine kurze Zeit – und das ist allermeist der Fall –, so ist die Bedeutung, die man ihr zuschreiben kann, noch geringer.

2. Was vorliegt, ist ein Massenurteil, erzeugt durch die Presse, die Populärwissenschaft, das Theater, das Gemeinschaftsgefühl und durch verschiedene andere Faktoren, an deren aller Spitze fast stets das Verehrungsbedürfnis steht. Wir haben gesehen, welche irrationalen, d. h. durch das Subjekt, nicht aber das Objekt der Betrachtung erzeugten Momente jedem einzelnen dieser Faktoren zugrunde liegen, und haben weiter erkannt, wodurch die Einheitlichkeit in jenem Massenurteil zustande kommt. Wenn in einem Kampf zwischen Verehrern und Verächtern die einen siegen, so bedeutet das zunächst nur, daß sie das größere Prestige und damit den größeren Einfluß haben und daß die Masse, die selber urteilslos ist, ihnen williger folgt. Über das »Individuum an sich« ist, falls man nur die Macht des Nachahmungstriebes berücksichtigt, mit jenem Siege nichts festgestellt.

3. Auch was der schließlich erfolgenden Urteilsangleichung vorausgeht: das Aussprechen verschiedener Meinungen und die dadurch ermöglichte vielfältige Siebung, also scheinbare Verfeinerung des Urteils, hat nur bedingten Wert. Es wurde bereits ( S. 207f.) darauf hingewiesen, daß der Kampf um ein Individuum, nur wo er innerhalb der historisch-biographischen Wissenschaft bleibt, eine zwar auch begrenzte, aber immerhin doch bemerkbare Förderung der Individuumserkenntnis herbeiführen kann. Bei Persönlichkeiten der Vergangenheit, die wir jetzt als 3. oder 4. Ranges ansehen, wird also das wissenschaftliche Für und Wider, das Sichbegegnen verschieden gearteter kritischer Intelligenzen zuweilen wirklich eine gewisse Klärung schaffen, und es ist denkbar, daß man durch den Kampf der Meinungen ziemlich nahe an das »Individuum an sich« herankommt. Aber gerade bei den Individuen, denen wir heute einen ersten Rang zuweisen, wird dieser Kampf über die Grenzen der Wissenschaft hinaus: und in die anderen [242] »Faktoren« hineingetragen, deren Irrationalität früher dargelegt worden ist. Die Meinung über Michel-Angelo, Shakespeare, Beethoven, Napoleon wird nicht von der Wissenschaft allein geformt, wie es – um bei bereits genannten Namen zu bleiben – bei Boppe und Rumezland, bei Haschka und Mastalier der Fall ist. Andererseits erscheinen uns gerade die Individuen als 1. Ranges, die es frühzeitig vermocht haben, die Aufmerksamkeit der irrationalen Faktoren zu erregen. Vollends für moderne Persönlichkeiten hat sich gezeigt, daß diese Faktoren, vor allem Verehrungs- und Konzentrationsbedürfnis, Gemeinschaftsgefühl, Zeittendenzen, Presse, Populärwissenschaft, das zeitlich Primäre sind, während die eigentliche Wissenschaft sich erst später um sie zu kümmern beginnt.

4. Und endlich: welche Zeit muß nach dem Tode eines Individuums vergangen sein, damit man von einer »Nachwelt« sprechen könne: 50, 100 oder 1000 Jahre? In Frankreich gilt das Wort, daß im allgemeinen zwei Menschenalter nötig sind, um ein endgültiges Urteil herbeizuführen. Wir aber wissen, daß 30 Jahre nach seinem Tode Schiller als Verkünder liberaler Weltanschauung erscheint, daß man 100 Jahre nach seinem Tode Shakespeare für einen Dutzenddramatiker hält, daß 350 Jahre nach seinem Tode Raffael, der so lange bewunderte, plötzlich in der Achtung zu sinken beginnt, daß 500-600 Jahre nach seinem Tode Walther von der Vogelweide, obwohl bereits neu herausgegeben, überhaupt nicht beachtet und daß 2000 Jahre nach seinem Tode Cicero von einem Gelehrten (Mommsen) verdammt, von einem anderen, ebenfalls hervorragenden (Zielinsky), erhoben wird. Die Länge der Zeit vermag also nicht einmal eine absolute Stabilität, geschweige denn eine absolute Richtigkeit des Urteils herbeizuführen, und so wird es sehr fraglich, ob selbst in den Fällen, die XÉNOPOL anführt, von einem endgültigen consensus omnium die Rede sein kann. Es scheint fast, als läge dem Glauben an das Urteil der Nachwelt überhaupt nicht die Erwägung zugrunde, daß durch die wachsende Entfernung vom Individuum auch eine wachsende Objektivität bedingt oder doch ermöglicht sei, sondern als wäre bei jenem Glauben eine ganz andere, freilich nicht ins Bewußtsein kommende Anschauung wirksam: [243] die nämlich, daß die Gegenwart, in der der jeweilig Urteilende sich zufällig befindet, die endgültige, wirklich richtige Erscheinungsform des fraglichen Individuums sich gebildet habe. Wir können uns heute kaum vorstellen, daß das Bild, das gerade wir uns von Walther und Vergil, aber auch von Shakespeare oder Goethe oder Wagner machen, sich noch jemals ändern werde. Wir haben gesehen, daß, selbst wenn es sich wirklich nicht ändern würde, damit noch nichts über seine Richtigkeit ausgesagt wäre, da dann höchstens eine Verbindung von Sitte und Mode, also ein komplizierter Nachahmungsakt, vorliegen würde. Aber das Bild ändert sich so gut wie sicher: wenn nicht nach 30, so nach 100 oder 1000 Jahren. Wir können selbst so groteske Erscheinungen wie etwa das mittelalterliche Vergilbild in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen; denn es ist wahrscheinlich, daß im Jahre 3000 auch unsere Zeit für »mittelalterlich«, d. h. für rückständig gehalten wird, und es liegt kein Grund vor, gerade ihre Betrachtungsart und selbst ihre Forschungsmethoden als über jede Fragwürdigkeit erhaben anzusehen.

Nach allgemeiner Ansicht ist nur das Urteil der Mitwelt unzuverlässig. SCHOPENHAUER sagt einmal: »Wann irgendeine neue und paradoxe Grundwahrheit in die Welt kommt, so wird man allgemein sich ihr hartnäckig und möglichst lange widersetzen, ja, sie noch dann leugnen, wann man schon wankt und fast überführt ist. Inzwischen wirkt sie im Stillen fort und frißt wie eine Säure um sich, bis alles unterminiert ist: dann wird hin und wieder ein Krachen vernehmbar, der alte Irrtum stürzt ein, und nun steht plötzlich, wie ein aufgedecktes Monument, das neue Gedankengebäude da, allgemein anerkannt und bewundert. Freilich pflegt das alles sehr langsam zu gehen. Denn auf wen zu hören sei, merken die Leute in der Regel erst, wann er nicht mehr da ist, so daß das ›hear, hear!‹ erschallt, nachdem der Redner abgetreten.« »Über Urteil, Kritik, Beifall und Ruhm« (GRISEBACHsche Ausg. Leipzig o. J. V, 500f.). Und weiter: »Zu der kurzen Spanne Zeit, in der sie leben, verhalten sich die großen Geister wie große Gebäude zu [244] einem engen Platze, auf dem sie stehen. Man sieht nämlich diese nicht in ihrer Größe, weil man zu nahe davor steht; und aus der analogen Ursache wird man jene nicht gewahr; aber wann ein Jahrhundert dazwischen liegt, werden sie erkannt und zurückgewünscht.« ibid. V. 502 Verfolgen wir dies Bild weiter – und wir sind nach Untersuchung der ruhmbildenden Faktoren und des Nachahmungstriebes sehr wohl dazu berechtigt –, so ergibt sich, daß in allzugroßer Ferne die Linien des Gebäudes wieder verschwimmen und schließlich ganz unkenntlich werden und daß diesem Zustande eine allzugroße Nähe, deren Nachteile für die Erkenntnis ja nicht geleugnet werden sollen, immer noch vorzuziehen ist. Von Kundigen wird es oft genug ausgesprochen, daß die Erscheinungsform eines Individuums um so unverfälschter ist, je kleiner der Kreis derer ist, auf die es wirkt. Sowie dieser Kreis aber wächst, d. h. sowie mit fortschreitender Zeit der Ruhm in die Masse dringt, tritt unter allen Umständen eine Verzerrung des Bildes ein. Statt vieler Beispiele nur eins. RICH. M. MEYER, Nietzsche, München 1913, 1: »Der in den Jahren des höchsten Schaffens klagen konnte, er spräche für niemandes Ohr, der möchte wohl noch heftiger klagen, könnte er die alle prüfen, die ihn heut zu kennen scheinen. Denn wohl dürfte man die Frage aufwerfen, ob Friedrich Nietzsche damals nicht besser gekannt war, als wenige mit dem geheimen Stolze des Schatzfinders seine Werke wie köstliche Andachtsbücher hüteten. Er selbst hat es geschildert, wie nach Buddhas Tode noch lange und düster drohend sein Schatten auf der Erde lag: nach dem Tode des Gottes mußte der noch bekämpft werden. Aber mit dem Schatten Nietzsches haben mehr noch seine Verehrer zu kämpfen als seine Feinde.«

Vielleicht muß hier eine Scheidung vollzogen werden, von der bisher stets abgesehen wurde: die zwischen der Persönlichkeit und ihrem Werk. Darin hat Schopenhauer gewiß recht, daß eine »neue und daher paradoxe Grundwahrheit«, also ein kühnes Werk, Zeit braucht, um, wenn schon nicht erkannt zu werden, so doch sich durchzusetzen und zu wirken. Über die Persönlichkeit hingegen wird in den meisten Fällen die Mitwelt sicherer und richtiger urteilen als die Nachwelt: sie hat unmittelbare Beziehungen, ist nicht auf schriftliche Überlieferung angewiesen, kann, wo sie über Einzelheiten des Charakters oder der Geistesart im Zweifel ist, nachprüfen, [245] vielleicht sogar Experimente anstellen. Und sie ist am ehesten imstande, das Individuum aus der Zeit heraus zu verstehen, in der es entstanden ist. Die Nachwelt jedoch wird, selbst wo sie den stärksten Willen hat, sich in diese Zeit zurückzuversetzen, immer nur in die Nähe ihres Ziels gelangen, nie es erreichen. Sie kommt aus ihrer kollektivpsychischen Bedingtheit nie heraus. Die ruhmbildenden Faktoren auf der einen, der Nachahmungstrieb auf der anderen Seite werden ihr das »Individuum an sich« in immer weitere Ferne rücken.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Macht dieser beiden Erscheinungen – der »Faktoren« und des Nachahmungstriebes –, so drängt sich ein alter, stets wiederholter Satz auf: »L'histoire n'est qu'une fable convenue.« Die seichte Skepsis dieses Satzes braucht heute nicht mehr im einzelnen zurückgewiesen zu werden, da das bereits mehrfach, mit am treffendsten durch BERNHEIM geschehen ist. Aber eine Betrachtung der Art dieser Zurückweisung wird uns in unseren eigenen Erwägungen weiter führen. BERNHEIM weist auf die Kontroll- und Vorsichtsmaßregeln hin, die die Methodenlehre an die Hand gebe, um ungenaue Überlieferungen nachzuprüfen, und hebt dann mit vollem Recht hervor: »Es gibt unerachtet aller zweifelhaften Hergänge im kleineren und größeren doch einen mächtigen Grundstock unerschütterlich gesicherter Tatsachen in aller Geschichte, den wir nur nicht übersehen und unterschätzen dürfen, weil wir uns daran gewöhnt haben, ihn für selbstverständlich zu betrachten. Um sich das recht zu vergegenwärtigen, nehme man einmal einen Abriß der Geschichte oder übersichtliche Geschichtstabellen aus einer leidlich nach den Grundsätzen neuerer Kritik durchgearbeiteten Epoche zur Hand: wie wenige Daten wird man da finden, welche in ihrer Gewißheit noch angetastet werden könnten.« Lehrb. d. hist. Meth., 200.

Wenden wir das auf den Teil der Geschichte an, der uns einzig beschäftigt, auf die Biographik des einzelnen Individuums, so ergäbe sich etwa: eine unübersehbare Anzahl von Feststellungen über Geburts- und Todesjahr der Individuen, über ihren Beruf und ihre Nationalität, über Zahl, Titel, [246] Quellen ihrer Werke usw. sind nichts weniger als fables convenues, sind absolut gesicherte Tatsachen. Der Geschichtswissenschaft gelingt es nicht selten, lange geglaubte Legenden zu zerstören oder Streitfragen endgültig zu erledigen: wir wissen, daß zwischen Don Carlos und seiner Mutter nie ein Liebesverhältnis bestanden hat, daß die Kassettenbriefe der Maria Stuart echt sind, daß Kaspar Stieler der Dichter der »Geharnischten Venus« ist. Und es ist gar nicht unwahrscheinlich, daß wir – sei es durch stilkritische Untersuchung, sei es durch einen glücklichen Fund – mit Sicherheit feststellen, welche von den Rezensionen in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« von Goethe stammen oder wer der Verfasser der »Nachtwachen des Bonaventura« ist.

Aber trotzdem besteht der Satz, daß die histoire nur eine fable convenue ist, zu recht, wenn man ihn in der richtigen Weise einschränkt. Denken wir nämlich an die gleich anfangs gemachte Scheidung zwischen darstellenden und wertenden Aussagen (vgl. S. 7f.), so wird klar, daß es sich in all den eben angeführten Fällen um solche darstellender, nicht aber wertender Art handelt. Schon BERNHEIM gebraucht nur Worte wie »Tatsachen«, »Daten«, verweist auf Geschichtstabellen und vorher als Beispiel auf »Ort, Zeit, Endresultat einer Schlacht«. Wertende Aussagen führt er nicht an. Wir aber vergegenwärtigen uns: es herrscht eine Übereinstimmung darüber, daß der »King Lear« ein Werk Shakespeares, und darüber, daß er eine geniale Tragödie ist. Doch die erste Übereinstimmung ist auf ganz andere Weise zustande gekommen als die zweite, die wertende. Zu jener hat allein das Objekt, gar nicht das Subjekt, zu dieser umgekehrt vor allem das Subjekt, nur in geringem Maße das Objekt der Betrachtung beigetragen. Bezweifeln kann das nur der, der das Wesen der ruhmbildenden Faktoren nicht kennt. Nun steht, schon wer eine darstellende Aussage anhört, unter der Macht der Nachahmungsgesetze, und so kommt es, daß sich selbst zu dieser Gruppe gehörende Irrtümer jahrhundertelang halten, wenn sie nur von einem »inventeur« mit möglichst großem Prestige zum ersten Mal ausgesprochen sind. Aber völlig unbegrenzt ist die Macht jener Gesetze bei den Aussagen, die im Objekt fast gar keine Stütze mehr haben. Welche Dichter, Maler oder Musiker »Klassiker« [247] sind, welche Herrscher den Beinamen der »Große« erhalten, welche Erfinder, Feldherrn, Religionsstifter und sonstigen Tateminenzen zur Klasse der »Genies« gehören, das hängt so wenig von diesen Individuen selbst ab, daß man bei einer allmählich eintretenden Übereinstimmung hierüber ruhig von einer fable convenue sprechen kann.

Aber nicht überall ist das Urteil der Nachwelt gleich fragwürdig. Es ist hier an die Scheidung zu erinnern, die zwischen Werken gemacht wurde, deren Wirkung auf einer Realität, und solchen, deren Wirkung auf Imagination beruht. Vgl. S. 28f. Das Urteil über den Wert des Buchdrucks oder der Gründung des Deutschen Reiches schwankt weniger als das über den Wert der Bachschen Kompositionen oder der Schillerschen Dichtungen. Die Tateminenz ist also der historischen Forschung etwas leichter zugänglich als die künstlerische Eminenz. Sie wäre es noch mehr, wenn nicht, wie sich gezeigt hat, die allermeisten Werke, deren Wirkung auf einer Realität beruht, eine Mehrheit von Urhebern hätten, die dann erst durch das Konzentrationsbedürfnis auf einen einzigen reduziert werden. Sieht man von diesem – freilich äußerst wichtigen – Umstande ab, so steht das Urteil über Gutenberg oder Bismarck auf einer verhältnismäßig festen Grundlage. Die Schätzung von Werken, zu deren Verständnis eine ästhetische Schulung nötig ist, wird schon deshalb stets den stärksten Schwankungen unterliegen, weil es eine auf allgemeingültige Normen basierte Ästhetik heute nicht gibt und wahrscheinlich auch niemals geben wird. Es ist also eine Rangordnung zu machen zwischen der Biographik von Tat- und der von künstlerischen Eminenzen. Bei der Literatur-, der Kunst-, der Musikgeschichte ist das Urteil der Nachwelt demnach noch weit fragwürdiger als bei der politischen, der Religions-, der Wissenschaftsgeschichte. Aber auch bei dieser, soweit sie Biographik ist, kann, wie sich gezeigt hat, von Gewißheiten nur da die Rede sein, wo sie Aussagen darstellender Art macht.

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