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Als der Leichenwagen sich entfernt hatte, als der Geistliche und der Chorknabe wieder eingestiegen und fortgefahren waren, sah Fauchelevent, der seine Augen von dem Todtengräber nicht abwendete, daß derselbe sich bückte und die Schaufel ergriff, die rechts in einem Erdhaufen stak.
Da faßte Fauchelevent einen letzten Entschluß. Er stellte sich zwischen das Grab und den Todtengräber, kreuzte die Arme und sagte:
»Ich bezahle.«
Der Todtengräber sah ihn erstaunt an und fragte:
»Was, Bauer?«
»Ich bezahle,« wiederholte Fauchelevent.
»Was denn?«
»Den Wein.«
»Welchen Wein?«
»Den Argenteuil.«
»In der Guten Quitte.«
»Geh zum Teufel!« antwortete der Todtengräber, und warf wieder eine Schaufel voll Erde auf den Sarg. Das gab einen dumpfen Klang. Fauchelevent fühlte sich wanken und wäre beinahe selbst in das Grab gefallen. Er rief mit röchelnder Stimme des Todeskampfes:
»Kamerad, ehe die »Gute Quitte« zugemacht wird!«
Der Todtengräber nahm wieder Erde mit der Schaufel und Fauchelevent fuhr fort:
»Ich bezahle.«
Er ergriff den Arm des Todtengräbers und sagte:
»Hören Sie, Kamerad. Ich bin der Todtengräber des Klosters und hergekommen, um Ihnen zu helfen. Die Arbeit kann auch in der Nacht gemacht werden. Zuerst wollen wir aber Eins trinken.«
Während er so sprach und sich hartnäckig an dieses Rettungsmittel anklammerte, legte er sich die traurige Frage vor: »Und wenn er trinkt, wird er sich betrinken?«
»Mensch aus der Provinz,« sagte der Todtengräber, »wenn Sie durchaus daraus bestehen, so willige ich ein. Wir wollen trinken, aber erst nach der Arbeit, vorher nie.«
Und er warf eine Schaufel voll Erde in das Grab.
Fauchelevent hatte den Augenblick erreicht, in dem man nicht mehr weiß, was man sagt.
»So kommen Sie doch und trinken Sie mit mir!« rief er. »Ich bezahle ja.«
»Wenn wir das Kind zu Bett gebracht haben,« antwortete der Todtengräber.
Und er warf wieder eine Schaufel voll in das Grab. Darauf stach er von Neuem in die Erde und setzte hinzu:
»Sehen Sie, es wird kalt werden die Nacht und die Todte könnte hinter uns herschreiten, wenn wir sie nicht zudeckten.«
In diesem Augenblicke bückte sich der Todtengräber, um seine volle Schaufel in die Höhe zu nehmen, wobei sich die Tasche seiner Weste gähnend aufsperrte.
Der wilde Blick Fauchelevents fiel mechanisch auf diese Tasche und blieb fest an derselben hängen.
Die Sonne war noch nicht hinter dem Horizonte verschwunden, es war noch hell genug etwas Weißes in dieser Tasche wahrnehmen zu können.
Ohne daß der Todtengräber es bemerkte, griff ihm Fauchelevent von hinten in die Tasche und zog das weiße Ding darin heraus.
Der Todtengräber warf wieder eine Schaufel Erde in das Grab.
Als er sich umdrehte, um eine neue Schaufel voll zu nehmen, sah ihn Fauchelevent mit der größten Ruhe an und sagte:
»Sie sind neu hier, haben Sie denn auch Ihre Karte mitgebracht?«
»Welche Karte?«
»Die Sonne wird gleich untergegangen sein.«
»Meinetwegen. Mag sie sich ihre Nachtmütze aufsetzen.«
»Die Kirchhofthür wird zugemacht werden.«
»Nun und dann?«
»Haben Sie ihre Karte bei sich?«
»Ach so, meine Karte!« wiederholte der Todtengräber und suchte in der Tasche. Nachdem er die eine durchsucht, gings zur andern, zuletzt zu den Westentaschen. »Nein!« sagte er. »Ich habe meine Karte nicht. Ich werde sie vergessen haben.«
»Fünfzehn Francs Strafe,« sagte Fauchelevent.
Der Todtengräber wurde grün.
»Herr Jesus, mein Gott!« rief er. »Fünfzehn Francs Strafe!«
»Drei Hundertsousstücke,« sagte Fauchelevent.
Der Todtengräber ließ seine Schaufel fallen.
Nun war die Reihe an Fauchelevent.
»Na, na, Recrut,« sagte er, »nur nicht verzweifelt! Fünfzehn Francs sind Fünfzehn Francs und übrigens können Sie sie nicht bezahlen. Ich bin alt und Sie sind neu. Ich will Ihnen einen guten Rath geben. Eins ist klar: die Sonne geht unter, sie berührt schon den Invalidendom, in fünf Minuten wird der Kirchhof geschlossen werden.«
»Es ist wahr,« antwortete der Todtengräber.
»In fünf Minuten können Sie das Grab nicht zu machen, es ist tief wie der Teufel, und dann können Sie nicht mehr hinauskommen, ehe das Thor geschlossen wird.«
»Das ist richtig.«
»Da müssen Sie fünfzehn Francs Strafe zahlen.«
»Fünfzehn Francs.«
»Aber Sie haben Zeit ... Wo wohnen Sie?«
»Zwei Schritte von der Barriere. Eine Viertelstunde von hier, Vaugirardstraße Nr. 87.
»Wenn Sie die Beine in die Hand nehmen und. gleich fortmachen, haben Sie noch Zeit.«
»Das ist richtig.«
»Sind Sie einmal außerhalb des Gitters, so laufen Sie was Sie können und holen Ihre Karte, Sie kommen wieder zurück und der Thorwärter macht Ihnen auf. Wenn Sie Ihre Karte haben, so brauchen Sie nichts zu bezahlen. Dann begraben Sie Ihre Todte in aller Ruhe. Ich gebe mittlerweile Achtung, damit sie nicht fortläuft.«
»Sie retten mir das Leben, Bauer.«
»Räumen Sie nur das Feld,« sagte Fauchelevent.
Der Todtengräber schüttelte ihm, außer sich vor Dankbarkeit, die Hand und lief eiligst davon.
Sobald er im Dickicht verschwunden war und Fauchelevent nicht mehr seine Tritte hörte, bückte er sich über das Grab und rief halblaut:
»Vater Madeleine!«
Keine Antwort.
Fauchelevent überlief es kalt. Er fiel mehr in das Grab als er hineinstieg, warf sich auf den Kopftheil des Sarges und rief:
Alles still in dem Sarge.
Fauchelevent konnte vor Zittern kaum athmen, nahm seinen Meißel und seinen Hammer und sprengte den Deckel des Sarges auf. Er sah das Gesicht Johann Valjeans, bleich und mit geschlossenen Augen in der Abenddämmerung daliegen.
Fauchelevent standen die Haare zu Berge; er richtete sich auf, sank dann rücklings an die Wand des Grabes und war nahe daran, auf den Sarg in Ohnmacht zu fallen. Er sah Johann Valjean an.
Johann Valjean lag da, bleich und unbeweglich. Wie der Hauch eines Windes, so leise murmelte Fauchelevent mit halber Stimme vor sich hin:
»Er ist todt.«
Dann richtete er sich wieder auf, schlug die Arme so heftig zusammen, daß die beiden geballten Fäuste seine Achseln berührten und rief:
»So habe ich ihn gerettet!«
Und der arme Mann fing an zu schluchzen und mit sich selbst zu sprechen: denn es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, daß das Selbstgespräch nicht in der menschlichen Natur begründet sei.
»Daran ist der Vater Mestienne schuld. Warum ist er gestorben, der Dummkopf! Mußte er denn da grade abfahren, wo man es am allerwenigsten erwartete? Alles ist vorbei! Ach, mein Gott, er ist todt! Und seine Kleine, was fange ich mit der an? Was wird die Obstfrau sagen? Daß ein solcher Mann sterben kann! Das ist ja ganz unmöglich! Wenn ich daran denke, wie er unter meinen Wagen kroch! Vater Madeleine! Er ist, weiß es Gott, erstickt! Er hat es mir ja nicht glauben wollen. Todt ist er, der brave Mann, der beste Mann unter allen guten Leuten! Und seine Kleine! Ich gehe gar nicht fort. Ich bleibe hier. Wie mag er nur in das Kloster gekommen sein? Das war schon der Anfang. Man soll solche Dinge nicht thun. Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Madeleine! Herr Maire! Er hört mich nicht!«
Er riß sich vor Verzweiflung die Haare aus.
In der Ferne hörte man ein scharfes Knirrschen in den Bäumen: das Gitterthor des Kirchhofes wurde geschlossen.
Fauchelevent bog sich über Johann Valjean. Als er hinsah, empfand er einen Schreck, wie man ihn nur im Grabe empfinden kann. Johann Valjean hatte die Augen offen und sah ihn an.
Einen im Tode sehen ist grauenhaft, Jemand aus dem Tode wieder erwachen zu sehen, ist beinah ebenso. Fauchelevent wurde wie ein Stein bleich, bestürzt, überwältigt von allen diesen Gefühlserschütterungen; er wußte nicht, ob er es mit einem Todten oder einem Lebenden zu thun habe. Er sah Johann Valjean an und dieser ihn.
»Ich war eingeschlafen,« sagte dieser und setzte sich auf.
Fauchelevent fiel auf die Knie.
»Gerechte, heilige Jungfrau, wie haben Sie mich erschreckt!«
Darauf erhob er die Stimme und rief:
»Ich danke, Vater Madeleine.«
Johann Valjean war nur ohnmächtig geworden, die frische Luft hatte ihn wieder erweckt.
Die Freude ist die Fluth nach dem Schrecken. Fauchelevent hatte beinah ebenso viel Mühe wie Johann Valjean, um wieder zu sich zu kommen.
»Sie sind also nicht todt! Wie gescheidt Sie sind! Ich rief Sie so lange, bis Sie zu sich kamen. Als ich Ihre geschlossenen Augen sah, dachte ich: gut! Er ist erstickt. Ich wäre verrückt geworden, so verrückt, daß man mir hätte die Zwangsjacke anlegen müssen. Man hatte mich nach Bicètre bringen müssen. Was sollte ich denn anfangen, wenn Sie gestorben gewesen wären? Und Ihre Kleine? Die Obstfrau würde ja gar Nichts begriffen haben! Ihr ein Kind bringen und dann sagen, der Großvater ist gestorben! Eine schöne Geschichte! Alle Heiligen im Paradiese, was für eine Geschichte! Aber Sie leben, das ist das Beste.«
»Mich friert,« sagte Johann Valjean.
Dieses Wort brachte Fauchelevent vollständig in die Wirklichkeit zurück, die in der That dringend war.
»Schnell von hier hinaus,« rief Fauchelevent.
Er suchte in seiner Tasche und holte eine Korbflasche heraus, mit der er sich versehen hatte.
»Erst einen Tropfen!« sagte er.
Die Korbflasche vollendete, was die frische Luft begonnen hatte. Johann Valjean trank einen Schluck Branntwein und kam wieder vollständig zu sich.
Er stieg aus dem Sarge und half Fauchelevent den Deckel wieder draufnageln.
Drei Minuten später waren sie außerhalb des Grabes.
Fauchelevent war ruhig und nahm sich Zeit. Der Kirchhof war geschlossen, die Rückkunft des Todtengräbers war nicht zu fürchten. Dieser »Rekrut« suchte bei sich zu Hause seine Karte und konnte sie freilich nicht finden, da sie sich in der Tasche Fauchelevents befand. Ohne Karte konnte er auf den Kirchhof nicht zurück.
Fauchelevent nahm die Schaufel und Johann Valjean den Spaten. So begruben beide den leeren Sarg.
Als das Grab ausgefüllt war, sagte Fauchelevent zu Johann Valjean:
»Gehen wir jetzt. Ich behalte die Schaufel, tragen Sie den Spaten.«
Es wurde Nacht.
Johann Valjean hatte Mühe zu gehen, so erstarrt war er in dem Sarge geworden. Die Lähmung des Todes hatte ihn zwischen den vier Brettern überfallen. Er mußte gewissermaßen erst vom Grabe aufthauen.
Vermittelst der Karte des Todtengräbers kamen sie leicht und ohne Aufenthalt durch das Thor des Kirchhofes. Als sie in der Vaugirardstraße waren, sagte Fauchelevent zu Johann Valjean:
»Vater Madeleine, Sie haben bessere Augen als ich, sagen Sie mir doch, wo Nummer 87 ist.«
»Da ist sie grade,« antwortete Johann Valjean.
»Es ist Niemand in der Straße!« fuhr Fauchelevent fort. »Geben Sie mir den Spaten und warten Sie ein paar Minuten.«
Fauchelevent trat in das Haus Nummer 87, ging die Treppen bis ganz hoch hinauf, seinem Instinkte nach, welches den Armen immer bis unter das Dach führt und klopfte im Dunkel an eine Kammerthür. Eine Stimme rief:
»Herein!«
Es war die Stimme Gribiers.
Fauchelevent machte die Thür auf. Die Wohnung des Todtengräbers war, wie alle diese unglückseligen Wohnungen, ohne Möbel und doch vollgepfropft. Eine Packkiste – vielleicht ein Sarg – vertrat die Stelle der Komode, ein Buttertopf den des Wasserhälters, ein Strohsack das Bett, der Fußboden Stühle und Tisch. In einer Ecke, auf einem Lumpen, einem alten Teppichfetzen, kauerte eine hagere Frau und ein Haufen Kinder.
Fauchelevent trat ein und sagte:
»Ich bringe Ihnen Ihren Spaten und Ihre Schaufel.«
Gribier sah ihn verwundert an.
»Und morgen früh können Sie auch bei dem Thorwärter Ihre Karte finden.«
Dabei legte er Schaufel und Spaten an den Boden.
»Was soll das bedeuten?« fragte Gribier.
»Das bedeutet, daß Sie Ihre Karte aus der Tasche haben fallen lassen, daß ich sie gefunden, sie aufgehoben, den Todten begraben, das Grab fertig gemacht habe. Der Thorwärter wird Ihnen Ihre Karte geben und Sie brauchen nicht fünfzehn Francs zu bezahlen. So ist's, Recrut!«
»Ich danke, Bauer,« antwortete Gribier erfreut. »Das nächste Mal bezahle ich die Zeche.«