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Die junge Frau von Waldenberg lag auf ihrer Chaiselongue und blätterte in Zeitungen. Sie las nicht so recht. Es ward ihr so schwer, ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu sammeln. Gar zu viel ging ihr durch den Kopf und lauter Gedanken, für die in Zeitungen keine Hülfe gedruckt stand. Zerstreuen wollte sie sich von diesen Blättern auch nicht lassen, denn einestheils waren ebendieselben sehr langweilig und anderntheils war sie schon zerstreut genug.
Nur ab und zu fiel ihr ein Wort in's streifende Auge, das ihre Aufmerksamkeit zwei, drei Zeilen weiter verführte. Dann ließ sie die Hand wieder sinken, schloß die Augen, seufzte und sah den Fliegen zu, die über die Glasverzierungen an der Zimmerdecke wegkrochen, auch so schwarz wie die Buchstaben in der Zeitung, auch so nichtssagend, so gleichgültig, so alltäglich wie jene. Nur daß sie anspruchsloser waren und sich bewegten. Das schien 102 immerhin unterhaltender, – freilich auch nur auf einen Augenblick.
Die junge Frau von Waldenberg war sehr schön. Nur daß sie in den anderthalb Jahren ihrer Ehe eher noch zarter, noch magerer, noch elfenhafter geworden war, als sie in ihrer Mädchenzeit gewesen. Auch kräftiger war sie nicht geworden. Nicht bloß Laune oder Trägheit hielt sie des Vormittags stundenlang auf ihrem Sopha. Sie klagte nie. Aber sie durfte sich etwas darauf einbilden, nicht zu klagen. Ihr war immer so zu Muthe, als ob sie sich langsam von einer schweren Krankheit erholte.
Bei dieser Empfindung spielte die Gewohnheit ihr vielleicht mit einen Streich. Ganz aber war dieselbe doch nicht unberechtigt.
Eine frühe Hoffnung war vor der Zeit zu Schanden geworden. Darnach kränkelte Leonilla monatelang, und als das vorüber, kam sie doch nicht so recht zu Kräften. Das that ihr in der Seele weh. Und doch konnte sie's nicht lassen, jeden Morgen die Familiennachrichten in der Zeitung zu lesen, wo Der und Jener seine Freude bekannt gab. Es kam oft wie stiller Neid über sie; sie hätte diese unbekannten Menschen hassen, bestehlen, um ihr Bestes bestehlen können. Was hätt' es geholfen! Wäre sie dadurch zu Kräften, zu Glück gekommen!
Die Aerzte gaben ihr allen Trost und viel gute 103 Lehren. Ihr fehle ja nichts. Sie solle sich nur der hauptstädtischen Geselligkeit entziehen und so viel als möglich auf dem Lande leben.
Mein Gott, so ein Arzt redet, wie er's versteht. Geselligkeit war ihr unvermeidliche Pflicht und das Landleben ein Greuel. Den Sommer über wollte sie's freilich nothgedrungen wieder einmal versuchen.
Aber ach, wie ungern! Waldemar konnte höchstens auf vier oder sechs Wochen Urlaub erhalten. Und ohne Waldemar würde ihr das Gesundwerden noch viel schwerer fallen. Da schon lieber neben ihm krank sein.
Sie war mit ihrem Manne sehr glücklich. O gewiß! und warum nicht? . . . Man kann gerade nicht sagen. daß sie überglücklich, daß sie so unsinnig glücklich geworden war, wie sie sich das in ihrer Mädchenzeit ausgeträumt hatte. Nein, aber wer wird denn das! Wer wird denn so ganz ohne Enttäuschungen glücklich! Allein sie hatten keine Mühe gehabt, sich in einander zu finden. Sie waren so mit einander zufrieden und wünschte Keiner, daß der Andere anders geartet sein möchte, als er eben war. Ach, Waldemar's Art war gut.
Er war kein Stürmer, kein Schwärmer, kein Romeo; aber er war von ruhiger, sicherer, gleichmäßiger Gemüthsart. Er liebte sie gewiß nicht mit jener stillverzehrenden Glut, die sie noch heute für 104 ihn empfand, obschon nicht mehr gestand; aber er war ihr aufrichtig und innig zugethan. Er wußte sich nicht viel mit Leidenschaften umzugehen. Aber seine wohlausgeglichene Natur hielt sich an die Lebensgefährtin mit Zuversicht und Behagen. Er hatte keine bessere Freundschaft für irgend Jemand. Er ließ es an Aufmerksamkeit, an Sorgfalt und Geduld nie fehlen und er befand sich nirgends so wohl wie im Frieden seiner vier Wände.
Und kurzum: er würde Jedem in's Gesicht gelacht haben, der ihm gesagt hätte, daß seine Frau nicht glücklich sei. Leonilla selber sagte es ihm oft genug, wie glücklich sie an seiner Seite geworden.
Und dennoch seufzte sie zuweilen. Aber wer seufzt nicht zuweilen, wenn er auf einem Sopha liegt, die Tagesblätter langweilig findet und allein ist!
Der Beruf des Majors, und besonders in dieser Jahreszeit, brachte es mit sich, daß Leonilla recht oft allein war. Viel zu oft. Aber was war da zu machen? Waldemar hing sehr an seinem Berufe. Um keinen Preis der Welt hätte sie ihm zumuthen mögen, sich von demselben zurückzuziehen. Und so gern sie noch in Gesellschaft glänzte, sie fand darin doch keine Freundschaft, mit der sie stille Stunden hätte Tag für Tag verplaudern mögen.
Gab es überhaupt etwas wie Frauenfreundschaft? Hatte man doch erst neulich diese Frage 105 vor ihr auf's Tapet gebracht und nur, um sie zu verneinen.
Früher hatte sie tagelang lesen können. Das war ihr jetzt wie versagt. Eine seltsame innere Unruhe hatte sich seit Monden in ihr eingenistet. Ihre Gedanken ließen sich nicht nach Willkür einfangen, und setzte sie's einmal mit Gewalt durch, ein Buch stundenlang festzuhalten, so wußte sie des andern Tages sicher nicht die Hälfte dessen mehr, was sie gestern mit solcher Anstrengung gelesen zu haben glaubte.
In der Zeitung machten ihr die vermischten Anzeigen noch am meisten Spaß. Dabei ließ sich allerhand Anderes denken und für die Hausfrau bot es manche Hülfe.
Es kam ihr bei nochmaligem Blättern vor, als böte sich auch heute aus der Zeitung eine recht unverhoffte Hülfe dar. Sie war auf Bettinens kleines Angebot gekommen und das gab ihr in seiner wunderlichen Fassung auf einmal eine Menge zu denken.
Sie war zwar so weit nicht Kennerin, um der Notiz anzumerken, daß sie einen lyrischen Tenor zum Verfasser habe. Lächeln machte sie sie doch. Aber nicht bloß Spott, auch Hoffnung machte sie lächeln.
Ihr war mit einem Mal, als würde sie einer Vorleserin weit bequemer folgen können, als ihren eigenen Augen. Zum mindesten hatte sie's mit einer 106 solchen noch nicht versucht. Das lockte mit dem Reize der Neuheit. Und dann Gesang und Spiel! Wenn's gut war, konnte man sich wohl ein paar Stunden wegtäuschen auf dem Lande, wo man Waldemar entbehren mußte und wo es zum Sterben langweilig war.
Ja entschieden, auf's Land mußte sie eine Gesellschafterin mitnehmen, und wenn das Mädchen hielt, was die Anzeige versprach, so war's ein Fund.
Auch Waldemar war dieser Meinung, als er, nach Hause kommend, die brennende Frage entscheiden sollte. Leonilla that nichts ohne ihres Gatten Entscheid.
So ward denn ein Diener nach der Redaktion geschickt, und sobald er die nähere Adresse brachte, ließ die Baronin anspannen und fuhr aus, um Dieß zu kaufen und Jenes zu bestellen und endlich auch in der kleinen Gartenstraße anzuhalten vor dem Hause mit den grünen Laden. Das kam ihr nun allerdings bekannt genug vor. Es wollte ihr wie ein gutes Zeichen erscheinen, daß ihr aus demselben Hause, darin ihr Gatte so lang sein Wesen getrieben hatte, nun noch andere Genossenschaft werden sollte.
Daß der Freiherr von Waldenberg mit den kleinen Leuten da drinnen je mehr als des Nöthigsten verkehrt habe, fiel ihr nicht in den Sinn. Sie hatte auch früher nie darnach gefragt.
Sie fand ein armes Mädchen mit roth geweinten, tief umränderten Augen, ein schönes, einnehmendes, 107 Mitleid erregendes Geschöpf, schüchtern und doch stolz, tief gebeugt und dennoch seiner Pflicht und seines Werthes bewußt. Es eroberte wie im Sturm ihr empfindsames Herz, ob es schon selbst sich keine Mühe nahm, so schöne Gunst zu fordern.
»Sie scheinen von hartem Leid betroffen, Fräulein,« sagte Leonilla.
»Mein Vater ist schwer krank!« Bettina schämte sich, die Krankheit zu nennen, an der ihr Vater litt, und für Leonilla war diese Antwort genügend zur Entscheidung.
»Und Sie müssen für Ihren kranken Vater sorgen?« beeilte sich die herzensgute Dame hinzuzufügen.
»Gott geb's, daß es mir gelingt!« antwortete Bettina.
»Und wollen Sie das bei mir versuchen?«
»Warum nicht, gnädige Frau? Von Herzen gern!«
Sie einigten sich leicht über die Bedingungen. Bettinens Forderungen waren nicht übertrieben. Und Leonilla hatte mehr Sorge, ihr zu wenig als zu viel zu bieten. Die Aussicht, aus der Stadt in die freie Natur zu kommen, fern von der Stätte ihrer letzten Schicksale lange Monate verleben zu können, hatte für Orlando's Tochter noch einen besonderen Reiz. Sie verhehlte das auch nicht. Sie griff sozusagen mit beiden Händen zu. 108
Sie gaben sich schon die Hände, als es Bettina schließlich doch der Mühe werth halten mußte, nach dem Namen der Dame zu fragen, bei der sie ihre Zukunft, ihres Vaters Unterhalt und einen Hort ihrer eigenen Jugend schon über Verhoffen glücklich gesunden zu haben glaubte.
»Ich bin die Frau von Waldenberg,« sagte Leonilla sehr freundlich. Es that ihr noch immer wunderlich wohl, so oft sie sich selbst die Frau ihres Mannes nennen hörte. Zum Ueberfluß gab sie dem Mädchen, das sie mit großen Augen ansah, noch ihre Karte, darauf auch ihr Tauf- und ihr Vatersnamen sammt ihrer jetzigen Wohnung zu lesen stand, so daß Bettina nicht im mindesten zweifeln durfte, daß es des ehemaligen Hausgenossen Gattin war, die sie in ihr glänzendes Heimwesen aufzunehmen im Begriff stand.
Orlando's Tochter war noch zu jung im Unglück. Ob sie's schon wie Laune fühlte, sie bracht' es nicht über's Herz, die Demüthigung auf sich zu nehmen, die ihr erschien, wenn sie als Dienerin in des Mannes Haus sich einschleichen sollte, in dessen Herzen sie einst zu wohnen gehofft hatte. Sie wußte wohl, daß das nicht mehr als ein Kindertraum gewesen war, aber es war noch nicht so lange her, daß sie diese Enttäuschung hatte überwinden müssen. Und so seltsam sich's zusammenreimen ließ, Bettina 109 ward doch jeden lieben Tag daran erinnert, daß mit der Heirath des Herrn von Waldenberg ihr Unglück begonnen hatte, das nun noch lange nicht erschöpft schien. Hatte sie nicht auch noch, in einem Restchen alten Wahns befangen, den letzten Rath befolgt, den ihr der Herr von Waldenberg gegeben? Hatte nicht der Gedanke, daß er es ihr gerathen, die besten Bedenken weggeräumt, die sie von der Bühne zurückgehalten, und hatte nicht dieser Rath sich just so trügerisch erwiesen, wie all' die anderen Kindereien, die sich mit dem Namen Waldemar in ihr übelbehütetes Gemüth geschlichen hatten? Seit jenem Abend konnte sie schon gar nicht mehr ohne Gram an den Mann denken, der jahrelang mit ihr unter einem Dache gewohnt hatte und längst nicht mehr dergleichen that, als ob sie für ihn jemals auf der Welt gewesen wäre.
Nicht nur Waldenberg's Rathschlag hatte sie auf die Bühne getrieben, auch die eifernde Hoffnung, ihm von den erhöhten Brettern aus auf's Neue zu erscheinen, und in erhöhtem Licht und begehrenswerther. Ein Leben hätte sie für den Gedanken in seiner Seele gegeben, daß er etwas in ihr verloren hätte, wenn er sähe, wie das kleine Hansmütterchen zu Namen, Glanz und Ruhm kam, eine große Sängerin.
Nun war's weithin zu einer berühmten Sängerin! Und daß es ganz anders geworden war, daß sie 110 eine durchgefallene Anfängerin vor ihm stand, die man mit Erwähnung ihres theatralischen Versuchs nur beschämen konnte, das allein genügte, sie überall hin, nur nicht vor das Angesicht des Mannes zu jagen, von welchem sie von Kind auf die Ueberzeugung hatte, daß er in ihrer Seele lesen könnte wie in einem aufgeschlagenen Buche.
Bettina war, wie gesagt, noch jung im Unglück. Sie hatte noch nicht gelernt, ihre Schande zu schlucken. Sie meinte noch die Wahl zu haben zwischen allerhand Glück. Sie meinte noch ein Recht zu haben, ein arglos Weib, das ihr mit schönem Wohlwollen entgegenkam, von freien Stücken zu hassen.
Leonilla sah wohl, daß etwas in der Seele des Mädchens vorging, aber himmelweit von der Spur dieser wunderlichen Gedanken entfernt, erstaunte sie, als dieses stotternd erst, dann heftig, unfreundlich fast, die Worte hervorbrachte: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau . . . es fällt mir eben ein . . . es ist unverzeihlich von mir, Sie so lange umsonst aufzuhalten . . . aber, wie gesagt, eben fällt mir ein . . .«
»Nun, was fiel Ihnen denn eben ein? Reden Sie sich klar!«
»Daß ich eigentlich schon einen anderen Antrag angenommen habe. So gut wie angenommen. Ich müßte mich erst davon losmachen. Ich glaube nicht, daß es gelingen wird.« 111
Die letzten Worte sprach Bettina mit rechter Bestimmtheit aus. Die Frau des Majors wußte nicht, wie sie diesen plötzlichen Wechsel sich erklären sollte. Nicht eben gewohnt, auf viel Widerstand zu stoßen, verletzte sie diese ungeschickte Art zu widersprechen fühlbar. Dennoch behielt das Mitleid noch die Oberhand ihrer Empfindungen. Gehalten, aber gütig sagte sie zur Tochter des Organisten:
»Es thut mir leid, daß Ihnen dieß Hinderniß so spät einfällt. Ich hoffe noch, daß es sich beseitigen läßt. Sie haben mir gut gefallen und ich glaube, wir würden uns schön vertragen . . . Auch bin ich bereit, das Angebot der . . . Anderen zu überbieten. Beherzigen Sie auch das.«
Bettina hatte Mühe zu antworten. Endlich brachte sie nicht mehr heraus als ein ziemlich verdrießliches: »Es thut mir leid, gnädige Frau, aber es wird nicht gehen.«
Leonilla nickte schweigend einen leichten Gruß und ließ die Trotzige allein. –
*
»Seltsam!« sagte die Baronin bei Tische zu ihrem Gatten. »Es war ein Fräulein mit dem wunderlichen Namen Hunzelsperger, das sich als Gesellschafterin angeboten hatte, aber es verlor auf einmal alle Lust, bei einer Frau von Waldenberg zu dienen.«
Waldemar sah auf. »Dienen ist hart,« sprach 112 er. »Ich verdenk' es ihr nicht. Ich bin froh, daß nichts aus der Sache geworden ist.«
»Warum?«
»Ach, was soll so ein Drittes im Hause! Und vollends Diese . . .«
»Diese oder eine Andere?« lächelte Leonilla. »Warum Diese vollends?«
»Ich meine, mit ihrem Singen ist's so eine heikle Sache. Als Kind freilich glaubte man, es würde was Besonderes daraus werden. Aber neulich ist sie sans phrase durchgefallen.«
»Ach, sie war schon auf dem Theater?!«
»Einmal ist keinmal! sagt das Sprüchwort.«
Leonilla ward nachdenklich. Was sie von dem Mädchen hörte, auch wenn sie's auf den ersten Augenblick verdroß, trug allmälich nur dazu bei, den guten Eindruck zu verstärken, welchen sie heute Mittag von Angesicht zu Angesicht empfangen hatte. Wo das Mitleid einmal in dieser Seele Platz gegriffen, ließ ihr Antheil so leicht nicht los. Mehr als einmal im Laufe des Tages stand das Bild des lichten Mädchens auf dunklem Grunde vor ihrem Geist. Welch' eigenthümliche Schönheit! Welche Frische, welche Zartheit, welcher Schmelz in diesen jungfräulichen Farben, diesen traurigen Augen, diesem stolzen Munde! Schon der Ton dieser Rede klang wie Musik!
Mit aller Hartnäckigkeit eines beschäftigungslosen 113 Geistes vertiefte sich Leonilla in die Gedanken an Bettina. Sie machte sich bereits ernstliche Vorwürfe, daß in ihrem Antrage, in der Art, mit der Fremden zu unterhandeln, oder sonst in ihrem Thun und Lassen etwas gewesen sein mußte, welches, wenn ihr auch unbewußt, das arme Kind beleidigt, es von ihr abgeschreckt hatte. Und wie sie sich's kaum verzeihen konnte, einer Unglücklichen hochmüthig erschienen zu sein, so kränkte sie's darum nicht weniger, daß ein Wesen, dem sie sich so unwillkürlich zugethan fühlte, sie und ihre Güte kalt zurückwies.
Von ihrem Gatten war sie im Gespräch daran erinnert worden, daß der banale Name Hunzelsperger keines unbedeutenden Mannes Eigenthum gewesen. Die Moden wechseln. Aber Waldemar meinte, die musikalische Mode von damals sei nicht geringer im Werth gewesen, als die herrschende Richtung heute; und wenn das leichtfertige Publikum einen Namen vergaß, dem es dereinst gehuldigt, so wäre das noch kein Beweis, daß die damalige Huldigung einen Unwürdigen beglückt hätte.
Der Hinweis genügte vollkommen, daß Leonilla noch vor Abend einen Diener nach dem Musikaliengeschäfte schickte und sich von Kompositionen Orlando Hunzelsperger's ausbat, was noch im Handel aufzutreiben war.
Als Waldemar aus dem Klub in den Salon 114 seiner Gattin heimkehrte, fand er sie in einem Wust von vergilbten Notenblättern am Klavier sitzen und sich an den verschiedenartigsten Produktionen seines alten Hausgenossen Augen und Finger abquälen.
Unter dem eingesandten Packen war ein gut Theil Orgelfugen, Präludien und derlei gelehrte Sachen, damit Leonilla wenig oder gar nicht zurechtzukommen verstand. Das steigerte nur ihre Achtung vor dem unbekannten Genie und um so mehr erfreute sie sich an der anderen Hälfte, die ihr leicht faßliche, sangbare und liebenswürdige Musik schien. Immer dabei an die liebliche, wunderliche Tochter denkend, hatte sie sich in eine Begeisterung für den kranken Vater derselben hineingearbeitet, die bereits lichterloh brannte, als der Gatte dazu kam und durch einige heitere Erzählungen aus der Zeit seines Zusammenlebens mit dem »unverwüstlichen« Komponisten nur Oel in die Flammen goß.
Leonilla spielte so, wie man zu sagen pflegt, schlecht und recht. Sie hatte Empfindung für musikalische Schönheiten und verstand es auch, einige derselben, die ihr gut in der Hand lagen, recht artig wiederzugeben. Doch war ihre Erziehung zur Kunst nicht tief gegangen und ihre ganze Gewohnheit, sich mit derlei Dingen zu befassen, nicht folgerichtig, nicht ausdauernd genug, daß sie nun, auch mit zeitweiligem Feuereifer, Gleichmäßiges hätte leisten können. 115 Nichtsdestoweniger wollte sie sich's heute nicht nehmen lassen, ihren Gatten unversäumt in ihr Entzücken einzuweihen. Er mußte niedersitzen, mußte zuhören, was für schöne Sachen der alte Orlando auszudenken im Stande gewesen war.
Einiges war ihm neu. Anderes kam ihm wenigstens neu vor, weil es die gute Leonilla mit bestem Willen und aller Anstrengung nicht so herausbrachte, wie er es früher gewohnt war, so daß es ihm wie nie gehört erschien. Er war ja nichts weniger als ein Musikant von Fach. Das Meiste jedoch dünkte ihn nur zu bekannt.
Es widerfuhr dem Kavalleristen nicht leicht, daß ihn Gefühlsduselei anwandelte. Nur die Musik that es ihm oft eigen an. Und gerade diese Musik!
Er hatte so lange Wand an Wand mit dieser Musik gelebt. Viele Jahre seines Lebens. In seinen schönsten vielleicht, in seinen ruhigsten Jahren gewiß waren diese Melodieen ihm wie das tägliche Brod geworden. Wie liebe alte Gewohnheiten, wie traute Freunde, die er nun lange nicht gesehen, die er niemalen wiederzusehen geglaubt hatte, grüßten sie ihn. Und er auch grüßte sie, wie man im Vorüberreiten liebe, halbvergessene Gesichter grüßt, mit denen man gute Tage verlebt hat.
Sein stilles Junggesellenleben erstand allgemach vor seiner erinnernden Seele. Das abgegrenzte, 116 wohlbehütete Behagen, das gemüthliche Häuschen mit den schönbewegten, schlichten Menschen drin und Orlando's meisterlichen Tönen, die Alles dort umwehten.
Er dachte, daß er's damals – auch damals recht gut gehabt; er dachte, daß er's nie gedacht hatte, dieß gute Leben zu verändern; er dachte, daß es trotzdem wohl das Beste gewesen sei, als es eines Tages ein Ende genommen.
Ob er fähig gewesen wäre, einen dummen Streich zu machen? Bei seiner Gelassenheit und Herzensruhe? Je nun! Bettina versprach sehr schön zu werden und sie wußte den Flügel zu spielen und zu singen dazu wie Niemand. Auf der Bühne war's vielleicht ein ander Ding. Im Zimmer hatte keines Menschen Gesang ihn je so tief im Innersten zu rühren, zu verführen vermocht, wie der jenes Kindes, an dessen Wiege ein Genius gesessen war.
Gab doch die Erinnerung an jene spielend geübte Meisterschaft den ungefügen Versuchen Leonilla's einen Zauber, für den er dankbar war.
Dankbar? Ja, aber nicht allzu lange. Sein Weib verdarb die gute Wirkung durch Zuviel. Nimmersatt naschte sie von Diesem und Dem. Ungeduldig verwirrte sie sich. Dieß war zu schwer und Jenes lag nicht in ihrer Stimme. Und je länger es dauerte, desto empfindlicher machte sich der Gegensatz hörbar. 117 Dieses Widerspiel wurde geradezu peinlich. Es war Waldemar, als thäte man guten Erinnerungen Gewalt an, böse Gesichter zu schneiden. Es war ihm, als hätte Leonilla es darauf abgesehen, ihm diese Erinnerungen zu verleiden. Diese lallenden Töne, diese unsicher befragten Tasten, dieß Stümpern, wo er in Meisterschaft geschwelgt, war auf die Dauer unerträglich. Er litt. Er stand vom Stuhl auf. Er öffnete sich ein Fenster und ließ das Wagenrasseln der belebten Straße gegen das Klavierspiel seiner Frau ankämpfen.
Da er nach seiner Weise all' das mit jener äußeren Ruhe vornahm, die ihn auszeichnete, so blieb Leonilla ohne Ahnung, daß ihre Versuche seinem Herzen Unbehagen schufen.
Erst als er ihr die Schulter berührte und freundlich sagte: »Mich dünkt, Du thust des Guten zu viel. Das ungewohnte Spielen wird Dich ermüden. Es geht mir selbst nicht viel besser!« – erst dann ließ sie Orlando's Noten fahren.
»Du hast Recht!« antwortete sie, erhob sich vom Flügel und hing sich mit beiden Händen lächelnd in den starken Arm ihres Gatten.
Es kam ihr etwas wie die Empfindung, daß ihr Waldemar diese Tonstücke wohl viel, viel besser gehört haben müsse, und diese Vermuthung trug wieder nur zu dem Bedauern bei, daß es ihr nicht gelungen, 118 Orlando's Tochter für sich zu gewinnen. Die hätte gewiß die allerbeste Anleitung geben können, wie man ihres Vaters Kompositionen spielen und singen müßte. Dann hätt' es Waldemar schon zusagen sollen! Aber so! Was sie dem Mädchen nur gethan hatte! Sie dacht' es nicht aus. 119