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Nach dreihundert Schritten kam er an einen Punkt, wo das Gäßchen in zwei Straßen auslief, die eine nach der Linken, die andere nach der rechten Seite.
Wohin sollte er sich wenden?
Er schwankte nicht und wählte rechts.
Warum?
Weil der linke Strahl nach der Vorstadt, das heißt nach bewohnten Orten, der rechte Zweig dagegen ins Feld, das heißt nach verödeten Orten führte.
Schnell freilich kamen sie nicht vorwärts. Cosettens Schritt hielt Johann Valjean zurück.
Er nahm sie wieder in den Arm. Cosette legte ihren Kopf auf seine Achsel und sprach kein Wort.
Von Zeit zu Zeit drehte er sich um und sah zurück. Sorgfältig hielt er sich an der Schattenseite. Hinter ihm war das Gäßchen eng. Die ersten zwei oder drei Mal als er sich umkehrte, sah er nichts; es war ganz still und er setzte seinen Weg etwas beruhigter fort. Plötzlich aber, als er sich umdrehte, glaubte er in demjenigen Theile des Gäßchens, das er passirte, im Dunkel Etwas zu sehen, das sich bewegte.
Er stürzte mehr als er ging, weil er irgend ein Seitengäßchen zu finden, durch dasselbe zu entkommen und so noch einmal seine Fährte zu unterbrechen hoffte.
Er gelangte an eine Mauer, die es ihm indeß nicht unmöglich machte weiter zu kommen. Die Mauer stieß an ein Quergäßchen, in welches die Straße endete, wo Johann Valjean sich befand. Er mußte sich wiederum entscheiden, ob links, ob rechts.
Er sah nach rechts. Das Gäßchen zog sich zwischen Schuppen oder derartigen Gebäuden hin und schloß sich dann ohne Ausgang. Es war eine Sackgasse. Deutlich sah man die große weiße Mauer am Ende, welche das Gäßchen schloß.
Er sah nach links. Nach dieser Seite hin war das Gäßchen offen und mündete nach etwa zweihundert Schritten in eine Straße, wozu sie gleichsam einen Nebenfluß bildete. Von dieser Seite war Rettung.
In dem Augenblicke, als Johann Valjean daran dachte, sich links zu wenden, um die Straße zu erreichen, welche er von weitem halb und halb sah, erblickte er an der Ecke, da, wo diese Gäßchen zusammentrafen, eine Art dunkeler, unbeweglicher Statue.
Es war ein Mann, der offenbar dahingestellt worden war, wartete und die Passage versperrte.
Johann Valjean wich zurück.
Die Stelle von Paris, wo Johann Valjean sich befand, zwischen der Vorstadt St. Antoine und La Ravée, gehört zu denen, welche vom Grundpfeiler bis zum Giebel durch die neuen Bauten umgestaltet worden sind. Die Felder, die Lagerhöfe, die alten Gebäude sind verschwunden. Heut zu Tage sind lauter ganz neue große Straßen, Circusse, Arenen, Hippodromes, Bahnhöfe und das Gefängniß Mazas da: – der Fortschritt, wie man sieht, und sein Correctiv Zucht, Strafe, Besserung, Milderungsmittel – auf das Gefängniß bezüglich..
Vor einem halben Jahrhunderte hieß die Stelle, wo Johann Valjean angekommen war, in der Volkssprache »Klein Picpus«.
Klein Picpus, wie das Thor des heiligen Jakob, die Sergeanten-Barriere u. dgl. sind Namen des alten Paris, welche noch in die Neuzeit hineingeschwommen sind.
Klein Picpus, das übrigens kaum existirt hat und nur eine Stadtviertelskizze gewesen ist, hatte fast das klösterliche Aussehen einer spanischen Stadt. Die Straßen waren wenig gepflastert und wenig bebaut. Außer den zwei oder drei Gäßchen, von denen wir gesprochen haben, war hier alles Mauer und Einöde. Nicht ein Verkaufsladen, nicht ein Wagen; kaum hie und da ein Licht hinter einem Fenster. Nach zehn Uhr wurden alle Lichter ausgelöscht. Dafür Gärten, Klöster, Holzhöfe, Sümpfe; selten niedrige Häuser und Mauern fast so hoch wie die Häuser.
So war dieses Viertel zu Ende des vorigen Jahrhunderts. Vor dreißig Jahren verschwand es unter der Rasur neuer Bauten. Heut zu Tage ist es ganz anders geworden.
Klein Picpus, von dem man keine Spur auf einem jetzigen Plane sieht, ist in dem von 1727 ziemlich genau bezeichnet.
Es war ein Y von Gassen. Die beiden Schenkel dieses Y waren in der Spitze wie durch eine Stange verbunden, welche den Namen Rechts-Mauer führte.
Hier also war Johann Valjean, welcher ohne Zweifel durch jenes Fantom bewacht wurde.
Was sollte er thun?
Zum Umkehren war keine Zeit mehr. Das, was er im Schatten einige Schritte hinter sich hatte bewegen sehen, war offenbar Javert mit seinen Begleitern. Javert war wahrscheinlich schon im Anfange des Gäßchens, an dessen Ende Johann Valjean sich befand. Javert kannte Allem Anscheine nach dieses kleine Labyrinth und hatte seine Maßregeln genommen, indem er einen seiner Leute zur Bewachung des Ausgangs ausgeschickt. Diese so wahrscheinlichen Vermuthungen wirbelten plötzlich wie eine Hand voll Staub, der mit dem Winde sich erhebt, schmerzlich in dem Kopfe Johann Valjeans umher. Er prüfte die Sackgasse; sie war versperrt. Er prüfte das Gäßchen Picpus, da stand eine Schildwache. Vorwärts gehen hieß gerade auf den Mann fallen. Zurück hieß sich in die Arme Javerts werfen. Johann Valjean fühlte sich wie in einem Netze gefangen, das sich langsam zusammen zieht. Verzweiflungsvoll sah er gen Himmel.