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Am Morgen darauf fuhren beide Freundinnen nach Arkadien. Julienne – obwohl betrübter durch ihren kränkern Bruder – heiterte sich durch das Vertrauen auf einen Plan auf, den sie ungeachtet ihrer Versicherung zum Glücke des gesunden entworfen, um ihn in Arkadien auszuführen Sie verbarg öfters, wie andere hinter den schwarzen Trauerfächern der Trauer und Empfindung, so hinter dem heitern Putzfächer des Lachens, der den Zuschauern die bemalte Seite zukehrte, ihren Kopf mit seinen Entwürfen; unter Lachen und Weinen ging und dachte sie diesen nach. So hatte sie an Albano die Bitte, Idoine mit zu besuchen, nur aus Schein und in der Gewißheit getan, daß er sie abschlage, oder im Falle er komme, daß es dann Idoine tue; denn sie wußte aus Idoinens Besuchen im vorigen Winter, daß diese an den von ihr hergestellten schönen Fieberkranken häufig in Gesprächen gedacht und daß sie jetzt vor seiner Ankunft geflohen war, um nicht über seine helle liebende Gegenwart, die ihr am leichtesten durch die Fürstin bekannt geworden, als ein Gewölke aus der Vergangenheit hereinzuziehen voll trüber Ähnlichkeiten. Julienne hatte sogar erfahren, daß die Fürstin sie umsonst länger halten und aufbewahren wollen, um vielleicht den Jüngling durch sie zu erinnern, zu schrecken, zu ändern, oder zu strafen. Juliennens Liebe gegen die Prinzessin wäre durch jene zarte Flucht vor Albano vielleicht so warm geworden, als die gegen Linda war, wenn eben diese Liebe nicht dazwischen gestanden hätte; wenigstens hatt' ihr diese schöne Flucht ein ungemessenes Vertrauen – was eben das rechte und einzige ist – auf die Prinzessin gegeben.
Der Reisetag war ein schöner Ernte-Morgen voll bevölkerter Kornfluren, voll Kühle und Tau und Lust. Linda freuete sich kindlich auf Idoine und sagte die Gründe in frohem Tone: »Zuerst weil sie deinem Bruder das Leben gerettet – und weil sie doch wußte, was sie wollte, und darauf mutig beharrte und sich nicht wie andere Prinzessinnen zum Opfer des Thrones verhandelte – und weil sie die deutscheste Französin ist, die ich kenne, außer der Madame Necker – ja mir gehört sie ordentlich mit aller schönen Jugend unter die alten Frauen, und diese sucht' ich von jeher vor, denn es ist doch etwas von ihnen zu lernen. Dich liebt' sie sehr, mich, glaub' ich, weniger, einem so reizenden Mittelding von Nonne und Ehefrau schein' ich zu weltlich, ob es gleich nicht ist.«
Beide kamen im schönen Zauberdorfe – als schon die netten Kinder sich zur Ährenlese verbündeten und die Wagen schon den Sammlern der Garben entgegenfuhren – nachmittags vor dem Mittagessen an. Idoinens Bruder, der künftige Erbfürst von Hohenfließ – der Zwerg in Tivoli –, sah aus dem Fenster, und Julienne bedauerte fast die Reise. Idoine flog ihr entgegen und drückte sie herzlich an die Brust. Als Julienne diese große blaue Augen und jeden verklärten Zug der Gestalt, die einst ihr Bruder so selig und schmerzlich geliebt, vor und auf ihrem Angesicht hatte: so glaubte sie jetzt, da sie seine Schwester geworden, gleichsam als seine Stellvertreterin die Liebe der Stellvertreterin Lianens zu empfangen; und sie mußte, wie allzeit seit diesem Tode bei dem ersten Empfange, innig weinen.
Linda wurde von der Prinzessin mit einer so tiefen Zärtlichkeit empfangen, daß sich Julienne wunderte, da sonst beide in einem Wechsel von Kälte und Liebe lebten. Die Ministerin Froulay stand da, von der Trauer so alt, kalt, still und höflich, so kalt gegen die Zeit und die Menschen (ausgenommen das Ebenbild ihrer Tochter), besonders gegen Linda, deren kecker, entschiedner, philosophischer Ton ihr unweiblich und eine Trommete an zwei Frauen-Lippen zu sein schien.
Der künftige Erbprinz von Hohenfließ entfernte sich zum Glücke bald von einem so unbequemen Ort, wo er auf einem Schiffbruchsbrett statt in einer Gondel fuhr. Nachdem er Julienne mit Anteil um das Befinden ihres Bruders, seines jetzigen Vorfahrers, gefragt – und sie und Linda an ihre und seine welsche Reise erinnert hatte: so wurd' er über Juliennens Kaltsinn und über die moralischen Gespräche der Weiber und über einen gewissen sittlichen Gewitterdruck – den Lüstlinge bei Weibern empfinden, wo alles Rauhe, die Selbsucht, die Anmaßung als Mißton schreiet – und über die allgemeine plagende Heuchelei – wofür er sogleich alles nehmen mußte – so verdrüßlich und verstimmt, daß er leicht aufbrach und dieses Schäferleben um den einzigen Wolf verkürzte, der darin schlich. Lüstlinge halten es unter vielen edlen Frauen, gedrückt von deren vielseitigen scharfen Beobachtungen, nie lange aus, obwohl leichter bei einer allein, weil sie diese zu verstricken hoffen. Was ihm am wehesten tat, war, daß er sie alle für Heuchlerinnen erklären mußte. Er fand keine gute Weiber, weil er keine glaubte; da man sie glauben muß, um sie da zu sehen, wo sie sind; so wie die Tugend üben, um sie zu kennen, nicht umgekehrt.
Mit ihm schien eine schwarze Wolke aus diesem Eden und Äther wegzuziehen. Die Ministerin erhielt eine Karte von ihrem Sohne Roquairol, der eben angekommen, und ging auch – zu Juliennens Freude, die an ihr ein kleines Hindernis ihres Bekehrungsplans für Linda fand, weil diese die Ministerin für eine einseitige, enge, bängliche, unnachgiebige Natur ansah. Idoine bat die beiden Jungfrauen, ihr kleines Reich mit ihr zu bereisen. Sie gingen hinab ins reine weite Dorf. Auf den Treppen begegneten ihnen heitere dienstgefällige Gesichter. Aus den fernen Zimmern des Schlosses hörte man bald Singen, bald Blasen. Wie am Vogel sich das glänzende Gefieder schnell und glatt in- und auseinanderschiebt: so bewegten um Idoine sich alle Geschäfte; ihre ökonomische Maschine war keine plumpe knarrende Turmuhr, sondern ein spielende Bilderuhr, welche hinter Töne die Stunden, hinter Bilder die Räder versteckt.
In einem Wiesengarten spielten die jüngsten Kinder wild durcheinander. Herrnhutische und holländische Reinlichkeit hatten das Dorf zu einer glatten hellen Putzbude gewaschen und gemalt. Neu und blank hing der Eimer über dem Brunnen – unter der Linden-Rotunda des Dorfs war die Erden-Diele sauber gekehrt – überall sah man reine, ganze, schöne Kleider und freudige Augen – und Idoine zeigte unter der fremden Heiterkeit bedeutenden Ernst in den Blicken, womit sie ihr Arkadien Blume nach Blume prüfte.
Sie führte ihre Freundinnen über die verschiednen Sonntags-Tanzplätze der verschiednen Alter, vor dem Hause des Amtmanns vorüber, worin die Ministerin wohnte und jetzt, zu Juliennens Furcht, ihr Sohn war, in die helle schmucklose Kirche. Bald kamen ihr der Pfarrer und Amtmann, für welche das Vorübergehen ein Wink gewesen, in die Kirche nach und holten von ihr Aufträge; beide waren junge schöne Männer mit offner Stirn und ein wenig Jugendstolz. – Als man aus der Kirche war, sagte sie: durch diese jungen Männer regiere sie über den Ort, und sie selber lenke sie sanft; nur junge seien mit Haß und Mut gegen den Schlendrian und mit Enthusiasmus und Glauben ausgerüstet. Sie setzte scherzhaft dazu, nichts beherrsche sie als eine Schule von Mädchen, an der ihr mehr gelegen sei als an der andern, weil Erziehung Angewöhnung sei und diese ein Mädchen mehr als ein Knabe brauche, dem die Welt doch keine lasse; und sie habe einigen Hang, eine la Bonne zu sein, weil sie es schon als Mädchen oft bei ihren Schwestern habe sein müssen.
Sie führte beide darauf in mehrere Häuschen; überall fanden sie ausgeweißte geordnete Zimmer, Blumen und Weinreben an Fenstern, schöne Weiber und Kinder, und bald eine Flöte, bald eine Violine, und nirgends ein spinnendes Kind. In allen hatte sie Aufträge zu geben, und was bloßer Spaziergang schien, war auch Geschäft. Sie zeigte einen scharfen Durchblick durch Menschen und ihr verwachsenes Treiben und einen Geschäftsverstand, der das Allgemeine und Besondere zugleich besaß und verknüpfte: »Ich wünschte freilich auch« (sagte sie) »nur Freuden und Spiele um mich; aber ohne Arbeit und Ernst verdirbt das Beste in der Welt; nicht einmal ein rechtes Spiel ist möglich ohne rechten Ernst.« – Linda lobte sie, daß sie alle an Musik gewöhnte, diesen rechten Mondschein in jedem Lebens-Dunkel; »ohne Poesie und Kunst« (setzte sie dazu) »vermoose und verholze der Geist im irdischen Klima.« – »O was wäre ohne Töne der meinige?« sagte Idoine feurig.
Linda fragte nach dem Bürgerrechte in diesem heitern Staate. »Meistens bekamen es Schweizerfamilien,« (sagte Idoine) »die ich an Ort und Stelle selber kennen lernte auf meiner Reise. Nach den Französinnen stell' ich sogleich meine Schweizer.« – Julienne versetzte: »Sie sagen mir Rätsel vor.« Sie lösete ihr sie, und Linda, die kurz nach ihr in Frankreich gewesen, bestätigte es, daß da unter den Weibern von gewissem höhern Ton, zu denen kein Crebillon je hinaufgekommen, eine in Deutschland ungewöhnliche Ausbildung der zartesten Sittlichkeit, beinahe Heiligkeit gegolten. »Nur« (setzte Linda hinzu) »hatten sie in der Sittlichkeit, wie in der Kunst, Vorurteile des feinen Geschmacks und mehr Zartheit als Genie.« –
Sie gingen zum Dorfe hinaus, der schönsten Abendsonne entgegen; auf den Bergen antworteten sich Alphörner, und im Tale gingen heitere Greise zu leichten Geschäften. Diese grüßte Idoine mit besonderer Liebe, weil es, sagte sie, nichts Schöneres gebe als Heiterkeit auf einem alten Gesicht, und unter Landleuten sei sie immer das Zeichen eines wohl und fromm geführten Lebens.
Linda öffnete ihr Herz der goldnen Gegenwart und sagte: »Wie müßte dies alles in einem Gedicht erfreuen! Aber ich weiß nicht, was ich dagegen habe, daß es nun so in der wirklichen Wirklichkeit da ist.« –
»Was hat Ihnen« (sagte Idoine scherzend) »diese genommen oder getan? Ich liebe sie; wo sind Sie für uns denn anders zu finden als in der Wirklichkeit?« – »Ich« (sagte Julienne) »denke an etwas ganz anderes: man schämt sich hier, daß man noch so wenig tat bei allem Wollen. Vom Wollen zum Tun ists hier doch weit« (fügte sie dazu, indem sie den kleinen Finger aufs Herz aufsetzte und die Hand vergeblich nach dem Kopf ausspannte) – »Idoine, sagen Sie mir, wie kann man denn ans Große und Kleine zugleich denken?« – »Wenn man ans Größte zuerst denkt« (sagte sie) – »Wenn man in die Sonne hineinsieht, wird der Staub und die Mücke am sichtbarsten. Gott ist ja unser aller Sonne.«
Die Erden-Sonne stand ihnen jetzt tief auf einer unabsehlichen Ebene unter milden Rosen des Himmels entgegen – eine ferne Windmühle schlug breit durch die schöne Purpur-Glut – an den Bergabhängen sangen Kinder neben den geweideten Herden, und ihre kleinern Geschwister spielten bewacht – die Abendglocke, welche in Arkadien allzeit unter dem Scheiden der Sonne gezogen wurde, wiegte die Sonne und Erde mit ihren Tönen ein – nicht nur jugendlich, sogar kindlich lag das sanfte Dörfchen und seine Welt um sie her – kein Sturm, dachte man, kann hereingreifen in dies sanfte Land, kein Winter im schweren Eispanzer hereinschreiten, hier ziehen nur, dachte man, Frühlingswinde und Rosenwolken, keine Regen fallen als Frühregen und keine Blätter als der Blüten ihre, nur Staub aus Blumen kann steigen, und den Regenbogen halten nur Vergißmeinnicht und Maiblumen auf ihren blau und weißen Blättchen – die Gegend und alles und das Leben schienen hier nur eine unaufhörliche Morgendämmerung zu sein, so frisch und neu, voll Ahnung und Gegenwart ohne Glut und Glanz, und mit einigen Sternen über dem Morgenrot.
Kinder mit Ähren-Sträußern in der Hand saßen auf fremden Wagen voll Garben und fuhren stolz herein.
Idoine hing mit inniger Liebe, als wär' alles neu durch diesen Abend, an den doppelten Gruppen. »Nur der Landmann allein ist so glücklich,« (sagte sie) »daß er in allen arkadischen Verhältnissen seiner Kindheit fortlebt. Der Greis sieht nichts um sich als Gerätschaften und Arbeiten, die er auch als Kind gesehen und getrieben. Endlich geht er jenen Garten drüben hinauf und schläft aus.« – Sie zeigte auf den Gottesacker am Berge, der ein wahrer Garten mit Blumenbeeten und einer Mauer aus Fruchtbäumen war. Julienne blickte erschüttert hin, sie sah den schwarzen Vorhang zittern, hinter welchen ihr kranker Bruder bald getrieben wurde.
Mit durchsichtigem Abend-Goldstaub war der Garten überweht – der laute Tag war gedämpft und das Leben friedlich, Ölzweige und ihre Blüten sanken aus dem stillen Himmel langsam nieder. – »Dort ist der einzige Ort,« (sagte Idoine) »wo der Mensch mit sich und andern einen ewigen Frieden schließet, sagte so schön zu mir ein französischer Geistlicher.« – »Solchen christ-katholischen Jammergedanken« (versetzte Linda) »bin ich so gram wie den Geistlichen selber. Wir können so wenig eine Unsterblichkeit erleben als eine Vernichtung.« – »Ich versteh' das nicht« (sagte Julienne) – »ach Idoine, wenn es nun keine Unsterblichkeit gäbe, was täten Sie?« – »J'aimerois«Ich würde lieben., sagte sie leise zu ihr.
Plötzlich wurde vor ihnen wie aus weiter Ferne gesungen: »Freut« – dann spät »euch des« – endlich »Lebens« – »Das ist aus dem Gottesacker das Echo«, sagte Idoine und suchte zur Rückkehr zu bereden. »Echo und Mondschein und Gottesacker zusammen« (fuhr sie scherzend fort) »sind wohl zu stark für Frauenherzen.« – Dabei berührte sie ihr Auge mit einem Wink an Julienne, gleichsam als tu' es ihr weh, daß die Gräfin nur hinter dem Nebel ihrer Augen den schönen Abend von fernen stehen sehe. »Die Singstimme klingt mir so bekannt«, sagte Linda. »Roquairol ists, nichts weiter, wollen wir fort!« sagte Julienne; aber Linda bat zu bleiben, und Idoine willigte höflich ein.