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Es war ein blauer frischer Sommertag, da Albano nach seinem alten Blumenbühl ging, ohne zu wissen, daß ers gerade an dem Jakobi- oder väterlichen Geburtstag tue, den er einmal in der Kindheit mit so seltsamen Vorspielen seines Lebens verbracht. In den alten Gärten und auf den alten Höhen umher bis nach Lilars Walde hinüber lag überall noch der junge schimmernde Tau der Kindheit unvertrocknet von der Sonne Hesperiens; auch manche Tränentropfen standen darunter auf Blumen; aber sein frischer genesender Geist wehrte sich jetzt gegen weiches Verschwimmen in die laue Verflossenheit, diese Lethe der Gegenwart. Im Dorfe wurd' er über ein Pferd, das man beschlug, betroffen, weil ers am Zeuge und allem als Roquairols Freudenpferd erkannte. Ein Fest trug er in das Fest hinein, als er in die laute Vaters-Stube voll Geburtstagswähler trat, blühend, entwickelt, gerade, ein befestigter Mann mit entschiednem Blick und Zug. Rabette schrie auf – Roquairol rief: »Aha!« – und der alte Lehrer Wehmeier: »Gott und mein Herr!« – und seine Kindheits-Engel, die Eltern, umfaßten ihn unverändert, und aus Albinens blauen Augen rannen die hellen Tropfen.
Aber verändert stand die fremde Jugend neben seiner. Rabettens Angesicht, die vorigen vollen Wangen und blühenden Lippen waren niedergefallen und mit dem aufliegenden weißen Schleier überlegt und verwachsen, und sie hatte zwei graue Tränen statt der Augen; indes lächelte sie sehr. Wie sein eignes Gorgonenhaupt erschien Roquairols Gesicht blaß und hart, gleichsam auf seinen Grabstein gehauen; nur schroffe Pfeiler standen in der Flut ohne die leichten Bogen der schönen Brücke. Zu Albanos Blüten-Stamme sahen Albine und Rabette unverwandt hinauf, er schien ein italienisches Gewächs zu sein, ein Neapolitaner, im täglichen Bade des Golfs genervigt. Roquairol hatte sogleich seine Rolle in der Gewalt, leichter als Albano seine Wahrheit; er benahm sich gegen den, der ihm den Zauberstab des Lebens entzweigebrochen und als zwei Bettelstäbe hingeworfen hatte, mit der höchsten Höflichkeit, küßte ihn auf die Wange, hielt ihn dem leichtesten, oft französischen Sprachton aus, zog die nächsten Nachrichten über Welschland ein und gab wieder die erheblichsten, so gut er sie, sagt' er, für einen Mann mit hesperischem Maßstab auftreibe, aus dem Lande zum besten. Auch erzählte er, »daß des Ritters Bruder dagewesen, ein Mann voll Talente, zumal mimischer Art, und von der sonderbar-heftigsten Phantasie bei der höchsten Kälte des Charakters, vielleicht aber nicht immer wahr genug.« – »Bei meinem Trauerspiel« (setzt' er dazu) »wär' er Goldes wert. Lieber Bruder, sei bei dieser Gelegenheit auch gleich eingeladen dazu; es heißet: der Trauerspieler – Ich geb' es bald – Rabette kennts.« Sie nickte, Albano schwieg unter seiner Glut. Unter allen Rollen gelang dem Hauptmann die eines Weltmanns am reinsten; auch ist der Schein der Kälte leichter und wahrer als der Schein der Wärme. Albano blieb in einem stolzen Abstande. Der gekränkten welken Rabette gegenüber konnte Roquairol durch nichts gewinnen, auch nicht durch die Vorbitte seiner Gestalt voll zertrümmerten Lebens; etwas auf ewig Verworrenes und die Wachsflügel zu einem Klumpen gequetscht fand Albano, und ihm war hier enge wie einem, der von der hellen Welt herab auf einmal in eine niedrige feuchte Kellerhöhle kriecht.
Der Hauptmann stand auf, erinnerte noch einmal an seine Bitte für den »Trauerspieler« und sprengte auf dem Freudenpferde davon.
Hinter ihm schwieg jeder von ihm wie verlegen. Die Weiber, von Albanos glänzender Gegenwart ein wenig scheu, getraueten sich nur schwer mit der alten einheimischen Vergangenheit hervor, indes der Pflegevater Wehrfritz, in seinen Meinungen und Sitten fortgewachsen, noch in das alte Geschrei der Kanarienvögel und Hunde eingefasset, gar keine Zeit kannte, dem Pflegesohne innigen Dank für die verbindliche Erinnerung und Wahl seiner Geburtstagsfeier sagte, den Albano notwendig und vergeblich ausschlug, im vorigen Du und Vaterwesen fortfuhr, sich über die Franzosen und ihre künftigen Siege entzückte und jetzt dem ältern Pflegesohne mehr Prämien des Lobes als jemals dem jüngern bewilligte, um ihm dadurch, hofft' er, ein so großes Vergnügen zu machen wie sonst. Der Magister unterstützte von weitem das Lob, ob er gleich nicht unterlassen konnte, sofort, als sein Schüler Neapel, Baja, Cuma ausgesprochen hatte, eine Gelegenheit zu ergreifen, um Neapel, Bajä, Cumä auszusprechen. Albano war rein, wahr, menschlich, offen und herzlich gegen alle; Eitelkeit war nicht in seinem selbstvergessenen Stolz.
Rabette fand endlich ein Hebezeug, den glänzenden und doch trauten Bruder aus dem Gastzimmer in ihres oder sein voriges aufzuwinden, um allein zu sein an seiner Brust. Als sie hineintraten, so fing sie sogleich mit den Worten: »Kennst du die Stube noch, Albano?« unendlich zu weinen an mit den so lange gesammelten Tränen; und Albano zeigt' ihr in den seinigen sein langes bisheriges Mitleiden, riß aber dadurch die ganze wundenvolle Vergangenheit auf. Sie griff selber zum Heilmittel, zum Erzählen – so sehr er auch vorschützte, er wisse und errate ja alles –; und berichtete, die Augen trocknend, wie alles stehe – und »daß Karl viel bei seiner Mutter in Arkadien sei – daß der Minister noch gegen das einzige Kind den alten Wütrich mache und ihm nicht einen Heller mehr als sonst zuschieße, ob er gleich immer große und größere Schulden häufe, zumal seitdem keine Liane sie mehr im stillen tilge – daß er überall borge, nur aber von ihr nichts annehme – daß er noch immer weiter nichts begehre und kenne als die Gräfin – und daß Gott wisse, wohinaus das alles noch wolle«. – Allem Fragen zuvorkommend, setzte sie dazu: »Er weiß schon jetzt alles, dein ganzes Leben mit derselbigen Person – er tut dabei still und lustig, aber ich kenn' ihn genugsam. – Ach!« seufzete sie in der Jammer-Fülle und setzte sogleich mit derselben Stimme dazu: »Du siehst mich an, nicht wahr, du findest mich sehr mager gegen sonst?« – »Jawohl, Arme!« sagte er. »Ich trank viel Essig seinetwegen, weil Karl schlanke Taillen liebt; und der Gram tut auch viel«, sagte sie.
Albano wollte sie trösten mit der nähern Möglichkeit einer Verbindung Karls mit ihr, seit der entschiednen Unmöglichkeit jeder andern, und bot sich ihr gern zu jedem Vorwort und Zwangsmittel an; – »er ist vor Gott und uns dein Mann«, sagt' er. »Das hat er nie« (versetzte sie errötend) »sein mögen, nämlich honett; ich schrieb dir ja, daß ich jetzt auch zu stolz bin dazu.« – Nichts bestach ihn mehr als sittlicher Stolz: »So wirf ihn einmal weg auf immer!« sagt' er. – »Ach,« (sagte sie bänglich) »weiß ich denn, daß er kein Leid gegen sich selber vorhat? – Dann würf ich mirs ewig vor.« Unwillkürlich mußte er mit dieser liebenden heiligen Furcht die Härte der Fürstin vergleichen, die es so froh und stolz erzählen konnte, daß manches verliebte Leben das Opfer ihres spröden Herzens und koketten Gesichts geworden. »Was willst du nun tun?« fragt' er. »Ich weine« (sagte sie) – »ach Alban, das ist ja genug, daß du mir Gehör und Rat gegeben; ich bin wieder ganz heiter. Aber werde wieder sein Freund.«
Er schwieg, über die weibliche Unart ein wenig erzürnt, die unter dem Vorwand, Rat zu suchen, nur Gehör verlangt. »Was ist das,« (fragt' er, ein Blatt ihr zeigend) »das ist völlig meine Hand, und ich hab' es nie geschrieben?« – Sie sah es und sagte: »Karl probiere oft so in den Händen bei ihr.« Es wunderte ihn, und er sagte: »Überall nur Nachspielen und Nachmachen! Aber wie kannst du denken, daß ich ihm vergebe?« – Einige Reisebeschreibungen auf ihrem sonst bücherarmen Nachttisch fielen ihm auf, »ich wollte doch wissen,« (sagte sie) »wie es dir etwan da und dort mochte ergehen, und las deshalb das lange Zeug.« – »Du bleibst meine Schwester!« sagt' er und küßte sie herzlich. Sie fragte ihn noch viel und zudringlich über sein neues Verhältnis, aber er eilte wortkarg mit dem vollen Herzen hinab. –
Das erste Wort drunten an den Landschaftsdirektor war die Bitte um das »deponierte Schoppische Schreiben«. Wehrfritz brachte den im Eisenkästchen der Schuldscheine aufbewahrten breiten Brief und lieferte ihn hoffentlich, wie er sagte, richtig ab. Kaum hielt Albano die Tränen zurück, als er die krausen, aber werten Spuren der geliebten Hand, die gewißlich nie im Leben gewankt oder sich befleckt, in der seinigen hielt. Da er nichts erbrach, so fingen sie alle gutmütig an, ihm seinen Freund Schoppe nach den Mutmaßungen und Ansichten, die sich der Mensch über jeden höhern Geist so keck und froh erlaubt, mit allen seinen Taten oder Farben vorzuschildern, als wären Taten oder Farben Striche und Umriß. Wehrfritz und Wehmeier bedauerten, daß er toll würde, wenn ers nicht schon sei. Der Magister hielt mit seinem Hauptbeweise zurück, bis der Landschaftsdirektor die kleineren Nebenbeweise beigebracht.
Sein Leben unter diesem Schloßdache wurde ab- und aufgedeckt, aber im guten. Er hatte bisher – so gingen die Berichte – nichts Reelles oder Solides »bezweckt«. Wehrfritz schwur, er habe selber zugesehen, daß er die Literaturzeitung so gelesen, wie sie ineinander Halbbogen-weise steckte, und sagte, daß ers freilich weniger der Tollheit als einer Geistes-Abwesenheit zuschreibe, weil er wisse, mit welcher Lust er immer den Reichsanzeiger – den solcher selber für den Torschlüssel der Reichsstadt Deutschland erkläret – in die Hand genommen und verständig durchgegangen. Mitten in der Gesellschaft hab' der Bibliothekar seine Hände angesehen mit den Worten: »Da sitzt ein Herr leibhaftig und ich in ihm, wer ist aber solcher?« – Gearbeitet hab' er sehr wenig, Bücher von Gewicht, wie Herr Wehmeier wisse, selten angesehen, leichter die allerschlechtesten von Bauern, z. B. ganze Traumauslegebücher. – Sein liebster Umgang sei ihm sein Wolfshund gewesen, mit dem er stundenlang ordentlichen Diskurs geführt und von dessen Murren er ernsthaft behauptet, es klinge wie ein sehr ferner Donner. – Gern sei er vor dem Spiegel gesessen und habe sich in ein langes Gespräch mit sich eingelassen; zuweilen hab' er in die camera obscura gesehen, dann schnell wieder in die Gegend, um beide zu vergleichen, und habe unoptisch genug behauptet, die laufenden regen Bilder der camera würden von der äußern Welt vergrößert, aber täuschend nachgeäfft. »Ein schlauer Vogel« (setzte der Direktor dazu) »bliebs bei alledem; verschiedene meiner Bekannten auf den benachbarten Rittersitzen ließen sich von ihm malen, weil ers wohlfeil gab; er wußte aber immer etwas ins Gesicht einzuschieben, daß einem die Physiognomie ganz lächerlich oder einfältig vorkam; und das hieß er sein Schmeicheln. Natürlich saß ihm in die Länge nichts Honettes mehr.«
»Wär' es mir verstattet,« (fing Wehmeier an) »so würd' ich jetzt dem Herrn Grafen ein Faktum vom Herrn Bibliothekar mitteilen, das vielleicht, das ist wenigstens meine Meinung, so frappant ist als manches andere. Die Schulwohnung ist, wie Sie gewiß noch wohl wissen, dicht an der Kirche.« Darauf gab er in einer langen Erzählung diese: Einst sei in der tiefen Mitternacht die Orgel gegangen – Er habe an der Kirchtüre gelauscht und Schoppen deutlich einen kurzen Vers aus einem Hauptlied singen und orgeln hören – Darauf sei dieser laut vom Chore herab und auf die Kanzel hinaufgestiegen und habe eine Kasualpredigt an sich selber mit den Worten angefangen: »Mein andächtiger Zuhörer und Freund in Christo« – Im Exordium hab' er das stille, leider so schnell vergangne Glück vor dem Leben berührt, obwohl nicht nach rechter Homiletik, da der zweite Teil fast den Eingang repetieret – darauf einen Kanzelvers mit sich gesungen und aus Hiob, Kap. 3, wo dieser die Freude des Nicht-Seins zeigt, den 26sten Vers verlesen, der so lautet: »War ich nicht glückselig? war ich nicht fein stille? hatt' ich nicht gute Ruhe? Und kommt solche Unruhe« – Vorgestellt hab' er sich: die Leiden und Freuden eines Christen; im ersten Teil die Leiden, im zweiten die Freuden – Hierauf hab' er, aber auf närrische Art und Sprache, aber doch auch mit Bibelsprüchen, die Not auf der Welt kurz zusammengedrängt, worunter er sehr unerwartet sonderbare Sachen, lange Predigten, die beiden Pole, häßliche Gesichter, die Komplimente, die Spieler und die Welt-Dummheit, gezählt – Darauf sei er zum Trost im zweiten Teile vorgeschritten und habe die künftigen Freuden eines Christen beschrieben, welche, wie er lästerlich gesagt, in einer Himmelfahrt ins zukünftige Nichts, in dem Tode nach dem Tode bestanden, in einer ewigen Befreiung vom Ich – Da hab' er, grausend sei es zu hören gewesen, die benachbarten Toten unten in der Kirche und in der fürstlichen Gruft angeredet und gefragt: ob sie zu klagen hätten? »Ersteht,« (sagt' er) »setzt euch in die Stühle und schlagt die Augen auf, falls sie naß sind. Aber sie sind trockner als euer Staub. O wie liegt die unendliche Vorwelt so still und schön gewickelt in den eignen Schatten, auf das Bette der Selbst-Asche weich gelegt, und hat nicht ein Traum-Glied mehr, in das eine Wunde geht. Swift, alter Swift, der du sonst so sehr in der letzten Zeit nicht bei Verstande warst und an jedem Geburtstage das ganze Kapitel durchlasest, woraus der heilige Text unserer Erntepredigt genommen ist, Swift, wie bist du nun so zufrieden und gänzlich hergestellt, der Haß deiner Brust ausgebrannt, die Zahlperle, dein Ich, in der heißen Träne des Lebens endlich zerbeizt und zerlassen, und diese steht allein hell da! – Und du hattest vor dem Küster gepredigt wie ich.« – Hier habe Schoppe geweint und sich über die Rührung, Gott weiß vor wem, entschuldigt – Darauf sei er an die Nutzanwendung gegangen und habe scharf auf Besserung des Zuhörers und Predigers gedrungen, auf lautere redliche Wahrhaftigkeit, Freundestreue, stolzen Mut, bittern Haß der Süßlichkeit, des Schlangengangs und weicher Unzucht – Endlich hab' er mit einer Bitte an Gott, daß er ihn, sollt' er einmal Gesundheit oder den Verstand oder dergleichen verlieren, doch möge sterben lassen wie einen Mann, die Andacht beschlossen und sei auf einmal aus der Kirchentüre herausgefahren. »Er brachte mich« (setzte Wehmeier dazu) »fast um meinen Verstand durch Schrecken, da er auf einmal zornig mich anfuhr: 'Scheinleiche, was schleichst du ums Grab?' und ich machte mich entfärbt und hurtig nach Hause, ohne ihm das geringste darauf versetzt zu haben. Was sagen aber der Herr Graf?« –
Albano schüttelte den Kopf mit Heftigkeit, ohne ein belehrendes Wort, mit Schmerz und Tränen auf dem Gesicht. Er nahm bloß schnell von allen Abschied und bat sie um Vergebung der Eile; – und suchte Abend-Sonne und die Freiheit, um des edlen Menschen Brief und die Absicht seiner Reise zu lesen. Er schlug den alten Weg nach Lilar ein, wo er an der frohen südlichen Brust seines frohen Dians wieder die südliche Heiterkeit und Gewohnheit zu finden hoffte; denn sein Herz war durch ein Erdbeben aufgedrängt und aufgehoben, weil ihm in diesem Schoppe doch manches wilde Zeichen, gleichsam ein übermäßiges Leuchten und Blitzen dieses Gestirns, einen Untergang und Jüngsten Tag zu melden schien, den er zu seinem höchsten Schmerz dem Aufgehen des neuen Sterns der Liebe, der diese Welt anzündete, zuzuschreiben gezwungen war.