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Johann Valjean befand sich in einem sehr großen Garten von eigentümlichem Aussehen, in einem jener traurigen Gärten, die dazu gemacht zu sein scheinen, um im Winter und in der Nacht gesehen zu werden.
Dieser Garten war von länglich-viereckiger Form mit einer Allee hoher Pappeln und einem schattenlosen Raum in der Mitte, wo man einen sehr großen einzelnen Baum, einige verkrüppelte, gebüschwerkartige Obstbäume, Gemüsebeete und ein Melonenbeet bemerkte, dessen Glocken im Mondschein glänzten, sowie einen alten Schöpfbrunnen. Hier und da standen Steinbänke, die von Moos schwarz zu sein schienen. Die Alleen waren mit kleinen, dunkeln, graden Sträuchern eingefaßt. Bis über die Hälfte der Alleen wuchs Gras, die andere Hälfte bedeckte eine grünliche Feuchtigkeit.
Neben sich hatte Johann Valjean das Gebäude, dessen Dach ihm beim Heruntersteigen dienlich gewesen, einen Haufen Reisigbündel und hinter diesem, ganz an der Wand, eine steinerne Statue, deren verstümmeltes Gesicht nur noch eine unförmliche Maske war, die man undeutlich in der Dunkelheit wahrnahm.
Das Gebäude war eine Art Ruine, wo man von außen hie und da zerstörte Zimmerwände wahrnahm. Ein Zimmer war ganz verfallen und schien als Schuppen zu dienen.
Das große Gebäude an der Rechts-Mauer-Straße entwickelte zwei Façaden, welche sich in den Garten hinein erstreckten. Diese sahen von innen noch schauerlicher als von außen aus. Alle Fenster waren vergittert. Nirgends sah man ein Licht. In den oberen Etagen waren Verschlage, wie an einem Gefängnisse. Eine der Façaden warf auf die andere ihren Schatten, der wie ein großes schwarzes Tuch auf den Garten fiel.
Ein anderes Haus nahm man nicht wahr. Der Hintergrund des Gartens verlor sich im Dunkel und in der Nacht. Man erkannte indeß undeutlich Mauern, welche sich kreuzten, als wenn jenseits derselben noch andere Culturanlagen wären, sowie die niedrigen Dächer einer Straße.
Man konnte sich nichts Wilderes und Einsameres vorstellen, als diesen Garten. Niemand war darin, was allerdings in Rücksicht der Tageszeit ganz einfach war. Der Ort sah aber nicht aus, als wäre er dazu da, daß Jemand darin gehen solle, selbst nicht einmal am hellen Mittage.
Die erste Sorge Johann Valjeans war, daß er seine Schuhe wieder suchte, welche er vorher über die Mauer geworfen hatte, und sich diese wie die Strümpfe wieder anzog. Darauf ging er mit Cosetten in den Schuppen. Der Fliehende hält sich niemals für sicher genug versteckt. Das Kind, welches immer an die Thenardier dachte, theilte seinen Trieb sich möglichst zu verkriechen.
Cosette zitterte und schmiegte sich an ihn. Man hörte den stürmischen Lärm der Patrouille, welche die Sackgasse durchstöberte, das Aufstoßen der Gewehrkolben auf die Steine, die Rufe Javerts an seine Leute und seine mit unverständlichen Worten vermischten Flüche.
Nach Verlauf einer Viertelstunde schien der Lärm sich zu verziehen. Johann Valjean athmete kaum.
Leicht hatte er seine Hand auf den Mund Cosettens gelegt.
Uebrigens war die Stille, in welcher er sich befand, eine so seltsame Ruhe, daß selbst nicht einmal jener schreckliche Lärm in dieselbe den Schatten einer Störung warf. Die Mauern schienen aus jenen tauben Steinen gebaut zu sein, von denen die Schrift spricht.
Plötzlich erhob sich mitten in dieser tiefen Ruhe ein neues Geräusch, himmlisch, göttlich, unbeschreiblich, eben so entzückend, wie das andere gräßlich gewesen. Es war ein Gesang, der aus der Finsterniß kam, eine Blendung des Gebets und der Harmonie in dem Dunkel und der schauerlichen Stille der Nacht; Frauenstimmen, zugleich aus dem reinen Klang der Jungfrauen und dem naiven der Kinder zusammengesetzt, Stimmen, die nicht der Erde angehören und denen gleichen, welche die Neugebornen noch hören und den Sterbenden entgegenklingen. Der Gesang kam aus dem dunkeln Gebäude, welches den Garten beherrschte. In dem Augenblicke, als der Lärm der Dämonen sich entfernte, näherte sich, so hätte man glauben können, im Dunkel ein Chor von Engeln.
Cosette und Johann Valjean sanken auf die Kniee.
Sie wußten nicht, was es war, sie wußten nicht, wo sie waren, aber sie fühlten alle beide, der Mann wie das Kind, der Büßende wie die Unschuldige, daß sie niederknieen müßten.
Diese Stimmen hatten das Eigentümliche, daß sie das Gebäude nicht belebten, das eben so öde zu bleiben schien wie vorher. Es war wie ein übernatürlicher Gesang in einem unbewohnten Hause.
Während die Stimmen sangen, dachte Johann Valjean an nichts mehr. Er sah die Nacht nicht mehr, er sah nur einen blauen Himmel. Es kam ihm vor, als entfalteten sich jene Flügel in ihm, welche wir alle in uns haben.
Der Gesang erlosch. Er hatte vielleicht lange gedauert. Johann Valjean hätte es nicht sagen können. Die Stunden der Verzückung sind immer nur eine Minute.
Alles war wieder in Stillschweigen versunken. Man hörte nichts mehr in dem Garten, nichts mehr in der Straße. Alles war vorüber: das, was ihn bedroht, wie das, was ihn beruhigt hatte. Der Wind zerknitterte einige dürre Gräser aus dem Kamm der Mauer, wodurch ein leises, trauriges Geräusch entstand.