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1923

Paris. 2. Januar 1923. Dienstag

Heute tritt hier die Reparationskonferenz der Alliierten zusammen: Bonar Law, Poincaré, Theunis, Torretta.

Nachmittags auf der Botschaft Mayer, Hoesch, Renthe-Fink gesprochen. Mayer behielt mich eine Stunde, sprach die ganze Zeit, meistens sein eigenes Lob, dazwischen einige ganz kluge Bemerkungen. Er meinte, die Franzosen (oder, wie er sich ausdrückte, ohne näher zu präzisieren ›er‹, worunter er Poincaré meint) wollen unter allen Umständen ›des gages‹ (Hoesch meinte, ›des gages‹ vor allem, noch lieber als Bezahlung). Unser Angebot werde sicher verworfen, Bergmann aber hoffentlich morgen wenigstens empfangen werden.

Sehr erregt war Mayer noch über die Rede, die Millerand gestern beim Neujahrsempfang der Diplomaten im Elysée als Erwiderung auf die Ansprache des Nuntius Cerretti gehalten hat. Cerretti hatte die Ideen der Friedensenzyklika des Papstes entwickelt und gesagt, man müsse die Befriedung der Geister durchführen, dann seien die übrigen Fragen bloß technische, die Bankiers und Wirtschafter regeln könnten. Millerand, der Cerrettis Rede vorher kannte, habe sehr energisch und erregt erwidert, es gebe zu viele Leute überall, die die Schuld Deutschlands am Kriege vergäßen. Nur auf dem Boden der Wahrheit und Gerechtigkeit (also der Bestrafung Deutschlands) lasse sich ein fester Friede begründen. Mayer sagte, er habe einen Augenblick geschwankt, ob er ostentativ den Saal verlassen solle wegen dieser Brüskierung Deutschlands, habe sich aber entschlossen, dieses nicht zu tun, um nicht am Vorabend der Reparationskonferenz einen Konflikt hervorzurufen. Die Art, wie Millerand gesprochen habe, sei aber unerhört gewesen.

Paris. 3. Januar 1923. Mittwoch

Abends im Théâtre du Vieux Colombier ›Michel Auclair‹ von Vildrac. Vor uns saß eine Gesellschaft aus dem Faubourg St. Germain, tief ausgeschnittene elegante Frauen mit großen Perlenkolliers und mehrere junge Leute: de Beaufort usw. Sie sprachen über die Lage. Der eine, ein etwa achtundzwanzigjähriger junger Mann im Smoking mit der Ehrenlegion meinte: »Que voulez-vous, c'est stupide, mais on ira dans la Ruhr. Nous sommes engagés. Plus moyen de reculer, avec cette Chambre terrible!«

Paris. 4. Januar 1923. Donnerstag

Abends mit Wilma in ein Konzert, wo Musik von Satie und Poulenc gegeben wurde in van de Veldes Theater. Im Eingang traf ich (zum ersten Mal nach dem Kriege) Misia Edwards (jetzt Frau von Sert), Sert und Diaghilew. Wir waren alle sehr bewegt. Misia konnte kaum sprechen. Sie sagte zu irgend jemandem, der sie anredete: »Excusez-moi, en ce moment je suis si troublée!« Zu mir sagte sie, als ich äußerte, wie merkwürdig, daß wir uns gerade hier in diesem Theater, wo wir soviel zusammen erlebt haben, wiederträfen: »Cela devait arriver comme cela, j'en étais sûre.«

Saties ›Belle Excentrique‹, sehr amüsante Verwertung von Shimmy, Cake Walk und andren Rhythmen in bizarren Färbungen. ›Socrate‹ edles Louis XVI., moderner Gluck. Viel Geschmack und Haltung, etwas dünne Erfindung. Es wurde stark geklatscht (Satie erschien) und ein wenig gezischt.

Paris. 5. Januar 1923. Freitag

Die Konferenz ist gestern auseinandergegangen unter ›Aufrechterhaltung der Entente‹!?

Vormittags bei Poncet. Ich äußerte mein Bedauern über den Nichtempfang von Bergmann und bezeichnete es als einen Fehler Poincarés. Poncet erwiderte: »Que voulez-vouz? L'idee de monsieur Poincaré, depuis quelque temps déjà est qu'il ne faut pas causer avec les grands industriels allemands avant de leur avoir donne ›une leçon‹.« Also erst den Fuß auf den Nacken setzen, dann sich verständigen. Mir erscheint dahinter wieder die Furcht vor einer Wiedererstarkung Deutschlands, die Frankreich bedrohen könnte. Also zuerst Ketten anlegen, dann Semsons Kräfte ausnutzen.

Paris. 6. Januar 1923. Sonnabend

Nachmittags bei Sert und seiner Frau (Misia). Sie wiederholte, sie sei neulich, als wir uns unerwartet wiedersahen, so bewegt gewesen, daß sie fast geweint habe. »Pendant la guerre, vous étiez pour nous l'image qui représentait l'autre côté. Nous pensions à vous, quand on disait: l'Allemagne.« Es war ein merkwürdiges Gespräch. Ich mußte ihr die letzten Tage in London erzählen. Sie sagte: »Nous vous en avons un peu voulu de ne nous avoir pas avertis.« Ich erklärte ihr, daß ich selbst nichts gewußt habe. Sie sah die Lage jetzt als äußerst gefährlich, fast verzweifelt an.

Paris. 8. Januar 1923. Montag

Gefrühstückt mit Jean Cocteau im ›Boeuf sur le Toit‹, einer Art von modernster Künstlerkneipe in der Rue Boissy d'Anglas. Englische Möbel, Picassos an den Wänden. Er stellte mir seinen Freund Radiguet vor, der mit uns frühstückte und den er mir als eine Art von neuem Rimbaud bezeichnete. Etwas grobes, bäuerliches und proletarisches Gesicht, vage Ähnlichkeit mit Rimbaud, aber nicht strahlend schön wie dieser, sondern dumpf. Cocteau schilderte eine lange Krankheit, die er durchgemacht hat. Er hat Misia gesprochen. Sie hat ihm über unser Zusammentreffen dasselbe gesagt wie mir, aber hinzugefügt, daß sie nicht nur sehr bewegt, sondern auch ›gênée‹ gewesen sei. Cocteau hielt sich darüber auf, daß eine Frau, die nicht einmal Französin ist, so empfinde. Mir präzisierte sich dadurch die Nuance. Ich hatte neulich bei Sert etwas Ähnliches empfunden.

Natürlich war wieder viel von der Ruhrbesetzung die Rede. Cocteau konnte nicht gut anders als sie vor mir bedauern. Er möchte gern sein Ballett ›Les Maries de la Tour Eiffel‹ bei Reinhardt in Berlin geben, Radiguet seine beiden demnächst erscheinenden Romane in Deutschland anbringen. Ich lud beide zum Freitag bei mir zum Frühstück ein.

Nachmittags bei Jouve. Er lebt jetzt, wie es scheint, getrennt von seiner Frau. Wir hatten ein langes Gespräch über Politik und Literatur. Er sagte, die Ansicht gewisser Franzosen sei, Frankreich könne jetzt die politische und wirtschaftliche Hegemonie auf dem Kontinent erringen und vielleicht fünfzig Jahre halten, dann allerdings werde der Zusammenbruch kommen. Aber sie akzeptierten die Idee eines kurzlebigen Glanzes und ›après nous le déluge‹. Die Tragödie Frankreichs sei, daß es eine Nation zweiten Ranges sei, die durch jedes Mittel ›veut se pousser au premier rang‹. Geistig sei es noch immer eine der ersten Nationen. Aber es habe in einem erschreckenden Maße das Bedürfnis nach Tradition. Valery, der jetzt als größter Dichter gefeiert werde, sei ein ›versificateur‹, der Malherbe und Mallarmé zu einer traditionellen Form zu verschweißen suche. Überhaupt sei in der Poesie jetzt das sechzehnte, in der Erzählung das siebzehnte Jahrhundert mit seiner analytischen Psychologie hier das Ideal, nach dem man zurückschaue. Der ›Vieux Colombier‹ mache sich eine Tradition zurecht aus Craig, Reinhardt, den Russen. Alle fühlten das Bedürfnis nach einem Korsett, nicht nach freiem Atemraum. (Mein Gespräch mit Cocteau, der du Bellay zu modernisieren sucht und Satie rühmt, wieder auf die Musik des achtzehnten Jahrhunderts zurückzugehen, bestätigt dieses.) Kurz: Reaktion auch in Kunst und Literatur ist hier Trumpf. Ich lud ihn mit Cocteau, den er nicht kennt, zum Freitag ein. Er erbat sich Bedenkzeit, ob er ihn treffen wolle. Jouve ist jedenfalls die bei weitem menschlichere Erscheinung.

London. 3. März 1923. Sonnabend

Die Franzosen haben überraschend Mannheim, Darmstadt und Karlsruhe besetzt oder wenigstens die Eisenbahn in diesen Städten. Vormittags bei Lord und Lady Parmoor. Sie Quäkerin, er großer Barrister. Ich regte die Unterbringung von Ruhrkindern in England an. Parmoor sagte, Sthamer habe vor zwei Tagen bereits mit ihm darüber gesprochen. Er habe sich umgehört. Aber leider sei es unmöglich. Die Stimmung erlaube es noch nicht. Man riskiere Demonstrationen, Presseangriffe, ja tätliche Angriffe auf die Kinder selbst. Während zweifellos die deutschfeindliche Stimmung immer mehr abflaue, sei doch ein allerdings schwindender Teil des Volkes noch immer ganz in der Kriegsstimmung.

Rodin frühstückte bei mir. Er sieht leider sehr durchsichtig, schwach und alt aus. Er ist der einzig übriggebliebene Freund aus meiner Kindheit.

Abends gegessen beim General C. B. Thomson im United Service Club mit Massingham von der ›Nation‹. Massingham kommt gerade aus Frankreich von der Riviera. Er sagt, er habe keinen einzigen Franzosen finden können, der nicht verrückt sei. ›They are all lunatics.‹ Man könne mit ihnen überhaupt nicht reden. Ich versuchte ihn eines Besseren zu belehren, daß große Teile wirklich Reparationen und wahre Sicherheit (nicht Imperium) wollten; das sei die einzige Tatsache, auf die sich irgendwelche Hoffnungen bauen ließen. Er blieb aber ungläubig.

Thomson, der wieder sehr lebhaft und amüsant, ein Schwerenöter, war (seine schlanke, elegante Figur und sein schöner, rassiger und jugendlicher Kopf sind auffallend aristokratisch, obwohl er als Labourkandidat bei der letzten Wahl aufgestellt gewesen ist), erzählte von den letzten Wochen vor dem Kriege im englischen Generalstab (wo er damals unter Henry Wilson, dem späteren Feldmarschall, in der Operationsabteilung war). Es sei dort eine cliquenhafte Kameradschaft gewesen, alle hätten sich beim Vornamen genannt. Nur Offiziere aus der ›Society‹ seien geduldet worden.

Kurz vor dem Kriege habe eines Tages Wilson seine Offiziere (siebzehn Mann) zu sich berufen und sie gefragt, was sie tun würden, wenn die Regierung ihnen befehle, gegen die in Irland meuternden Offiziere (die der irischen Politik der Regierung Widerstand leisteten) vorzugehen. Wilson habe ihnen damit nahelegen wollen, der Regierung den Gehorsam zu verweigern. Alles habe zunächst geschwiegen; und er, Thomson, dem Wilson nicht recht traute, sei als erster zur Antwort aufgefordert worden. Seine Antwort habe gelautet: er bäte Wilson, die Frage schriftlich zu formulieren, er werde dann schriftlich antworten. Im Augenblick könne er nur sagen, daß er das Gefühl habe, ›they were coming perilously near to a conspiracy‹. Einige andre Offiziere, auf deren Unterstützung Wilson gerechnet hatte, hätten sich ihm, Thomson, angeschlossen. Und so habe Wilson ärgerlich seinen Plan aufgegeben.

Im selben Zusammenhang habe French seinen Abschied genommen, und zwar, wie French selbst noch am selben Tage Thomson erzählt habe, wegen einer Äußerung des Königs. Dieser habe French kommen lassen, mit ihm über die Stellung zu den meuternden englischen Offizieren in Irland gesprochen und als seine Ansicht ihm kundgegeben, ›that it was a matter between officers‹, das heißt also, daß die Offiziere das Recht hätten, der Regierung ihre Dienste zu verweigern. Daraufhin habe French sofort seinen Abschied eingereicht und erhalten. Was um so ehrenvoller gewesen sei, als French ›broke‹ (bankrott) war und nicht gewußt habe, wie man mit weniger als fünftausend Pfund jährlich überhaupt existieren könne. Massingham, dem die Geschichte neu war, mißbilligte die Haltung des Königs mit einem sehr energischen Wort (er sprach es leise, ich glaubte aber zu hören: ›to think of it, that puppy!‹).

In der Tat ist dieses Meutern des Königs gegen seine eigene verfassungsmäßige Regierung Wilhelms II. würdig. Man hätte es Georg V. nicht zugetraut! Ich mußte lebhaft an mein Frühstück bei Asquiths am Mittwoch zehn Tage vor Kriegsausbruch denken, wo die irischen Garden Asquith auf dem Wege vom Buckingham Palace nach Downing Street auspfiffen und Asquith deshalb zu spät zum Frühstück kam (der alte Jules Roche, der auch mitfrühstückte, sagte mir nachher in einer Ecke: »C'est triste d'assister à l'écroulement d'un grand empire«); und an den Tee am folgenden Tag wieder bei Asquiths und das Zusammentreffen zwischen Lichnowsky und der Lady Randolph Churchill: ›Sangue‹! In dieser Atmosphäre verhandelte Grey über das österreichische Ultimatum und Krieg und Frieden in Europa.

London. 5. März 1923. Montag

Gegessen bei Dufours mit dem amerikanischen Botschaftsrat Wheeler, dessen Frau ich zu Tisch führte, Mrs. Bennett, Colonel Hutchinson (Liberaler), Rheinbaben und einem Herrn Detmold, einem Reichsbeamten, der hier ist in Sachen des deutsch-englischen Ausgleichsverfahrens.

Mrs. Wheeler sagte mir, daß Amerika bestimmt eingreifen werde, sobald der neue Kongreß zusammentrete (im November). Harding warte nur die Gelegenheit ab. Bis dahin müßten wir durchhalten. Die Art ihrer Mitteilung überzeugte mich nicht recht. Sie schien über allbekannte Vorgänge schlecht informiert. Detmold, der englische Verwandte in der ›Society‹ hat, erzählte mir, seitdem der Botschafter beim König gefrühstückt hat, lüden ihn seine Verwandten wieder ein. Bis dahin hätten sie ihn geschnitten. Sie hätten ihm ausdrücklich mitgeteilt, jetzt nach diesem Vorgang könnten sie ihn wieder bei sich sehen.

London. 7. März 1923. Mittwoch

Früh auf der Botschaft. Bernstorff ebenso enttäuscht wie ich über Cunos Rede. Mir scheint, Cuno muß zugreifen, wenn er nicht eine Vabanque-Politik treiben will. Die Verantwortung wird schwer sein, wenn er das Simonsche Angebot ablehnt und die Sache an der Ruhr später schiefgeht.

London. 8. März 1923. Donnerstag

Früh um neun bei Rheinbaben, der noch im Hemd war, in seinem ziemlich mäßigen Hotel in Russell Square. Ich legte ihm nahe, Stresemann zu schreiben, um diesen zu veranlassen, Cuno aufzusuchen und ihm dringend die von uns vorgeschlagene Bekanntgabe von Vorschlägen an Bonar Law nahezulegen. Rheinbaben einverstanden. Dann auf der Botschaft Dufour über meine Unterredung mit Simon berichtet und mit ihm ein Telegramm nach Berlin verabredet, das sehr nachdrücklich einen Brief Cunos an Bonar Law empfiehlt. Eine große Schwierigkeit ist die Kürze der Zeit, da voraussichtlich erst eine Kabinettssitzung über diese neue, entscheidende Wendung in der deutschen Politik entscheiden muß. Der Brief kann nur durch besonderen Kurier überbracht werden. An Schubert geschrieben und in der energischsten Weise die Aktion durch Simon befürwortet.

Gefrühstückt beim Botschafter mit Lady Parmoor, Joan Fry, Miß Fox, Stutterheim und Friedberg. Der Botschafter sagte mir, er werde im gleichen Sinne wie ich berichten; hoffentlich würde unsere gemeinsame Aktion Erfolg haben. Auch er hält es für notwendig, der englischen öffentlichen Meinung etwas Positives zu bieten. Jedenfalls ist Sthamer jetzt mit Leib und Seele dabei.

London. 10. März 1923. Sonnabend

Vormittags auf Botschaft. Aus Berlin Telegramm, daß Brief Cunos an Bonar Law mit dem gewünschten Inhalt unterwegs und Montag hier sein wird. Botschafter solle aber Vorfrage an Curzon stellen, ob genehm, und ihn darauf vorbereiten. Curzon ist auf dem Lande. Sthamer fährt noch heute vormittag zu ihm hinaus nach Kedleston.

London. 11. März 1923. Sonntag

Vormittags ließ mich der Botschafter zu sich bitten und eröffnete mir unter viel Bezeigung von Sympathie und Bedauern, daß Berlin zwar dem Grundgedanken meiner Aktion zustimme, aber nicht sich entschließen könne, an Bonar Law einen Brief zu richten; hieran sei offenbar die Sache in Berlin gescheitert. Er bedauere das lebhaft, hätte diesen Weg für richtig gehalten und meine auch, daß etwas geschehen müsse, man nicht bloß passiv bleiben könne. Es war zu fühlen, daß er mir nicht alles sagte. Ich sagte ihm, auch ich bedauere diese Haltung Berlins aufs tiefste. Sie werde zwei Folgen haben: hier würden die Kreise, die uns helfen möchten, allmählich müde und gleichgültig werden, wenn sie sähen, daß wir uns selbst nicht zu helfen wüßten. Und in Deutschland werde sich bei einer solchen verstockten Haltung der Regierung die Abwehrfront nicht mehr lange aufrechterhalten lassen. Die von mir vorgeschlagene Form sei gleichgültig, aber irgendwie müsse Cuno aus seiner Passivität heraustreten, sonst werde es wieder so gehen wie im Kriege, wo wir auch alle Gelegenheiten zum Frieden verpaßt hätten, weil wir nie ein kleines Opfer bringen wollten.

Dufour hatte vom Botschafter Weisung, mir nichts zu sagen, was der Botschafter mir nicht gesagt hatte: eine ziemlich alberne Geheimniskrämerei. Er war aber auch sehr enttäuscht. Wir berieten, was jetzt zu machen sei, um zu retten, was zu retten ist. Ich verabredete, daß ich morgen Simon sagen werde, für die deutsche Regierung sei es zu schwer und bedenklich, ohne jede äußere Anregung ihre Vorschläge mitzuteilen; er möge doch eine solche Anregung geben, indem er im Unterhause fragt, ob die englische Regierung wisse, ob die deutsche bereit sein würde, die ganze Reparationsfrage einem unparteiischen Tribunal zu unterbreiten?

Von Bernstorff erfuhr ich, daß der wirkliche Verlauf so gewesen sei, daß Sthamer gestern bei Sir Eyre Crowe war und ihn gefragt hat, ob Bonar Law ein Brief Cunos der gedachten Art recht sein würde (statt ihm einfach mitzuteilen, daß ein solcher Brief morgen kommen werde), und daß Crowe geantwortet hat: Der englischen Regierung werde ein solcher Brief nicht angenehm sein; die deutsche Regierung möge direkt an Frankreich Vorschläge machen oder sonst an die Gesamtheit der Alliierten.

Die Geheimniskrämerei, die mir gegenüber auf der Botschaft plötzlich eingesetzt hat, erregt übrigens meinen Verdacht. Es scheint, als ob in Berlin etwas gegen mich im Gange ist und die Botschaft irgendeine Warnung erhalten hat. Möglicherweise Helfferich, der Rosenbergs Intimus ist. Die Art des Botschafters war heute so, als ob er einen Kranz an meinem Grabe niederlegte. Allerdings muß man zugeben, daß die Hauptschuld an diesem Ausgang der Aktion nicht die deutsche, sondern die englische Regierung (insbesondere Sir Eyre Crowe) trägt, die die deutsche abgeschreckt hat, ihre Vorschläge zu formulieren; in unbegreiflicher Verblendung, wie mir scheint, gegen die englischen Interessen. Vielleicht ist in der Tat Bonar Law auch gesundheitlich außerstande, große Verantwortungen auf sich zu nehmen; ein Männchen, wo ein Mann hingehörte.

London. 12. März 1923. Montag

Auf der Botschaft zeigt mir Dufour zwei Telegramme aus Berlin; das eine enthaltend ein Memorandum an die englische Regierung, das die von mir beantragten Vorschläge enthält, das andre eine Anweisung zur Vorsicht bei Einsetzung der Opposition hier in den Gang der Ereignisse, damit der Eindruck der Illoyalität und des Komplotts vermieden werde. Also hat im letzten Augenblick in Berlin doch die Vernunft gesiegt, nachdem man sich bereits zur Unvernunft entschlossen hatte. Dufour konnte sich nicht erklären, was diesen Umschwung herbeigeführt habe. Sthamer wird also heute doch zu Curzon gehen und ihm das Memorandum der deutschen Regierung überreichen.

Ich verabredete mit Dufour, daß ich Simon erst nach diesem Besuch und nur streng vertraulich und für seine eigene Person vom Schritt der deutschen Regierung Kenntnis geben werde. Etwas bedenklich erschien es uns, wenn schon morgen die Opposition loslegt. Da das Parlament sich erst am 29. vertagt, so wäre bis dahin vielleicht noch Zeit, die Sache um einige Tage hinauszuschieben.

Um halb zehn auf der Botschaft Dufour gesprochen. Der Kurier war eben mit dem Brief von Cuno an Bonar Law angekommen, oder in Wirklichkeit mit zwei Briefen, einem kürzeren, allgemeineren und einem längeren, der meine Vorschläge fast wörtlich wiedergibt. Dufour und ich waren uns einig, daß der längere überreicht werden soll. Leider hatte der Botschafter aber Curzon noch nicht sprechen können, da dieser erst um fünf vom Lande zurückgekehrt ist und der Botschafter abwarten wollte, bis Curzon (bei dem er um eine Besprechung gebeten hat) ihn rufen ließ. Dazu kommt, daß morgen vormittag Levee beim König ist, zu dem sowohl der Botschafter wie auch Curzon hin müssen. Dufour will versuchen, die Besprechung vor dem Levee durchzusetzen. Aber das ist sehr unsicher.

Um zehn im Unterhaus, wo Simon gerade sprach. Er gab mir eine Karte für die Distinguished Strangers' Gallery, und ich wohnte dem Rest der Debatte bei, die recht erregt war. Nachher hatte ich mit ihm eine Besprechung in seinem Privatzimmer. Ich sagte ihm, leider sei ich noch nicht in der Lage, ihm alles zu sagen, was ich ihm gern mitgeteilt hätte. Aber ganz vertraulich und nur für ihn (as between you and me) könne ich ihm sagen, daß die deutsche Regierung sich zu einem Schritt bei der englischen entschlossen hätte, der in der zwischen uns besprochenen Richtung liege. Leider sei dieser Schritt noch nicht erfolgt, weil Curzon bis heute nachmittag abwesend war; daher könne ich ihm auch nichts Näheres über den Inhalt der deutschen Mitteilung sagen, weil wir aus Loyalitätsgründen sie zuerst der englischen Regierung zugehen lassen wollten. Der Botschafter werde aber alles nur Mögliche tun, damit der Schritt morgen noch vor der Parlamentssitzung erfolge. Allerdings hänge das natürlich von Curzon ab.

Simon verbarg kaum seine Enttäuschung. Ich sagte, uns läge es natürlich fern, der englischen Regierung Schwierigkeiten bereiten zu wollen; vor allem wollten wir unter allen Umständen und um jeden Preis den Schein vermeiden, als hätten wir ein Komplott gegen sie geschmiedet oder eine Grube gegraben, in die sie hineinfallen sollte. Vielleicht ließe sich Simons Anfrage so gestalten, daß er gleichzeitig nach den Absichten der französischen und der belgischen Regierung frage. Dann werde der Schein einer vorbereiteten Sache weniger stark sein. Simon ging darauf ein und meinte: Ja, so werde es besser sein. Er fügte hinzu: Wenn der Inhalt unserer Mitteilung danach wäre, werde er Bonar Law noch vor der Sitzung von seiner Absicht, diese Fragen zu stellen, unterrichten; und dann werde vielleicht Bonar Law ihn kommen lassen und ihm schon im voraus von unserer Mitteilung Kenntnis geben. Asquith habe auch die Absicht zu sprechen, und das sei für unsere Sache sehr wichtig wegen des großen Ansehens, das er im Lande genieße. Zweck des Ganzen sei, die Regierung zum Handeln zu zwingen. Der Erfolg hänge aber zum großen Teil vom Inhalt und von der rechtzeitigen Überreichung unserer Mitteilung ab. Denn nach morgen werde sich keine Gelegenheit wieder vor Ostern ergeben, der Sache Resonanz durch eine Debatte im Unterhaus zu geben. Auf meine Frage, ob es später ganz unmöglich sein werde, die Frage wieder vor Ostern anzuschneiden, sagte er: Ja, ganz unmöglich. Bonar Law könne dann die Mitteilung für sich behalten, wenn ihm das opportun erschiene.

Ich versprach, Simon sofort anzurufen, sobald der Botschafter Curzon gesprochen habe, und ihm dann auch Näheres über Form und Inhalt unserer Vorschläge mitzuteilen. Er sagte mir, er werde den ganzen Vormittag zu Hause bleiben und auf meinen Anruf warten.

Um Mitternacht im strömenden Regen vom Unterhaus zu Fuß nach Hause.

Bernstorff klagte mir über die Unzulänglichkeit Sthamers unter den gegenwärtigen Umständen. Könne man sich das vorstellen, daß ein deutscher Botschafter auf dem wichtigsten Posten während der Ruhrbesetzung dasitze und nichts tue, niemanden sehe, nichts vorschlage? Auch gesellschaftlich tue er nichts, während jetzt der Augenblick gekommen sei, wo man hier auch in die konservativen Kreise wieder vordringen könnte. Ich hatte das Gefühl, daß Bernstorff mich sondieren wollte, aber mit welchem Ziel, blieb unklar.

London. 13. März 1923. Dienstag

Zwei Franzosen sind in Buer ermordet worden; und daraufhin sind von den Franzosen dort sieben Deutsche bei verschiedenen Zwischenfällen erschossen worden. Die Aufregung in Paris scheint maßlos und außer jedem Verhältnis zu den beiden Morden. Die französische Regierung will offenbar die französische Volksleidenschaft gegen Deutschland entfesseln.

Um neuneinhalb Dufour mein Gespräch mit Simon mitgeteilt und gedrängt, daß Sthamer Curzon noch vor dem Levee sieht. Dann Sthamer selbst gesehen. Er sagte, es sei ausgeschlossen, daß er noch vor dem Levee Curzon sprechen könnte. Auch sei es ›gegen seine Instruktionen‹ die Sache so dringlich zu machen. Auch er bedauere, daß Berlin nicht gleich zugegriffen und statt dessen hin und her geschwankt habe. Aber er habe sein möglichstes getan, die Aktion zu unterstützen. Ich sagte: ob er denn nicht Curzon bei dem Levee sprechen und um eine sofortige Unterredung bitten könne? Dieses versprach er, falls er ihn erwischen könne. Sonst könnte es vier oder fünf Uhr nachmittags werden, was für die heutige Debatte zu spät wäre.

Sthamer hat ganz gewiß nicht ›den Teufel im Leibe‹. Seine Hamburger senatorenhafte Pomadigkeit ist schwer in Bewegung zu setzen. Er hat ›dreifach Butter‹ (nicht das gleiche wie ›aes triplex‹) um die Nerven.

Nach dem Levee um eins wieder beim Botschafter, der inzwischen zwar nicht Curzon, aber Sir Eyre Crowe gesprochen hatte. Dieser hat ihm gesagt, Curzon könne ihn heute nicht empfangen, sondern erst morgen, weil er vorher Bonar Law sprechen wolle. Sthamer schloß, ›die Sache sei damit erledigt‹, und drückte mir sein Beileid aus. Ich sagte, nur ein Detail sei erledigt; die Hauptsache, daß wir die deutsche Regierung dazu bekommen hätten, bestimmte Vorschläge zu formulieren und zu überreichen, bleibe bestehen. Wir müßten nur jetzt die Resonanz auf andre Weise zu schaffen suchen.

In der Tat war für heute unter diesen Umständen nichts mehr zu machen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, daß, wenn Sthamer mehr Energie gezeigt und weniger Angst gehabt hätte, »gegen seine Instruktionen« zu handeln, er die Mitteilung rechtzeitig an Bonar Law herangebracht hätte. Ich telephonierte an Simon, daß die Sache für heute nichts sei. In seiner Stimme glaubte ich eine etwas ärgerliche Enttäuschung zu hören.

London. 14. März 1923. Mittwoch

Zur allgemeinen Überraschung ist die Majorität der Regierung bei der Abstimmung über Simons Antrag auf 48 (von 109) gefallen. Wenn wir unsere Vorschläge rechtzeitig überreicht hätten, wäre das Resultat wohl noch sensationeller gewesen.

Um elfdreiviertel telephoniert mich Sir John Simon an und will wissen, ob ich ihm etwas zu sagen habe (das heißt den Inhalt unserer Vorschläge), weil er möglichst bald eine Anfrage an die Regierung stellen will. Sonst könne ihm jemand zuvorkommen von den Back Labour Benches, »was nicht den gleichen Eindruck machen werde«, wie wenn die Frage von der Front Opposition Bench käme. Ich gratulierte ihm zu seinem Erfolg gestern abend und bedauerte, daß wir nicht das volle Material hätten benutzen können. Er sagte, ja, das sei sehr schade, denn er glaube, wenn er gestern die beabsichtigte Frage hätte stellen können, »we would have changed the face of Europe«.

Bei Dufour und von ihm Zusage, daß, da Sthamer heute Curzon sicher sieht, ich jetzt Simon den Inhalt unserer Vorschläge mitteilen könnte.

Ich fuhr daher zu Simon in sein Büro im Temple (1, Temple Gardens) und gab ihm vertraulich die Vorschläge Cunos in seinem Brief an Bonar Law bekannt. Er schien sehr erfreut, fragte mich, ob ich etwas dagegen hätte, Asquith zu sprechen und auch ihm diese Mitteilung zu machen? Ich sagte nein, wenn er es für nützlich halte; und er telephonierte darauf an Asquiths Sekretär und verabredete mich mit ihm um fünfeinhalb im Unterhause. Er sagte dann, zweifellos würden die Franzosenfreunde jetzt schreien, daß die Franzosen ganz recht gehabt hätten, in die Ruhr einzurücken, denn nur so hätten sie uns zu solchen Vorschlägen bringen können; er und seine Freunde würden beschuldigt werden, falsch gesehen zu haben. Aber das sei ganz gleichgültig vom allgemeinen Standpunkt des europäischen, englischen und deutschen Interesses aus gesehen. Er fragte dann noch ›des historischen Interesses wegen‹, ob wirklich sein Gespräch mit mir im Reform Club einen Einfluß auf diesen Entschluß der deutschen Regierung gehabt habe. Ich sagte, ja, es sei der eigentliche Ursprung dieser Wendung in der deutschen Politik gewesen: was ihm offenbar Vergnügen machte.

Wir besprachen dann, was jetzt zu machen sei. Ich sagte, wenn die englische Regierung die Vorschläge an die französische mitteile (was zu erwarten stehe), dann werde die französische sie sofort bekanntwerden lassen und eine wütende Kampagne in der französischen Presse gegen sie entfesseln. Dadurch werde die Wirkung auf die englische öffentliche Meinung von vornherein unterbunden werden. Daher sei es von größter Wichtigkeit, daß sie mindestens gleichzeitig, ehe diese Pressekampagne einsetze, in England bekannt würden. Simon stimmte bei und meinte, gerade deshalb wünsche er, daß ich mit Asquith spreche, damit dieser zu der taktischen Behandlung der Sache seinen Rat und seine Unterstützung gewähre. Es werde wahrscheinlich am besten sein, wenn Asquith selbst eine Frage an Bonar Law im Unterhause stelle, womöglich, nachdem er sich mit Bonar Law verständigt habe. Aber darüber müßten wir erst Asquiths Meinung hören. Er, Simon, sei nur Asquiths ›Leutnant‹.

Für das ganze Gespräch bildete der wunderbare Blick aus Simons Bürofenstern auf die grüne Weite des Temple Gardens einen shakespearehaften Hintergrund. Der Kontrast zwischen dieser aristokratischen Helle und Weite und der düsteren Enge der Büros seiner Sekretäre, die sich bei Licht die Augen verderben müssen, ist typisch englisch.

Nachmittags war dann die Unterredung mit Asquith in seinem Privatzimmer im Unterhause. Hierbei zeigte sich, daß Simons Zimmer, in dem er mich neulich abends empfing, ein kleines Vorzimmer des Asquithschen großen, pompös-gotischen Raumes ist, in dem heute ein mittelalterlich üppiges Kaminfeuer brannte. Asquith macht jetzt den Eindruck eines Ehren-Großvaters, eines alten Medizinmannes mit etwas roter Nase und langer weißer Mähne. Er gibt sich einsilbig und weise, als wenn ihn von der gewöhnlichen Menschheit und auch von Simon Wolken und Weihrauch trennten und er gewohnt wäre, durch ein Megaphon zu sprechen. Orakelhaft mit einem leichten Duft von großen Banketten und Alkohol. In der Tat hat dieser Mann acht Jahre lang ein Weltreich regiert.

Wir gingen sofort in medias res. Ich begann damit, Asquith zu erklären, wie ich in diese Sache überhaupt hineinkäme (what was my position). Ich sei ganz inoffiziell hier, handele aber in enger persönlicher Fühlung mit dem Botschafter, der über meine Schritte unterrichtet sei und sie billige. Dann teilte ich ihm mit, daß die deutsche Regierung bei der englischen einen Schritt zu tun sich entschlossen habe, daß Sthamer in diesem Augenblick (sechs Uhr) bei Curzon sei, daß der Schritt wahrscheinlich die Form eines persönlichen Briefes von Cuno an Bonar Law, den Sthamer überbringe, habe und daß der Inhalt der Cunoschen Vorschläge der und der sei.

Asquith bemerkte: erstens könne gefragt werden, warum die deutsche Regierung diesen Schritt bei der englischen und nicht bei der französischen tue. Er könne doch nur dann zu einem praktischen Resultat führen, wenn die englische die Cunoschen Vorschläge der französischen mitteile. Es komme also in Wirklichkeit auf ein Gesuch um eine englische Mediation hinaus.

Ich sagte: die deutsche Regierung habe irgendein Ersuchen um Mediation an die englische Regierung nicht gestellt, sondern ihr absichtlich die volle Freiheit ihrer Entschlüsse gelassen. Aber eine direkte Mitteilung an die französische Regierung habe sich für uns aus verschiedenen Gründen nicht empfohlen: erstens, weil wir der Ansicht seien, daß die französische Regierung uns gegenüber vertragsbrüchig sei, wir in diesem Zustande daher nicht direkt mit ihr verhandeln könnten. Zweitens aber auch, weil die französische Regierung unsere letzten Vorschläge, zum Beispiel den Bergmannschen, überhaupt nicht einmal entgegengenommen habe, wir daher annehmen müßten, daß sie ebensowenig bereit wäre, uns jetzt anzuhören. Uns läge aber daran, wegen dieser Haltung der französischen Regierung nicht die ganze Welt leiden zu lassen, sondern trotzdem das Unsrige dazu zu tun, um die jetzige, für die ganze Welt verderbliche Situation ohne unnötigen Verzug zu beenden. Das seien die Gründe, warum wir uns entschlossen hätten, der englischen Regierung wenigstens Kenntnis zu geben von den Opfern, die wir bereit seien zu bringen, um die vertragswidrige und verheerende Invasion Frankreichs in deutsches Gebiet wieder rückgängig zu machen. Die englische Regierung könne von dieser Kenntnis den ihr passend und nützlich erscheinenden Gebrauch machen. Allerdings schiene mir persönlich der Erfolg unseres Opferwillens abzuhängen von einem baldigen Bekanntwerden unserer Vorschläge, ohne daß vorher eine französische Pressepropaganda sie vor der Welt entwertet hätte.

Asquith stimmte den von mir vorgetragenen Gründen zu; insbesondere wiederholte er, daß in der Tat die Weigerung der französischen Regierung, unsere letzten Vorschläge auch nur anzuhören, eine sehr starke Rechtfertigung des von uns jetzt eingeschlagenen Weges sei. Aber es sei aussichtslos zu erwarten, daß auf diese Vorschläge allein hin Frankreich aus der Ruhr hinausgehen werde. Denn es werde sagen, daß man von ihm verlange, ein greifbares Pfand gegen bloße Versprechungen hinzugeben. Auch werde es nicht zustimmen, daß die französische Besatzung durch eine englische, amerikanische oder neutrale ersetzt werde. Simon stimmte bei und meinte: um unsere Vorschläge für vernünftige Leute in Frankreich annehmbar und für die öffentliche Meinung in England überzeugend zu machen, müsse Frankreich zugestanden werden, daß es bis zur Entscheidung des Bankenkonsortiums über die Höhe und die Garantien der Anleihe Gewehr bei Fuß in der Ruhr stehen bleibe. Allerdings müsse für diese Entscheidung eine kurze Frist, etwa zwei Monate, festgesetzt und stipuliert werden, daß sofort nach dieser Entscheidung die Franzosen aus der Ruhr hinausgingen, die Pfänder dann nach dem Spruch des Bankierkomitees oder Schiedsgerichts durch andre Maßregeln gesichert würden. Ich sagte, ich könne hierzu keine Erklärungen abgeben; ich wisse nicht, ob die deutsche Regierung einen solchen Vorschlag für diskutabel halten werde. Ich nähme ihn aber für meine Person zur Kenntnis.

Asquith legte von sich aus auf diese Simonsche Anregung Nachdruck; erst so käme man entscheidend weiter mit dem Problem, die Franzosen tatsächlich aus der Ruhr in möglichst kurzer Zeit hinauszubekommen. Ich fragte, ob er denn glaube, daß die Franzosen auf einen solchen modus procedendi eingehen würden? Nach einiger olympischer Überlegung sagte Asquith: »Ja.« Was sein eigenes Verhalten angehe, so müsse er erst wissen, wie Curzon Sthamers Mitteilung entgegengenommen, was er dazu gesagt habe. Er möchte, wenn er eine Frage stellt, vorher Bonar Law davon in Kenntnis setzen und auf die Antwort Bonar Laws aus dem Verhalten Curzons schließen können.

Simon und er besprachen untereinander das Verfahren, wobei Simon ganz offenbar Asquith zu drängen suchte, die Sache in die Hand zu nehmen, allerdings in sehr respektvoller und vorsichtiger Weise, wie man einen alten Halbgott, einen alten Zentauren, zum Springen streichelt. Die Sache blieb aber unentschieden, da Asquith dabei blieb, daß er erst die Aufnahme der Mitteilung durch Curzon kennen müsse. Ich versprach daher, sie Simon morgen früh mitzuteilen, und ging mit diesem fort.

Draußen sagte mir Simon, er glaube, Asquith werde die Sache machen, er wolle noch einmal mit ihm heute abend sprechen. Aber der Zusatz, daß die Franzosen bis zu dem kurzbefristeten Entscheidungstermin in der Ruhr bleiben dürften, sei nötig auch wegen der englischen öffentlichen Meinung, der man sonst vorreden werde, es handele sich wieder bloß um ein leeres Versprechen, einen »trick« Deutschlands.

London. 15. März 1923. Donnerstag

Früh beim Botschafter. Er sagte mir, sein Gespräch mit Curzon gestern habe eine merkwürdige Wendung genommen. Er habe auf Wunsch von Curzon nicht Cunos Brief an Bonar Law, sondern bloß ein Memorandum überreicht. Offenbar sei aber dieser Schritt der englischen Regierung nicht unangenehm gewesen. Ja, die Situation habe sich umgedreht. Jetzt strecke die englische Regierung Fühler aus. Sie gehe über das Memorandum hinaus. Er, Sthamer, stehe seit gestern abend in einem Telegrammwechsel mit Berlin darüber. Wir müßten das Resultat dieses Gedankenaustausches abwarten. Es zeige sich eine ganz kleine Möglichkeit, daß die englische Regierung intervenieren werde. Jedenfalls dürften wir diese äußerst zarten Fäden, die sich anzuspinnen anfangen, nicht stören durch irgendeinen brutalen Eingriff von außen. Deshalb sei eine Anfrage im Unterhaus heute oder morgen unerwünscht. Ich beruhigte Sthamer und sagte ihm, Asquith und Simon hätten mir versprochen, nichts zu tun ohne unsere Zustimmung. Dann, sagte Sthamer, möge ich sie bitten, ›to lie low‹ bis Anfang der nächsten Woche.

London, 16. März 1923. Freitag

Alle Zeitungen sprechen von deutschen Fühlern, Mediation Englands usw. Am greifbarsten ist das Telegramm des ›Daily Chronicle‹ aus Berlin. Die Entwicklung vollzieht sich so schnell, daß ich entgegen meiner Absicht eine sofortige neue Unterredung mit Simon für nötig hielt.

Ich traf Simon auf Verabredung im Unterhaus um zwölf. Er schien mir verstimmt (über die Indiskretion in Berlin) und beunruhigt, weil, wie er sagte, zweifellos zahlreiche Anfragen in der Sache an die Regierung gestellt werden würden. Schon gestern habe sein Parteifreund Lambert (ohne Simons Wissen) eine solche Anfrage gestellt, die ausweichend beantwortet worden sei. Außerdem wies Simon auf die Gefahr einer französischen Pressekampagne hin. Ich sagte ihm, die Sache sei nach Ansicht Sthamers noch nicht reif. Die deutschen Vorschläge seien vielleicht, so glaubte ich vermuten zu dürfen, noch nicht endgültig formuliert. Ich müsse ihn daher bitten, noch zu warten; hoffentlich brauche der Termin nicht über Mittwoch hinausgeschoben zu werden. Ich werde ihn sofort benachrichtigen, sobald nach Ansicht des Botschafters die Angelegenheit reif und für eine parlamentarische Behandlung geeignet sei. Damit gab er sich zufrieden. Aber er ließ starke Ungeduld und Bedenken durchblicken und sogar, wie mir schien, ein gewisses Mißtrauen.

London, 17. März 1923. Sonnabend

Dufour sagte mir heute morgen, daß die Besprechung Sthamers mit Bonar Law und Curzon gestern sehr unbefriedigend verlaufen sei. Sie hätten die Vorschläge in unserem Memorandum als ganz ungenügend und Gewährung von ›Sicherheit für Frankreich‹ als notwendiges Erfordernis für die Lösung der Krisis bezeichnet. Sie denken sich diese Sicherheit als eine internationale Kontrolle und Entmilitarisierung eines Grenzstreifens in Deutschland (Robert Cecils Idee). Ich sagte Dufour, nach meiner Ansicht sollten wir unsererseits jetzt die Frage der Sicherheit für Deutschland aufwerfen. Nur beiderseitige Kontrolle und Entmilitarisierung, das heißt Kontrolle und Entmilitarisierung auf beiden Seiten der Grenze in gleicher Breite, sei annehmbar für uns und gerecht. Was die Unterredung mit Bonar Law und Curzon anbetrifft, so hätten wir ja nie gehofft, durch unsere Aktion eine Intervention Englands sofort herbeizuführen, sondern nur eine Aktion im Unterhaus und die Wirkung vernünftiger deutscher Vorschläge auf die englische öffentliche Meinung vorzubereiten. Ich riet, in einem Telegramm nach Berlin nochmals die Ergänzung unserer Vorschläge im Sinne Asquiths und Simons vorzunehmen und dann mit der Aktion im Unterhaus nicht mehr zu zögern. Dufour sagte zu, in diesem Sinne heute nach Berlin zu telegraphieren.

Bei Sthamers gefrühstückt mit der Fürstin Münster, dem Bischof von Madras (oder gewesenen Bischof von Madras), Lady Lowe und dem Chaplain der Chapel Royal Savoy.

London, 19. März 1923. Montag

Vormittags bei Dufour. Noch kein Telegramm aus Berlin. Nachmittags zur League of Nations Union, wo Lord Robert Cecil gesprochen, der übermorgen nach Amerika fährt und vor einigen Tagen in Paris in einer Rede die Internationalisierung und Kontrolle der Rheinlande durch den Völkerbund vorgeschlagen hat. Ich sagte ihm, ich sei gekommen, weil diese Rede mich als deutschen Völkerbundfreund beunruhigt habe, da der Vorschlag, einseitig nur Deutschland an seiner Westgrenze einer Kontrolle des Völkerbundes zu unterwerfen, der großen Mehrheit aller Deutschen unannehmbar und kränkend erscheinen werde. Cecil fragte, wo ich seine Rede gelesen habe? Sie sei in den Zeitungen schlecht wiedergegeben worden. Unsere Regierung täte gut, nicht zu intransigent zu sein. Er würde es für einen großen Vorteil für uns halten, wenn wir anstelle der alliierten Besatzung eine Völkerbundgendarmerie im Rheinland erhielten. Sein Wunsch sei, alle die politischen und wirtschaftlichen Kontrollmaßregeln dort beseitigt zu sehen (to do away with them), ebenso auch die Rheinlandkommission, und nur die Eisenbahnen und die Entmilitarisierung der Rheinlande unter Kontrolle, und zwar unter Kontrolle des Völkerbundes, zu stellen.

Bernstorff sagte mir, mein Vortrag bei der Miß Douglas habe großen Beifall gefunden. Man spreche überall davon. Früher sei er immer gefragt worden: ›Do you know the Kaiser?‹, dann: ›Do you know Stinnes?‹, jetzt fragten ihn alle: ›Do you know Count Kessler?‹ Eine nette Gesellschaft, in die man da hineingerät!

London, 20. März 1923. Dienstag

Früh wie immer mit Dufour. Telegramm aus Berlin noch nicht eingetroffen.

Tower besucht, die Zellen und den Richtplatz, auf dem so viel Königsblut geflossen ist, und dann den Kronschatz; dieses die Quintessenz dessen, um das das Blut vergossen worden ist, gewissermaßen die aus dem Blut aufragende lichte Insel. Der große Rubin, der von Peter dem Grausamen von Kastilien dem Schwarzen Prinzen geschenkt worden ist und der wie ein Blutstropfen über der Stirn des Herrschers in der Königskrone sitzt, ist wie ein Symbol dieser aus so furchtbaren Morden und Wunden emporgewachsenen englischen Weltmacht.

Nachmittags beim Botschafter. Er wollte nicht noch einmal in Berlin anfragen wegen der von Asquith und Simon gewünschten Ergänzung unseres Memorandums. Unter anderem wegen der technischen Schwierigkeit, weil es bereits auch schon in Washington überreicht worden sei. Er gestand mir aber zu, daß ein Aufgeben des Ruhrpfandes durch die Franzosen, ehe durch den Spruch der Bankierkommission neue Garantien geschaffen seien, unlogisch und nicht zu erwarten sein würde. Es würde dadurch, wie ich ihm auseinandersetzte und er mir zugab, ein Loch entstehen, eine Zeit, in der sich die Franzosen, nachdem sie ein Faustpfand genommen hätten, ohne Pfand begnügen müßten. Die Korrektur Asquiths sei ein Detail, das eigentlich selbstverständlich aus unserer Offerte folge. Er gestand mir daher zu, daß ich Simon morgen unser Einverständnis zu einer Anfrage erkläre und gleichzeitig sage, daß nach unserer Auffassung die Zurückziehung der französischen Truppen aus dem Ruhrgebiet erst nach der Aufstellung und Inbesitznahme neuer Garantien selbstverständlich sei. Er bat mich nur, noch bis morgen früh zu warten, da bis dahin vielleicht doch noch ein Telegramm aus Berlin einlaufen könnte.

London. 21. März 1923. Mittwoch

Da kein neues Telegramm aus Berlin vorlag, an Sir John Simon telephoniert (nach Besprechung mit Dufour) und mit ihm eine Unterredung in seinem Büro im Temple um drei Viertel eins verabredet. Ich sagte ihm, daß wir jetzt eine Anfrage für wünschenswert halten würden, da uns die von ihm und Asquith vorgeschlagenen Modalitäten der Räumung selbstverständlich erschienen, aber schwer als Fußnote nachträglich unserem Memorandum hinzugefügt werden könnten, namentlich da das Memorandum auch in Washington überreicht worden sei.

Simon war offenbar durch die vielen Aufschübe und Verzögerungen verärgert und zum ersten Mal unlustig. Während sonst ich ihn zurückhalten mußte, war er heute voller Zweifel. Die Situation habe sich seit unseren früheren Unterredungen stark geändert, namentlich durch die Erklärung der französischen Regierung, daß sie jede Intervention als unfreundlichen Akt betrachten werde. Das sei immer so, wenn man Zeit verstreichen lasse, daß allerlei Hindernisse und cross-moves die Aktion erschwerten. Warum Cuno nicht eine Rede halte oder warum die Botschaft, wenn wir auf die Wirkung in England Wert legten, nicht die deutschen Vorschläge in den englischen Zeitungen veröffentliche? Ich sagte, er selbst habe die ganz besondere Wirkung einer Bekanntgabe im englischen Parlament mir gegenüber immer hervorgehoben. Darauf hätten wir unsere Aktion eingestellt. Simon sagte, er wolle mit Asquith heute sprechen. Aber Asquith werde die Frage nicht stellen, ohne Bonar Law vorher benachrichtigt zu haben, und wenn Bonar Law sie für unerwünscht erkläre, voraussichtlich unterlassen. Law könne eventuell auch antworten, daß er ›Vorschläge‹ der deutschen Regierung nicht erhalten habe, da wir ausdrücklich erklärt hätten in dem Memorandum, daß wir irgendwelche Anträge mit unserem Memorandum nicht verbänden. Ich sagte, dann müsse die Frage eben so formuliert werden, daß Law diese Antwort nicht erteilen könne. Man brauche nicht nach ›Vorschlägen‹ zu fragen, sondern Auskunft erbitten, ob der englischen Regierung irgend etwas über die Haltung der deutschen Regierung zur Lösung des Reparationsproblems bekanntgeworden sei?

London. 22. März 1923. Donnerstag

Von Simon heute keine Nachricht. Asquith scheint also nicht direkt abgelehnt zu haben, sondern mit Bonar Law wahrscheinlich heute zu konferieren. Dufour sagte, eine sehr gut informierte englische Persönlichkeit (deren Namen ich hier nicht nennen will) habe ihm erzählt: Sowohl Bonar Law wie auch Sir Philip Greame hätten ihm gegenüber geäußert, sie könnten mit der jetzigen Regierung in der Ruhrsache nichts anfangen, sie sei nicht in Bewegung zu bringen. Sie hofften nur, daß ihnen von außen eine Bombe zwischen die Beine geworfen würde, damit die Regierung endlich in Bewegung gerate.

London. 23. März 1923. Freitag

Van de Velde morgens die Pläne des Hauses in der Hildebrandstraße, das ich zu kaufen hoffe, übergeben und den Umbau mit ihm besprochen. Sir John Simon im House of Lords in der Frühstückspause eines Plädoyers, das er dort in einer Prozeßsache hielt, gesprochen und gefragt, wie die Sache stünde. Er sagte, er habe mit Asquith gesprochen. Nach dessen Ansicht stünde die Sache aber noch immer so wie bei unserer Unterredung, daß nämlich nicht klargestellt sei, ob die deutsche Regierung die Räumung des Ruhrgebiets zur Vorbedingung für die Zustimmung zu einer Konferenz und zu einer Anleihe mache oder ob ihr Memorandum sich im Sinne der Asquithschen Vorschläge auslegen lasse. Im übrigen: warum wir denn das Memorandum nicht in der englischen Presse veröffentlichten? Ich sagte: weil wir Simons Rat, die Sache im Unterhause bekanntwerden zu lassen, für taktisch gut hielten und ihn bisher zur Richtlinie bei unserer Aktion genommen hätten. Simon meinte, auch in der Presse werde der Widerhall stark sein. Im übrigen mache er mich darauf aufmerksam, daß am Dienstag oder Mittwoch (es stand heute morgen in den Zeitungen) wieder eine große Ruhrdebatte im Unterhause stattfinden werde, die Lloyd George hervorrufen wolle und die für uns wenig angenehm verlaufen könne, weil die Internationalisierung der Rheinlande durch den General Spears werde vorgeschlagen werden. Im Augenblick habe er aber keine Zeit, auf diese Frage einzugehen; er habe, um mit mir zu sprechen, bereits seinen Lunch aufgegeben. In der Tat hatte er mich zum Frühstück eingeladen und auf meine Absage, weil ich selbst einen Gast im ›Cecil‹ erwartete, nur ein Sandwich sich kommen lassen.

Wir müssen jetzt meines Erachtens auf die bisherige Taktik verzichten und in der Tat, so wie Simon vorschlägt, das Memorandum oder dessen Inhalt in der englischen Presse veröffentlichen, und zwar am besten, indem der Botschafter einen Brief an die ›Times‹ schreibt und am Mittwochmorgen vor der Debatte im Unterhause veröffentlichen läßt; er kann dann die Asquithschen Korrekturen einfließen lassen. Dieser Brief wird dann zweifellos in den Mittelpunkt der Debatte rücken und gewürdigt werden, ehe das Gekreisch aus Paris herüberdringt. Ich würde Fisher und Macdonald am Dienstag darauf vorbereiten, damit sie ihre Reden darauf einstellen können.

Nachmittags diesen Plan mit Dufour besprochen, der ihn billigte und heute (wenn Sthamer zustimmt) nach Berlin telegraphieren will. Hoffentlich erreichen wir so die gleiche Wirkung, wie wir sie am Dreizehnten gehabt hätten, wenn Sthamer nicht so retardiert hätte.

London. 24. März 1923. Sonnabend

Früh sagt mir Dufour, daß Sthamer meinen Vorschlag abgelehnt hat; er will nicht an die ›Times‹ schreiben oder Anregungen in diesem Sinne nach Berlin geben. Das von Dufour aufgesetzte Telegramm ist nicht abgegangen.

Dufour schlug vor, ich solle selbst mit Sthamer sprechen. Ich ging hinauf und setzte ihm die Situation und meine Gründe ausführlich auseinander. Seine Einwände waren: er habe den Eindruck, daß die deutsche Regierung selber nicht recht wisse, was sie wolle. Es sei ihm nicht sicher, daß sie die Veröffentlichung der im Memorandum festgelegten Haltung wünsche. Worauf ich erwiderte, daß die ganze Aktion auf die Veröffentlichung durch Bonar Law im Parlament abgezielt habe. Gerade wenn sie nicht wisse, was sie wolle, sei es um so mehr am Platze, ihr zu einem Willen zu verhelfen.

Weiterer Einwand Sthamers: eine Veröffentlichung in der englischen Presse hebe England zu sehr aus dem Kreis der andren Mächte hinaus. Bonar Law habe ihm gesagt, Deutschland solle sich an Frankreich oder an die Gesamtheit der Alliierten wenden (offenbar fürchtet Sthamer durch Mißachtung dieses Rates seine Stellung hier zu verschlechtern). Ich sagte: mir komme es nur darauf an, daß die deutsche Haltung mit der Asquithschen Modifikation in der englischen Presse am Mittwochmorgen zu lesen sei. Die Form sei mir ganz nebensächlich, auch, ob nur die englische Presse sie bringe. Man könne sie von Berlin aus in die Weltpresse lancieren, zum Beispiel in Gestalt eines Interviews von Cuno oder Rosenberg. Wesentlich sei nur, daß sie nicht später als Mittwoch morgen und auch nicht früher (um eine störende Aktion Frankreichs zwischen Veröffentlichung und Parlamentsdebatte zu verhindern) in den englischen Zeitungen stehe.

Sthamer sagte, das sei ein ganz andrer Vorschlag als der, den ich gestern abend gemacht habe. Auf diesen könne er eingehen (wobei bemerkenswert ist, daß er nicht selber sich die Mühe genommen hat, diese Modifikation auszudenken, sondern die Sache einfach ad acta legen wollte). Er werde in diesem Sinne ein Telegramm aufsetzen, in dem er, auf meine Mitteilungen Bezug nehmend, sagen werde, daß eine solche Veröffentlichung den Asquith-Leuten von wesentlichem Wert sein werde bei der Debatte am Mittwoch, um die Regierung zum Handeln anzutreiben. Auch werde sie bei der Labour Party voraussichtlich Beifall und Unterstützung finden. Mit andern Worten, er schiebt mir die ganze Verantwortung für diesen neuen Schritt zu, eine Verantwortung, die ich übrigens gern übernehme. Denn ich hätte, wenn Sthamer sich endgültig geweigert hätte, selbst nach Berlin telegraphiert. Aber die ängstliche und bürokratische Scheu Sthamers vor Handlungen ist auf die Dauer eine schwere Belastung.

London. 27. März 1923. Dienstag

Früh gleich nach neun auf der Botschaft, wo halb entziffertes Telegramm von Rosenberg, daß er heute Erklärungen in unserem Sinne vor Auswärtigem Ausschuß des Reichstages abgeben und dafür sorgen wird, daß sie morgen früh hier in der Presse stehen.

Darauf Simon und Fisher telephoniert und mich bei ihnen zu einer ›important communication‹ angesagt.

Um zehn d'Abernon in seinem Hause, 8, Portland Place, besucht. Ich sprach mit ihm über unser Memorandum, das er schlecht zu kennen schien. »Lord Curzon did not think much of it; there was nothing in it«, sagte er. Worauf ich erwiderte, daß es genau die Gedanken enthalte, die Bonar Law in Paris (S. 78 des Blaubuchs) als wesentlich für die Lösung der Reparationsfrage erklärt hat. D'Abernon meinte: aber Curzon habe deshalb nichts davon gehalten, weil die französische Regierung auf solche Vorschläge keineswegs eingehen würde. Ich sagte: die französische Regierung sei hoffnungslos (hopeless), es gebe nichts, worauf sie eingehen würde. Wenn man dieses für entscheidend halte, könne man nur die Hände in den Schoß legen und warten.

D'Abernon bestätigte, daß auch nach seiner Ansicht nichts die französische Regierung befriedigen würde. Ich sagte: nur der Druck der öffentlichen Meinung in England und anderwärts könne die Lage ändern. Das sei der Wert unserer Vorschläge. D'Abernon: in ihrer jetzigen Form erreichten sie aber die öffentliche Meinung gar nicht. In der Tat sei es ›very important that Germany should put itself right with public opinion‹. Aber eine feste Summe anbieten wäre Unsinn. Der Weltmarkt könne höchstens zwei Milliarden Goldmark als Anleihe aufnehmen; alles, was darüber hinausgehe, sei phantastisch (also auch das Bergmannsche Angebot).

Nachher bei Sir John Simon. Ich teilte ihm die bevorstehende Rede Rosenbergs mit, auch daß sie den Inhalt des Memorandums wiedergeben, aber aus technischen und diplomatischen Gründen den Asquithschen Zusatz nicht enthalten werde. Mir schien das richtigste, wenn Asquith seine Ergänzung in die Rosenbergsche Rede hineininterpretiere, dann werde die deutsche Regierung voraussichtlich nicht ablehnend sich verhalten.

Simon war über meine Mitteilung offenbar sehr erfreut und schrieb gleich unter meinem Diktat ein mehrseitiges Memorandum für Asquith, der morgen reden will. Er sagte dann noch, daß er gleich nach dem Lunch mit Asquith und Grey über die Sache konferieren werde. Beim Abschied war er überaus freundlich, begleitete mich bis auf die Straße an meinen Wagen und drückte die Hoffnung aus, daß wir uns bald wiedersehen würden.

Nachmittags Fisher (für Lloyd George) und Ramsay Macdonald ähnliche Mitteilungen gemacht wie Simon. Fisher bezeichnete den Inhalt unserer Vorschläge als sehr befriedigend. Ich betonte namentlich die Bedenken, die mir der Spearssche Vorschlag zur einseitigen Kontrolle über einen Streifen Deutschlands einflöße. Die Rheinlande seien schon durch den Versailler Vertrag (Artikel 42 bis 44) auf ewige Zeiten demilitarisiert unter Kontrolle des Völkerbundes (Artikel 213). Wenn das jetzige Gerede von Demilitarisierung etwas bedeuten solle, so müßten daher die Urheber des Gedankens mehr wollen als diese vom Versailler Vertrag vorgesehene Demilitarisierung. Dieses Mehr sei vermutlich Kontrolle der Eisenbahnen und internationale Gendarmerie. Wenn ein so kontrollierter Grenzstreifen beiderseits der Grenze festgelegt werden solle, so hätte ich nichts dagegen. Aber wenn er nur auf deutschem Gebiet verlaufen solle, so müßte ich sagen, daß das dann eine Maßregel sein würde, die für das deutsche Volk unerträglich wäre, denn sie würde es aus allen Völkern hervorheben als das einzige, das unter Polizeiaufsicht gestellt werden müsse, sie würde es zu einem Volk machen, das nur unter einem ticket of leave frei sich betätigen dürfe. Daher könne eine solche Maßregel nie von Dauer sein, nie eine dauernde Sicherheit schaffen, weil das deutsche Volk sie bei der ersten Gelegenheit, wenn nötig mit Gewalt, beseitigen werde. Sie werde außerdem Deutschland in einen unheilbaren Gegensatz zum Völkerbund bringen, der zum Gefängniswärter Deutschlands degradiert werde.

Fisher hörte sich das an, gab mir recht, daß reciprocity das richtige sei, meinte aber, Frankreich werde das nie annehmen, Frankreich habe kranke Nerven, man müsse ihm etwas bieten, das seine Nerven beruhige.

Unsere Unterredung ging auf der Terrasse des Parlamentsgebäudes an der Themse vor sich, wo wir in der ungewöhnlichen Frühlingswärme vor dem wunderbaren Bild der in leichten bläulichen Nebel gehüllten Themse mit ihren Lichtern und Brücken saßen.

Am späten Nachmittag Macdonald in seinem Zimmer im Parlamentshause gesprochen. Dasselbe wie mit Fisher besprochen. Er schien sehr ernstlich interessiert. Hörte mit großer Aufmerksamkeit zu und widersprach nicht meiner Anregung, daß er morgen in der Debatte das Wort ergreifen möge. Er erzählte dann, daß ihre Delegierten, die nach der Ruhr geschickt waren, heute einen Teil ihres Berichtes erstattet hätten. Die Arbeiter bekämen dort jetzt höheren Lohn (auch als Reallohn) wie vor der Besetzung: vierzehntausend Mark statt fünftausend. Einige in der Partei wunderten sich, wie das möglich sei, denn es werde weniger produziert als vorher. Wo das Geld herkäme? Ich sagte, ich nehme an, aus dem Ruhrfonds, für den sich unsere Arbeiter- und Beamtenorganisationen im unbesetzten Gebiet ständige Abzüge von ihrem Gehalt auferlegten.

London. 28. März 1923. Mittwoch

Früh steht in den Zeitungen so gut wie nichts über Rosenbergs gestrige Erklärungen. In der »Times« eine direkt irreführende Version. Ich war sehr enttäuscht, telephonierte gleich um acht mit Dufour und traf ihn um neun auf der Botschaft. Er ließ sich das Reutertelegramm kommen. Es stellte sich heraus, daß dieses Rosenbergs Erklärungen sehr ausführlich und gut wiedergibt, aber von den Zeitungen nur ganz ungenügend und unverständlich verkürzt abgedruckt worden ist. Ich schrieb daher Privatbriefe an Asquith, Fisher und Macdonald und schickte ihnen Abschriften des unverkürzten Original-Reutertelegramms. Ebenso auch noch an Trevelyan, Charles Buscher, Snowden, Morel und Brailsford.

Nachher ins Parlament, wo ich noch die zweite Hälfte von Asquiths Rede hörte. Er hatte das von mir Sir John Simon diktierte Konzept vor sich liegen und brachte alles, was ich Simon gesagt hatte. Baldwin sprach staatsmännisch und gut, der Unterstaatssekretär im Foreign Office McNeill oberflächlich und schwach für die Regierung und ihre Untätigkeit. McNeill griff zu direkten Unwahrheiten, indem er behauptete, Rosenbergs Rede mache die Annahme seiner Vorschläge von einer vorherigen Räumung des Ruhrgebiets abhängig, während Rosenberg gerade dieses nicht gesagt hat; ferner, daß Rosenbergs Rede nichts enthalte als den Vorschlag, ein Bankierkomitee zu berufen, während sie die viel wichtigere Zusage enthält, sich dem Spruch sowohl dieses Bankierkomitees wie auch des »internationalen Tribunals« (von dem McNeill nichts sagte) zu unterwerfen und jede von diesen geforderte Garantie zu geben.

Vor mir saßen nebeneinander Sthamer und St. Aulaire (der französische Botschafter) und in der Peers-Galerie d'Abernon. Sthamer ging noch vor McNeills Rede und verabschiedete sich mit einem Händedruck von St. Aulaire. Leider waren sämtliche Oppositionsredner abwesend während McNeills Rede, die er in der Essenspause hielt, so daß niemand seine Unwahrheiten richtigstellte. Die Frage der Internationalisation der Rheinlande wurde nur von General Spears in einer äußerst schwachen, kaum hörbaren Rede vorgebracht.

Zwei große Vorteile haben wir errungen: erstens, daß infolge meiner Intervention bei Fisher und Dufours bei Grigg die Internationalisation heute keine Rolle in der Debatte gespielt hat; zweitens, daß Asquith und Macdonald Rosenbergs Vorschläge als passende Diskussionsbasis proklamiert haben. Damit hat die deutsche Regierung für ihre Haltung die Unterstützung der englischen Opposition gewonnen: einen sehr wesentlichen Faktor, wenn die Ruhraktion sich in die Länge zieht.

London. 29. März 1923. Donnerstag

Nachmittags war Kircher bei mir, der Korrespondent der »Frankfurter Zeitung«. Er äußerte sich sehr scharf gegen Sthamer wegen seiner Passivität im allgemeinen und im besonderen auch bei der Aktion, die die Parlamentsdebatte am Dreizehnten vorbereiten sollte. Ich gab Sthamers etwas zu große Passivität zu, verteidigte ihn aber wegen seiner durchaus loyalen Unterstützung meiner Aktion. Wenige Botschafter hätten sich so mediatisieren lassen und gleichzeitig vollkommen ohne bösen Willen mitgeholfen.

London. 31. März 1923. Sonnabend

Vormittags mich von Dufour und vom Botschafter verabschiedet. Der Botschafter war, wie immer, sehr liebenswürdig, dankte mir für meine Tätigkeit hier, die ganz allein die Aktion im Parlament und vor allem den Umschwung in Berlin herbeigeführt habe. Ich sagte ihm, daß ich voraussichtlich in der übernächsten Woche zurückkäme. Ich hatte nicht das Gefühl, daß ihn diese Mitteilung sehr erfreute. Ich fragte ihn dann, ob er den Wunsch habe, daß ich irgend etwas im Auswärtigen Amt besonders berichten oder hervorheben solle? Er sagte, ich möchte betonen, daß er in der letzten Zeit im Foreign Office eine Verstärkung der pro-französischen Stimmung empfunden habe. Worauf diese zurückzuführen sei, wisse er nicht. Vielleicht seien schon irgendwelche Abmachungen zwischen der englischen und der französischen Regierung zustande gekommen. Dagegen sei im englischen Publikum die Unzufriedenheit mit Frankreich zweifellos im Wachsen. Die geschäftlichen Schädigungen durch die Ruhraktion nährten diese Unzufriedenheit beständig. Auch sei eine ähnliche Entwicklung in Holland, Skandinavien, der Schweiz und selbst in Belgien bemerkbar. Es sehe so aus, als ob sich da etwas gegen Frankreich zusammenziehe. Wir verabschiedeten uns dann sehr freundschaftlich. So endet mein diesmal für die allgemeine Politik tatsächlich bedeutsamer Aufenthalt in London.

Haag. 3. April 1923. Dienstag

Vormittags von zehn bis halb zwei bei Lucius, der mir zuerst eine Stunde lang flaches Zeug von Kunst erzählte (er sei ein Epikureer, könne »nichts Häßliches« sehen, wobei seine Räume ein Beispiel sind, wie aus einem Gemisch von Gutem in geringer Quantität und Halbgutem und Kitsch in sehr großer etwas trivial Trostloses entsteht), bis wir endlich auf die Politik kamen.

Lucius sagte noch unendlich viel mehr (insbesondere über seine Eignung zum Botschafter in Paris, seine Abneigung, diesen Posten anzunehmen usw.), aber er spricht so schnell, wirft so vieles durcheinander, kommt so oft vom Hundertsten ins Tausendste, daß man seinen Gedankengängen (die übrigens nie sehr tief oder neu sind) nur schwer folgen kann. Er sieht sich selbst in tausend Spiegeln, mit Tausenden von Facetten und Glanzlichtern, die ihm immer zwischen seine sachlichen Ausführungen geraten und sie stören und verschieben. »Le petit Lucius« in Paris, die Weiber, seine Klubfreunde, Rodin, Anders Zorn, die Lavallière, Stumm, Halberg, Bismarck, führen in ihren Beziehungen zu seiner Person und seiner nächsten Familie einen wilden Reigen auf, der wie mit Pechfackeln, leuchtend und verwirrend, durch die Tagesfragen hindurchrast.

Lucius ist in der Qualität seines »Glanzes« (er braucht selbst den Ausdruck) und seines Kunstsinnes etwas wie eine Taschenausgabe von Wilhelm II., den er übrigens nicht liebt. Unter anderem zitierte er von ihm die vornehme Äußerung über Rathenau, die er ihm gegenüber bei seinem letzten Besuch in Doorn (Lucius sagt, er geht nicht wieder hin) fallen ließ: »Ist ihm ganz recht geschehen!« (daß er ermordet wurde). Auch über Ballin: »Er habe nie gewußt, daß er Jude sei!«

Er zeigte mir mit Wonne Äußerungen über dieses edle Blut, die er in Waldersees Memoiren gestrichen hat. Trotzdem gehört er ganz und gar zu seiner Epoche. Die Mischung von Genußsucht, falscher Kultur, politischer Betriebsamkeit und Selbstsicherheit und, last not least, schlechten Manieren ist ganz wilhelminisch. Er erzählt sogar (echt wilhelminisch), wie er Rodin korrigiert habe, mit Erfolg. Worauf ihm Rodin gesagt habe: »Je ne savais pas, cher ami, que vous étiez sculpteur.«

Die tiefste Qualität des Wilhelminischen (die Wurzel der Katastrophe), den Mangel an Augenmaß und Bescheidenheit (Selbsterkenntnis), keine Religion, kein Gefühl für die eigene Stellung im All. Daß die Welt diesen Typus ausgebrochen hat, ist nur die Folge davon, daß dieser Typus radikal unfähig war, sich in die Welt einzupassen. In einem symbolischen, tiefen Sinn war Wilhelm II. wirklich der Antichrist, allerdings ein persönlich sehr unbedeutender, flacher, verächtlicher. Aber vielleicht gehört Tiefe und insbesondere tiefe Bosheit gerade nicht zur Figur des Antichrist, sondern eben diese flache, arglose Schalheit, vielleicht könnte ein wirklich böser, machtstrebender Mensch wie Cäsar Borgia oder Napoleon nie polarer Gegensatz zum absolut religiösen Menschen werden. Ihn ordnet die Schwerkraft seiner Bosheit in die Welt ein, so daß er nie ganz zu ihr in Gegensatz treten kann.

Berlin. 4. April 1923. Mittwoch

Früh an. Um zwölf zu Schubert, der mich mit großem Hallo wegen meiner erfolgreichen Tätigkeit in London empfing. Er begann dann mit der Schilderung der Wirkungen meiner Berichte und Vorschläge hier, die in der Tat groß gewesen zu sein scheinen, wurde dann aber durch die Ankunft von Rosenberg, der in Kopenhagen gewesen ist, unterbrochen.

Nachmittags um halb sechs mit Schubert zu Rosenberg. Dieser kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen: »Na, da kommt ja Kessler Triumphator, der englische Premierminister ins Wanken bringt, eine Ruhrdebatte nach der andren im englischen Parlament inszeniert usw.« Er dankte mir dann noch ausgiebig, was mich, bei den bescheidenen praktischen Erfolgen, eher in Verlegenheit setzte. Mir schien das ein bißchen zu viel. Er gab sich dann Mühe, mir klarzumachen, wie peinlich genau sie meinen Anregungen gefolgt seien: zum Beispiel hätten sie dreimal meinetwegen die Sitzung des Auswärtigen Ausschusses verschoben und auch, als die Sitzung schließlich stattfand, Stresemann veranlaßt, auf eine Pause zu verzichten, damit Rosenberg genau um vier seine Rede halten könne. Auch sonst seien sie bemüht, alles zu tun, was die Beziehungen zu England bessern könne.

Nachher wieder bei Schubert, mit ihm allein. Er zeigte mir das Aktenstück über meine Aktion in London, aus dem hervorgehe, mit welchem Eifer meine Vorschläge hier aufgenommen und zur Ausführung gebracht worden seien. Der Reichskanzler wurde zur Nacht noch herausgeholt, der Auswärtige Ausschuß mehrmals vertagt usw.

Berlin. 6. April 1923. Freitag

Nachmittags Hilferding besucht. Er ist gestern aus Brüssel zurückgekommen vom internationalen Sozialistentag. Die dort ausgearbeiteten, noch geheimen Vorschläge zur Reparationsfrage skizzierte er mir: Hauptsache Zahlung von dreißig Goldmilliarden (nicht vierzig, wie Maltzan mir vermutungsweise gesagt hatte). Also weniger als meine fünfunddreißig.

Berlin. 7. April 1923. Sonnabend

Vormittags rief mich Schubert an, er müsse mich in einer hochwichtigen und dringenden Angelegenheit heute sprechen. Ich ließ sagen, ich würde um sechs zu ihm kommen.

Dann kam Lehmann-Rußbüldt. Er übergab mir eine Denkschrift von Müller-Brandenburg, dem Polizeichef von Thüringen, wonach die Gefechtsstärke der konterrevolutionären Bünde auf Grund sorgfältiger Berechnungen festgestellt wird für ganz Deutschland auf einundsiebzigtausend Mann; dazu die bayrische Landespolizei, die im Kartellverhältnis zum Bund Oberland steht, neuntausend Mann: im ganzen also achtzigtausend Mann. Wahrscheinlich müsse hierzu aber auch noch die Reichswehr, soweit sie in Süddeutschland steht, hinzugerechnet werden. Das mache hundertzehntausend Mann. Demgegenüber habe die Republik nur etwa fünfundvierzigtausend Mann zuverlässiger Formationen (preußische, sächsische, thüringische, badische, hamburgische Schupos). Auf die Reichswehr sei nicht zu rechnen. Lehmann, Seeliger, Vetter usw. wollen daher Arbeiterformationen »zur Abwehr« aufstellen.

Ich machte meine großen Bedenken geltend. Wenn man zugebe, daß Hitlers Rüstungen republikanische Gegenrüstungen nötig machten, so müsse man auch zugeben, daß französische Rüstungen deutsche Gegenrüstungen »zur Abwehr« nötig machten. Das sei aber das alte System, aus dem wir endlich hinauswollten.

Nachmittags bei Hilferding, der mir erzählte, er habe gestern abend bei Rosenberg gegessen, und dieser sei in der Frage des neuen Vorschlages sehr ablehnend gewesen. Bergmann und er, Hilferding, hätten vergeblich versucht, ihm die Notwendigkeit eines weiteren Schrittes klarzumachen. Schubert habe dabeigesessen und keinen Ton gesagt.

Während wir sprachen, telephonierte Hermes an und bat Hilferding um eine sofortige Unterredung; er schicke sein Auto. Ich fuhr mit Hilferding hin und wartete im Vorzimmer. Hilferding sagte mir beim Herauskommen, Hermes stehe ganz auf dem Standpunkt des neuen, eine präzise Zahl nennenden Vorschlages und wolle im Kabinett energisch darauf dringen.

Hilferding sagte sich darauf um sechs bei Ebert an, und ich ging zu Schubert. Die »sehr dringende Angelegenheit« war das gestrige Diner bei Rosenberg. Unter allerlei Kautelen erzählte mir Schubert den Vorgang, bis ich ihm sagte, ich sei durch Hilferding bereits genau unterrichtet. Schubert führte aus: wir stünden in einer Schicksalsstunde des deutschen Volkes, schwerer und gefährlicher als 1918. Er habe sich seit vorgestern überzeugt, daß wir einer Finanzkatastrophe entgegengingen. Wenn in einigen Wochen der Dollar plötzlich auf hunderttausend oder mehr hinaufschnelle, was solle dann werden? Wir müßten dann jede uns diktierte Bedingung annehmen. Auch bestehe die Gefahr, daß, durch Loucheurs Reise eingeleitet, Frankreich sich mit England gegen uns einige, wenn wir nicht vorher vernünftige Vorschläge machten.


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