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FRANCIS GALTON hat in seinem Buche »Hereditary Genius« 2. Aufl.‚ London 1892, jetzt auch deutsch von NEURATH, Genie und Vererbung, Leipzig 1910. GALTON gehört in bezug auf das Genieproblem zur individualistischen Richtung, die bei ihm jedoch darwinistisch orientiert ist. – bisher, soweit mir bekannt ist, als der einzige – versucht, [15] bei einer theoretischen Erörterung des Genieproblems neben dem Gewerteten auch den Wertenden zu beachten, d. h. sich darüber klar zu werden, unter welchen Bedingungen denn eigentlich eine Persönlichkeit der Mit- und der Nachwelt als genial erscheint. So fragwürdig dieser Versuch, wie sich alsbald zeigen wird, auch im ganzen ausgefallen ist, muß er hier beachtet werden, weil er wenigstens in einem – und zwar in einem wichtigen – Punkte unsere Erwägungen stützt.
In zwei getrennten Kapiteln behandelt GALTON die Klassifizierung der Individuen »according to their reputation« und »according to their natural gifts«. Er hat also offenbar gefühlt, daß die beiden Begriffe Ruhm und Genialität irgendwie zusammengehören, aber dabei übersehen, daß sie trotz dieser Zusammengehörigkeit voneinander völlig verschieden sind. Denn er bringt sie, obwohl man das nach den eben genannten Kapitelüberschriften nicht erwarten sollte, unaufhörlich durcheinander. Er versichert sogar mehrfach, daß der Ruhm allein schon ein Beweis von Genialität sei. »High reputation is a pretty accurate test of high ability« (2). Ebenso: »The men who achieve eminence (wobei eminence fälschlich eine Erscheinungsform bezeichnet), and those who are naturally capable are, to a large extent, identical.« (34, ebenso 43). – Aber er versucht dann, zwei Rangstufen aufzustellen, und scheidet die »eminent« von den »illustrious men«. Nehmen wir diese beiden Adjektiva als das, was sie sein sollen, aber in Wirklichkeit nicht sind Denn nur eminent = hervorragend bezeichnet das Individuum an sich, illustrious = berühmt die Erscheinungsform., nämlich als Bezeichnungen für verschiedene Eminenzgrade, also für verschiedene Arten des Individuums an sich, so würden sie etwa unseren Stufen »talentiert« und »genial« entsprechen. GALTON behauptet nun, daß als talentiert anzusehen sei, wer unter 4000, als genial, wer unter einer oder gar vielen Millionen Menschen dafür gilt. So befremdend auch die Nennung bestimmter Zahlen bei einer derartig komplizierten kollektivpsychischen Erscheinung, wie der Ruhm sie darstellt, im ersten Augenblick wirkt, und so absonderlich der Weg ist, auf dem GALTON zu ihnen kommt In einem Buche »Men of the Time« vom Jahre 1865, das etwa unserem »Wer ist's?« entspricht, sind 2500 Persönlichkeiten genannt. Von diesen ist eine große Anzahl, und zwar 850, über 50 Jahre alt. Nun stellt er – freilich ohne die Quelle anzugeben – die Zahl der zu jener Zeit in ganz England lebenden Menschen über 50 Jahre mit 2000000 fest. Es kämen also aus dieser Gruppe 425 auf 1 Million. Von den 850 werden nun 500 herausgezogen, die »are decidedly well known to persons familiar with literary and scientific society«. Aus dieser Gruppe würden also 250 auf 1 Million oder eine auf 4000 kommen. Damit werden dann einige Totenlisten verglichen, die am Jahresende in den »Times« gestanden haben. Nachdem deren Zahlen noch künstlicher hergerichtet sind als die vorhergehenden, kommt schließlich ein ähnliches Ergebnis, also etwa 1 auf 4000, zustande. A. a. O. 7f., – liegt doch in der Tatsache [16] einer solchen Berechnung das Entscheidende für uns. Denn es wird damit anerkannt, daß bei einer Erklärung des Genieproblems der Wertende, das Subjekt der Betrachtung, nicht außer Acht zu lassen ist. Dieser Wertende – das sehen wir jetzt deutlich – ist nun eine irgendwie geartete Masse, aber eine Masse jedenfalls. Und wenn wir auch die GALTONschen Zahlen selbst ablehnen, läßt sich doch aus der Nebeneinanderstellung einer kleinen und einer großen ein wichtiger Satz ableiten: Je größer die Masse derer ist, die ein Individuum für eminent halten, desto eminenter scheint jedem einzelnen Angehörigen der Masse, aber auch jedem außerhalb dieser Masse stehenden, das Individuum zu sein. Oder kürzer: die Erscheinungsform des Gewerteten richtet sich nach der Anzahl der ähnlich günstig Wertenden.
Diese Anzahl braucht nun nicht etwa, wie es nach GALTON scheinen könnte, eine Anzahl von Zeitgenossen zu sein. Wir haben bereits früher gesehen, daß die höchste Form des Ruhmes die ist, die sich über einen gewaltigen Raum und eine gewaltige Zeit hin erstreckt. Bei einem Individuum, das einer vergangenen Epoche angehört, wächst also die Masse der Wertenden, d. h. in diesem Falle der günstig Wertenden, immer weiter an. Und die ganze Frage nach dem Genie wird noch mehr zu einer im reinsten Sinne kollektivpsychologischen. Ist es klar, daß der Begriff der Genialität nicht von dem des Ruhmes und der des Ruhmes nicht von dem der Masse zu trennen ist, so ergibt sich mit Notwendigkeit der Schluß, daß der Begriff der Genialität unbedingt zusammengehört mit dem der Masse, und zwar der Masse nicht nur als eines produ [17]zierenden Faktors, – wie es die kollektivistische Richtung stets erkannt hat – sondern als eines wertenden Faktors.
Von hier aus läßt sich ein scheinbar triftiger Einwand gegen unseren Satz, daß nur von den berühmt gewordenen Individuen uns einige als genial erscheinen, leicht zurückweisen. Man könnte an die » verkannten Genies« denken, d. h. an Individuen, die uns als Genies erscheinen, aber ruhmlos geblieben sind. Es ist nun aber gar nicht mehr zweifelhaft, daß der Ausdruck »verkanntes Genie« eine contradictio in adjecto enthält. Wir dürfen höchstens sagen: es gibt Individuen, die wir jetzt für Genies halten, die aber eine Zeitlang nicht dafür gehalten wurden. Seit die Masse in KLEIST ein Genie sieht, ist er nicht mehr verkannt, d. h. unberühmt. Solange er verkannt war, galt er der Masse nicht als Genie. Der Masse, nicht aber dem engen Kreis der Freunde und Verehrer. Um bestimmte Individuen bildet sich – entweder schon bei ihren Lebzeiten oder erst nach dem Tode – eine ganz kleine Gruppe, die in ihnen ein Genie erblickt. Diese Gruppe setzt sich zusammen aus persönlichen Bekannten, Anhängern, Schülern auf der einen Seite, aus Gelehrten und vor allem aus Kritikern und sonstigen Publizisten auf der anderen, denen ein gewisser Hang zur Paradoxie, eine Abneigung gegen den Traditionalismus, in einigen Fällen auch die Fähigkeit, wirkliche Eminenz zu erkennen, eigen ist. Diese wenigen staunen, wenn das von ihnen geprägte Wort »Genie« von der Masse nicht aufgenommen wird. Für das Individuum selbst mag das bedauerlich, für den Biographen und Nekrologisten ein Grund zur Klage sein: an der Tatsache ist nicht zu rütteln, daß ein solches Individuum für die Historie sehr viel weniger in Betracht kommt als ein anderes, dessen Genialität von der Masse anerkannt wird. Für die reine Tateminenz liegen die Verhältnisse ein wenig anders. Vgl. dazu das Kapitel »Eminenz« und auch später oft.
SHAKESPEARE wurde unmittelbar nach seinem Tode bei weitem nicht so hochgestellt wie jetzt, war also eine Zeitlang »verkannt«. Wäre er es geblieben, so wäre er ein für die Geschichte etwa des deutschen Geisteslebens äußerst unwichtiger Faktor geworden, d. h. man hätte ihn weniger, vielleicht gar [18] nicht übersetzt, nachgeahmt, gespielt, ihn nicht zum Schulschriftsteller gemacht, und selbst die zünftige Literarhistorie hätte ihn weniger beachtet. Ein wichtiger Faktor wurde er dadurch, daß das Urteil einiger weniger – etwa LESSINGs und seines Kreises – infolge ganz bestimmter Umstände von der Masse aufgenommen wurde. – Unsere Behauptung, der Ausdruck »verkanntes Genie« enthalte einen Widerspruch, ist also nicht etwa so aufzufassen, daß eine unberühmte Eminenz im physischen Sinne nonexistent sei, sondern nur so, daß sie für die Geschichte nur wenig in Betracht kommt. Gar nicht in Betracht kommen würde für sie das Individuum – und mag es noch so eminent sein –, dessen Werke vernichtet wurden, bevor sie jemandem zu Gesicht gekommen sind. Der Historiker würde nicht nur keinen Fehler begehen, wenn er ein solches Individuum überginge, sondern er hätte ja nicht einmal eine Möglichkeit, es zu beachten. Einen zunächst ähnlich klingenden, in Wirklichkeit aber stark abweichenden Gedanken spricht BOURDEAU, der extreme Kollektivist, einmal aus. »La multitude, qui ne peut prétendre à la gloire, en dispose a son gré, la décerne à qui lui convient et, pour créer une illustration, il lui suffit de la proclamer. Toute réputation vient d'elle. Sans l'auréole qu'elle attache, le plus sublime génie serait non moins ignoré que le plus inconnu des hommes.« (A. a O. S. 19.) Man sieht schon an diesen maßlosen Worten – ähnliche finden sich a. a. O. 25 –, daß sie nicht gesagt sind, weil das Problem erkannt ist, sondern nur, um die geniale Persönlichkeit herabzusetzen.
Die Wichtigkeit der Masse als wertenden Faktors mag noch ein anderes Beispiel erweisen, bei dem die Verhältnisse genau umgekehrt liegen wie im Falle KLEIST oder SHAKESPEARE. GOTTSCHED erscheint heute einem ganz bestimmten und noch ziemlich kleinen Kreise als einer der genialsten Schriftsteller und Sprachschöpfer, die Deutschland je hervorgebracht hat. Man hat ein GOTTSCHED-Jahrbuch und eine GOTTSCHED-Gesellschaft gegründet und gibt jetzt sogar ein Lexikon der GOTTSCHEDschen Sprache heraus. Mittelpunkt des Kreises ist EUGEN REICHEL. Vgl. dessen »Gottsched-Denkmal, den Manen Gottscheds errichtet«. Berlin 1900, S. 91. »Wenn jemals ein Volk einem Manne zu nie verlöschendem Dank verpflichtet gewesen: so ist es das deutsche Volk seinem großen Erzieher, seinem bis auf den heutigen Tag nicht wieder erreichten Lehrmeister, dem heldenhaften Geistesritter Gottsched.« – S. 95 ist die Rede von RAUCHs Denkmal Friedrichs d. Gr.: »Gottsched ist zu groß, um als Sockelfigur selbst an einem Denkmal des Großen Friedrich Staffage zu bilden. Er gehört wirklich nicht in das Friederizianische Zeitalter: denn er ist der Mittelpunkt und Beherrscher einer eigenen Epoche.« Diese Ansicht [19] wird aber von der Masse nicht geteilt. Es ist nun sehr wohl denkbar, daß – wiederum durch die Gewalt ganz bestimmter, später zu besprechender Umstände – die REICHELsche Meinung sich in 100 oder 200 Jahren durchgesetzt hat und GOTTSCHED der Masse dann als Genie erscheint. Daß REICHELs Ansicht bereits durchzudringen beginnt, mögen zwei Zitate aus vielgelesenen und einflußreichen Zeitungen beweisen. »Man mag wollen oder nicht, man wird in Zukunft Gottsched in der Beleuchtung sehen müssen, die er hier erfahren hat (d. h. bei REICHEL.).« (Frankf. Ztg. 16. Juni 1912.) Ferner: »Davon hat mich REICHEL überzeugt, daß Gottsched – um es rund heraus zu sagen – ein großer Mann genannt werden muß. Vielleicht, neben dem Großen Friedrich, der größte seiner Zeit in Deutschland.« (KARL JENTSCH im »Tag« 12. Dezbr. 1912 Nr. 291.) Von diesem Zeitpunkte an – nicht früher – würde er ein für das deutsche Geistesleben wichtiger Faktor werden: man würde seine Dramen spielen, seine Werke immer wieder neu herausgeben, in Literaturgeschichten ihm einen sehr viel größeren Platz einräumen als jetzt und ihn vielleicht auch zum Schulklassiker machen. Auch sein Einfluß auf andere Schriftsteller würde dann zunehmen. In dem Maße, in dem sein Ruhm bei der Masse wachsen würde, würde sich auch seine Bedeutung als historischer Faktor vergrößern.
Was ist das nun für eine »Masse«, von der schon so viel die Rede war und noch mehr die Rede sein wird? Wir müssen uns hierüber klar zu werden versuchen, bevor wir in unseren eigentlichen Erwägungen fortfahren.
LE BON hat in seinem geistreichen Buche »Psychologie der Massen«, deutsch von RUDOLF EISLER. Leipzig 1908, 114. eine Einteilung der Massen in heterogene und homogene vorgenommen. Unter heterogenen versteht er anonyme (wie Straßenansammlungen) und nichtanonyme (wie Jurys, Parlamente usw.), unter homogenen die verschiedenen Sekten, Kasten, Gesellschaftsklassen usw. Wenden wir diese Einteilung auf das Ruhmproblem an, so er [20]gibt sich, daß der Ruhm in homogenen Massen entsteht und sich in einigen Fällen bis in heterogene hinein verbreitet. Der für talentiert gehaltene Mensch ist nur unter seinen Fachgenossen, also innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsklasse, der für genial gehaltene weit über sie hinaus gekannt. Bei den allergrößten Ruhmformen, man denke an NAPOLEON oder BISMARCK, erstreckt sich die Gekanntheit bis in die tiefste Stufe der Bildung, nicht nur zivilisierter, sondern auch unzivilisierter Völker. Es handelt sich dann also um die denkbar stärkste Form von Heterogenität. Trotzdem – denn heterogen bezeichnet ja nur die Herkunft – kann man von einer in gewissem Sinne einheitlichen Masse reden, da alle ihre Angehörigen sich einem bestimmten Individuum gegenüber ähnlich wertend, und zwar ähnlich günstig wertend, verhalten. Der Historiker, der auf Grund archivalischen Materials ein Faktum aus dem Leben NAPOLEONs feststellt, und der Beduine, der auf dem Wüstenritt erzählt, der Frankensultan ISKANDER (ALEXANDER) sei nach 2000 Jahren wieder erschienen und in verjüngter Gestalt morgenwärts gezogen Vgl. TREITSCHKE, »Die Napoleonische Legende«, Historisch-politische Schriften III, 150., – beide gehören als Extreme einer Masse an, der eine irgendwie geartete Erscheinungsform NAPOLEONs vorliegt.
Bei geringeren Ruhmformen ist die Homogenität der Masse natürlich stärker. Nehmen wir Namen aus der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, so wären etwa HASCHKA und MASTALIER nur unter eigentlichen Literarhistorikern gekannt, also in einer sozialen Gruppe, die hier Masse 1. Grades genannt sei, KLINGER und Maler MÜLLER auch unter all denen die man im allgemeinen als »gebildet« bezeichnet, also in einer Masse 2. Grades, GOETHE und SCHILLER selbst da, wo von einer Durchschnittsbildung nicht die Rede sein kann, also in einer Masse 3. Grades. Natürlich begreift die tiefere und demnach größere Klasse die jeweilig höheren in sich, liegt also etwa bei GOETHE ein Ruhm vor, der sich über die Masse 1., 2. und 3. Grades erstreckt. Dabei wird es zunächst noch als unerheblich übergangen, ob es sich um eine Gekanntheit des Namens allein oder auch der Werke und der Schicksale [21] des Individuums handelt und wie intensiv diese Gekanntheit ist. Nur darauf kommt es hier an, daß die Heterogenität der wertenden Masse um so größer ist, je größer die Eminenz des gewerteten Individuums zu sein scheint.
Bei jeder Masse nun – und vor allem bei der heterogenen – zeigt sich eine Erscheinung, auf die die noch nicht alte Wissenschaft der Kollektivpsychologie zum ersten Male mit Nachdruck hingewiesen hat: das Ganze ist nur im physischen Sinne gleich der Summe seiner Teile, im psychischen stellt es etwas völlig anderes dar. Das bedeutet: der Angehörige einer Masse handelt, fühlt, urteilt anders, als er es außerhalb dieser Masse tun würde. Die revolutionäre Volksmenge, die sich auf der Straße zusammengerottet hat, begeht Verbrechen, die nicht auf die verbrecherische Veranlagung der Individuen, sondern auf die Zusammenrottung zurückzuführen sind; im Parlament ertönt allgemeines Lachen bei einem Scherz, der dem einzelnen Abgeordneten nachträglich als banal erscheint; bei einer Theaterpremiere wird ein Stück von Männern ausgepfiffen, die es bei späterer Lektüre trefflich finden usw. Worauf das einheitliche Handeln der Masse zurückgeht, interessiert an dieser Stelle noch nicht. Vgl. dazu die späteren Ausführungen über den Nachahmungstrieb. III. Abschn. 2. Kap. Hier handelt es sich nur um die Tatsache, daß der einzelne anders handelt, als er sonst gehandelt hätte. Die heutige Kollektivpsychologie neigt dazu, dieses »anders« einem »schlechter« gleichzusetzen, und kommt – namentlich mit Hilfe der sog. »Substraktionstheorie« – zu dem Satze, daß die Masse mehr die Neigung zum Bösen als zum Guten habe. Vgl. BRÖNNER, Zur Theorie der kollektivpsychischen Erscheinungen, Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik 141, 1911, bes. 15ff. Diese Folgerung ist, selbst wenn man davon absieht, daß die Wissenschaft nicht zu richten sondern darzustellen hat, sicher unbegründet. Der Soldat gibt in der Schlacht zuweilen Beweise eines Mutes, den er isoliert nie besitzen würde, und auch Massenerhebungen wie etwa die Kreuzzüge zeitigen ein Andershandeln, das nicht ein Schlechter- sondern ein Besserhandeln [22] ist. Hierauf weist schon KISTIAKOWSKI, Gesellschaft und Einzelwesen. Berlin 1899, 187ff. hin. Nur liegt eben stets eine Transformierung des Handelns, Fühlens, Urteilens vor.
Um eine Transformierung handelt es sich nun auch bei dem kollektivpsychischen Phänomen des Ruhmes, nur kommt sie auf eine etwas andere Weise zustande als die eben besprochene. Während nämlich dort stets Massen am Werke sind, die zwar völlig heterogen, aber doch auf eine ziemlich kurze Zeit und einen ziemlich engen Raum zusammengedrängt sind, ist die Masse, der eine Persönlichkeit »erscheint«, wie wir gesehen haben, zeitlich und räumlich unbeschränkt. Dem Gelehrten in Paris und dem Beduinen in der Wüste »erscheint« NAPOLEON, dem Römer aus der Zeit des AUGUSTUS und dem Scholaren aus dem 12. Jahrhundert »erscheint« VERGIL: bei dem Beduinen ist aus NAPOLEON ein wieder auferstandener ALEXANDER, beim Scholaren aus VERGIL ein christlicher Zauberer geworden. Es geht der Erscheinungsform des Individuums wie der Münze, die viel im Gebrauch ist: sie schleift sich ab und wird schließlich fast ganz unkenntlich. Und die Gefahr dieses Unkenntlichwerdens wächst mit der Dauer und der Intensität des Gebrauches.
Das Bild, das die Masse sich von einer Persönlichkeit macht, ändert sich, während und eben dadurch, daß es weiter gegeben wird. Wir werden später im einzelnen sehen, daß der urteilsfähige und objektive Persönlichkeitsbewerter, vor allem der Forscher, zwar zuweilen korrigierend wirken, aber die Transformierung nicht völlig aufhalten kann, ja daß er meistens selber ein bereits verändertes Urteil weitergibt. Vor allem aber wächst hier, wie bei der Münze, die Gefahr der Transformierung zugleich mit der Größe der urteilenden Masse, d. h. stehen Umfang und Art der Erscheinungsform in einem bestimmten Kausalverhältnis zueinander. Solange eine Persönlichkeit nur einem kleinen Kreise »erscheint«, ist der Unterschied zwischen dem Individuum an sich und seiner Erscheinungsform gewöhnlich geringer, als wo der Kreis ein großer ist.
Freilich ist die Art der Erscheinungsform nicht allein ab [23]hängig von ihrem Umfang. Es ist denkbar, daß ein einziger Mensch, der nur über ein starkes Prestige zu verfügen braucht, die Masse veranlaßt, ein Individuum in der Gestalt zu sehen, in der er es sieht. Die Verhältnisse würden dann genau so liegen wie bei der revolutionären Volksmenge, dem Theaterpublikum usw.: der Führer geht mit seinem Handeln oder Urteilen voran; die Masse ahmt ihn nach. Unter bestimmten Umständen, die wir im folgenden noch genau kennen lernen werden, braucht zur Transformierung also nicht einmal eine große Masse vorhanden zu sein. Ist sie aber vorhanden, so ist die Gewißheit, daß die Transformierung eintritt, und die Stärke, in der sie eintritt, um so größer.
Die Frage der eigentlichen Transformierung ist für uns jedoch nur von sekundärer Bedeutung. Wenn eine bestimmte Epoche VERGIL zum christlichen Zauberer macht, so ist damit noch nicht gesagt, daß er ihr genialer scheint als einer anderen, die in VERGIL das sieht, was er wirklich war. Das Anderserscheinen ist nicht ohne weiteres gleichzusetzen einem Bessererscheinen. Aber in einem vertieften Sinne besteht eine solche Gleichsetzung doch zu Recht. Nur die Individuen konnten der mittelalterlichen Masse überhaupt »erscheinen«, denen sie eine von ihr erfaßbare Gestalt gegeben hatte. Zu der klassizistischen Epik der Römer, wie wir sie jetzt sehen, hatte das Mittelalter keinerlei Verhältnis. Viel eher schon zu dem phantastischen Gebilde eines mit übernatürlichen Kräften begabten Individuums. Erst nachdem VERGIL dazu umgewandelt war, konnte er der mittelalterlichen Masse überhaupt, konnte er ihr also auch in irgendeinem Sinne eminent erscheinen. Das wird noch klarer, wenn wir einen minder krassen Fall von Transformierung betrachten. SCHILLER wird vom liberalen Bürgertum der 50er Jahre zum politisch liberalisierenden Dichter gemacht und erst danach oder, wie wir jetzt sagen können: eben deshalb außerordentlich hoch gewertet. Auch hier also gibt die wertende Masse dem gewerteten Individuum Formen, die den ihren ähnlich sind, und ermöglicht ihm erst dadurch eine Massenwirkung. Näheres darüber in dem Kapitel »Zeittendenzen«. Worauf es vor allem ankommt, ist, daß es sich bei den Transformierungen in den meisten Fällen [24] um Angleichungen an den Zeitgeschmack handelt und daß erst diese Angleichungen eine Massenwirkung zur Folge haben. Die Massenwirkung aber ist – darüber kann ein Zweifel jetzt nicht mehr bestehen – die Vorbedingung für jede Höher- und besonders für jede Höchstwertung.
Sehen wir noch einmal zurück. Wir haben gefunden, daß nur die Individuen, die aus bestimmten Gründen berühmt geworden sind, d. h. die von einer möglichst großen Masse günstig beurteilt werden, uns als Genies erscheinen. Es erhebt sich nun die sehr bedeutsame Frage, welches diese bestimmten Gründe sind. Die folgenden Darlegungen wollen nichts anderes, als eine Antwort auf diese Frage geben. Nur ein – freilich sehr geringfügiger – Teil der Antwort sei bereits an dieser Stelle, wenn schon nicht gegeben, so doch angedeutet: der erste Grund, durch den ein Individuum zum Genie erhoben wird, ist – wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen – eine geistige oder künstlerische oder ethische Überlegenheit, die eben jenes Individuum aus der Menge der übrigen hervorhebt. Es sei bereits hier mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, daß an der Möglichkeit einer solchen Eminenz im folgenden nie gezweifelt wird. Aber sie allein genügt auch nicht im allerentferntesten, um das Individuum als Genie erscheinen zu lassen. Der eminenteste Maler, dessen Bilder verbrennen, bevor sie jemand gesehen hat, hat – worauf bereits hingewiesen wurde – als historischer Faktor keine andere Bedeutung als irgendein Stubenstreicher. Die Eminenz wird im rationalsten Falle der Anlaß dazu sein, daß ein Individuum überhaupt günstig beurteilt wird, und zuweilen wird sie nicht einmal hierzu erforderlich sein. Aber selbst in jenem rationalen Falle bedarf es ganz anderer Faktoren, damit das Individuum von einer möglichst großen Masse günstig beurteilt werde. Was zur Eminenz unter allen Umständen hinzukommen muß, ist die lange Reihe der übrigen ruhmzeugenden und ruhmerweiternden Faktoren, die die Erscheinungsform des Individuums bilden helfen, deren Darstellung daher den größten Teil der folgenden Ausführungen einnehmen muß. In einer – leider nur flüchtigen – Bemerkung drückt BARTH einmal einen ähnlichen Gedanken aus: »Jeder geschichtliche Name wirkt nicht bloß an sich, sondern auch durch die Art, wie er sich in den Geistern der Zeitgenossen spiegelt. Die anderen überragend wird er weithin sichtbar, er erscheint den Mitstrebenden als Verkörperung der gemeinsamen Idee, wird ein Mittel ihrer Vereinigung, ihr lebendiges Banner, um das sie sich scharen.« (A. a. O. 219.)
[25]Die Eminenz ist nur die Quelle des mächtigen Stromes Ruhm. Wir aber stehen nicht weit von der Mündung, sehen die Wassermassen breit dahinfließen und versuchen zu erkennen, woher der Strom sie erhalten hat. Auch das Wasser des Quellbaches fließt noch in ihnen. Aber nicht ihm verdankt der Strom seine Macht, sondern seinen Nebenflüssen. Sie entspringen auf anderen Bergen, fließen durch andere Gegenden, tragen anderes Wasser. Sie müssen gefunden und in ihre letzten Verästlungen verfolgt werden, will man erkennen, was den Bach zum Strome, was das Individuum zum Träger des Ruhmes, d. h. zum »Genie« und zum historisch wichtigen Faktor gemacht hat.
Aber zunächst ist noch auf eins hinzuweisen: so undenkbar ein Genialerscheinen ohne Ruhm ist, so leicht kann man sich natürlich Ruhm ohne Genialerscheinen vorstellen. Man vergegenwärtige sich Persönlichkeiten wie HEROSTRAT, XANTHIPPE, JUDAS ISCHARIOT, FRANCESCA DA RIMINI, CAGLIOSTRO, ECKERMANN, CASPAR HAUSER, Hauptmann DREYFUS u. a. Sie alle haben nicht nur geringe, sondern allerstärkste Ruhmformen erlangt; denn ihr Name, z. T. auch ihre Schicksale und Taten sind einer gewaltigen Masse über einen gewaltigen Raum und eine gewaltige Zeit hin bekannt. Trotzdem hält sie niemand für Genies. Wir werden uns mit diesen nichteminenten Berühmtheiten späterhin noch häufig beschäftigen, weil sie die Bedeutung der ruhmzeugenden und ruhmerweiternden Faktoren besonders klar erweisen. Ihnen allen nämlich fehlt nur die Eminenz. Zu berühmten Individuen hat sie die lange Reihe der übrigen Faktoren gemacht.