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Fridolin hatte kurz, aber gut geschlafen.
Gut . . . darüber war keinen Augenblick ein Zweifel gestattet. Kurz . . . das merkte er erst, als er auf die Uhr sah und zu seiner Ueberraschung fand, daß die Kürze der Zeit zu der wohlthuenden Güte dieses Schlafes in gar keinem Verhältnisse stand. Es erforderte keine kleine Mühe, dieß nach der Uhr sehen. Die Dämmerung ging bereits in finstere Nacht über.
Also morgen mit dem Frühesten wollte er fort . . . Gewiß, was sollte er noch ferner hier als fünftes Rad an diesem armen Bauernwagen. Er war nicht wenig darauf stolz, den Karren aus dem Sumpf geschoben zu haben. Allein die Leute, welche darauf saßen, brauchten ihn nun nicht mehr. Sie waren durch seine Dazwischenkunft ja wieder glücklich, ach ja, so glücklich!
Morgen mit dem Frühesten! Darum wollte er sich noch heute von seinen Wirthen in aller Form verabschieden. Er konnte das ja nun getrost 208 versuchen; er war ja wieder ganz ernüchtert. Er glaubte wenigstens, es zu sein. Und doch war vielleicht an seinem Behagen mehr, was vom Weine noch in ihm geblieben, Schuld, als was er davon bereits verschlafen hatte.
Wie dem nun war, er stöberte bald den biedern Joseph auf, um sich bei der Hausfrau zum Abschiednehmen melden zu lassen, und – was uns mehr verwundern wird, als es ihn verwundern konnte – sein Besuch ward in Gnaden angenommen.
Eine Lampe brannte in Leonilla's Zimmer. Ziemlich entfernt davon, an der Grenze, wo ihr Schimmer mit der Dunkelheit sich mischte, ging die Herrin des Hauses auf und nieder, die Wand entlang, da ihr Besucher eintrat.
»Die edle Chatelaine hat gestattet, für Gastfreundschaft zu danken und Urlaub zu nehmen,« fing Fridolin an zu säuseln.
Aber Leonilla schnitt die schöne Rede kurz ab mit der Frage:
»Wollen Sie die Güte haben, einen Brief an meine Mutter, die Baronin Santalatona mit nach der Stadt zu nehmen und denselben in eigener Person in die eigenen Hände derselben übergeben?«
»Mit tausend Freuden!« wollte Fridolin schon sagen, als er den herben Ton der Dame in sich nachklingen fühlte, der so gar nicht zu der Lage, 209 welche er ihr bereitet zu haben wähnte, stimmte und ihn recht befremdete.
Es mußte sich dieser Eindruck in seinen Mienen spiegeln, denn Leonilla fand eine Erklärung ihres kurzen Auftrags nöthig. Mit leiserer Stimme fügte sie hinzu:
»Sie würden mir dadurch eine Gefälligkeit erweisen, mein Herr. Der Brief ist mir wichtig. In meiner jetzigen Lage der wichtigste, den ich überhaupt schreiben kann, und ich habe hier keine andere Gelegenheit, ihn mit voller, beruhigender Sicherheit an seine Adresse gelangen zu lassen.«
Fridolin wußte nicht, wie ihm geschah. Aus dem Tone dieser Stimme, aus dem Blitzen dieser Augen, aus den zuckenden Bewegungen dieser sonst so vornehm ruhigen Hand mußte er merken, daß keine Glückliche vor ihm stand, daß sein Werk nur Gestümper gewesen und daß der Brief, von dem die Rede ging, nichts Gutes enthalten konnte.
»Darf ich fragen, ob der Brief schon geschrieben ist?« sprach der treue Knecht mit verzögernder Absicht.
»Zur Hälfte!« antwortete Leonilla, mit der Hand nach ihrem Schreibtisch weisend, wo etliche zerknitterte Blätter zu bezeugen schienen, daß ein Brief, der dem Schreiber nicht leicht wurde, schon zu wiederholten Malen war begonnen worden. 210
»Und er wird noch heute Abend zu Ende geschrieben werden?« fragte Fridolin, der Seelenkundige, nicht ohne einen mißtrauischen Blick auf die zu Füßen des Schreibtisches verworfenen Bogen zu senden. »Ich muß nämlich morgen mit dem Frühesten, mit dem ersten Hahnenkrât, wie die Dichter sagen, mich auf die Strümpfe machen, wenn ich die Eisenbahnstation rechtzeitig erreichen will.«
Leonilla fühlte, daß ein Vorwurf sich in dieser Ausrede verbarg. Sie schwieg und senkte den Blick zur Erde. Das machte den Zaghaften kühner; er trat einen Schritt näher und mit gehobener Stimme sprach er:
»Gnädigste Frau! Muß dieser Brief geschrieben werden? Dieser Brief . . . an Ihre Mutter? Und wenn er geschrieben werden muß, wird er auch zum Guten führen?«
»Er wird mich aus diesem Hause führen!« rief Leonilla hastig mit wildem Aufblick ihrer schönen Augen. Und Fridolin prallte zurück, wie wenn man ihn vor die Brust gestoßen hätte.
Es war nur eine Sekunde höchster Bestürzung. Dann trat er ihr nahe, mit vorgebeugtem Haupt und gefalteten Händen wie ein Flehender.
»Aus diesem Hause? Sie von hier fort? Und was soll aus Waldenberg werden, wenn Sie, wenn auch Sie zum Hause draußen sind? Um Gottes willen, gnädige Frau, haben Sie Alles bedacht?!« 211
Leonilla richtete sich in ihrer schlanken Größe stolz genug vor ihm auf und ließ die Worte von ihren Lippen fallen:
»Entschuldigen Sie, mein Herr, die Frage: Wer hat denn Sie zum Hüter dieses Hauses bestellt? haben die Waldenberger, ohne daß wir darum wissen, in Ihrer Person einen Vormund erhalten? und von wem? und warum? Wer schickt Sie? Wer überhaupt sind Sie? Was sind Sie unserer Familie? Was mir? Ich verstehe Sie nicht. Oder glauben Sie, weil ich Ihnen Vertrauen genug schenkte, mir einen Brief nach der Stadt zu tragen, ich empfände auch das Bedürfniß, Sie zu meinem Gewissensrathe zu bestellen? Sie irren sich und ich kenne Sie nicht. Ich entbinde Sie als Briefträger, aber ich habe nicht den Wunsch, Sie anders kennen zu lernen.«
Fridolin wurde blaß. Das war ein Schlag. Ein harter Schlag, der ihn durchzuckte vom Scheitel bis zur Sohle. Es ward ihm eiskalt. Und doch fühlte er unter aller Beschämung, es war kein Schlag, der ihn niederstreckte, sondern ein solcher, der den Gesellen mündig spricht und den Knappen zum Ritter schlägt.
Es ward auf einmal seltsam klar vor seinem Sinn. Er meinte sogar, in diesem Augenblicke wenigstens, dieß schöne Weib, das er als seine Muse angebetet hatte, mit nicht erregterem Gefühl zu 212 betrachten, als jedes andere. Und dabei wußte er, daß jetzt der entscheidende Augenblick und das schärfste Mittel angezeigt sei.
»Verzeihen Sie mir, gnädige Frau,« sprach er, »wenn ich Sie trotz Ihrer jedes Mißverständniß ausschließenden Erklärung noch zwei Minuten belästige. Zu meiner Rechtfertigung, zur Vertheidigung meines allerdings etwas vorlauten, vielleicht aufdringlichen Interesses. Reue ist eben eifrig.
»Allerdings bedürfen Sie eines Vormunds. Denn Sie sind schwer krank oder . . . Sie wollen die Welt doch glauben machen, daß Sie schwerkrank seien.
»Woher ich den Auftrag genommen, mich Ihnen zu nähern in der Absicht, Sie zu warnen, zu berathen? Aus meinem Gewissen.
»Wer ich Ihnen bin? Ich bin Ihr Mitschuldiger!«
Leonilla wandte von der Polsterlehne des Stuhls, in den sie sich mit deutlicher Ungeduld geworfen, jetzt dem Redenden ein überraschtes Antlitz zu.
»Sie . . . mein Mitschuldiger?« Es zwang sie wider Willen zum Lachen.
Aber Fridolin ward nun nicht mehr davon beirrt. Unerschrocken sprach er weiter:
»Ich habe es schon heute Mittag gewagt, Sie an den Besuch in Orlando's Zelle zu erinnern. Geben Sie sich Mühe, den unglückseligen Tag, die 213 verwünschte Stunde genau in Ihr Gedächtniß zurückzurufen, und dann werden Sie mir nicht widersprechen; wär' ich nicht von Eitelkeit und zwei schönen Augen so verblendet gewesen, daß ich einem verzärtelten Geschöpf, welches solchem Anblick nicht gewachsen war, die Zelle des wahnsinnigen Orlando öffnen ließ, hätte mich die selbstgefällige Redseligkeit nicht verführt, nach dem gesehenen Unheil auch noch das Beispiel Hamlet's auf's Tapet zu bringen, es wäre Ihnen, gnädige Frau, niemalen dienlich erschienen, um wieder mit Freund Hamlet zu sprechen:
›ein wunderliches Wesen anzulegen‹.
»Sie hätten mit Ihrem Gatten gezankt, geschmollt, sich vertragen . . . was weiß ich! . . . Aber es wäre Ihnen niemalen in den Sinn gekommen, sich, ihn, die ganze Welt auf diese Probe zu stellen. Eine Probe, an der Sie zu Schanden werden müssen, wenn Sie nicht ein für allemal dem Wahn den Rücken wenden und mit Entschlossenheit und Muth in's werkthätige Dasein, an die Seite Ihres braven Gatten zurückkehren!«
»Ach, mich dünkt, diese Weise kenn' ich,« rief Leonilla, »hab' ich das Lied nicht heute schon einmal aus Ihrem Munde singen hören?«
Sie stand vom Stuhl auf, verächtlich die Achseln zuckend. Aber aus dem Zucken wurde ein Zittern, 214 ein Schaudern. Sie fühlte mit den Händen sich die Arme ab, von den Schultern bis zu den Ellenbogen und dann von den Ellenbogen bis zu den Handgelenken, wie wenn sie's fröre. Sie ging an Fridolin vorüber, nahm ein paar der beschriebenen Blätter, die von ihrem Schreibtische gefallen waren, vom Teppich auf und kniete sich vor den weißen Marmorkamin in der Ecke.
Bald darauf flammten die Blätter in ihrer Hand. Sie hielt sie in den Kamin, wo Alles bereitet war, um in der kühlen Frühlingsnacht ein Feuerchen rasch aufflackern zu lassen.
Fridolin, der sich ihr dienstfertig genähert hatte, war mit einer Handbewegung abgewinkt worden. Sie hatte im Sprechen kaum eine Pause gemacht; wahrend die Späne knisterten und sie das Feuer schürte, redete sie abgewandt und ihre Stimme klang wundersam zur Begleitung des Prasselns der Flamme:
»Ich brauche Ihnen ja nicht weiter zu bekennen, daß Ihr Lied heut' am Tage eine gewisse Wirkung auf meine arme Seele ausgeübt hat. Sie haben's ja gesehen und können meinen guten Willen vielleicht loben. Aber wenn das Lied von der sorgsamen Hausfrau und dergleichen seine Kraft nunmehr gänzlich verloren hat und mein guter Wille dahin gegangen ist, wie etwa dieß Papierschnitzel da in meiner Hand aufbrennt, so melden Sie meinem Gatten, in 215 dessen Auftrag . . . oder nicht doch, sagen wir in dessen Interesse Sie mir die Ehren Ihrer Zureden erweisen, daß er wohl wissen wird, warum Kraft und guter Wille dahin gegangen sind. Ich bedaure sehr, daß mein und sein Glück nicht so leicht herzustellen ist wie ein Feuer im Kamin oder ein Mittagessen auf dem häuslichen Herde. Sagen Sie ihm, daß Jeder selber seines Glückes Schmied sei.«
Im Feuer knallte das Holz, als freute sich ein Dämon über so trotzige Worte.
Fridolin sagte: »Diesen Rath werde ich nicht bestellen. Erstens, weil mir Herr von Waldenberg keinen Auftrag gegeben hat, und zweitens, weil ich das Wort für falsch halte. Wer kann so vermessen sagen, er sei seines Glückes Schmied? . . . Menschen? Staaten? Nationen? Niemand! . . . Ich will Sie nicht an ein vorhin gefallenes Wort erinnern, sonst würde ich sagen: es ist auch nicht Schmied, wer will, sondern wen Gott dazu bestimmt hat, wem er Kraft, Geschick und Ausdauer dazu gegeben, und wer das Handwerk – es ist nicht immer ein sauberes – gelernt hat!«
Es ward eine Weile ganz still im Zimmer nach diesen Worten. Nur das Feuer loderte mit eintönigem Gesang.
Leonilla kniete noch immer vor ihrem weißen Marmorkamin am Boden, eine züngelnde Flamme 216 beleuchtete ihre Hände und Arme und vergoldete ihr Haar und durchschimmerte ihr Ohr, wie sie sich ohne aufzustehen herumwandte und die Worte fallen ließ:
»In dem einen Stücke muß ich Ihnen doch Recht geben: man ist nicht der Schmied seines Glücks. Man ist der Narr seiner Gedanken und der Spielball fremder Launen . . .«
»Sie übertreiben auch jetzt!« unterbrach sie Fridolin.
»Nein!« rief sie und richtete sich empor. Ihr Angesicht, darauf die Flamme von unten irrende Lichter warf, hatte einen Ausdruck seltsamer Wildheit, deren Fridolin seine schöne Muse früher nie für fähig gehalten hätte.
»Nein!« wiederholte sie. »Wär' ich bei Laune, ich erzählte wohl eine Geschichte, die Sie eines Besseren belehren könnte. Die Geschichte eines thörichten Mädchens, das sich vermaß, aus freier Wahl und eigenem Rechte den Mann zu wählen, den sie unter Tausenden für ihrer würdig erachtete. Sie wähnte sich von ihm geliebt und wollte sein gehören, allem Widerpart zum Trotz, der von den Umständen, von den Verhältnissen, von des Hauses Sitten und selbst von ihrer eigenen Verwandtschaft gegen diese Verbindung aufgebracht wurde.
»Dieses Kind überwand Berge von Schwierigkeiten, sie achtete weder Brauch noch Warnung, sie 217 zerriß den Bann der Scheu, welcher Mädchen zur Religion gemacht wird – nur, um dem Mann gehören zu dürfen, den sie liebte, von dem sie sich geliebt wähnte.
»Und eines schönen Tages – lang nachher – erfuhr sie – aber lachen Sie mir nicht in's Gesicht – sie erfuhr, daß diese Berge, die sie gigantisch überwunden hatte, unbewußt nur von ihr selbst waren zusammengetragen worden, daß dieser Mann niemals im Leben daran gedacht hatte, sich um ihren Besitz zu bemühen, und daß ihr eigener Wunsch nichts mehr und nichts weniger als die Folge einer Kombination und Komödie ihrer sehr sorgsamen Frau Mutter gewesen war, welche eben diesen Mann in's Haus gelockt, welche ihm ein saures Gesicht gemacht hatte, um die eigensinnige Tochter nicht zu disgustiren, nicht hinter die Wahrheit kommen zu lassen, daß die vorsichtige Mama sich gar keinen besseren Schwiegersohn wünschte, als eben denselbigen, den sie der Tochter anscheinend zu verleiden trachtete.
»Dieses Mädchen hatte in dem Wahn, ihr Glück mit eigener frevler Hand zu schmieden, wie ein Gott geschwelgt. Sie hatte sich und Alles, was gut an ihr war, dem Mann ihrer Wahl mit einer Seligkeit hingegeben, die keine Grenzen kannte, sie lebte in einer Welt des Wahns und der Selbsttäuschung so glücklich wie ein Kind des Märchens im Nixenschloß 218 unter dem Wasser . . . Und eines Tages, mein weiser Philosoph, mußte sie sich von der ersten Besten, die sie zufällig von der Straße aufgelesen hatte, sagen lassen: ›Der Mann, den Du Verblendete mit einer That eigensinniger Gewalt an Deine Seite gefesselt hältst, ist Dir nur aus Mitleid gefolgt, um Dich nicht vor aller Welt zu beschämen, denn er liebt Dich nicht, er ist nur großmüthig und gutmüthig. Aber wenn er je geliebt, so warst Du es nicht, sondern eine Andere, mit der er jahrelang Thür an Thüre gehaust, die ihn vergöttert von klein auf, die singend sein starres, langsames Herz gerührt – Du kannst Dir denken, wen ich meine! Durch Dein wildes Thun hast Du nicht nur Dich selbst unglücklich, lächerlich und bemitleidenswerth zu gleicher Zeit gemacht. Du hast auch Zwei, die für einander bestimmt waren und sich ohne Dein freches Dazwischentreten für's Leben gefunden hätten, für's Leben zu Halbheit und Lieblosigkeit verdammt!‹
»So hieß der Richterspruch auf die Thörin, die den schweren Schicksalshammer über dem Amboß ihres Lebens hatte schwingen wollen und täppisch nur jede Möglichkeit, glücklich zu werden, zerschmettert hatte.
»Nein, es ist nicht Jeder Schmied, wer will! Nein, es wird auch nicht Jeder toll, wer mag! Leider nein!
»Aber wie es zugeht, daß man nicht toll wird, 219 . . . Gott verzeih' mir das frevle Wort! . . . Ich begreif' es nicht.«
Sie sank in einen Stuhl neben dem Feuer, beugte das Haupt tief herab und faltete die Hände.
»Ich meint' es am besten zu machen, wenn ich mit dieser Wissenschaft, wie sie mir geworden, mich beiseite drückte, so viel ich konnte, und jene Beiden sich selbst, ihrem Herzen und ihrem Gewissen überließ. Sie konnten sich nun lieben, sie mußten sich lieben, ich war wahnsinnig genug, um Gott darum in Gebeten anzuflehen, daß sie sich bald umarmen möchten!
»War das kein wahnsinniger Gedanke?
»Je nun, er war's doch, der mich vom Sterben abhielt.
»Aber ich konnte den Pakt, den ich mit meinem Schicksal eingegangen, nicht zu Ende führen. Ich vermocht' es nicht immer, still bei Seite zu stehen, wenn mich Niemand beargwohnte. Ich fühlte, wie in dem Herzen meines Mannes das bischen Neigung, das er für mich gezeitigt hatte, abstarb; ich konnte jeden Tag das Schwinden dieser kargen Liebe zählen; ich sah endlich, daß ich ihm nichts mehr war als eine Last, ein Unglück, ein Vorwurf. Ich sah, wie ihm die Nebenbuhlerin mit jedem Tage mehr wurde. Ich sah, ich hörte es allenthalben, wie man ohne sie nicht weiterzuleben wüßte . . . 220 Was ich eingeleitet, erfüllte sich, was ich angerichtet hatte, vollendete sich, meine gewollte Sühne ward zu einer Marter, die mich mit keiner Qual verschonte . . . Ja doch, aber ich war zu schwach, zu elend, zu sehr Weib, um in meinem Schicksal zu bestehen. Ich konnte nicht tragen, was ich mir aufgebürdet hatte, ich kroch und spähte, ich schlich herum und horchte und ward kleinlich, mit kleinlicher Eifersucht und elenden Flüchen, mit Gehässigkeit und Eifersucht ganz vollauf angefüllt. Und in dieser Hölle, die ich selbst um mich geschaffen hatte, verlor ich mich selbst, meine Hoffnung und meine Achtung.
»Ich bin ein elendes Ding, ein Nichts von einem Weibe, schlechter als eine Wahnsinnige. Ich weiß nicht, wie ich mich nennen soll. Aber es ekelt mir vor Allem. Und endlich dieser schale Ausgang einer heillosen Geschichte, dieß Wegbringen der Nebenbuhlerin mit Gewalt, dieß Auseinanderreißen einer Fügung, das keine Lösung, keine Sühnung, keine Befreiung, keine Ueberzeugung in sich führt, sie widert mich noch mehr an als alles Vorhergegangene . . .
»Und nun wollen Sie das letzte Ende wissen?
»Das Herz bleibt ein Thor, so lang es schlägt. Nach all' dem Brüten und Sinnen und Träumen und Veranlassen, nach all' dem Wahnsinn in Gedanken und Thun bleibt das Herz auf dem einen 221 Verlangen nach wie vor stehen, das Einzige zu sein, das Jener lieben darf und muß.
»Es kommt ein Mensch daher und sagt: Ein Mittel heilt Alles! das Mittel ist die Pflicht. Die Pflicht der Hausfrau. Man glaubt noch einmal. Das Närrchen Herz glaubt ja so gerne! Und nun facht man die große Flamme des häuslichen Herdes an und in ihrem Schimmer geht ein Wahn über das Herz, der Alles vergoldet, Alles, Recht und Unrecht, Haß und Liebe, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, vergoldet und verschmilzt und in ein einzig Wünschen, Beben und Verlangen aufflackern läßt, das wie Gebet die Seele wärmend anfüllt und doch nur Wahnsinn ist, Wahnsinn, sag' ich Ihnen, Wahnsinn und weiter nichts!
»Ein paar Minuten Glanz und Herrlichkeit . . . eine Augentäuschung, eine Sinnestäuschung . . . dann stürzt die ganze Zauberlohe in sich zusammen, Zunder und Asche stäubt um Haupt und Brust und vor der entgötterten Seele steht ein lügebereiter Mann, der sich aber Ehren halber noch gerade zur rechten Zeit besinnt und gesteht: ›Nein, ich liebe nicht eigentlich Dich, sondern eine Andere; aber weil man für gut befunden, die Andere mir aus dem Wege zu räumen, so, weißt Du was? wollen wir Zwei in Gottes Namen wieder mit einander anbinden und, da wir verheirathet sind, wird's uns die Welt gern 222 glauben und am Ende glauben wir's selber der Welt. Und warum nicht?
»O pfui über solchen Lohn der Pflicht! Pfui über solch' Schmiedewerk! Pfui über Alles und vor Allem über mein schwaches Herz!
»Gehen Sie! Ich bitte Sie, gehen Sie! Halten Sie mich für klug oder aberwitzig . . . gleichviel! Lassen Sie mich um Gottes willen allein!«
Sie sank in den Stuhl zurück und bedeckte das Angesicht mit dem Tuch in ihren Händen.
»Ich will Sie allein lassen, gnädige Frau,« sprach Fridolin. Er machte aus seiner tiefen Erschütterung kein Hehl. »Ich glaube selbst, daß Ihnen Ruhe vor Allem nöthig und heilsam sein wird.
»Nur die wenigen Worte lassen Sie mich noch sagen und glauben Sie, daß dieselben aus einem selbstlosen Freundesherzen kommen, das sein Leben nicht zu kostbar dünken würde, wenn es zu Ihrem Glück zu opfern stünde. Sie empfinden heftig, leidenschaftlich, aber natürlich wie Einer. Keine andere Raserei spricht aus Ihnen, als die Liebe. Die lodernde, unbefriedigte, ungebändigte Liebe.«
Leonilla sprang empört von ihrem Stuhl empor. Aber sie, die in einem Zuge so viel gesprochen hatte, war jetzt keines Wortes mehr mächtig. Nur ihre zornigen Augen wollten den treuen Knecht Lügen strafen.
Doch der fuhr unentwegt fort: 223
»Ja, ich sage es Ihnen auf den Kopf zu: Sie lieben Ihren Gatten nach wie vor mit derselben, vielleicht mit einer besseren Glut, als in den Tagen scheuer Mädchenandacht. Sie haben es ja selbst gestanden und nichts ist natürlicher.«
Leonilla unterbrach ihn, aber nur mit einem wilden Gelächter, das sich in der That wie das einer Tollen anhörte.
»Spannen Sie die Saiten nicht über Gewalt an,« sprach Fridolin, schon die Hand an der Thüre. »Man kann sie verstimmen, ohne sie zu zerreißen, und zerreißt sie auch vielleicht, indem man nur eine Stimmung sucht. Wohl ist auch brennende Liebe eine Art von Wahnsinn. Aber etwa so, wie der Schlaf eine Art von Sterben ist. Man wird von beiden geheilt, und auch hier ist oft das Erwachen nicht schöner, als der Traum war. Aber wie gesagt, man wird geheilt davon.
»Was den richtigen, den echten Wahnsinn anlangt . . . Mein Gott, wenn er durch krause Reden bewiesen würde, wären wir Alle mehr oder weniger des Aberwitzes schuldig. Aber Wahnsinn äußert sich nicht so fast im Reden, sondern im Handeln.
»Blicken Sie mich nicht so herausfordernd an. Bei Allem, was Sie Wunderliches auch gethan, war ein gewollter, ein genau gewollter Zweck dabei. Wären Sie einer That des blanken Aberwitzes fähig? 224 Die Hand ans's Herz! Einer That, bei deren Beweggründen zweimal Zwei nicht mehr Viere wären? Sie? Leonilla Frau von Waldenberg? Mit nichten!
»Sie sind gesund und klug. Schlagen Sie über der Vergangenheit ein Kreuz und versuchen es, mit Klugen und Gesunden auszukommen und fortzuleben, wie's Gott gefällt. Amen!«
Er ging.
Es kam Leonilla wunderlich vor, wie sie den unverdrossenen Gast, der sie so lange wider Willen belästigt hatte, nun auf einmal nicht mehr reden hörte.
Es war ihr zu Muthe, als sei nun auch der letzte Mensch von ihr gegangen, der es mit ihr gut gemeint hatte. Ja, so wunderlich er war, der meinte es gut! Was half es ihr! Was konnte ihr überhaupt noch helfen? Nichts!
Sie zuckte die Achseln. Es schauderte sie so sehr in dieser Einsamkeit. Es ward ihr immer frostiger. Sie schob sich einen Schemel dicht an den Kamin und setzte sich daneben auf den Teppich.
Die Wärme, die sie anstrahlte, that ihr wohl. Sie warf ein Scheit nach dem andern in die Glut. Eine mächtige Flamme beleckte die Wände des Kamins mit prasselnden Zungen, und in ihrem Glanze saß das schöne Weib und wärmte sich und sah in den weißzuckenden Kern des Gestrahls und machte sich Gedanken. 225
Seltsame, zuckende, glühheiße Gedanken.
Sie sagte sich, daß Alles aus war, Glück und Hoffnung. Zu ihrem Gatten gab es keine Wiederkehr. Sie wußte das genau. Sie kannte seine Art. Nach den heutigen Worten war Alles vorbei. Sie konnten Beide nicht vergeben. Wozu auch? Er liebte sie ja nicht einmal mehr . . . Und weil sie ihn noch liebte –
Sie preßte die Stirn in beide Hände. War es denn wahr, daß sie ihn noch immer liebte? und mehr denn je? Der thörichte Mensch vorhin hatte es ihr in's Gesicht gesagt. Und er hatte Recht. Das war das Peinlichste.
Sie hätte sich dieß Gefühl aus dem Herzen reißen mögen; hätte sie nur gewußt wie, kein Schmerz sollte die Freiheit zu theuer erkaufen. Aber sie wußte wohl, dieß Gefühl war nicht von ihr zu lösen, war mit ihrem ganzen Sein und Wesen Eins, war sie selbst.
Unwürdig schien's ihr, es zu dulden, und unmöglich, es zu lösen. Sie litt in der Seele unsagbar.
Sie fühlte, daß eine übermäßige Hitze im Zimmer war. Aber sie fühlte das gleichsam äußerlich, nur auf der Haut, im Innern fröstelte sie's noch immer, als wäre das Blut in ihren Adern auf ein winzig Maß zusammengeschwunden. Sie rückte noch näher an das Feuer heran, so daß sie fühlte, wie 226 die losen Löckchen über ihrer Stirn in der warmen Luft zu zittern begannen.
Den Ellenbogen auf dem Knie, das Kinn in der Hand, starrte sie in die breite, auseinander züngelnde Flamme.
Wie weiß das Licht war! So ähnlich wie diese weiße Flamme, in der nur ein leises Weben, nur gleichsam Bewegung ohne Körperlichkeit wahrzunehmen war, so ähnlich war die Lücke in ihren Gedanken, die ihr so oft erschienen – früher öfter als jetzt, jetzt so lange nicht mehr. War dieß auch ein Aufbrennen geistiger Stoffe? ein flammendes Verzehren von Gedanken und Vorstellungen, das nur ein bischen Seelenasche hinterließ? Und konnte dieß Feuer nicht wie ein anderes um sich greifen und das ganze Denken verkohlen, die ganze Seele verzehren?
Das einsam grübelnde Weib schloß die Augen fest und versuchte, jenes wunderliche Symptom nervöser Schwäche in ihrer innern Wahrnehmung hervorzurufen mit Willen, jenen weißen Fleck, an dessen Seiten Vorstellungen und Gedanken abrissen und es wie blankes Nichts über die ringende Seele kam und sie bedeckte.
Aber es gelang ihrem Willen nicht. Ob sie die Augen schloß oder öffnete, sie sah immer nur die leibhaftige Flamme vor sich, das prasselnde Geflacker auf kohlschwarzem Grund, vom weißen 227 Marmormantel schön umrahmt, darin das Licht sich rosig spiegelte.
So ließ sie die Augen offen und stierte nach wie vor in's lohende Element und schürte die Flamme mit dem Haken in ihrer Hand.
»Nicht im Reden, im Handeln.« Das Wort Fridolin's kam ihr immer wieder. »Ein Thun, das kein zureichender Grund bewegte, ein Thun, in dessen Beweggründen zweimal Zwei nicht mehr Viere waren – war sie dessen wirklich nicht fähig? – War es Niemand fähig? – war es nicht Jedweder?
Bei diesen Gedanken stieß sie unwillkürlich einmal heftiger in die Flammen. Das morsche Holz barst entzwei und das just noch so hochaufschlagende Feuer brach in sich zusammen und züngelte nur mehr bis an die halbe Höhe des Kamins.
O, das Feuer durfte nicht so bald erlöschen. Sie wollt' es vielmehr die ganze Nacht unterhalten und dabei grübeln und träumen. Von Schlafen war ja doch keine Rede. Und vor dem Frieren fürchtete sie sich unaufhörlich, selbst neben dieser Glut.
Sie sah um sich. Im Korbe war kein Holz mehr. Da und dort las sie noch so ein Restchen Späne auf mit suchenden Fingern. Die karge Nahrung hielt nicht lange vor.
Da war Papier von ihrem Schreibtisch. Der angefangene Brief an ihre Mutter . . . In's Feuer 228 mit dem Kram! Wozu noch viel Frag- und Antwortspielen mit der ängstlichen Mama! War's nicht einfacher, kurzweg, ohne viel Vorbereitung, zu ihr zu reisen?
Reisen? Sie? Es machte sie lachen. Es war ihr, als würde sie nie wieder diese Stube verlassen. Es war ihr, als wollte sie sich nie von dieser schönen Flamme trennen. Nie!
Aber schon wieder sank die karg genährte. War denn nichts weiter zur Hand, das man in den Kamin werfen könnte?
Ein Päckchen alter Briefe, Freundesbriefe mit blauem Seidenband umwickelt. Und hier die Orlandobiographie, vom Verfasser der »Schwimmenden Sterne« . . . mit dem Widmungsgedicht an Jene.
Der Tochter, dir, die du des Vaters Hände . . .
Sie wollte nichts mehr davon wissen. Hei, wie flog Eins nach dem Andern über den Rost! Da blitzten sie auf, die dummen Verse! Und nun waren sie nichts mehr als irrende Fünkchen im Zunder.
Wie lange konnte das vorhalten! Mit einer seltsamen Schadenfreude ging Leonilla in ihrer Stube hin und wieder und suchte nach Diesem und faßte Jenes an, was sie brennbar und entbehrlich dünkte. Mit was für wunderlichen Dingen wurde der Kamin der Frau von Waldenberg gespeist! 229
Und warum nur mit entbehrlichen? Das verfluchte Einmaleins!
Da stand ihr ein zierlich Stühlchen im Wege. Versuchsweise legte sie's um und trat darauf mit aller Kraft. Es hätte soviel Anstrengung nicht bedurft, um die schlanken Füße zu brechen. Ritsch, ratsch! Da flog die feine Tischlerarbeit – ein Fund des alten Kenners Thassilo – den Versen Fridolin's nach in's heiße Sterben.
Leonilla sah stier darein. Verwunderte sich über sich selbst und freute sich über die aufwachsende Flamme.
Nur weiter so! . . . Was weiter?
Sie sah rund um sich. Es kam ihr Alles so losgelöst, so verächtlich, so erbärmlich vor. Sie selbst sich nicht minder. Machte Verzweiflung doch schließlich rasend? oder – machte sie nur schlecht?
Was schlecht? Sie dachte ja nichts dabei! meinte, nichts mehr zu denken. Waren denn zweimal Zwei nicht Fünf? Lustig!
Sie ward aber nicht lustig. Der furchtbarste Jammer faßte sie immer erbarmungsloser mit zerfleischenden Krallen an. Sie wollte los davon, los um jeden Preis, los in die Arme der Vernichtung.
Denken war ihr wirklich lästig.
Und konnte man das Denken nicht abthun, so konnte man das Unsinnigste mit Bewußtsein thun – war's dann nicht auch Wahnsinn? 230
Die Flamme leckte so schön in die Höhe.
Wenn man sie wachsen, um sich greifen, ungeheuerlich machen konnte, war's nicht noch schöner?
Wenn . . . wenn . . . wenn . . .
Wenn Leonilla ihre Stube in Brand steckte, wenn sie ihrem geliebten Mann das Haus über dem Kopf ansteckte und selbst darin verbrannte oder erstickte . . .
Da war der unsinnige Gedanke! Der kaum geborene überwuchs sie mit Riesengewalt. Sie stand ihm gegenüber, schaudernd, bebend, starr. Aber wie aus dem Schlaf geschreckte Tauben, von einer Feuersbrunst angelockt, über den Flammen hoch im wirbelnden Rauche kreisen und nicht mehr sich loszureißen vermögen und immer enger, immer näher kreisen, bis sie das Verderben magnetisch packt und sie hinunterstürzen in die Glut, so erging es ihren Gedanken. Sie waren hin und sie that und bewegte sich wie eine Maschine, wie eine Trunkene, einem unsichtbaren Stachel, einem verkehrten Triebe folgend, nicht wissend, nicht wissen wollend, was sie that, ein Opfer stiller Verzweiflung.
Da war ein Bündel Wäsche in ihrer Hand – wo hatte sie's herbekommen? Sie wußt' es nicht mehr. Todesangst in allen Gliedern, hielt sie's doch in den Kamin.
Die Flamme schlug um ihre Hände, früher als sie's gedacht hatte. O, was war die Flamme heiß! 231 Sie warf das lodernde Bündel weit von sich. Warf es unter die eigene Bettstelle und lauerte nun mir verhaltenem Athem und gespannten Blicken, was es dort unten anrichten würde.
Ein zackiger Schein ging unter der niederen Stelle aus. Man roch die versengte Wolle vom Teppich. Aber im nächsten Momente schien der Lichtschimmer auch schon kleiner und schwächer zu werden.
Auch das Feuer im Ofen war zusammengebrochen, nur die glühenden Kohlen gaben noch Glanz von sich. Es ward mit einem Male dunkler in der Stube, als es seit Stunden gewesen war.
Wie, sollt' es mißlingen, das freventliche Unterfangen? Fürchtete Leonilla, daß es mißlänge?
Sie konnte sich nicht von der Stelle regen. Das Maß ihrer Willenskraft schien nach der widersinnigen Anspannung ganz erschöpft.
Eine unaussprechliche Befangenheit klammerte sich immer umfassender an ihr empor. Sie war wie gebannt, wie gelähmt; hätte sie schreien wollen, sie konnte es nicht. Sie konnte sich nicht rühren. Sie fühlte nur, wie ihr Herzschlag sich zu verdoppeln, zu verdreifachen schien.
Da zuckte auf einmal eine breite Flamme zu Häupten ihres Bettes empor und sprühende Funken, Zunder und Lohe fuhren knisternd nach allen Seiten davon aus.
Leonilla sah's. Weitauf klappte der Mund, aber 232 es kam kein Ton daraus. Sie fiel mehr als sie taumelte und lag schon mit dem Rücken an der Wand gegenüber und starrte so hin, wie die Glut mit rasender Geschwindigkeit das Bett der Länge nach auffraß, wie sich zu Häupten desselben die Tapeten schwarz färbten, wie ein Kohlenstrich sich, rauchüberwallt, flugs bis zur Decke hinaufrollte und dann ganz oben unter der Gypsverkleidung ein Flämmchen aufschlug, bläulich und kaum größer als das über einem Lampendocht.
Aber in der nächsten Sekunde stand die ganze Querleiste droben in einem Brand und es knisterte wie Stroh und krachte, wie Späne auf dem Herde krachen, und der Rauch, der von oben nach unten und von unten nach oben, von und nach allen Seiten blies, der wachsende Rauch und die wachsende Hitze wurden immer fürchterlicher, immer unerträglicher.
Leonilla troff der Schweiß über's Angesicht. Sie meinte zu ersticken. Sie meinte, daß sie auf einmal aller Gliedmaßen wieder Herr geworden sei, daß es ihr nur an Herzhaftigkeit fehle, bis zur Thüre zu laufen und um Hülfe zu rufen. Aber sie lief nicht und rief nicht, und lag an der Wand starr und stumm wie ein Steinbild des Entsetzens.
Von der Thüre stand sie weit ab und zwischen ihr und der Thüre brannte das Bett lichterlohe, brach jetzt zusammen und streute nun seine Fetzen und sein 233 Feuer nach links und rechts, Kohlen und Flämmchen bis an ihre Füße rollend.
Funken wehten in der Luft und flogen wie Glühwürmer dorthin und dahin. Staunend sah sie im nächsten Augenblick eine weiße Haube, die an einem Wandleuchter neben dem großen Spiegel hing, flackern und wie ein Papierschnitzel aufbrennen, obwohl sonst keine Flamme noch an jener Schmalwand zu sehen gewesen. Da war die Haube schon spurlos verschwunden. Erstaunlich!
Erstaunlich, daß sie noch staunen konnte.
Staunen und fürchten. Was war das an ihrem Herzen, der entsetzliche Schmerz! O, welch' ein Schmerz! Er machte sie schreien. Sie meinte doch, sich schreien zu hören. Aber sie hörte tausenderlei Geräusch in ihren Ohren. Lodern, Wabern, Pochen, Knallen, Murmeln, Gurgeln und jetzt über Allem einen schrillen Klang.
Sie sah's: das Glas des großen Spiegels barst entzwei. Schwarze Linien furchten drüber hin wie ein Spinnennetz. Und jetzt klirrte es auch wie splitternd Glas von der andern Seite.
»Glück und Glas!« konnte sie noch denken. Und jetzt lief es ihr mitten in der Gluthitze eisig kalt von den Fingerspitzen und den Zehenspitzen in den Körper hinan, bis an's Herz und klammerte sich da fest. Ach, so fest! 234
Sie wollte fort . . . auf . . . hinaus . . . rufen . . . Waldemar . . . Hülfe . . . Da, da war der weiße Fleck in ihrem Denken! Blaß wie das Herz einer großen, um sich greifenden Flamme. Er fraß Gedanken und Vorstellungen auf. Die Dinge rings um ihre Augen verschwanden. Die Lichter ihrer Augen sprachen nicht mehr zu ihrem Gehirne. Weiß, weiß, Alles weiß, wie fallender Schnee die Erde begräbt . . . weiß und kalt . . . kalt und weiß . . . Nichts!
Leonilla lag da, von Glut umsprüht, die Funken flogen über sie, die Flammen leckten über den Teppich nach ihren Kleidern. Ein Fenster flog klirrend in den Hof hinab. Die Möbel barsten. Die Nacht wurde laut.
Leonilla lag da und athmete nicht mehr. 235