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Palma, 1. Januar 1935. Dienstag
Nachmittags Neujahrsbesuch bei Vidal Quadras und Frau Liebling. In den letzten Tagen Manuskript meines ersten Bandes abgeschlossen und an S. Fischer geschickt. – In den Zeitungen herrscht zu Jahresbeginn ein gewisser Optimismus.
Palma. 25. Januar 1935. Freitag
Vortrag von Keyserling im ›Salon Mallorca› über die Zukunft der ›mediterranischen Kultur›. Hauptideen: Die Welt tritt nach vier Jahrhunderten dynamischer Entwicklung, in der die nordischen Rassen die Führung hatten, in eine solche statischer Zivilisation, in der die Führung wieder den mediterranischen Völkern zufallen wird. Dieses daher, daß die nordischen Völker mit ihrem rastlosen Suchen nach der objektiven Wahrheit, das die unaufhaltsame Entwicklung der Wissenschaft und Technik zur Folge hat, einer dynamischen Zeit angepaßt sind, während die südlichen Völker, wie die Griechen, die Italiener, die Spanier, mehr nach Schönheit als nach Wahrheit suchen und daher grundlegend subjektiv und auf die Seele eingestellt seien. (Ich halte diese Anschauung für falsch: in der deutschen Geschichte spielen die Musik, die Lyrik, die Innigkeit und Gemütlichkeit, das intime Familienleben, der ganz subjektive Protestantismus die erste Rolle; die Griechen usw. waren viel ›objektiver›; gerade sie haben ja unter andrem die Wissenschaft, die Suche nach der objektiven Wahrheit erfunden.)
Palma. 26. Januar 1935. Sonnabend
Tee bei Lady Brentford. Sie mitgenommen zu Keyserlings Veranstaltung: einer ›Schule der Weisheit› im Hotel Alfonso. Da er mich gebeten hatte, ihn zu unterstützen und an dem Gespräch teilzunehmen, neben ihm am Vortragstisch gesessen, mit Francis de Miomandre auf seiner andren Seite. Gespräch über Mechanisierung und Kultur›. Keyserling stellte mich mit einem glühenden Lob meines Rathenau-Buches dem mallorquinischen Publikum vor. Sagte nebenbei auch, daß Rathenau der Mann gewesen sei, der eigentlich alle Ideen, die die heutige Zeit bewegten und formen, vorausgedacht habe.
Ich stellte Keyserling die Frage, wie er sich die Rolle der nordischen und südlichen Völker in der neuen ›statischen› Zeit denke und wieso er den südlichen mehr Seele und Subjektivität zutraue als zum Beispiel den Deutschen oder Engländern. Er gab eine ziemlich konfuse und unbefriedigende Erklärung: Gerade weil die Deutschen Musik und Lyrik usw. entwickelt hätten, halte er sie für ›objektiv› und seelenlos, denn ein Volk gestalte in der Kunst das, wonach es sich sehne, was ihm also fehle. Große Männer oder Künstler seien nie für ihr Volk repräsentativ: im Gegenteil. (Reichlich sophistisch und in der vorliegenden Frage meines Erachtens falsch.)
Vor dem Vortrag bei Keyserling auf seinem Zimmer und eine halbe Stunde mit ihm unter vier Augen. Er sagt, er sei schrecklich von den Nazis behandelt worden, viel schlimmer als seinerzeit in Rußland von den Bolschewiken. Sie hätten ihn eines schönen Tages, ohne irgendeinen Grund anzugeben, ausgebürgert, ihm seinen Paß weggenommen; keine Zeitung oder Zeitschrift in Deutschland wage, eine Zeile von ihm abzudrucken, er werde systematisch ausgehungert und seiner Lebensmöglichkeiten beraubt. Aber er halte durch, er und Furtwängler seien ›die einzigen›, die das täten, und Furtwängler nur auf seinen dringenden Rat. Er habe vier Monate gebraucht, um seine Ausbürgerung wieder rückgängig machen zu lassen, und es nur durch ›Ironie› erreicht, indem er den Leuten zeigte, daß er sie nicht ernst nehme.
Palma. 28. Januar 1935. Montag
Keyserling bei mir im Bona Nova gefrühstückt. Er sah phantastisch aus in einem Sportanzug mit rotem Sweater, violettem Halstuch, gelbem Mantel und riesigem braunem Kalabreser. Er blieb bis fast sechs und sprach unaufhörlich und so rasch, daß ich ihn häufig unterbrechen mußte, um ihn zu bitten, zu wiederholen. Seine Vitalität ist erstaunlich. Er schilderte wieder alles, was er in Deutschland von Seiten der Nazis erlitten habe, seine Ausbürgerung, seine literarische Verfemung (keine Publikationsmöglichkeit).
Palma. 29. Januar 1935. Dienstag
Zweites ›Gespräch‹ Keyserling, im ›Mediterraneo‹. Wieder Französisch. Ich beteiligte mich wie das letzte Mal und trug ziemlich starken Beifall davon, hauptsächlich weil Keyserling so schnell sprach, daß die meisten ihn nicht verstanden.
Palma. 30. Januar 1935. Mittwoch
Keyserling am späten Nachmittag besucht und mit ihm in Charlies Bar, wo wir aßen und Keyserling einen Cocktail nach dem andren trank (im ganzen wohl sechs, sieben, eine ganze Flasche Whisky) und schließlich sehr betrunken war und fast umfiel. Er erzählte Wunderdinge von seiner Familie, daß unter seinen Vorfahren alle deutschen Kaiser, alle byzantinischen Kaiser, alle russischen Herrscher, Dschingis-Khan usw. seien. Auch sonst renommierte er mit allerhand, Frauen, Trinken usw. Mir sagte er, er habe in fünfzehn Jahren noch nie einen solchen Partner bei seinen Gesprächen gehabt wie mich. Ich hätte ein unfehlbares künstlerisches Gefühl für den Kontrapunkt, die Musik eines Gesprächs.
Palma. 25. Mai 1935. Sonnabend
Max auf acht Tage nach Bañalbufar abgefahren. Hitlers große Rede, die er Dienstag im Reichstag gehalten hat, im Original gelesen. Man mag über ihn denken, was man will, jedenfalls ist diese Rede eine große staatsmännische Leistung. Sie bietet in ihren dreizehn Punkten eine Grundlage, die, wenn sie ehrlich ausgebaut wird, den europäischen Frieden auf Jahrzehnte sichern könnte. Es wäre ein Verbrechen gegen Europa und die Menschheit, wenn die andren Staaten diese Vorschläge nicht sorgfältig prüften und alles, was daran praktisch verwendbar ist, in die Wirklichkeit umsetzten. Man muß auch erkennen, daß diese Rede nur durch die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland möglich geworden ist; denn erst sie hat Deutschland zu einem sehr ernst zu nehmenden Verhandlungspartner gemacht, dessen Angebote und Vorschläge Achtung erzwingen.
Palma. 26. Mai 1935. Sonntag
Nochmals Hitlers Rede. Man möchte wissen, wieviel Auswärtiges Amt und wieviel echter Hitler darinsteckt. Im A. A. ist der Geist Stresemanns und Rathenaus noch immer lebendiger als der Hitlers; und große Teile der Rede hätten genauso Rathenau oder Stresemann halten können. Echter Hitler ist allerdings leider ohne Zweifel die Philippika gegen Rußland, die der dilettantischste und bedenklichste Teil ist. Das Ganze sieht aus wie ein Kompromiß zwischen Hitler einerseits, dem man seinen Rußland-Ausbruch konzediert hat, und Gaus und Bülow, namentlich Gaus, andrerseits. Danach läßt sich auch einigermaßen beurteilen, wieweit die Vorschläge ehrlich gemeint sind. In ihren positiven Teilen repräsentieren sie die seit Rathenau bis auf den heutigen Tag kontinuierliche und konsequente Politik des A.A., die sich gegenüber Hitler durchgesetzt hat und daher wohl auch die Kraft haben wird, sich weiterhin durchzusetzen. Auf Hitlers Anteil kommt, außer dem törichten Angriff auf Rußland, Ton und Ausdruck der Rede.
Palma. 1. Juni 1935. Sonnabend
Die ersten Exemplare meines Buches erhalten.
Palma. 6. Juni 1935. Donnerstag
Der junge Kusche erzählt, daß es jetzt in Deutschland nicht bloß ›Ehren-Arier‹ wie Francesco Mendelssohn, sondern auch ›Zeit-Arier.‹ (Arier auf Zeit, Arier auf Widerruf) gibt, und führt den Fall Lewald an, der für die Zeit bis zu den Olympischen Spielen zum Arier ernannt worden ist, weil er Präsident des deutschen Olympischen Komitees ist und die andren Komitees in England, Frankreich usw. erklärt haben, seine Absetzung würde die Zustände in Deutschland in einem solchen Lichte zeigen, daß sie dann nicht mehr die Verantwortung übernehmen könnten, ihre Leute zu den Olympischen Spielen nach Berlin zu schicken. Vor der Drohung mit dieser Blamage hätten die Nazis Lewalds jüdisches Blut vorläufig, aber bloß auf Abruf, geschluckt. Nach den Spielen wird Lewald dann endgültig Nicht-Arier.
Barcelona. 29. Juni 1935. Sonnabend
Früh hier an. Im Hotel Bristol (deutsch, sehr sauber und gut geführt) an der Plaza Catalunya abgestiegen. Gerade heute ist hier wieder der Kriegszustand proklamiert worden wegen verschiedener terroristischer Attentate in der letzten Zeit. Aber man merkt davon nicht viel. Auf der Rambla promenieren die Leute so dicht wie immer, an der Rambla de San José sind die Blumenstände nicht weniger schön oder bunt; nur tragen die Guardias Karabiner und gehen immer zu zweien. Ernst scheint die Sache nicht zu sein.
Barcelona. 30. Juni 1935. Sonntag
Barcelona, dessen neuere Stadtteile wie eine Mischung aus Paris und Berlin sind, besitzt zwei Dinge, die in ihrer Art einzig sind, die Rambla de San José mit den wunderbaren Blumenständen und den Kreuzgang der Kathedrale mit seinen herrlichen, alten Bäumen. Bäume, Blumen, überhaupt Pflanzen sind die einzigen irdischen Wesen, die selig sind, deren Naturzustand das ist, was wir himmlische Seligkeit nennen. Menschen ist so was fremd, nur als phantastischer, unwirklicher, im wahrsten Sinne un-menschlicher, ›göttlicher‹ Zustand vorstellbar. Pflanzen sind überhaupt, aus der göttlichen Perspektive gesehen, viel vollkommenere Wesen als Menschen. Sie haben keinen Sündenfall erlebt. Sind und bleiben ohne Sünde, wahrscheinlich auch ohne Schmerz. Es liegt eine tiefe Wahrheit darin, daß das Paradies als Garten vorgestellt wird, als Ort, dessen Leben ein Pflanzenleben ist, und wo der Mensch als solcher ein Fremdling ist und bleibt. Der Sündenfall, die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies, bedeutet seine nicht wiedergutzumachende Loslösung vom vollkommenen, göttlichen, vegetativen Leben.
Paris. 14. Juli 1935. Sonntag
In den letzten Tagen große Nervosität, die ich nicht teilte, vor den heutigen beiden großen Demonstrationszügen der ›Front Populaire› und der ›Front National‹ (Croix de Feu). Bei erstickender Hitze sah ich nur mit Jacques beide Demonstrationen, die an der Bastille der radikal-sozialdemokratischen-kommunistischen Einheitsfront und die am Triumphbogen der Croix de Feu. Beide verliefen ganz ruhig. Die der Linksfront an der Bastille machte einen eher schläfrigen, gutbürgerlichen Eindruck, wie ein von der Hitze etwas bedrücktes, großes Familienfest, die Demonstranten schlichen eher dahin, als daß sie marschierten, viele mit Kindern an der Hand; was sie nicht hinderte, blutrünstige Parolen zu schreien: »La Roque au poteau« und »Les Soviets partout«. Der Zug soll fünf Stunden lang gewesen sein, während der der Nationalisten in den Champs-Elysées, dem ich von Anfang bis zu Ende beiwohnte, genau eine Stunde dauerte, von sechs bis sieben. Hier ›marschierte‹ die Demonstranten, gingen gut ausgerichtet mehr oder weniger im Schritt und mit einem gewissen Elan. Hier schrien die Zuschauer begeistert: »Vive La Roque« und »La France aux Français«. Revolutionär war die Stimmung ebensowenig hier wie dort. Mit den Umzügen in Berlin 1932/33 des Reichsbanners, der Nazis oder der Roten Front waren sie nicht zu vergleichen! Abends spät fuhren Jacques, der junge deutsche Arbeiter Lohr und ich nach der Place du Tertre in Montmartre, wo lustig und harmlos getanzt wurde.
Paris. 20. Juli 1935. Sonnabend
Heute wird meine arme Hauseinrichtung in Weimar versteigert. Ende der Hauptepoche meines Lebens und eines mit großer Liebe aufgebauten Heims.
Vormittags traf ich zufällig Annette Kolb mit dem früheren Reichskanzler Brüning in der Buchhandlung von Ostertag, Rue Vignon. Brüning, der inkognito hier ist und mir sagte, daß er zum ersten Mal eine Nacht in Paris schlafe, machte den Eindruck größter Vorsicht, ja fast Ängstlichkeit. Er drückte aber Annette den Wunsch aus, heute abend bei ihr mich als Dritten beim Essen zu sehen.
Abends mit Brüning allein zu dreien bei Annette Kolb in ihrer hübschen, kleinen Dachwohnung 21, Rue Casimir-Périer gegessen und bis Mitternacht geplaudert. Bald stellte sich auch die Ursache der auffallenden Ängstlichkeit Brünings heraus. Er sagte, er bleibe zum ersten Mal eine Nacht in Paris und verstecke sich, weil er um keinen Preis mit dem Emigrantenklüngel hier in Berührung kommen wolle. Sehr hart urteilte er besonders über Georg Bernhard hier und Olden in London. Sie hätten gleich zu Anfang durch ihr übertriebenes Geschrei und Verbreitung von Geschichten, die sich später als unwahr herausstellten, großen Schaden angerichtet; jetzt glaube man in England in weiten Kreisen den Emigranten überhaupt nichts mehr.
Überraschend und mir neu war, daß Brüning, wie er ganz offen erzählte, 1932 gleich nach der Präsidentenwahl eine monarchistische Restauration einzufädeln versuchte. ›An die Spitze des Deutschen Reichs gehört eine Uniform.‹ Daher sei er immer überzeugter Monarchist gewesen. Wer Monarch sei, sei ziemlich gleichgültig. 1932 habe er an den Prinzen Louis Ferdinand gedacht, der einen offeneren Kopf habe als die meisten Fürsten. Er, Brüning, habe in dieser Sache eine Unterredung mit dem Kronprinzen gesucht, die bei dem General von Willisen stattfinden sollte. Aber Schleicher habe von der Sache Wind bekommen, den Kronprinzen daran gehindert, der Einladung zu Willisen Folge zu leisten, und statt dessen ein Frühstück bei sich angesetzt, wo Brüning und der Kronprinz sich trafen. Die Begegnung habe geheim bleiben sollen, aber Schleicher habe sie schon gleich am nächsten Tage in der Pressekonferenz bekanntgegeben. Die ganze Aktion sei dann verpufft. Auch der alte Hindenburg habe Schwierigkeiten gemacht. Vor der Präsidentenwahl habe er, Brüning, unbedingt die Sozialdemokraten gewinnen und halten müssen. Aber gleich nach der Wahl habe er diese Schritte zu einer Restauration unternommen(!).
Über Hindenburg urteilt er sehr absprechend. Typisch sei für ihn immer, schon im Kriege, gewesen, daß er im letzten Augenblick vor der Verantwortung versagte und sich durch allerlei Nebenrücksichten, Einflüsterungen von Freunden (Oldenburg-Januschau), sentimentale Jugenderinnerungen, Ressentiments (Minderwertigkeitsgefühle) bestimmen ließ. So 1915 (oder 14), als Ludendorff die Russen nach Schlesien bis ins Riesengebirge locken wollte, um sie abzuschneiden und zu vernichten; im letzten Augenblick habe Hindenburg nein gesagt, in Erinnerung an Wahlstatt (Kadettenanstalt), an bekannte Gutsbesitzer usw.
Brünings Redewendung: ›Nur noch die letzten hundert Meter durchhalten‹ sei direkt auf den Präsidenten gemünzt gewesen. Er und namentlich Oskar Hindenburg seien sehr stark von Minderwertigkeitsgefühlen bestimmt worden. So beim Erwerb von Neudeck. Oskar sei außerdem sowohl militärisch wie sonst ganz unfähig. Er habe sich bei allerlei dunklen Börsenmanövern ›mitnehmen‹ lassen und sei dadurch in eine Lage geraten, wo er dauernd ›Enthüllungen‹ zu fürchten hatte. Ebenso Meißner. Dadurch hätte Papen und hätten die Nazis diese ganz in die Hand bekommen. Im übrigen habe Oskar seinen Vater terrorisiert; ihn, wenn der Alte nicht mitmachen wollte, angebrüllt, so daß man es bis in die Wilhelmstraße hörte. Schließlich sei der Alte unter dem Druck des Sohnes in eine Panikstimmung geraten, in der er Hitler zur Macht berief.
Schleicher sei bei Hindenburg diskreditiert worden, indem die Nazis durch einen Einbruch in eine Gerichtskanzlei die Akten über die Ehescheidung der Frau v. Schleicher sich verschafften und Hindenburg zu Augen kommen ließen.
Papen habe man in der Zentrumspartei politisch nie ernst genommen. Aber Kaas, der eine Vorliebe für den Adel hatte, habe ihn protegiert. Auf meine Anspielung auf die Talon-Affäre Papens in Amerika meinte Brüning, die sei noch lange nicht das Schlimmste, was sich Papen geleistet habe. Trotz dieses lächerlichen Fiaskos in Amerika habe man ihm nach seiner Rückkehr die Aufstellung einer geheimen Spionage-Organisation in Belgien anvertraut. Und nachher habe sich herausgestellt, daß alle seine ›Agenten‹ englische Secret-Service-Leute gewesen seien. Infolgedessen wurden fortlaufend die Pläne des deutschen Generalstabs an die Engländer durchgegeben und jede beabsichtigte Offensive ihnen lange vorher gemeldet. Folge: Hunderttausende von unnötigen Opfern auf deutscher Seite. Ein früherer deutscher Agent von Papen in Amerika, v. Rintelen, der sein Opfer geworden war, habe das in einem Buch geschildert. Darin hätten ursprünglich so haarsträubende Dinge gestanden, daß er, Brüning, zum amerikanischen Botschafter in Berlin ging und durchgesetzt habe, daß das Schlimmste gestrichen wurde. Es hätten da Dinge gestanden, die für das Ansehen des Deutschen Reiches untragbar gewesen wären.
Die Ermordung von Papens Sekretär Jung schildert Brüning so: er, Brüning, habe Jung gewarnt, daß er auf der Schwarzen Liste der ›Umzulegenden‹ stehe, und Jung habe daraufhin auch sich verborgen gehalten. Aber dann sei er doch in seine Wohnung zurückgekehrt, um einen Brief zu holen, den er dort vergessen hatte. Da habe aber schon die Gestapo vor der Tür gestanden und ihn mitgenommen und gleich, schon am 29. Juni, erschossen. Der Hauptgrund für die Ermordung Jungs sei gewesen, daß er zu den wenigen gehörte, die über einen Landesverrat Hitlers im Jahre 1923 ganz genau Bescheid wußten, wenn ich richtig verstanden habe, ›Augenzeugen‹ (?) dieses Landesverrats gewesen seien. Er sei ermordet worden, um einen unbequemen Zeugen aus der Welt zu schaffen. Jetzt wüßten nur noch er, Brüning, und ein andrer um diesen Landesverrat.
Hitler sei feige und das Gegenteil eines ›Führers‹, unentschlossen, schwankend, leicht beeinflußbar, so daß er, je nachdem, wen er zuletzt gesprochen habe, immerfort umfiele; aber bauernschlau, gerissen und, wie nur schwache Menschen, grausam. Mörder seien immer schwache Menschen. Hitler mache darin keine Ausnahme. In der Reichskanzlei habe er natürlich in Bismarcks Schlafzimmer schlafen wollen. Aber vor diesem Schlafzimmer seien ihm noch elf weitere Zimmer reserviert. Im ersten schlafe sein Adjutant Brückner, die zehn andren seien von seiner persönlichen Leibgarde besetzt, große stramme Jungens, die keinen durchließen. Trotzdem wage Hitler sich nachts nicht weiter als bis ins dritte Zimmer. Er habe nachts auch schreckliche Angstzustände. Dann schreie er nach Brückner. Dieser gehe aber gelegentlich hinüber in den ›Kaiserhof‹ ein Glas Pilsener trinken. Dann brülle Hitler nach ihm, schnauze die Leibgarde-Leute an, wo Brückner sei? Warum sie ihn fortgelassen hätten?
Einmal sei deshalb ein Mann von der Leibwache zu Brückner in den ›Kaiserhof‹ hinübergegangen und habe ihn holen wollen. Brückner habe sich aber nicht stören lassen, sondern dem Mann nur gesagt: »Mensch, hast du denn noch nicht gemerkt, daß der Führer verrückt ist?« Die Ermordung mit ihm befreundeter Personen lasse er sich immer ›abringen‹. Er wühle dann in seinem Haar wie ein Wagnerscher Bühnenheld, stelle sich verzweifelt, ›das kann ich doch nicht zulassen‹, und ›erlaube‹ dann, was er bereits vor acht Tagen sich vorgenommen hatte. Ich sagte: »Richard III.« Aber Brüning meinte: »Viel schlimmer«, weil das Theatralische, sentimental Romantische, ›Richard Wagnersche‹ dazukomme.
Göring sei ein Massenmörder, brutal, blutrünstig, aber nur, wenn er eine Morphiumspritze genommen habe. Sonst sei er eher weich und ziemlich vernünftig.
Goebbels schätzt Brüning geistig sehr hoch. Er sei von einer diabolischen Klugheit. Seine Rednergabe sei ganz außerordentlich; turmhoch der von Hitler überlegen. In der Tragödie vom 30. Juni habe er eine dämonische Rolle gespielt. Er habe die telegraphischen Gespräche Görings mit Hitler abgehört, in denen Göring Hitler zur ›Exekution‹ Röhms und seiner Freunde aufreizte. Als er gemerkt habe, daß die Sache ernst werde und er selbst gefährdet sei, habe er sich schnell entschlossen in ein Flugzeug gesetzt, Hitler aufgesucht, Göring in seinen Schilderungen des ›Komplotts‹ übertrumpft und dann mit Hitler zusammen das Blutbad in München geleitet. Erst nachträglich, nachdem Röhm und Heines schon erschossen waren, sei ein ermordeter nackter Junge in ihre Zimmer geschafft worden. (Wahrscheinlich Goebbelsscher Propagandatrick.) Er, Brüning, sei aber nicht von Goebbels, dem er einmal das Leben gerettet habe, sondern von Göring und Hitler auf die Liste der ›Umzulegenden‹ gesetzt worden.
Was die Stimmung in Deutschland und die Dauer des Nazi-Regimes betrifft, sagte Brüning folgendes (er hat zweifellos aus tausend Quellen die genauesten Informationen): mindestens sechzig Prozent der Studenten seien jetzt anti-Hitler, ebenso die meisten jüngeren Reichswehr-Offiziere (nicht die älteren). Die jüngeren Reichswehr-Offiziere nennten Blomberg spöttisch ›Hitlerjunge Quex‹. Die Katastrophe, in die das Regime hineintreibe, lasse sich noch vielleicht ein bis anderthalb Jahre hinausschieben. Ein Jahr könnten sie noch Granaten drehen und Kanonen gießen.
Wenn aber alle Lager voll und das Geld alle sei, würden sie die Rüstungsindustrie abbauen und Hunderttausende von Arbeitern wieder auf die Straße werfen. Dann könnten sie sich vielleicht noch ein halbes Jahr (Winter 1936/37) halten, indem sie überall im Lande täglich soundso viel Menschen ›umlegten‹. Aber dann müsse die Explosion so oder so (durch Krieg oder Revolution) erfolgen. (Also etwa im Spätwinter oder Frühjahr 1937.)
Der Sturz des Regimes gleich zu Anfang sei durch Daladier verhindert worden. Pilsudski habe ihm sagen lassen, er sei zum Einmarsch in Deutschland bereit. Aber Daladier habe gezögert und schließlich nein gesagt (wohl weil die Volksstimmung in Frankreich für einen Krieg nicht zu haben war). Seitdem habe sich Polen von Frankreich abgewandt, weil es eingesehen habe, daß es auf Frankreich nicht rechnen könne.
Vatikan und Konkordat. Das Konkordat sei so kautschukartig abgefaßt, daß es dem Vatikan in der jetzigen Situation nicht viel nütze. Papen habe Pacelli hineingelegt. Ja, im letzten Augenblick, nachdem schon alles festgelegt war und er einen hohen päpstlichen Orden bekommen hatte, sogar betrügerischerweise einen Paragraphen hineingeschmuggelt, von dem nie die Rede gewesen war. Bei der Unterzeichnung der Dokumente habe aber die vatikanische Bürokratie den Betrug entdeckt, und der eingeschmuggelte Paragraph sei natürlich gestrichen worden. Aber seitdem sei Papen im Vatikan unmöglich; gelte dort als ein ganz gewöhnlicher kleiner Hochstapler und Schwindler. Hinter der Verständigung mit Hitler stehe nicht der Papst, sondern die vatikanische Bürokratie und ihr Augure Pacelli. Ihnen schwebe ein autoritärer Staat und eine autoritäre, von der vatikanischen Bürokratie geleitete Kirche vor, die miteinander einen ewigen Bund schlössen. Daher seien Pacelli und seinen Leuten katholische parlamentarische Parteien in den einzelnen Ländern, wie das Zentrum in Deutschland, unbequem und würden von ihnen ohne Bedauern fallengelassen. Der Papst teile nicht diese Ideen. Im Gegenteil, er habe schon eine Enzyklika fertig daliegen, die die vatikanische Bürokratie und das Kirchenregiment völlig umgestalte.
Auf meine Frage, warum er sie nicht herausgebe, gab Brüning keine klare Antwort. Er selbst sei jetzt im Vatikan nicht persona grata. Der Papst würde ihn nicht empfangen. Und mit Pacelli habe er als Reichskanzler die heftigsten Zusammenstöße gehabt, weil er sich Pacellis Rat in innerdeutschen Angelegenheiten verbat. ›In innerdeutschen Angelegenheiten bin ich als Reichskanzler allein verantwortlich; ich verbitte mir daher Ihre guten Ratschläge‹. Worauf Pacelli angefangen habe zu weinen. Das Feminine, Damenhafte, Elegante in Pacellis Äußerem gab er ohne weiteres zu. Annette meinte, Pacelli, das sei die Duse.
Das ganze Gespräch hinterließ bei mir das Gefühl, daß Brüning wünscht und hofft, wieder zur Macht zu kommen. Als ich ihm sagte, mit einer rein negativen Kritik wie die der Emigranten könne man die Nazis nicht stürzen, um eine solche Bewegung zu erledigen, dazu gehöre eine der ihrigen überlegene Ideologie, antwortete er, vielleicht nicht eine Ideologie, aber zugkräftige Schlagworte. Später deutete er an, daß er ein positives Gegenprogramm habe. Er gab mir eine Adresse in London und bat mich, ihn in London, wenn ich nächstens dort bin, aufzusuchen. Ich nehme an, daß sein Programm die Wiederherstellung der Monarchie in irgendeiner Form und mit gleichgültig welchem Monarchen ist. Aber man kann keine Eierspeise machen, wenn man kein Ei hat.
Paris. 21. Juli 1935. Sonntag
Zum ersten Mal seit Jahren wieder bei Maillol in Marly. Ich fand ihn ganz unverändert, mit vielen neuen Arbeiten, die Frau etwas dicker und gemilderter.
Paris. 30. Juli 1935. Dienstag
Nachmittags bei Annette Kolb mit Jacques und einem jungen Russen, einem Prinzen Bagration, einem Verwandten des russischen Kaiserhauses (seine Tante ist eine Tochter des Großfürsten Konstantin), der hier ein kümmerliches, aber doch halb mondänes Dasein als Reisender einer Bürstenfabrik fristet. Mit diesem und einer jungen Frau Landsberg bei Sherry Tee.
Abends mit Bagration und Jacques in eine populäre (billige) Vorstellung eines russischen Balletts im Riesensaal des Trocadéro (teuerster Platz fünfzehn Francs). Das ganze alte Rußland war da: der Großfürst Andreas in einer Loge mit seiner Frau, der Tänzerin Kschesinskaja, in deren Petersburger Palais (sie war früher Mätresse des Zaren Nikolaus II.) Lenin, als er hinkam, sein Quartier aufschlug. Ihren Sohn, den Prinzen Kschesinski, kennengelernt, ein sehr gewöhnlich aussehender, schlecht angezogener junger Mensch, dem man es nicht ansieht, daß er das Blut der großen Katharina und Friedrich Wilhelms III. in den Adern hat.
Auch sonst viele russische Aristokraten, der ganze alte Zarenhof, aber alle so proletarisiert, daß sie vom übrigen Publikum, französische kleine Bourgeois, nicht zu unterscheiden waren. Ein Graf Loris-Melikow, Enkel des Kanzlers Alexanders II., ist jetzt hier Taxichauffeur und verdient mühsam zwanzig Francs (drei Mark) täglich. Das Ballett, verglichen mit Diaghilews Russischem Ballett, bis auf Woigikowski, mittelmäßig; aber die alten, berühmtesten Balletts Diaghilews tanzend, ›Spectre de la Rose‹, ›Sylphides‹, Tänze aus dem Prinzen Igor usw. Das Ganze hatte etwas Gespenstisches, die Bühne, das Ballett, das Publikum, alles wie Gespenster einer längst verstorbenen Zeit.
Paris. 31. Juli 1935. Mittwoch
Bei Maillol in Marly zu Abend. Alte Erinnerungen, griechische Reise usw. besprochen. Maillol möchte, daß ich diese möglichst ausführlich in meinen Erinnerungen schildere. Pläne zu einer neuen Reise nach Griechenland. Lucien Maillol fuhr mich nach Paris zurück.
Paris. 15. August 1935. Donnerstag
Heute, am Festtag, die Revision des Teils der französischen Übersetzung meiner Memoiren (bis Schluß des Ascot-Kapitels) beendet, der in meinen Händen ist. Der Übersetzer (Blaise Briod), Beamter an der ›Cooperation Intellectuelle‹, hat nichts von der literarischen Form und von allem, was zwischen den Zeilen steht, begriffen. Er hat mein Buch so übersetzt, als ob es eine Völkerbundnote oder eine juristische Abhandlung wäre. Seine Übersetzung verhält sich zum Original wie ein Öldruck zu einem Gemälde. Ich habe fast jeden Satz umgießen, neu formen, der französischen Sprache anpassen, zum Leben erwecken müssen, so daß die französische ›Übersetzung‹ wie ein Originalwerk neben dem deutschen steht. Die Arbeit – ich habe mich daran in den sechs Wochen fast totgearbeitet! Aber jetzt steht sie! Ich hoffe, daß sie so etwas von dem, was ich habe sagen wollen, vermittelt. Aber wie mag es mit den französischen (oder deutschen) Übersetzungen von Tolstoi, Dostojewski, Puschkin stehen? Was mag da alles unter den Tisch gefallen sein? Wahrscheinlich das Entscheidende, der Ton.
London. 22. August 1935. Donnerstag
Heute Kabinettsrat, dessen Beschlüsse in bezug auf den italienisch-abessinischen Konflikt mit großer Spannung erwartet werden. Brüning besucht bei einer Mrs. Mona Anderson, die in einem palastartigen Apartment-House in Portman Square eine hübsche, etwas präraffaelitisch hergerichtete Etage bewohnt. Brüning bezeichnete dieses als seine ständige Adresse. Morgen fährt er auf zwei Monate nach Amerika. Ich brachte die Rede darauf, daß das schwerste Problem nach dem Sturz der Nazis der moralische Wiederaufbau der deutschen Jugend sein werde. Denn mit den Nazis verschwände ihr einziger Glaube, verlören sie geistig den Boden unter den Füßen.
Brüning sagte, er teile ganz diese Ansicht, aber der Reichswehr sei sie ganz fremd. Sie glaube, mit der Ausschiffung gewisser unmöglicher Persönlichkeiten, Göring, Goebbels, Streicher usw., sei es getan. Hitler stelle sie sich als ›Reichsverweser‹, also als eine Art von Ehrenvorsitzenden vor, der in dieser Eigenschaft bleiben könne. Weiter reichten ihre Pläne nicht. Eine solche Lösung sei aber unmöglich. Er, Brüning, werde sich nie mit einem Mörder wie Hitler in ein Kabinett setzen. Die Duldung der vielen Morde und insbesondere des 30. Juni durch die Reichswehr sei ein einzigartiger Vorgang in der preußischen Armee, die bis dahin immer auf ihre Ehre gehalten hätte. Dieser Widerspruch in ihrer inneren Haltung müsse die Reichswehr zermürben. Die jungen Reichswehr-Offiziere lachten über Hitler und verachteten ihn, seien aber Skeptiker und Opportunisten.
Das gleiche gelte von großen Teilen der Jugend und der Opposition, zum Beispiel unter den Studenten. Sie glaubten an nichts mehr, nachdem sie alles durchgeprobt hätten und nichts sich als haltbar und der Mühe wert erwiesen habe. Ihre Opposition gegen die Nazis komme großenteils daher, daß diese durch den vielen Dienst das Brotstudium erschwerten und verlängerten. Ihm, Brüning, sei es sehr fraglich, ob die katholische Kirche die Kraft aufbringen werde, die katholische Jugend moralisch wieder aufzubauen. Ein allgemeiner Skeptizismus gegen alles und jeden sei eingerissen, sehr ähnlich wie gegen Ende des Römischen Reiches, vor Diokletian. Die Ähnlichkeit zwischen den Zuständen damals und heute sei überraschend. Die Entsittlichung der Jugend in den Arbeitslagern habe erschreckende Dimensionen angenommen. Die Mädchen zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren, die dort geschwängert würden, zählten nach Hunderten und Tausenden. Die jungen Leute würden geradezu systematisch pervertiert. Wie solle man eine solche Jugend moralisch wieder aufbauen? Alles in ihr zerbröckele. Nirgends sei ein Halt. Theorien und Predigten hülfen da nichts; nur große Menschen könnten da einen Wandel schaffen, einen neuen Idealismus erwecken, Menschen, die die Überzeugung erweckten, daß sie ihr Leben für ihre Ideen einsetzten. Die beiden Kirchen seien zu sehr bürokratisiert, der Pfarrer sei ein Beamter mit auskömmlichem Gehalt, Pension usw. geworden; solche Leute hätten keine Überzeugungskraft. Vielleicht werde ihre Verfolgung, indem sie viele Pfarrer zu äußerster Armut und Not reduziere, ein Wiedererwachen bringen. Aber die neuheidnischen Ideen machten nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Holland Fortschritte. Die Tochter von Lord Redesdale sei aus Deutschland begeistert von diesen Ideen zurückgekehrt. Sie habe die Sonnwendfeier bei Hermann Göring mitgemacht und die ganze Nacht mitgefeiert.
London. 26. August 1935. Montag
Zu Will Rothenstein nach ihrer Farm High Point bei Stroud in Gloucestershire zum Frühstück gefahren (zwei Stunden Eisenbahn von Paddington). Bernard Shaw mit seiner Frau ebenfalls dort zum Lunch. Shaw verfocht mit großem Elan und allerhand Paradoxen die These, daß kein weißer Staat den Abessiniern gegen Weiße Beistand leisten könne.