Jean Paul
Die unsichtbare Loge
Jean Paul

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Nach der Kirche trafen wir alle an der Sakristei zusammen. Ich gehe über Kleinigkeiten hinweg und komme sogleich dazu, daß wir sämtlich abzogen und daß Gustav unserer schönen Dauphine den Arm gab und nahm. Es war ein ruhiges Wandeln unter der festlichen Sonne und unter den Blüten der Gebüsche hinweg. Der Putz, die getäfelte Stirn, die wie Fiedelbogen-Haare hinübergespannten Stirn-Haare, die wie Zwiebelhäute übereinander liegenden Röcke des weiblichen Bauerstandes malten samt dessen anlachendem Angesicht uns den Sonntag heller vor, als alle halbe und ganze Parüren der Städterinnen können. Auch find' ich am Sonntage viel schönere Gesichter als an den sechs Werkeltagen, die alles im Schmutz vermummen.

Das Gespräch mußte gleichgültig bleiben – ich denke, selbst beim Vergißmeinnicht. Beata sah nämlich eines im Grase liegen und eilte hinzu und – da wars von Seide. »O ein falsches«, sagte sie. »Nur ein gestorbnes,« sagte Gustav, »aber ein dauerhaftes.« Unter Personen von einer gewissen Feinheit wird leicht alles zur Anspielung! Wohlwollen ist ihnen daher unentbehrlich, damit sie an keine andern Anspielungen als an gutmütige glauben. – Ich labte mich unter dem ganzen Wege am meisten daran, daß ich der Hintergrund und der Rückenwind war, der hintennach ging; denn wär' ich vorausgezogen, so hätt' ich den schönsten Gang nicht gesehen, in dem sich noch die schönste weibliche Seele durch ihren Körper zeichnete – Beatens ihren. Nichts ist charakteristischer als der weibliche Gang, zumal wenn er beschleunigt werden soll.

Im Tal fanden wir außer dem Schatten und Mittage noch etwas Schöneres, den Doktor Fenk. Er hatte ein kleines Speise-Concert spirituel unter den Bäumen angeordnet, wo wir alle wie Fürsten und Schauspieler offne Tafel, aber vor lauter satten musikalischen Zuschauern, vor den Vögeln, hielten. Wir hatten nichts darwider, daß zuweilen eine Blüte in den Tunknapf, oder in das Essiggestell ein Blättchen flatterte, oder daß ein Lüftchen das Zuckergestöber aus der Zuckerdose seitwärts wegblies; dafür lag der größte plat de ménage, die Natur, um unsern freudigen Tisch herum, und wir waren selber ein Teil des Schaugerichts. Fenk sagte und spielte mit einem herabgezognen Aste: »unser Tisch hätte wenigstens den Vorzug vor den Tischen in der großen Welt, daß die Gäste an unserem einander kennten; die Großen aber, z. B. in Scheerau oder Italien, speiseten mehr Menschen, als sie kennen lernten; wie im Fette des Tieres, das von den Juden so sehr verabscheuet und nachgeahmet würde, Mäuse lebten, ohne daß das Tier es merkte.«

Ein Arzt sei noch so delikat im Ausdruck: er ists doch nur für Ärzte.

Unter dem Kaffee behauptete mein lieber Pestilenziar, alle Kannen – Kaffee-, Schokolade-, Teekannen –, Krüge etc. hätten eine Physiognomie, die man viel zu wenig studiere; und wenn Melanchthon der Missionär und Kabinettprediger der Töpfe gewesen, so fehle noch ein Lavater derselben. Er habe einmal in Holland eine Kaffeekanne gekannt, deren Nase so matt, deren Profil so schal und holländisch gewesen wäre, daß er zum Schiffarzt, der mitgetrunken, gesagt, in dieser Kanne säße gewiß eine ebenso schlechte Seele, oder alle Physiognomik sei Wind: – da er eingeschenkt hatte, so war das Gesöff nicht zum Trinken. Er sagte, in seinem Hause werde kein Milchtopf gekauft, den er nicht vorher, wie Pythagoras seine Schüler, in physiognomischen Augenschein nehme.

»Wem haben wirs zuzuschreiben,« fuhr er in humoristischem Enthusiasmus fort, »daß um unsere Gesichter und Taillen nicht so viele Schönheitlinien als um die griechischen beschrieben sind, als bloß den verdammten Tee- und Kaffeetöpfen, die oft kaum menschliche Bildung haben und die doch unsere Weiber die ganze Woche ansehen und dadurch kopieren in ihren Kindern? – Die Griechinnen hingegen wurden von lauter schönen Statuen bewacht, ja die Sparterinnen hatten die Bildnisse schöner Jünglinge sogar in ihren Schlafzimmern aufgehangen.« – –

Ich muß aber zur Rechtfertigung von vielen hundert Damen sagen, daß sie dafür ja das nämliche mit den Originalen tun und daß damit auch schon etwas zu machen ist. –

Da ich in diesem Familien-Schauspiel für keine Göttin Achtung habe als für die der Wahrheit: so kann ich sie auch meiner Schwester nicht aufopfern, obgleich ihr Geschlecht und ihre Jugend sie noch unter die Göttinnen stellen. Es ärgert mich, daß sie zu wenig Stolz und zu viel Eitelkeit ernährt. Es ärgert mich, daß es sie nicht ärgern wird, sich hier gedruckt und getadelt zu lesen, weil ihr mehr am Gewinst der Eitelkeit durch den Druck als am Verlust des Stolzes durch den Tadel gelegen ist.

Stolz ist in unserem kriegslistigen Jahrhundert der treueste Schutzheilige und Lehns-Vormund der weiblichen Tugend. Niemand wird zwar von mir fodern, die Damen von meiner Bekanntschaft öffentlich zu nennen, die gewiß wie Mailand 40 mal (nach Keißler) wären belagert und 20 mal erobert worden, wären sie nicht brav stolz gewesen, ja wäre nicht eine davon an einem Abende voll Tanz zweiundeinhalbmal stolz gewesen; aber nennen könnt' ich sie, wollt' ich sonst.

Du lehrest mich, liebe Philippine, daß die edelsten Gefühle nicht immer die Gefallsucht ausschließen und daß ich außer dem Geschäfte, dich zu lieben, kein besseres haben kann als das, dich zu schelten – und deinen Medizinalrat Fenk auch, der gegen dich seiner sorgenlosen Laune zu weit nachhängt: zum Glück ist sie noch im Alter, wo Mädchen allemal den lieben, den sie am längsten gesprochen, und wo ihr Herz wie ein Magnet das alte Eisen fallen lässet, wenn man ein neues daran bringt.

Beata und Gustav berührten einander die wunden Stellen wie zwei Schneeflocken; sogar in der Stimme und der Bewegung schilderte sich zärtliches, schonendes, ehrliebendes, aufopferndes Ansichhalten. O wenn die Weigerungen der Koketterie schon so viel geben: wie viel müssen erst die gegenwärtigen der Tugend geben!

Der Nachmittag war auf den Flügeln der Schmetterlinge, die neben uns ihre tiefern Blumen suchten, davongeeilet; die Gespräche nahmen wie die Augen an Interesse zu, und wir schlenterten (oder schreibt mans mit einem weichen D?) auf der Allee-Terrasse hin, die den Berg wie ein Gürtel umwindet und auf der das Auge über die Einzäunungen des Tales in die Fluren hinübergehen kann. Gegen Westen rückte ein Gewitter mit seinem Donner-Tritt über den Himmel und hing sein Bahrtuch von schwarzem Gewölk über die Sonne. Die Gegend sah wie das Leben eines großen, aber nicht glücklichen Menschen aus; der eine Berg glühte vom Flammenblick der Sonne, der andre verdunkelte sich unter der niederfallenden Nacht einer Wolke – – drüben in der Abendgegend brauste im Himmel statt des Vogelgesangs das himmlische Pedal, der Donner, und in Reihen von weißen Wassersäulen riß sich der wärmende Regen vom Himmel los und füllte seine Blumenkelche und Gipfel wieder, aus denen er gestiegen war – es war der Seele so feierlich, als würde ein Thron für Gott errichtet, und alles wartete, daß er darauf niederstiege.

Gustav und Beata gingen, in den Himmel versunken, auf der Terrasse voraus; der Doktor, meine Schwester und ich in einer kleinen Ferne hinter ihnen. Endlich platzten auf dem Laube der Allee einzelne Regentropfen, die aus dem Saume der breiten Wetterwolke über uns flogen und fielen; – so bestreift ein donnerndes niederblitzendes Unglück der Nachbarschaft die entlegnen Länder nur mit einigen Tränen, die aus dem Auge des Mitleids entwischen. – Wir stellten uns alle unter die nächsten Bäume. Gustav und Beata standen seit vielen Monaten zum ersten Male wieder einsam nebeneinander, ohne Ohrenzeugen, obwohl neben Augenzeugen. Sie waren gegen Abend gekehrt und schwiegen. Es gibt Lagen, wo der Mensch sich zu groß fühlt, ein Gespräch heranzulenken, oder fein zu sein, oder Anspielungen zu machen. Beide verstummten fort, bis Gustav in der heißesten Sonnenwende seiner Empfindungen sich von der überschwemmten Abendgegend umkehrte zu Beatens Augen hin – ihre hoben sich langsam und unverhüllt zu seinen auf und der Mund unter ihnen blieb ruhig und ihre Seele war bei niemand als bei Gott und der Tugend.

Die Wolke war verronnen und verzogen. Der Doktor hatte heimzueilen. Niemand konnte aus seinem genießenden Schweigen heraus. So stumm waren wir alle die Terrasse hinunter gekommen – und jedes war auch schon von seinem belaubten Regenschirme hinweg –, als auf einmal die tiefe Sonne die schwarze Wolkendecke durchbrannte und entzweiriß und den Leichenschleier des Gewitters weit zurückschlug und uns überstrahlte und die glimmenden Gesträuche und jeden feurigen Busch.... Alle Vögel schrien, alle Menschen verstummten – die Erde wurde eine Sonne – der Himmel zitterte weinend über der Erde vor Freude und umarmte sie mit heißen unermeßlichen Lichtstrahlen. –

Die Gegend brannte im himmlischen Feuerregen um uns; aber unsere Augen sahen sie nicht und hingen blind an der großen Sonne. Im Drang, das Herz von Blut und Freude loszumachen, versank Gustavs Hand in Beatens ihre – er wußte nicht, was er nahm – sie wußte nicht, was sie gab, und ihre gegenwärtigen Gefühle erhoben sich weit über geringfügige Versagungen. Endlich legte sich die umdonnerte Sonne wie ein Weiser ruhig unter die kühle Erde, ihr Abendrot ruhte glühend unter dem blitzenden Wetter, sie schien wie eine Seele zu Gott gegangen zu sein, und ein Donnerschlag fiel in den Himmel nach ihrem Tode....

Es dämmerte.... die Natur war ein stummes Gebet.... Der Mensch stand erhabener wie eine Sonne darin; denn sein Herz faßte die Sprache Gottes.... aber wenn in das Herz diese Sprache kommt und es zu groß wird für seine Brust und seine Welt: so hauchet der große Genius, den es denkt und liebt, die stillende Liebe zu den Menschen in den stürmenden Busen, und der Unendliche lässet sich von uns sanft an den Endlichen lieben....

Gustav empfand die Hand, die in seiner pulsierte und aus ihr herausstrebte – er hielt sie schwächer und sah in das schönste Auge zurück – seines bat Beaten unendlich rührend um Vergebung der vergangnen Tage und schien zu sagen: »O! nimm in dieser seligen Stunde auch meinen letzten Kummer weg!« – Als er nun leise mit einem Tone, der so viel war wie eine gute Tat, fragte: »Beata?« und als er nicht weitersprechen konnte und sie das errötende Angesicht zur Erde wandte und aufhörte, ihre Hand aus seiner zu ziehen, und tief gerührt wieder aufsah und ihm die Träne zeigte, die zu ihm sagte: »Ich will dir vergeben«: so wurden aus zwei Seelen, die noch größer waren als die Natur um sie, zwei Engel, und sie fühlten den Himmel der Engel – sie standen und schwiegen, in unendliche Dankbarkeit und Entzückung verloren – er nahm endlich, zitternd vor hochachtender Freude, ihren bebenden Arm und erreichte uns.

Den Sabbat schlossen stille Gedanken, stille Entzückungen, stille Erinnerungen und ein stiller Regen aus allen entladenen Gewittern.


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