Jean Paul
Die unsichtbare Loge
Jean Paul

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Vierunddreißigster oder I. Advent-Sektor

Ottomar – Kirche – Orgel

Am andern Morgen war ein Lärm im Schlosse über eine Sache, die der Doktor Fenk um eine Woche später durch einen Brief von – Ottomar erfuhr.

– Nie hab' ich einen Sektor oder Sonntag so traurig angefangen als heute; mein vergehender Körper und der folgende Brief an Fenk hängen wie ein Hutflor an mir. Ich wollt', ich verstände den Brief nicht – ach es wäre dann eine unvergeßliche Novemberstunde nie in mein Leben getreten, die, nachdem so viele andre Stunden bei mir vorübergegangen, bei mir stehen bleibt und mich immerfort ansieht. – Dunkle Stunde! du streckest deinen Schatten über ganze Jahre aus, du stellest dich so vor mich, daß ich den phosphoreszierenden Nimbus der Erde hinter dir nicht flimmern und rauchen sehen kann, die 80 menschlichen Jahre sehen in deinem Schatten wie der Ruck des Sekundenweisers aus – ach nimm mir nicht so viel!... Ottomar hatte dieselbe Stunde nach seinem Begräbnis und beschreibt sie dem Doktor so:

*

»Ich bin seitdem lebendig begraben worden. Ich habe mit dem Tode geredet, und er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als ihn. – Als ich aus meinem Sarg heraus war, so hat er die ganze Erde dafür hineingelegt und mein bißchen Freude oben darauf.... Ach guter Fenk! wie bin ich verändert! Komm nur bald zurück! Seitdem stehen vor mir alle Stunden wie leere Gräber hin, die mich oder meine Freunde auffangen! Ich hab' es wohl gehört, wer meine Hand noch einmal am Sarge gedrückt.... komm recht bald, Teurer!

Weißt du nicht mehr, wie ich mich von jeher vor dem lebendigen Begräbnis gefürchtet? Mitten im Einschlafen fuhr ich oft auf, weil mir einfiel, ich könnte ohnmächtig und so beerdigt werden und meine aufwollenden Arme triebe dann der Sargdeckel nieder. Auf Reisen drohte ich überall, wo ich kränklich wurde, ich wollte ihnen, wenn sie mich innerhalb acht Tagen beisetzten, als Gespenst erscheinen und auflasten. Diese Furcht war mein Glück: sonst hätte mich mein Sarg getötet.

Vor Wochen kam meine alte Krankheit wieder zu mir, das hitzige Fieber. Ich eilte mit ihr nach meinem Ruhestatt, und mein erstes Wort zu meinem Hausverwalter – da ich dich nicht haben konnte – war, mich sogleich, als ich ohne Leben wäre, zu beerdigen, weil die Gewölbluft leichter erweckt, aber nichts zuzusperren, weder Sarg noch Erbgruft – die einsame Kirche am Park steht ohnehin offen. Auch sagt' ich ihm, meinen Spitzhund, der nicht von mir bleibt, überall mitzulassen. Noch in der Nacht nahm das Fieber zu; aber beim Blutlassen bricht meine Zurückerinnerung ab. Ich weiß bloß noch, daß ich das Blut mit einigem Schauder um meinen Arm sich krümmen sah; und daß ich dachte: ›Das ist das Menschenblut, das uns heilig ist, welches das Kartenhaus und das Sparrwerk unsers Ichs ausküttet und in welchem die unsichtbaren Räder unsers Lebens und unserer Triebe gehen.‹ Dieses Blut sprützte nachher an alle Phantasien meiner Fiebernächte; das eingetauchte All stieg blutrot daraus herauf, und alle Menschen schienen mir an einem langen Ufer einen Strom zusammenzubluten, der über die Erde hinaus in eine saufende Tiefe hinabsprang – Gedanken, häßliche Gedanken rückten vor mir grinsend vorüber, die kein Gesunder kennt, keiner nachschafft, keiner erträgt, und die bloß liegende Krankenseelen anbellen. Wäre kein Schöpfer: so müßt' ich vor den verborgnen Angst-Saiten erzittern, die im Menschen aufgezogen sind und an denen ein feindseliges Wesen reißen könnte. Aber nein! du allgütiges Wesen! du hältst deine Hand über unsre Anlage zur Qual und legest das Erden-Herz, worüber diese Saiten aufgewunden sind, auseinander, wenn sie zu heftig beben!...

Der Kampf meiner Natur wurde endlich zu einem ohnmächtigen Schlummer, aus dem so viele bloß erwachen, um unter der Erde zu sterben. Darin trug man mich in die einsam stehende Kirche. Der Fürst und mein Spitz waren mit dabei; aber bloß der erste ging wieder fort. Ich lag vielleicht die halbe Nacht, bis das Leben durch mich zuckte. Mein erster Gedanke riß die Seele immer auseinander. Von ungefähr trat der Hund auf mein Gesicht; plötzlich senkte sich eine Beklemmung, wie wenn eine Riesenhand meine Brust böge, tief auf mich herein, und ein Sargdeckel schien mir wie ein aufgehobnes Rad über mir zu stehen.... Schon die Beschreibung schmerzt mich, weil die Möglichkeit der Wiederholung mich ängstigt.... Ich stieg aus der sechseckigen Brutzelle des zweiten Lebens, der Tod streckte sich vor mir weit hin mit seinen tausend Gliedern, den Köpfen und Knochen. Ich schien mir unten im chaotischen Abgrund zu stehen, und oben weit über mir zog die Erde mit ihren Lebendigen. Mich ekelte Leben und Tod. Auf das, was neben mir lag, sogar auf meine Mutter sah ich starr und kalt wie das Auge des Todes, wenn er ein Leben zerblickt. Ein rundes Eisengitter in der Kirchenmauer schnitt aus dem ganzen Himmel nichts heraus als die schimmernde zerbrochne Scheibe des Mondes, der als ein himmlisches Sarglicht auf den Sarg, der die Erde heißer, herunterhing. Die öde Kirche, dieser vorige Markt des redenden Gewimmels, stand ausgestorben und untergraben von Toten da – die langen Kirchenfenster legten sich, vom Mond abgeschattet, über die Gitterstühle hinüber – an der Sakristei richtete sich das schwarze Toten-Kreuz auf, das Ordenkreuz des Todes – die Degen und Sporen der Ritter erinnerten an die zerbröckelten Glieder, die sie und sich nicht mehr bewegten, und der Totenkranz des Säuglings mit falschen Blumen hatte den armen Säugling hieher begleitet, dem der Tod die Hand abgebrochen, eh' sie wahre pflücken konnte – steinerne Mönche und Ritter machten das längst verstummte Gebet an der Mauer mit verwitternden Händen nach – nichts Lebendiges sprach in der Kirche als der eiserne Gang des Perpendikels der Turmuhr, und mir war, als hört' ich, wie die Zeit mit schweren Füßen über die Welt schritt und Gräber austrat als Fußstapfen...

Ich setzte mich auf eine Altarstufe, um mich lag das Mondlicht mit trabenden eilenden Wolkenschatten; mein Geist stand hoch: ich redete das Ich an, das ich noch war: ›Was bist du? was sitzt hier und erinnert sich und hat Qual? – Du, ich, etwas – wo ist denn das hin, das gefärbte Gewölk, das seit dreißig Jahren an diesem Ich vorüberzog und das ich Kindheit, Jugend, Leben hieß? – Mein Ich zog durch diesen bemalten Nebel hindurch – ich konnt' ihn aber nicht erfassen – weit von mir schien er etwas Festes, an mir versickernde Dufttropfen oder sogenannte Augenblicke – Leben heißet also von einem Augenblick (diesem Dunstkügelchen der Zeit) in den andere tropfen.... Wenn ich nun wäre tot geblieben: so wär' also das, was ich jetzo bin, der Zweck gewesen, weswegen ich für diese lichtervolle Erde und sie für mich gebauet war? – Das wäre das Ende der Szenen? – und über dem Ende hinaus? – Freude ist vielleicht dort – hier ist keine, weil eine vergangne keine ist, und unsre Augenblicke verdünnen jede gegenwärtige in tausend vergangne – Tugend ist eher hier; sie ist über die Zeit – Unter mir schläft alles; aber ich werd' es auch tun, und wenn ich mir noch dreißig Jahre weismache, daß ich lebe, dann legen sie mich doch wieder hieher – die heutige Nacht kommt wieder – ich bleibe aber in meinem Sarg: und dann?... Wenn ich nun drei Augenblicke hätte, einen zur Geburt, einen zum Leben, einen zum Sterben: zu was hätt' ich sie denn? würd' ich sagen – Alles aber, was zwischen der Zukunft und Vergangenheit steht, ist ein Augenblick – wir haben alle nur drei.‹... Großes Urwesen – fing ich an und wollte beten – – du hast die Ewigkeit,... aber unter dem Gedanken an den, der nichts als Gegenwart ist, erhält sich kein menschlicher Geist aufrecht, sondern beugt sich an seine Erde wieder, – ›O ihr abgeschiedenen Lieben,‹ dacht' ich, ›ihr wäret mir nicht zu groß, erscheinet mir, hebt das Gefühl der Nichtigkeit von meinem Herzen ab und zeigt mir die ewige Brust, die ich lieben, die mich wärmen kann.‹ Von ungefähr sah ich meinen armen Hund, der mich anschauete; und dieser rührte mich mit seinem noch kürzern, noch dumpfern Leben so, daß ich bis zu Tränen weich wurde und mich nach etwas sehnte, womit ich sie vermehrte und stillte.

Das war die Orgel über mir. Ich ging zu ihr wie zu einer löschenden Quelle hinauf. Und als ich mit ihren großen Tönen die nächtliche Kirche und die tauben Toten erschütterte und als der alte Staub um mich flog, der auf ihren stummen Lippen bisher gelegen war: so zogen alle vergängliche Menschen, die ich geliebt hatte, nebst ihren vergänglichen Szenen vorüber, du kamest und Mailand und das stille Land; ich erzählte ihnen mit Orgeltönen, was zu einer bloßen Erzählung geworden war, ich liebte sie alle im Fluge des Lebens noch einmal und wollte vor Liebe an ihnen sterben und in ihre Hand meine Seele drücken – aber nur Holztasten waren unter meiner drückenden Hand. – Ich schlug immer wenigere Töne an, die um mich wie ein ziehender Strudel gingen – endlich legt' ich das Choralbuch auf einen tiefen Ton und zog die Bälge in einem fort, um nicht den stummen Zwischenraum zwischen den Tönen auszustehen – ein summender Ton strömte fort, wie wenn er hinter den Flügeln der Zeit nachgingen er trug alle meine Erinnerungen und Hoffnungen und in seinen Wellen schwamm mein schlagendes Herz.... Von jeher machte ein fortbebender Ton mich traurig.

Ich verließ meine Auferstehungstätte und sah nach der weißen Pyramide des Eremitenberges, wo nichts auferstand und wo das Leben fester schlief; die Pyramide stand in Mondschimmer getaucht, und mit mir wandelte ein langer Wolkenschatten. Blätter und Bäume krümmte der Herbst; über die stachlichten Wiesenstoppeln wiegte sich die Blume nicht mehr, die im Maule des Viehs verging; die Schnecke sargte sich in ihr Haus und Bett mit Geifer ein; und als am Morgen sich die Erde mit vollgebluteten fleckigen Wolken gegen die matte Sonne drehte: so fühlt' ich, daß ich meine vorige frohe Erde nicht mehr hatte, sondern daß ich sie auf immer in der Gruft gelassen, und die Menschen, die ich wiederfand, schienen mir Leichname, die der Tod hergeliehen und die das Leben aufrichtet und schiebt, um mit diesen Figuren zu agieren in Europa, Asia, Afrika und Amerika....

So denk' ich noch. Ich werde auch zeitlebens den Trauer-Eindruck von dieser Gewißheit herumtragen, daß ich sterben muß. Denn das weiß ich erst seit acht Tagen; ob ich mir gleich vorher recht viel auf meine Empfindsamkeit an Sterbebetten, an Theatern und Leichenkanzeln einbildete. Das Kind begreift keinen Tod, jede Minute seines spielenden Daseins stellet sich mit ihrem Flimmern vor sein kleines Grab. Geschäft- und Freuden-Menschen begreifen ihn ebensowenig, und es ist unbegreiflich, mit welcher Kälte tausend Menschen sagen können: das Leben ist kurz. Es ist unbegreiflich, daß man dem betäubten Haufen, dessen Reden artikuliertes Schnarchen ist, das dicke Augenlid nicht aufziehen kann, wenn man von ihm verlangt: sieh doch durch deine paar Lebenjahre hindurch bis ans Bett, worin du erliegst – sieh dich mit der hängenden plumpen Toten-Hand, mit dem bergigen Kranken-Gesicht, mit dem weißen Marmor-Auge, höre in deine jetzige Stunde die zankenden Phantasien der letzten Nacht herüber – diese große Nacht, die immer auf dich zuschreitet und die in jeder Stunde eine Stunde zurücklegt und dich Ephemere, du magst dich nun im Strahl der Abendsonne oder in dem der Abend-Dämmerung herumschwingen, gewiß niederschlägt. Aber die beiden Ewigkeiten türmen sich auf beiden Seiten unsrer Erde in die Höhe, und wir kriechen und graben in unserem tiefen Hohlweg fort, dumm, blind, taub, käuend, zappelnd, ohne einen größern Gang zu sehen, als den wir mit Käferköpfen in unsern Kot ackern.

Aber seitdem ists auch mit meinen Planen ein Ende: man kann hienieden nichts vollenden. Das Leben ist mir so wenig, daß es fast das Kleinste ist, was ich für ein Vaterland hingeben kann; ich treffe und steige bloß mit einem größern oder kleinern Gefolge von Jahren in den Gottesacker ein. Mit der Freude ists aber auch vorbei; meine starre Hand, die einmal den Tod wie einen Zitteraal berührt hat, reibet den bunten Schmetterlingstaub zu leicht von ihren vier Flügeln, und ich lasse sie bloß um mich flattern, ohne sie zu greifen. Bloß Unglück und Arbeit sind undurchsichtig genug, daß sie die Zukunft verbauen; und ihr sollt mir willkommen in meinem Hause sein, zumal wenn ihr aus einem andern ausziehet, wo der Mietherr die Freude lieber hineinhat. – O euch, ihr armen bleichen, aus Erdfarben gemachten Bilder, ihr Menschen, lieb' und duld' ich nun doppelt; denn wer anders als die Liebe zieht uns durch das Gefühl der Unvergänglichkeit wieder aus der Todesasche heraus? Wer sollt' euch euere zwei Dezembertage, die ihr 80 Jahre nennt, noch kälter und kürzer machen? Ach wir sind nur zitternde Schatten! Und doch will ein Schatten den andern zerreißen? –

Jetzo begreif' ich, warum ein Mensch, ein König in seinen alten Tagen ins Kloster geht: was will er an einem Hofe oder auf einer Börse machen, wenn die Sinnenwelt vor ihm zurückweicht und alles aussieht wie ein ausgespannter großer Flor, indes bloß die höhere zweite Welt mit ihren Strahlen in dieses Schwarz hereinhängt? So leget der Himmel, wenn man ihn auf hohen Bergen besieht, sein Blau ab und wird schwarz, weil jenes nicht seine, sondern unsrer Atmosphäre Farbe ist; aber die Sonne ist dann wie ein brennendes Siegel des Lebens in diese Nacht gedrückt und flammt fort....

Ich schauete gerade zum Sternenhimmel auf; aber er erhellet meine Seele nicht mehr wie sonst: seine Sonnen und Erden verwittern ja ebenso wie die, worein ich zerfalle. Ob eine Minute den Maden-Zahn, oder ein Jahrtausend den Haifisch-Zahn an eine Welt setze: das ist einerlei, zermalmt wird sie doch. Nicht bloß diese Erde ist eitel, sondern alles, das neben ihr durch den Himmel flieht und das sich nur in der Größe von ihr trennt. Und du holde Sonne selber, die du wie eine Mutter, wenn das Kind gute Nacht nimmt, uns so zärtlich ansiehest, wenn uns die Erde wegträgt und den Vorhang der Nacht um unsre Betten zieht, auch du fällest einmal in deine Nacht und in dein Bette und brauchst eine Sonne, um Strahlen zu haben! –

Es ist also sonderbar, daß man höhere Sterne oder gar die Planeten und ihre Tochterländer zu Blumenkübeln macht, in die uns der Tod steckt, wie etwa der Amerikaner nach dem Tode nach Europa zu fahren hofft. Die Europäer würden seinen Wahn erwidern und Amerika für die Walhalla der Abgeschiednen halten, wenn nur unsre zweite Halbkugel statt 1000 Meilen etwa 60 000, wie die bekannte des Mondes, entfernt von uns hinge. O mein Geist begehrt etwas anders als eine aufgewärmte, neu aufgelegte Erde, eine andre Sättigung, als auf irgendeinem Kot- oder Feuer-Klumpen des Himmels wächset, ein längeres Leben, als ein zerbröckelnder Wandelstern trägt; aber ich begreife nichts davon....

Komm nur recht bald zu meinem Kopfe, dem du die eine Locke genommen. solange ich lebe, soll die Seite, an der du den Lockenraub begangen, zum Andenken, was ich war und werde, ohne Zierde bleiben. etc.

Ottomar.«

*

Dichtende Genies sind in der Jugend die Renegaten und Verfolger des Geschmacks, später aber Proselyten und Apostel desselben, und den verzerrenden, mikroskopischen und makroskopischen Hohlspiegel schleift das Alter zu einem ebnen ab, der die Natur bloß verdoppelt, indem er sie malt. So werden die handelnden und empfindenden Genies aus Feinden der Grundsätze und aus Stürmern der Tugend größere Freunde von beiden, als fehlerlosere Menschen niemals werden. Ottomar wird einmal die übertreffen, die ihn jetzo tadeln können. Übrigens werd' ich ihn im Verfolge dieser Viel-Lebensbeschreibung nicht schelmisch behandeln, sondern ehrlich, ob ers gleich nicht hofft; denn vor seiner Reise, wo ich einigemal in den heißen Brennpunkt seiner Fehler geriet, zerfielen wir ein wenig miteinander: – seitdem glaubt er, ich hass' ihn von Herzen; allein ich glaube, ich lieb' ihn von Herzen, hab' aber, wie hundert andre, eine besondre Freude an meiner verheimlichten leidenden Liebe.


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