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Ottomars Brief
Wenn wir Ottomars Brief gelesen: so wollen wir uns an Gustavs neues Theater stellen und ihm zuschauen. Im folgenden Briefe herrscht und tobt ein Geist, der wie ein Alp alle Menschen höherer und edler Art drückt und oft bewohnt und den bloß – so viel er auch holländische Geister überwiege – ein höherer Geist übertrifft und hinausdrängt. Viele Menschen leben in der Erdnähe, einige in der Erdferne, wenige in der Sonnennähe. – Fenk sehnte sich so oft nach seinem Ottomar, zumal nach seinem Stillschweigen von einigen Jahren, und er sprach so oft von ihm gegen Gustav, daß es gut war, daß die Adresse des Briefes von fremder Hand und an Doktor Zoppo in Pavia war: sonst hätte der Doktor sogleich gegen die erste Zeile des Briefes gesündigt.
»Nenne, ewiger Freund, meinen Namen dem Überbringer nicht; ich muß es tun. Auf meinem letzten Lebensjahre liegt ein großes schwarzes Siegel; zerbrich es nicht, halte die Vergangenheit für die Zukunft – ich mache sie zur Gegenwart für dich, aber jetzo noch nicht – und wenn ich stürbe, ich träte vor dich und sagte dir mein letztes Geheimnis der Erde.
Ich schreibe dir, damit du nur weißt, daß ich lebe und daß ich im Herbste komme. Mein Reisedurst ist mit Alpen-Eis und Seewasser gelöscht; ich ziehe nun heim in meine Ruhestatt, und wenn mich dann unter meiner Haustüre wieder über die Berge hinüberverlangt: so denk' ich: in den Guadiana- und in den Wolgastrom sieht das nämliche lechzende Menschenherz hinein, das in dir neben dem Rheine seufzet, und was auf die Alpen und auf den Kaukasus steigt, ist, was du bist, und wendet ein sehnendes Auge nach deiner Haustüre herüber. Wenn ich aber hier sitze und alle Morgen auf den Nachtstuhl gehe und froh bin, daß ich hungrig, und nachher, daß ich satt werde, und wenn ich alle Tage Hosen und Haarnadeln ausziehe und anstecke. ach! was ists denn da am Ende? Was wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit auf dem Stein meines Torwegs saß und sehnend dem Zug der langen Straße nachsah und dachte, wie sie fortliefe, über Berge schösse, immer immerfort...? und endlich?... Ach alle Straßen führen zu nichts, und wo sie abreißen, steht wieder einer, der sich rückwärts herübersehnt. – Was wollt' ich denn haben, wenn mein kleines Auge sonst auf dem Rhein mitschwamm, damit er mich hinnähme in ein gelobtes Land, in welches alle Ströme, dacht' ich, zögen, ach sonst, wo ich nicht wußte, daß er, wenn er manches schwere Herz getragen, neben mancher zerquetschten Gestalt vorbeigebrauset, die nur er von ihren Qualen erlösen konnte, daß er dann wie der Mensch sich zersplittere und zertrümmert einsickere in holländische Erde? – Morgenland, Morgenland! auch nach deinen Auen neigte sich sonst meine Seele wie Bäume nach Osten: – ›Ach wie muß es da sein, wo die Sonne aufgeht!‹ dacht' ich; und als ich mit meiner Mutter nach Polen reiste und endlich in das nach Morgen liegende Land und unter seine Edelleute, Juden und Sklaven trat.... Weiter gibts aber auf dieser optischen Kugel kein Morgen-Sonnenland als das, welches alle unsere Schritte weder entfernen noch erreichen. Ach ihr Freuden der Erde alle, ihr sättigt die Brust bloß mit Seufzern und das Auge mit Wasser, und in das arme Herz, das sich vor euerem Himmel auftut, gießet ihr eine Blutwelle mehr! Und doch lähmen uns diese paar elenden Freuden, wie Giftblumen Kindern, die damit spielen, Arme und Beine. Nur keine Musik, diese Spötterin unserer Wünsche, sollt' es geben: fließen nicht auf ihren Ruf alle Fibern meines Herzens auseinander und strecken sich als so viele saugende Polypenarme aus und zittern vor Sehnsucht und wollen umschlingen – wen? was?... Ein ungesehenes, in andern Welten stehendes Etwas. Oft denk' ich, vielleicht ists gar nichts, vielleicht geht es nach dem Tode wieder so, und du wirst dich aus einem Himmel in den andern sehnen – und dann zerdrücke ich unter diesem phantastischen Unsinn die Klaviersaiten, als wollt' ich aus ihnen eine Quelle auspressen, als wär' es nicht genug, daß der Druck dieses Sehnens die dünnen Saiten meines innern Tonsystems verstimmt und absprengt....
In Rom wohnte ein Maler, der Kirche von S. Adriano gegenüber, der unter dem Regen sich allemal unter die Dachrinnen stellte und sich toll lachte; der sagte oft zu mir: ›Einen Hundetod gibts nicht, aber ein Hundeleben.‹ Fenk! nimm wenigstens, was der Mensch wird oder tut: so gar gar wenig! Welche Kraft wird denn an uns ganz ausgebildet, oder in Harmonie mit den andern Kräften? Ists nicht schon ein Glück, wenn nur eine Kraft wie ein Ast ins Treibhaus eines Hör- oder Büchersaals hineingezogen und mit partialer Wärme zu Blüten genötigt wird, indes der ganze Baum draußen im Schnee mit schwarzen harten Zweigen steht? Der Himmel schneiet ein paar Flocken zu unserem innern Schneemann zusammen, den wir unsre Bildung nennen, die Erde schmerzt oder besudelt ein Viertel davon, der laue Wind löset dem Schneemann den Kopf ab – das ist unser gebildeter innerer Mensch, so ein abscheuliches Flickwerk in allem unseren Wissen und Wollen! Vom Einzelwesen auf die ganze Menschheit mag ich gar nicht übergehen; ich mag nicht daran denken, wie ein Jahrhundert untergeegget und untergeackert wird zur Düngung des nächsten – wie nichts sich zu etwas runden will, wie das ewige Bücherschreiben und Aufschlichten des Scibile kein Ziel, kein Ende hat und alle nach entgegengesetzten Richtungen graben und laufen! – Was tut der Mensch? Noch weniger, als er weiß und wird. Sage mir, was verrichten denn vor dem fürstlichen Porträt über dem Präsidentenstuhl, oder gar vor einem verschnittenen regierenden Gesicht selbst, dein Scharfsinn, dein Herz, deine Schnellkraft? Die zurückgepreßten ineinander sich krümmenden Zweige drücken das Fenster des Winterhauses, der Regent lässet in der compotière ihre Frucht vor seinem Teller vorübergehen, der blaue Himmel fehlet ihnen, das Gescheiteste ist noch, daß sie verfaulen! – Was tun denn die edelsten Kräfte in dir, wenn Wochen und Monate verströmen, die sie nicht brauchen, nicht rufen, nicht üben? Wenn ich oft so der Unmöglichkeit zusah, in allen unsern monarchischen Ämtern ein ganzer, ein edel tätiger, ein allgemeinnützlicher Mensch zu sein – selbst der Monarch kann nicht mit denen unendlich vielen schwarzen subalternen Klauen und Händen, die er erst als Finger oder Griffe an seine Hände anschienen muß, etwas vollendet Gutes tun – sooft ich so zusah, so wünscht' ich, ich würde gehenkt mit meinen Räubern, wär' aber vorher ihr Hauptmann und rennte mit ihnen die alte Verfassung nieder!.... Geliebter Fenk! dein Herz reißet mir niemand aus meiner Brust, es treibet mein bestes Blut, und nie kannst du mich verkennen, ich sei so unkenntlich, als ich wolle! Aber, o Freund, es kommen Zeiten heran, wo dir dieses Verkennen doch leichter werden kann!
Verhüllter Genius unserer verschatteten Kugel! ach wär' ich nur etwas gewesen, hätte meine Gehirnkugel und mein Herz nur, wie Luther, mit irgendeiner dauerhaften, weit wurzelnden Tat das Blut abverdient, das sie rötet und nährt: dann würde mein hungriger Stolz satte Demut, vier niedrige Wände wären für mich groß genug, ich sehnte mich nach nichts Großem mehr als nach dem Tode und vorher nach dem Herbst des Lebens und Alters, wo der Mensch, wenn die Jugend-Vögel verstummen, wenn über der Erde Nebel und fliegender Faden-Sommer liegt, wenn der Himmel ausgeheitert, aber nicht brennend über allem steht, sich entschlafend auf die welken Blätter legt. – – – Lebe wohl, mein Freund, auf einer Erde, wo man weiter nichts Gutes tun kann als in ihr liegen; im nächsten Herbst sind wir aneinander!«
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Zu diesem Briefe, der meine ganze Seele nimmt und meine Irrtümer sowohl als meine Wünsche erneuert, kann ich nichts mehr sagen, als daß heute der erste Mensch in dieser Geschichte auf einem Berg begraben worden ist. Wenn ich nach vier oder fünf Sektoren von seinem abendrötlichen Tode rede: so werden schon die Züge seiner Gestalt bleicher und zerrissen sein, sowohl im Sarge als im Herzen der Freunde!