Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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X.

Es litt Fridolin nicht länger in diesem Hause. Eh' die Hähne krähten, tastete er sich die Treppe hinab. Die Nacht war kühl, aber klar; die Nebel, die sich aus dem Abend gesponnen, waren gegen Morgen alle verweht. Gerade wie der Reisefertige über die Schwelle schreiten wollte, hörte er im Hause drinnen eine Wanduhr schlagen. Er horchte, aber versäumte doch dabei, nachzuzählen, welche Stunde sich verkündigte. Was lag auch daran, wie er an der Zeit war! Für das schöne Weib, das ihm das herrlichste Geschöpf dieser Welt gewesen, war die Uhr ein- für allemal abgelaufen. Er hatte keinen andern Gedanken mehr als den, der Freundespflicht zu genügen. Erst Basilius Bolle's Spur und Schicksal entdecken; dann wollte er nach Waldenberg zurück, um der schönen Frau die letzten Ehren zu erweisen.

Und dann?

Er wußte nicht was dann. Sein Leben war nicht auf lange Aussichten eingerichtet. Er sah für jetzt 251 nicht weiter, als auf den Waldenberger Kirchhof. Hinter Leonilla's Grabe schien auch sein Schicksal von tausend Schleiern verhüllt. Den großen, den heiligenden Schmerz für's ganze Leben, den schien er ja nun wegzuhaben. Auch für dieß nothwendige Requisit eines wahren Künstlers hatte seine blasse Muse gesorgt.

Auf der Schwelle blieb der treue Knecht noch einmal stehen und horchte wieder hinter sich in's Haus hinauf. Es rauschte oder knisterte so seltsam in der tiefen nächtlichen Stille. Es war, als kicherte ganz hinten in irgend einem überwölbten Winkel der Hausgeist, der auf einem Balken oder Simse sein Nachtquartier haben mochte.

Oder war's eine Katze, die Fridolin's noch so vorsichtiger Schritt aus dem Schlaf gestört hatte? Oder nur der fallende Staub? Oder der späte Wiederhall seiner Tritte? War's das aufgeregte Blut in seinen eigenen Ohren? Oder war's der Elfenkönig Oberon, der in solcher Frühe vor dem ersten Sonnenschimmer über diese Schwelle, diese Gänge zu Titanien fuhr?

Fridolin sah zurück und strengte sein Gehör an. Es war aber Alles wieder mäuschenstill.

»Lebt Alle wohl, Geister und Menschen!« sagte der Scheidende, aber er sagte es nicht laut.

Dann trat er in's Freie hinaus. Es 252 überschauerte ihn in dieser Kühle. Seine Brandblasen schmerzten empfindlicher. Er sah gen Himmel, seufzte und schritt weiter. Es war noch nicht Tag, aber es konnte nicht mehr allzu weit von Tagesanbruch sein. Noch war Finsterniß auf der Erde; allein am östlichen Horizonte verblaßte die Nacht bereits. Ein wunderbares Farbenspiel, ein bleichgrün-goldig Lichtahnen säumte allgemach den Himmel, an dem die Sternbilder verschwanden bis auf eins.

Fridolin hielt traurige Zwiesprach mit dem Morgenstern. Aber sie hatten einander nicht viel Tröstliches zu sagen, oder sie verstanden einander nicht recht.

Raschen Schrittes ging nun Löwe des Stromes Lauf entgegen. Er schaute sich nicht um, wohin die Wellen floßen.

Erst an der Planke, wo seinen Freund Basilius die Kugel Waldemar's getroffen hatte, hielt er still und besah das alte wurmstichige Holz, als könnt' er von ihm einen Wegweiser oder sonst was Gescheidtes ablesen.

Dabei zog er sein Taschenmesser und schnitt sich von der obern Kante – da just, wo vorgestern seine aufliegende Hand blutig gefärbt worden war – einen langen Span.

Aber er war mit ihm keine fünf Schritt weit gegangen, als er, noch einmal das Haupt schüttelnd, stehen blieb. 253

Und nun schaute er doch zurück. Das Dach der Waldenberger war, vom ersten Frühlicht angeblaßt, über dem dichten Gesträuch am Ufer gerade noch sichtbar. Fridolin sah deutlich im Dach eine Lücke, und es war jetzt schon hell genug, um der Kohlenschwärze gewahr zu werden, welche dem unregelmäßig gezackten Schaden die Färbung eines Schornsteins verlieh.

Da stieg er dicht an's Ufer hinab und warf den langen blutfarbigen Span in's fließende Wasser.

Mochte ihn die Welle waschen, die ihn drehend weiter trug, Waldenberg zu.

Fridolin trat jenseits des Zauns in den Busch und verschwand im jungen Grün, eben da der erste Sonnenstrahl über den Himmel blitzte. –

Nachdem er an zwei Stunden den Wald nach gangbaren Wegen durchsucht hatte, kam er am andern Ende auf die Landstraße.

Dort holte ihn nach geraumer Zeit ein Bauernwagen ein. Auf diesem konnte er etliche Kilometer weit fahren, eine unverhoffte Wohlthat, die dem abgemüdeten, aufgeregten Manne sehr erwünscht war. So heftig das Gefährte stieß, so laut die Musik von Rädern, Achsen, Ketten und Radschuh ihm auch vor den Ohren toste, er schlief doch auf den Säcken dort wie selbst ein Sack. Der Kutscher hatte Mühe, ihn zu erwecken, als sie am Scheideweg hielten. 254

Also in Gottes Namen wieder herunter und wieder auf die Beine! Das Städtchen war, wie der Fuhrmann versicherte, von dieser Kreuzung im Walde nicht viel weiter als eine halbe Meile.

Dort meinte Fridolin die Spuren der Verschwundenen finden zu müssen. Und so empfindlich ihn das Herz und die Arme und die Füße schmerzten, er schritt doch ziemlich rüstig aus. Die Sonne hob sich über dem Walde.

Auf der Landstraße ballte der Wind den Staub in die Höhe und die Sonne schien darein. Es sah nicht anders aus, als bliesen muthwillige Unsichtbare sandiges Gold in die Luft. Alles, was Einem entgegenkam, sah von ferne wie in einen Heiligenschein gekleidet aus. Je näher aber die Leute kamen, desto mehr thaten sie von dem sonnigen Schimmer ab und wurden immer irdischer und dunkler, und wenn sie endlich an Einem vorübertrotteten, waren es müde, geplagte, gemeine Menschen, wie der Begegnende auch. Die Einen sangen, die Anderen fluchten, die Einen eilten, die Anderen säumten, die Einen grüßten, die Anderen blickten, nur ihrer Plage lebend, vom Boden nicht auf. Aber Alle gingen vorüber und Keiner sah aus, als hätt' er Fridolin sagen können, wo Bolle's Sohn und Orlando's Tochter geblieben waren.

Wenn der treue Knecht ungeduldig werden, wenn er vor Schmerz und Unbehagen sein Bündel in den 255 Staub und sich selbst in den Graben am Wege werfen wollte, dann dacht' er an den armen Waldemar von Waldenberg, seufzte und trug sein geringeres Theil weiter in den wachsenden Tag hinein.

Eilig hob sich die Sonne. Zwischen dem frischen Grün der Bäume blinkten ihre Strahlen nun wie Millionen goldener Spieße. Die Augen gingen Einem über vor dem wachsenden Glanz. Und kam Einem jetzt Einer von Aufgang her entgegen, der erschien mit allen Regenbogenfarben gesegnet.

War das nicht ein Weib, das also von Sonnenstrahl und Morgenluft gezieret Fridolin entgegenwanderte? Noch war es fern, aber man erkannt' es am wallenden Gewande, daß es ein Frauenzimmer war, welches so rüstig, ja hastig fast, am Waldessaume daherschritt.

Da sie näher kam, sah Fridolin, daß sie dunkle Kleider und keinen Stab, keinen Schirm, kein Bündel in der Hand trug. Nur ein weißes Taschentuch bedeckte ihr Haupthaar und Wangen. Man konnte das Gesicht kaum sehen. Aber Fridolin erkannte sie am Gang, an Haltung und Gestalt und vertrat ihr den Weg, sobald er konnte.

Die Kommende hatte des Andern nicht geachtet. Sie schrak jetzt zuckend zusammen, als sie plötzlich einen Mann vor sich stehen sah und eine wohlbekannte Stimme guten Morgen bieten hörte. 256

»Wohin des Wegs, Fräulein Bettina?« rief der treue Knecht, dem alle Sorgen wach wurden, wie er das Mädchen so allein vor sich sah und nicht mit heiterer Miene. »Was ist aus Basil geworden? Wo haben Sie ihn gelassen? Er lebt doch noch? Aber um's Himmels willen, Fräulein Hunzelsperger, so reden Sie doch!«

»Sie lassen mich ja nicht zu Worte kommen,« versetzte das Mädchen, etwas gezwungen lächelnd. »Herr Bolle lebt und liegt bei dem Arzte des Städtchens, der seine Wunde behandelt und ihn beherbergt.«

»Und er ist schwer verwundet?«

»Ein Streifschuß über der Schulter. Soviel ich weiß, nicht eben schwer.«

»Soviel Sie wissen?« wiederholte Fridolin und sah dem unbegreiflichen Mädchen starr in's Gesicht.

Dieß Gesicht war sehr blaß, seine Züge schienen unruhiger als sonst und die Augen blickten seitwärts, während die Lippen redeten:

»Ich kann natürlich nur wissen, was mir der Arzt heute Morgen im Vorübergehen mitzutheilen für gut befunden hat.«

»So?« sagte der treue Knecht. »Und Sie fühlen sich nicht bemüßigt, den armen Teufel selbst zu pflegen, der um Ihretwillen diesen Schuß erhalten hat?«

»Ich habe Herrn Bolle durchaus nicht um diesen 257 Dienst gebeten, und wäre ihm wahrscheinlich dankbarer gesinnt, wenn er sich nie in meine Angelegenheiten gemischt hätte.«

»Bettina!« rief Fridolin und er schlug in seiner Aufregung unwillkürlich die Hände zusammen. »Wirklich, der brave Mann, der sein Leben für Sie freudig eingesetzt hat, der Freund Ihrer Kindheit, der Retter Ihrer Ehre – jawohl, Ihrer Ehre! hat kein schöneres Gefühl als diesen wilden, unbarmherzigen Trotz in Ihrem Herzen erwecken können? In jener Nacht, da Sie mit dem blutenden Mann durch den Wald flohen, auch da ist nichts über Sie gekommen, nichts, was wie Bewunderung und wie Mitleid an Ihr Herz griff?«

»Erinnern Sie mich nicht an jene Nacht!« rief Bettina und langte mit der Hand nach einem Baumstamm, dem sie zunächst standen. Sie legte das Gesicht auf ihren ausgestreckten Arm und also, halb abgewandt, halb ruhend, sprach sie weiter und Fridolin horchte mit klopfendem Herzen.

»Es war die schauderhafteste Nacht, die ich je erlebt habe. Dieß Tasten durch den stockfinstern Tann, ohne Wortlaut, ohne Führung, ohne Ahnung des rechten Weges, immer mit der Todesangst im Herzen, daß ein neuer Schuß den Menschen an meiner Seite ganz zur Erde strecken möchte. Dazu dieß stolze Schweigen, dieß Leugnen, getroffen und 258 erschöpft zu sein, bis ihn der Blutverlust zwang, sich auf einen Baumstrunk zu setzen und mich um Wasser zu bitten.

»Hundertmal glaubt' ich, er werde neben mir zusammenbrechen. Aber er hielt sich; es ist ein harter, starker Mensch!«

»Ein herrlicher, einziger Mensch ist er!« unterbrach sie Fridolin, und Bettina hatte nichts darauf zu erwiedern und sah unter dem Arm am Baume starren Blickes in das Moos, das sich an ihre Füße schmiegte. Dann fuhr sie fort:

»Der Rückschlag kam, als wir endlich einen Arzt aufgebracht hatten und Herr Bolle im geschlossenen Raume sich niederließ. Er sank zusammen. Ich mußte das Aergste fürchten.«

»Er ist in Todesgefahr?« unterbrach sie Fridolin.

»Er ist es nicht mehr,« antwortete Bettina, »ich hätte ihn sonst nicht verlassen.«

»Und warum verlassen Sie ihn überhaupt, so lang er leidet?«

»Wie dürft' ich bei einem Fremden bleiben? Er wird gut gepflegt. Was ist mir Herr Bolle?«

»Er ist des alten Eduard Sohn!« rief der treue Knecht, in Zorn aufflammend. »Er ist der Sohn des Mannes, der Ihnen Vater war, der Ihrem Vater sich treuer als ein Bruder erwiesen hat. Lassen Sie die kleinlichen Schicklichkeitsredensarten hier 259 beiseite. Gott sei's geklagt, wenn Ihnen selber der Jugendfreund nicht noch mehr geworden ist!«

»Ich bedaure!« erwiederte die Tochter Orlando's. »Aber ich habe Pflichten, die mich anderswohin rufen. Zudem sind Sie auf dem Wege zu Ihrem Freunde. Es ist nur ein Arzt im Städtchen. Sie werden ihn leicht finden. Ich wäre nun vollends überflüssig. Leben Sie wohl, Herr Löwe, und lassen Sie mich meiner Wege gehen!«

»Und wohin geht Ihr Weg, mein Fräulein? wohin ruft Sie Ihre Pflicht?«

»Nach Waldenberg!« sagte Bettina stolz und leise.

»Ah! nach Waldenberg?!« versetzte Fridolin nicht lauter als jene, aber seine Stimme zitterte so seltsam, daß das Mädchen ihn unwillkürlich in's Auge faßte und erst jetzt sein außergewöhnlich Wesen zu bemerken schien.

Er war einen Schritt zur Seite getreten und indem er ihr noch überdieß mit ausgestreckter Hand die Straße wies, daher er kam, sprach er:

»Gehen Sie nur nach Waldenberg. Der Weg ist frei!«

Bettina ging aber nicht an ihm vorüber, sie konnte das Auge nicht von dem Aufgeregten wenden.

»Wie befremdlich Sie das sagen, Herr Löwe . . . und wie befremdlich hat sich Ihr ganzes Wesen verändert! Warum haben Sie Ihr Haar so ungleich 260 gekürzt? Warum tragen Sie den Arm in einer Binde? Warum sind Ihre Augen so roth? Wo haben Sie Ihre Wimpern eingebüßt? . . . Löwe, martern Sie mich nicht länger mit Ihrem Schweigen! Reden Sie doch . . . Löwe, Sie sehen aus, als wenn Sie den Tod gesehen hätten!«

»Ich hab' ihn gesehen!« erwiederte Fridolin und die Augen füllten sich ihm voll Thränen.

Bettina schrie auf. Sie packte ihn am Arm, ohne zu bedenken, welche Qualen dem Wunden ihre klammernden Finger verursachen mußten. Sie zerrte an ihm und bat. Und er berichtete, anfangs gebrochen, bald fließend redend. Er sagte ihr fast Alles, was er wußte. Und da er zu Ende war, rief er ihr zu voll Bitterkeit:

»Nun geben Sie dem Gefühle, welches Sie vorhin Pflicht nannten, dem, welches Sie nach Waldenberg ruft, Namen, welchen Sie wollen. Es wird Ihnen keiner verwehrt werden. Der Pfad ist frei. Sie werden die Andere, die Ihnen den Weg zu Waldemar's Herzen und Hand verlegte, nicht mehr darauf finden. Zwei Tage noch, dann trägt man sie still beiseite und stellt sie in einen finstern Winkel, ihr zu Füßen ihre Wappen, ihr zu Häupten einen Stein, dort wird sie Niemanden mehr stören. Hausmütterchen kann getrost Hausfrau werden, wenn Ihr Herz Sie treibt oder . . . wie heißt's doch? Ihre 261 ›Pflicht‹ Sie ruft. Ei, so folgen Sie der lockenden Stimme doch! Sie werden diese selbst unter dem Zügenglöcklein, das Sie, dem Waldenberge sich nähernd, vernehmen werden, noch lockend hindurchhören. Gehen Sie doch vorwärts! Hierhin Ihr Weg, dorthin der meine! Es wird Basilius trösten. Glück auf die Reise.«

Er ließ sie stehen an der Landstraße und wandte sich nicht um. Er lief, was er konnte. Er hatte es so eilig, zu seinem siechen Fahrtgenossen zu kommen.

Bald sah er am fernen Straßenende eine Kirchthurmspitze hinter grünem Buschwerk und annoch kahlen Zweigen in den Sonnenglanz siechen. Dort mußte das Nest des wunden Freundes zu finden sein. Dort wollt' er sich hinlegen und auch seine Wunden pflegen und dem Andern den Trost geben, welchen er unterwegs für ihn aufgelesen hatte: daß Unwürdiges nicht zu halten und Verlorenes verloren sei. –

Derweilen saß Bettina im Moos unter dem grünenden Waldbaum, an derselben Stelle, wo Fridolin, der Jähzornige, sie verlassen hatte; die lang ausgestreckten Hände im Schooße gerungen, das Kinn auf dem schluchzenden Busen, saß sie da und dachte der schönen Frau Leonilla von Waldenberg und weinte bitterlich. 262

Die Zeiten flogen an ihr vorüber und manches gute Wort, mancher gute Ton mit ihnen. Sie hörte wieder das Wasser rauschen im Fluß und die Weiden darüber und sah der herrlichen Frau in's lachende Auge, die mit ihr rang aus Leibeskräften und sie im Leben festhielt und an ihrem Herzen. Dann hörte sie einen andern Fluß rauschen, über den das Dach der Waldenberger seinen Schatten warf, und sah dasselbe Weib nach seinen Wellen rasen – um ihretwillen.

Ein jäher Feuerschein zuckte durch ihre Sinne, durch ihr Gewissen. Und wie es nach einem Blitz in der Nacht nur finsterer zu werden scheint, so ward auch ihr Alles, was nach jenem Feuerstrahl noch zu bedenken, zu errathen blieb, in tiefere Räthsel gehüllt. Nur Eines war ihr klar: dorthin ging ihr Weg nicht! Sie durfte Waldemar nicht an der Bahre seines Weibes begegnen. Sie wollte ihm nie im Leben wieder begegnen.

Gab es für sie noch überhaupt einen Weg in's Leben zurück? Sie wußte es nicht. Sie fragte sich nicht darum. Sie hatte keine Heimat in der Welt mehr. Keinen Menschen, der ihr angehörte, dem sie angehören wollte. Keine Seele, die ihr so lieb war, wie ihr die süße, düstere, doch so liebevolle der schönen Tochter der Santalatona gewesen war. 263

Mittagshoch stand die Sonne. Bettina erhob sich nicht aus dem Moose. Der Schatten des Baumes kam über ihr Haupt. Und der Schatten wuchs allmälig über ihre Kniee, über ihre Füße hinaus. Sie aber saß nach wie vor am Straßenrand und weinte bittere Thränen, weinte um Leonilla von Waldenberg. –

Derweilen kauerten in des menschenfreundlichen Landarztes Stube Fridolin und Basilius neben einander. Der Sohn des Këyx wollte von des treuen Knechtes Trost nichts wissen. Ihm kochte das Blut noch von Haß und Liebe. Manch' wildes Wort, das ihm in Groll und Fieber entfuhr, wollte Fridolin vor keinem Menschen wiederhören lassen.

Auch Fridolin schüttelte das Fieber. Der Arzt hatte ihm auf seine Brandblasen lindernden Verband gelegt und ihn stille liegen heißen und schweigen.

Da hockten sie denn Beide und rollten die Augen und klapperten mit den Zähnen und schliefen endlich in Schmerzen und schattenhaften Phantasieen ein. Die Fäuste geballt, die Lippen verbissen, lehnten sie aneinander. Ihr Athem dränte und ihre Züge zuckten zuweilen. Aber sie schliefen fest.

Ein anderes Ende, denn sie gedacht, hatte der Genossen Ausfahrt gefunden. Wenn sie es nun verschliefen, war's ihnen Beiden das Beste.

Sie schliefen in den Abend hinein und machten 264 keine Miene zu erwachen, da der Arzt vorsichtig in die Krankenstube guckte.

Auch da die Thüre nach einmal aufging, erwachten sie nicht. Es war schon fast dunkel. Nur in den Scheiben des offenen Fensters lag noch ein bischen Abglanz fernen Abendgoldes und ein Schimmer davon fiel auf ein lichtblondes Mädchenhaupt zurück und küßte die losgegangenen Löckchen über einer schönen, nachdenklichen Stirne.

»Sie fiebern Beide,« sagte Bettina zu dem Arzte, der sie begleitet hatte. »Ich werde die Nacht bei ihnen wachen und ihnen Eisumschläge machen, wenn Sie's für gut halten.«

»Für gut hielt' ich es freilich,« sagte der Arzt, »aber Sie selbst, mein Fräulein, sind müde und werden des Schlafes vielleicht dringender bedürfen, als Diese hier. Solche Bärenkinder werden auch so gesund. Schonen aber Sie sich selbst.«

Bettina lächelte, indem sie sprach:

»Sorgen Sie nicht um mich. Ich habe mich im Walde ausgeschlafen. Mir kommt in dieser Nacht kein Schlummer nahe.«

Und sie behielt Recht. Sie wachte und wartete der Kranken die ganze Nacht. Sie sah in's Dunkel, das sie mit keinem Lichtschimmer erhellen mochte, sah hinein mit nassen Augen und dachte der Todten, die sie geliebt hatten. 265

Als der Tag graute, blickte sie zum letzten Mal nach den beiden Lebendigen, die sie die Nacht über gepflegt hatte. Sie schliefen fieberlos. Da ging sie auf den Zehen hinaus und empfahl sich dem Arzte.

Er gab ihr das Geleite nach dem Eisenbahnhofe. Dort kauerte sie sich in einen Winkel, bis der Frühzug kam. 266

 


 


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