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1926

Paris. 1. Januar 1926. Freitag

Es geht das Locarnojahr zu Ende und fängt hoffentlich das erste Friedensjahr an nach elfjährigem Krieg. – Bei Wilma gefrühstückt. – Abends Ben Jonsons ›Epicoene‹ (La femme silencieuse) im Montmartre im Théâtre de l'Atelier gesehen. Die Dekorationen und Kostüme auf Leinwand gemalt von Jean Victor-Hugo etwas roh, aber amüsant. Dullin als Greis Morose, der Angst hat vor Geräuschen, vortrefflich. Das Stück hat einen großen Erfolg.

Paris. 2. Januar 1926. Sonnabend

Gefrühstückt bei Misia Edwards-Sert mit Poulenc, Jean und Valentine Victor-Hugo, Pierre Bertin von der Comédie Française und der Pianistin Marcelle Meyer. Wir frühstückten im Hotel unten und saßen nachher im kleinen Silberbrokatkäfig Misias oben in der sechsten Etage. Poulenc, den ich zum ersten Mal sah, ist ein großer, breiter Bauernjunge, etwas schweigsam und reserviert, aber sympathisch.

Die Konversation drehte sich meistens um Bekannte, Diaghilew, Cocteau, Radiguet. Misia erzählte, als ich von dem Wunder der Errettung und Verjüngung des Russischen Balletts durch Krieg und Revolution sprach, wie schlecht es Diaghilew während des Krieges gegangen sei; er sei in Spanien fast verhungert, und es habe Monate gedauert, bis die französische Regierung ihm eine Einreiseerlaubnis nach Frankreich gegeben habe. Schließlich habe ihn Sert aus Barcelona holen können. Vor der Grenze fragte ihn Sert, ob er nichts Kompromittierendes bei sich habe. Nein, nichts, er trüge nie etwas Kompromittierendes bei sich. Na, sieh doch einmal nach, ob du nichts in den Taschen hast. Nur ein paar alte Briefe. Aber was für Briefe? Schließlich holte Diaghilew ein dickes Paket heraus, in dem sich zwei Briefe von Mata Hari fanden. Mata Hari war eben wegen Spionage verhaftet worden. Noch kurz vor der Grenze wurden sie vernichtet.

Cocteaus Gedicht über Radiguet wurde von Valentine Victor-Hugo und Misia zerzaust. Misia: es sei ganz falsch, daß der arme kleine Radiguet mit den Augen auf Cocteau gestorben sei. Im Gegenteil: schrecklich zu denken, er sei ganz mutterseelenallein gestorben in der Klinik. On a fait le vide autour de lui, weil er Typhus hatte und teils aus Furcht vor Ansteckung und teils infolge der ärztlichen Vorschriften fast niemand Zu ihm kam. Auch Cocteau sei nur ganz selten bei ihm gewesen. Valentine Hugo erzählte, Radiguet sei den Sommer vor seinem Tode auf dem Lande schon recht elend gewesen. Er habe schrecklich viel getrunken und in allen Dingen Exzesse geliebt. Pierre Bertin: Il allait toujours jusqu'au bord de l'abîme pour voir. Zum Beispiel habe er einmal eine ganze Tube eines starken Schlafmittels genommen, um an sich selbst die Wirkung einer fast tödlichen Dosis zu erfahren. Alle waren einig, daß er ein ganz Großer gewesen sei, der die alte Tradition der französischen Prosaerzählung von Mme. de Lafayette, Voltaire, Balzac, Stendhal wiederaufgenommen habe.

Misia erzählte von Cocteau, il subit une crise religieuse. Ein Missionar, le Père Maritain, habe ihn bekehrt. Cocteau habe ihr gesagt, er habe beim Anblick dieses greisen Missionars gefühlt, qu'il etait un saligaud (er, Cocteau). Cocteau sei jetzt un ange. Claudel, lui, l'a toujours été, un ange paysan, avec les pieds bien plantes sur la terre. Cocteau, lui, c'est different. Mais sa conversion l'a rendu délicieux. Plus de nervosité, un calme, une sérénité qui vous fait du bien. Valentine Hugo sagte, sein ›Orpheus‹ sei ein Meisterwerk.

Paris. 3. Januar 1926. Sonntag

Sert besucht im Hotel. Unerwarteterweise kam Vuillard, den ich seit 1914 nicht gesehen hatte. Er ist ganz grau, fast weiß geworden, aber noch immer mit den etwas kindlichen Augen. Er war gleich sehr freundschaftlich, ebenso wie Sert, dessen Ton wieder der alte war. Locarno hat die gesellschaftlichen Beziehungen hier völlig verwandelt. Die Leute scheinen eine Art von Koketterie darin zu setzen, möglichst warm und freundschaftlich den alten deutschen Bekannten entgegenzukommen. – Sert fragte mich nach Vollmoeller, der ihm Zusammenarbeit bei einer Pantomime vorgeschlagen hat.

London. 6. Januar 1926. Mittwoch

Telegramm von Max, daß Paul Cassirer sich erschossen hat; man hoffe aber, ihn zu retten.

Berlin. 7. Januar 1926. Donnerstag

Abends um halb sechs in Berlin an. Max auf der Bahn sagt mir, daß Paul Cassirer heute morgen gestorben ist.

Berlin. 10. Januar 1926. Sonntag

Trauerfeier für Paul Cassirer. Das ganze künstlerische Berlin. Der Sarg in der Mitte des großen Ausstellungssaals aufgebahrt, unter einem Teppich von roten Rosen. Max Liebermann sprach zuerst, ich danach. Obwohl Ernst Cassirer noch gestern abend um halb zwölf bei mir anrief und durchzusetzen versuchte, daß ich die Tilla Durieux in meiner Rede nicht erwähne (weil in der Familie und bei den Freunden Cassirers eine so starke Animosität gegen sie herrsche), erwähnte ich sie doch selbstverständlich. Sie war tief verschleiert anwesend (auch dies hatten Ernst Cassirer, Feilchenfeld und andre zu verhindern versucht). Ich drückte ihr nachher die Hand, und sie dankte mir.

Hinaus zum wunderschönen Friedhof an der Heerstraße, wo bei herrlichem Wintersonnenschein im Kiefernwald die Beisetzung stattfand. Mit Kolbe hinausgefahren und nachher in sein Atelier, wo er mir die Totenmaske zeigte. – Nachmittags bei Georg Bernhards. – Der Tod Cassirers hat mich tief erschüttert.

Berlin. 13. Januar 1926. Mittwoch

Nachmittags bei Tilla Durieux im ›Bristol‹. Sie war kühl und bitter. Keiner der Verwandten habe ihr bei der Trauerfeier die Hand gereicht. Cassirer habe sie wegen eines ganz geringfügigen Vorfalls fortgejagt. Da habe sie Schluß gemacht. Nach zwanzig Jahren habe sie endlich einmal sich frei fühlen wollen. Sie wäre nach einiger Zeit, vielleicht nach zwei Monaten, zurückgekehrt; aber erst einmal habe sie frei sein, atmen wollen. Ihr Gastspiel in Holland könne sie nicht absagen; sie könne nicht eine große Anzahl von Leuten brotlos machen. Offenbar dämmt die Empörung bei ihr eine tiefere Erschütterung ein; und dann ist sie überhaupt eine kühle, harte Frau.

Berlin. 19. Januar 1926. Dienstag

Mit Max ins Charlottenburger Opernhaus: Premiere hier von Richard Strauß' ›Elektra‹ unter Bruno Walter. Feines, beschwingtes, stürmisch vorwärtsdringendes Orchester. Die Klytämnestra außerordentlich. Die Wildbrunn etwas rundlich als Elektra.

Hinter uns in einer Loge saß Richard Strauß mit Paulinchen und einer Familie Strauß, bei der sie wohnen. Paulinchen lud uns ein, nach der Vorstellung bei ihnen zu soupieren. Haus ganz draußen an der Heerstraße, in der Nähe des Stadions, wo bis vor kurzem nur Kiefernwald war. Aber offenbar entsteht hier ein äußerster Westen für Autobesitzer.

Paulinchen zeigte sich bei Tisch von allen ihren guten und schlechten Seiten: mütterlich um Nahrungsaufnahme aller besorgt, namentlich Maxens, der neben ihr saß und dem sie immer wieder ein Ei, ein Stück Fleisch, eine Portion Salat auf den Teller packte; daneben widerwärtig ordinär und taktlos. ›Woyzeck‹ (Büchners Dichtung, nicht die Oper) lehnte sie ab, weil sie sich doch unmöglich für die Seele eines schmutzigen Unteroffiziers interessieren könne. Was gehe sie das an (›sie, die Generalstochter‹, zwischen den Zeilen zu verstehen)? Ich sagte: Carmen sei doch auch eine Unteroffiziersgeschichte. Pauline: Ja, aber romantisch, spanisch, Mérimée. Ich: Mir schiene ein deutscher Unteroffizier nicht unbeachtlicher als ein spanischer, und im übrigen stellte ich zum Beispiel auch Gretchen über Maria Stuart. Pauline (geheimnisvoll flüsternd): Man sagt, der Graf Kessler sei ganz rot geworden. Ich: Ach, ich bin bloß ein biederer Demokrat. Pauline: Sie, ein Graf, Demokrat? Da beschmutzen Sie Ihr eigenes Nest. Ich: Verzeihen Sie, gnädige Frau, darüber, ob ich mein eigenes Nest beschmutze, muß ich mir selber mein Urteil vorbehalten.

Allmählich war Richard Strauß immer unruhiger geworden. Jetzt brach er in das Gespräch ein, um es zu beenden, erklärte mir, seine Frau sei ganz unpolitisch, ich sollte nicht darauf achten, was sie sagte. Schließlich zog mich Paulinchen selbst, die gemerkt hatte, daß sie über das Ziel hinausgeschossen hatte, und der die scharfe Lektion, die ich ihr erteilt hatte, offenbar etwas in die Glieder gefahren war, ins Herrenzimmer, wo sie mir ihre politischen Ziele des näheren auseinandersetzte: sie sei eine Generalstochter, Aristokratin (»I bin a Generalstochter, i bin a Aristokratin«, in schönstem Oberbayrisch). In Süddeutschland haßten sie die Norddeutschen, die Praißen. Sie wollten ein süddeutsches Reich: Bayern mit Österreich zusammen. Katholisch und Protestantisch gehe nicht zusammen in einem Staat.

Sie schien zu erwarten, daß die Genialität ihrer Pläne mich versöhnen werde und außerdem die, wie sie versicherte, volle Zustimmung ihres Königshauses. Ich sagte: ich sei Norddeutscher, aber trotzdem wünschte ich nicht, daß die Süddeutschen verhungerten; und daher hätte ich doch Bedenken gegen ihre Pläne. Zunächst müßten jedenfalls die Vereinigten Staaten von Europa da sein, ehe sich über solche sentimentalen Zusammenschlüsse reden lasse. Auf die europäische Union ging sie dann beglückt ein. Ein ziemlich groteskes Weib; maßlos ordinär mit einem sentimentalen Herzen. Alles in allem eine Köchin.

Berlin. 20. Januar 1926. Mittwoch

Bei mir aßen abends der englische General Wauchope, sein Adjutant Burton, der englische Militärattaché Hume, Sir Andrew McFadyean und Nostitzens.

Nach Tisch nahm mich Wauchope beiseite und sagte: »Sie kennen die deutschen Rechtskreise besser als ich; Sie werden also auch oft hören, was mir dort häufig gesagt wird: man schäme sich, daß Deutschland durch die Frau des deutschen Außenministers so kompromittiert werde.« Ich fragte: »Wieso?« Wauchope: »Na, mir wird erzählt, sie tanze ganze Nächte lang mit zwanzigjährigen jungen Burschen. Könnten Sie sich denken, daß Lady Chamberlain auf einem Ball den ganzen Abend mit einem zwanzigjährigen Jungen tanzte? Die Frau eines englischen Außenministers könnte vielleicht ein Verhältnis haben; sie dürfte aber nicht öffentlich ihren Mann und England kompromittieren.«

Also unsere deutschen Vaterlandsfreunde laufen zum englischen General und strengen sich an, um das Ansehen des deutschen Außenministers durch schmutzige Andeutungen über seine Frau zu untergraben und so das internationale Ansehen und die Aktionsfähigkeit Deutschlands möglichst zu vermindern. So sieht der ›Patriotismus‹ der deutschnationalen Junker aus! Ein wahrhaft erhebender Anblick, wie diese Heldengeister dem Vaterlande das Opfer bringen, sich selber durch schmutzige Zwischenträgereien vor dem englischen General verächtlich zu machen. Alle Achtung vor so viel Vaterlandsliebe! Die Namen dieser Patrioten wollte mir Wauchope nicht nennen.

Weimar. 27. Januar 1926. Mittwoch

Schickeles ›Erbe am Rhein‹. Er hat, was bei deutschen Dichtern und Schriftstellern so selten ist: Anmut (la grâce).

Berlin. 29. Januar 1926. Freitag

Nachmittags im Reichstag mit Koch, Erkelenz, Breitscheid gesprochen über die Lage. Koch formell gesagt, ich wünschte einen Posten als Mitglied der deutschen Völkerbund-Delegation (nicht im Sekretariat); ihn gebeten, mit Stresemann darüber zu sprechen.

Abends mit Max Premiere von Bronnens ›Ostpolzug‹ im Staatstheater. Ein primitives Nichts. Eine Claque klatschte, andre zischten, aber eigentlich ist das Ganze so wenig, daß man sich nicht einmal über diesen schlechten Witz ärgern kann. Kortner, halb Affe, halb Börsenjobber, spielte Alexander den Großen, die einzige Rolle in diesem ›Drama‹.

Berlin. 1. Februar 1926. Montag

Frühstück bei Nostitzens. Hilferdings, Georg Bernhard, Ernst Toller, Annette Kolb, Professor Haas. Ziemlich formloses Gespräch. Ich sagte, als von der aushöhlenden Wirkung der Berliner Gesellschaft gesprochen wurde, in Paris bewege man sich von Salon zu Salon, in Berlin komme ich mir immer vor, als ob ich von einer Volksversammlung in die andre gehe. Frühstück glich in der Tat einer Volksversammlung; alles schrie und wollte recht haben, ohne Grazie oder Esprit. Kein geprägtes Wort, kein scharfer Pfeil, lauter laute Meinungen.

Toller sagte, Hugo Lerchenfeld sei für die Gefangenen der unangenehmste Ministerpräsident gewesen; nach außen weich, nach innen ganz unter der Fuchtel der Bürokratie. Besser sei es erst geworden, als der völkische Minister Roth gekommen sei, weil der sich den Bürokraten gegenüber durchsetzen konnte. Toller im Gespräch hypernervös und leise; mimosenhaft mit glühenden Augen.

Berlin. 2. Februar 1926. Dienstag

Abends in Werfels ›Maximilian und Juarez‹. Deutsches Theater. Regie von Max Reinhardt. Diese vorzüglich. Das Stück eine saubere, geschmackvolle Anpassung des alten Sardouschen Historienmelodrams an die Ansprüche des heutigen Publikums ohne poetische Bedeutung.

Berlin. 5. Februar 1926. Freitag

Abends bei Schuberts gegessen. Der Nuntius Pacelli, Gevers, die Fürstin Hatzfeldt (die ich zu Tisch führte), die Gräfin Dönhoff, Bergens, Zechs, die Gräfin Sierstorpff usw.

Schubert zeigte sich als Bibliophile. Mit der Gräfin Zech über Pacelli (der wie ein von der Wand gestiegenes Porträt von Bronzino aussah) und den Katholizismus: der Katholizismus und Pacelli verkörpern den alten Universalismus des Römischen Reiches und der Kirche, der Protestantismus aber, Calvin, habe die neue universale Form des Kapitalismus geschaffen, ein Monstrum, wenn man will, aber das der Autor der modernen universalen Welt des Europäismus ist. Aber wie sieht gegenüber einer Erscheinung wie Pacelli der Vertreter dieser protestantisch-kapitalistischen Welt, der repräsentativste Bankier, ein Morgan, aus? Immerhin, wir gehören zu dieser protestantisch-kapitalistischen Welt, und damit müssen wir uns abfinden. Aber auf diesem Gegensatz zwischen Katholizismus und Kapitalismus beruht die ganze Dialektik unserer Geschichtsepoche.

Die Fürstin Hatzfeldt mit mir über Politik, außen und innen, im Sinne einer gemäßigt konservativen Innenpolitik und Locarno in der Außenpolitik. Eindruck des Abends: (bunter Stumm-Bethmannscher Clan) genau dieselbe Familienclique hat die Macht inne wie vor dem Kriege und während des Krieges, der aufgeklärt liberale, lau monarchische, antiwilhelminische Bethmannsche Familienkonzern, die Bethmanns, Stumms, Harrachs, und ihre Familienangehörigen (Kühlmann, Hatzfeldts, Schubert, Mutius usw.).

Frau von Bergen erzählte mir, ihr Vater (Dircksen) habe die Kronprinzessin mit Stresemann zusammen einladen wollen; die Kronprinzessin habe aber abgelehnt, mit Stresemann zusammenzutreffen. Recht undankbar, da Stresemann ihren Mann nach Deutschland zurückgebracht hat.

Berlin. 7. Februar 1926. Sonntag

Vormittags Mozarts ›Requiem‹ in der Philharmonie unter Walter. – Abends bei Hilferdings gegessen mit Annette Kolb, Mme. Mayrisch und Tochter, Vollmoeller, einem jungen Dichter Friedenthal und einem ungarischen Maler, dessen Namen ich nicht behalten habe.

Mussolinis verrückte Rede gegen Deutschland, die von der saudummen Rede des bayrischen Ministerpräsidenten Held provoziert worden ist, Gesprächsthema. Mussolini sucht nach einem Anlaß, billige Lorbeeren zu verdienen, und möchte irgendwo, wo ist gleichgültig, eine Rauferei mit einem schwächeren Gegner. Held und seine Gesinnungsgenossen haben die Aufmerksamkeit Mussolinis auf Deutschland gelenkt als vielversprechendes Objekt für seine Rauflust.

Vollmoeller wie immer sehr amüsant, ganz verkniffen und giftig. Er schilderte d'Annunzios Einstellung zu Mussolini. D'Annunzio sei überzeugt, Mussolini habe versucht, ihn ermorden zu lassen; die Frau, die ihn aus dem Fenster warf, sei von Mussolini zu diesem Zweck, um ihn umzubringen, ihm zugesandt worden.

Berlin. 8. Februar 1926. Montag

Abends aßen bei mir d'Abernons, Lichnowskys, Andreaes, Frau v. Schwabach, Baby Goldschmidt-Rothschild, Kolbe und Musch Richter; nachher kamen noch Vollmoeller, Hume, Max und Guseck. Lady d'Abernon wieder jung und charmant aussehend, von einer kaum glaublichen Jugendfrische und Anmut; auch Mechthilde sehr schlank und schön und die Baby sinnlich glühend und reizvoll. Drei sehr merkwürdige schöne Frauen.

D'Abernon interessierte sich sehr für Maillol und den großen Seurat mit überraschender Sachkenntnis. Er meinte, die ›Hockende‹ von Maillol sei das schönste Werk moderner Plastik, das er gesehen habe. Er stellte sich immer wieder davor und betrachtete sie von allen Seiten.

Die Bibliothek, das Eßzimmer und mein Arbeitszimmer schienen wieder auf alle einen starken Eindruck zu machen. Sie sahen mit den schönen Frauen auch wirklich festlich und geistig aus.

Berlin. 9. Februar 1926. Dienstag

Abends Gesellschaft bei Frau v. Friedländer-Fuld am Pariser Platz. Es wurde Hofmannsthals ›Gestern‹ aufgeführt von Baby Goldschmidt-Rothschild und Francesco Mendelssohn; und nachher eine Parodie ›Heute‹ von Curt Bois mit Baby.

Auffallend war die Ablehnung des Hofmannsthalschen Stücks durch die Jüngeren, Goertz, Meiern, sogar Simolin und Helene. Sie fanden es ›verstaubt‹, beziehungslos: ›Was soll es uns?‹ Der Krieg ist darüber grausam hingegangen, weil es ganz in Beziehung auf ein Publikum geschrieben ist, das es jedenfalls heute nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat. Ohne innere Notwendigkeit hat Hofmannsthal ›für die Gesellschaft‹ gedichtet, wie man sich ein buntes venezianisches Maskenkleid umwirft; und jetzt sind die Farben verblaßt, durchsichtig geworden, und es steckt nicht viel dahinter.

Weimar. 11. Februar 1926. Donnerstag

Nachmittags bei Frau Förster-Nietzsche. Sie platzte mir ins Gesicht, ob ich wüßte von ihrer neuen großen Freundschaft: Mussolini? Ich sagte, allerdings, ich hätte davon gehört und es bedauert; denn Mussolini kompromittiere ihren Bruder. Er sei eine Gefahr für Europa, für das Europa, das gerade ihr Bruder ersehnt habe, das Europa der guten Europäer. Die arme alte Dame war ziemlich ›agitated‹, lenkte aber dann ab, und das weitere Gespräch verlief friedlich. Sie wird bald Achtzig, und man fängt an, es zu merken.

Berlin. 12. Februar 1926. Freitag

Vormittags in Weimar in der Presse: Vergil (drei Viertel sind jetzt gedruckt, sowohl von der deutschen wie auch von der französischen Ausgabe; beide werden parallel gedruckt).

Berlin. 13. Februar 1926. Sonnabend

Abendessen acht Uhr dreißig bei mir: Mme. Mayrisch mit ihrer Tochter, Hugo Lerchenfeld mit Gräfin, Willy Radowitzens, Horstmanns, Lancken, Simolin, Hannah Wangenheim.

Um eins, nachdem gerade meine Gäste gegangen waren, rief Max Reinhardt an, er sei bei Vollmoeller, sie bäten mich beide, ob ich nicht noch hinkommen könne? Miß Baker sei da, und nun sollten noch fabelhafte Dinge gemacht werden. Ich fuhr also zu Vollmoeller in seinen Harem am Pariser Platz und fand dort außer Reinhardt und Huldschinsky zwischen einem halben Dutzend nackter Mädchen auch Miß Baker, ebenfalls bis auf einen rosa Mullschurz völlig nackt, und die kleine Landshoff (eine Nichte von Sammy Fischer) als Junge im Smoking. Die Baker tanzte mit äußerster Groteskkunst und Stilreinheit, wie eine ägyptische oder archaische Figur, die Akrobatik treibt, ohne je aus ihrem Stil herauszufallen. So müssen die Tänzerinnen Salomos und Tut-ench-Amuns getanzt haben. Sie tut das stundenlang scheinbar ohne Ermüdung, immer neue Figuren erfindend wie im Spiel, wie ein glückliches Kind. Sie wird dabei nicht einmal warm, sondern behält eine frische, kühle, trockene Haut. Ein bezauberndes Wesen, aber fast ganz unerotisch. Man denkt bei ihr an Erotik ebensowenig wie bei einem schönen Raubtier. Die nackten Mädchen lagen oder tänzelten zwischen den vier oder fünf Herren im Smoking herum, und die kleine Landshoff, die wirklich wie ein bildschöner Junge aussieht, tanzte mit der Baker moderne Jazztänze zum Grammophon.

Vollmoeller wollte für die Baker ein Ballett schreiben, das er noch in dieser Nacht fertigzumachen und Reinhardt zu geben vorhatte. Eine Kokottengeschichte. Zwischen Reinhardt, Vollmoeller und mir, die darum herum standen, lagen die Baker und die Landshoff wie ein junges, bildschönes Liebespaar umschlungen. Ich sagte: ich würde für sie eine Pantomime nach den Motiven des Hohen Liedes Salomonis schreiben, die Baker als Sulamith, die Landshoff als Salomo oder als der junge Liebhaber der Sulamith. Die Baker im Kostüm (oder Nicht-Kostüm) orientalisch antik, Salomo im Smoking, eine ganz willkürliche modern-antike Phantasie nach halb Jazz-, halb orientalischer Musik, vielleicht von Richard Strauß.

Reinhardt war von der Idee begeistert, ebenso Vollmoeller. Wir verabredeten, daß sie beide und die kleine Landshoff am Vierundzwanzigsten bei mir essen sollten. Vollmoeller bat, noch Harden einzuladen. Nachher die Baker. Wir wollen dann das Weitere besprechen. Nach vier nach Hause.

Berlin. 14. Februar 1926. Sonntag

Abends in Zuckmayers ›Fröhlichen Weinberg‹. Eine grobe Posse mit politischen Schlaglichtern und viel handfester Erotik. Nicht mehr als eine unterhaltende Katzbalgerei, weit unter Hauptmanns ›Biberpelz‹.

Berlin. 15. Februar 1926. Montag

Abends aßen bei mir Albert Einstein mit Frau, die Roland de Margeries, die Gräfin Sierstorpff geb. Stumm, Theodor WolfFs, Helene und Jean Schlumberger (von der ›Nouvelle Revue Française‹). Nach Tisch Mme. Mayrisch und Tochter, Goertz, Guseck, Alfred.

Einstein majestätisch trotz seiner übergroßen Bescheidenheit und Schnürstiefeln zum Smoking. Er ist etwas fetter geworden, die Augen aber immer noch fast kindlich strahlend und schalkhaft. Seine Frau erzählte mir, ihr Mann habe neulich nach vielen Mahnungen endlich die beiden goldenen Medaillen, die ihm von der englischen Royal Society und Royal Astronomical Society verliehen worden sind, im Amt abgeholt, und nachher hätte sie sich mit ihm in einem Kino getroffen. Als sie ihn fragte, wie die Medaillen aussähen, habe er geantwortet, er habe das Paket noch gar nicht geöffnet. Er hat kein Interesse für solche Kinkerlitzchen. Sie gab mir davon noch andre Beispiele. Als die amerikanische Barnard-Medaille, die nur alle vier Jahre an einen hervorragenden Naturforscher verliehen wird, in diesem Jahre Niels Bohr verliehen wurde, stand in den Zeitungen, das letzte Mal habe sie Albert Einstein bekommen. Einstein zeigte ihr eine Zeitung und fragte: Ist das denn wahr? Er hatte es vollkommen vergessen. Er ist nicht dazu zu bringen, den Pour le mérite umzuhängen. Bei einer der letzten Akademiesitzungen machte ihn Nernst darauf aufmerksam, daß er seinen Pour le mérite nicht umhabe, ›die Frau hat es wohl vergessen, ihn Ihnen umzuhängen; Toilettenfehler‹. Aber Einstein antwortete: »Nicht vergessen, nein, nicht vergessen. Ich habe ihn nicht anlegen wollen.«

Bei Tisch entspann sich ein Gespräch über den Sirius-Mond. Einstein erklärte die sensationelle Entdeckung seiner Schwere und ihrer Bedeutung für die Rotabweichung im Spektrum. Zu Hertz (der ein Neffe des großen Physikers ist) sagte er: »Ihr Onkel hat ein großes Buch geschrieben. Es war darin alles falsch; aber es war trotzdem ein großes Buch.«

Die Maillol-Figur erregte wieder allgemeine Bewunderung; auch Einsteins. Die Gräfin Sierstorpff erklärte sich mir gegenüber als ›Pazifistin‹; sie sei es durch ein Erlebnis des letzten Sommers geworden. Sehr angeregte Gesellschaft; wir blieben bis zwei zusammen, als letzte Schlumberger, Goertz und Guseck. Die kleine Mayrisch sieht jetzt, nachdem ihre Mutter sie zurechtgestutzt und ihr ihre häßliche Hornbrille verboten hat, sehr hübsch aus. Sie und die kleine Margerie bildeten ein reizendes Paar junger Weiblichkeit.

Berlin. 17. Februar 1926. Mittwoch

Frühstück bei McFadyean für Sir Eric Drummond, der hier ist, um mit Stresemann die Einzelheiten des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund zu besprechen. Auf meine Bemerkung, ich hätte bedauert, daß wir 1924, als ich in Genf war, den Eintritt Deutschlands nicht fertiggebracht hätten, aber ein Vorteil sei, daß wir jetzt unter Hindenburg einträten, meinte er: es sei auch sonst vielleicht ganz gut, daß sich die Sache verzögert habe, denn jetzt sei Frankreich viel entschiedener nach links und zum Frieden orientiert als damals.

Ihm macht die innere Ausstattung des neuen Versammlungssaals, der in Genf gebaut werden soll, anscheinend viel Kopfzerbrechen: namentlich die Frage, ob die Delegierten Pulte haben sollen oder nicht (wie im englischen House of Commons). Stresemann habe von Pulten abgeraten, weil die Delegierten dann nicht zuhörten, sondern Briefe schrieben. Dernburg war derselben Ansicht. Drummond hielt auch Pulte für verderblich; meinte aber, er werde wohl nicht darum herumkommen.

Abends wieder in die Negerrevue bei Nelson (Josephine Baker). Sie sind ein Mittelprodukt zwischen Urwald und Wolkenkratzer; ebenso ihre Musik, der Jazz, in Färbung und Rhythmus. Ultramodern und ultraprimitiv. Die Weite der Spannung erzeugt den zwingenden Stil; ebenso wie bei den Russen. Wir kommen im Vergleich dazu aus der wohlumhegten ›guten Stube‹; ohne innere Spannung und daher ohne Stil: eine schlappe Bogensaite.

Berlin. 22. Februar 1926. Montag

Nachmittags mit Quidde in der Friedensgesellschaft die Eingabe des Friedenskartells wegen eines deutschen Minderheitengesetzes besprochen.

Zum Tee bei der Gräfin Sierstorpff geb. Stumm, die Geburtstag hatte, im ›Adlon‹. Elsa Brandström, die während des Krieges und nachher unseren Kriegsgefangenen in Rußland und Sibirien eine Vorsehung gewesen ist. Äußerlich ein auffallend hübsches, vornehmes, schlankes, blondes Mädchen, eine nordische Jeanne d'Arc. Ganz unkompliziert, aber stark. Ein erschütterndes Beispiel dafür, was ein einfacher Mensch mit gutem Willen, Mut und Takt erreichen kann. Für Hunderttausende ist sie jahrelang der einzige Mensch gewesen. Eine wahre Heldin. Sie machte auf mich denselben tief erregenden Eindruck wie Nansen. Die schönen, klaren blauen Augen, die etwas schwere, willensstarke Nase, das schmale, vornehme Gesicht, die Einfachheit des Tones, als ob alles selbstverständlich wäre. Fünfeinhalb Jahre war sie in Sibirien, zwei Jahre vollkommen abgeschnitten von ihrer Familie und jeder Nachricht, am Flecktyphus schwer erkrankt und doch gleich wieder weiterarbeitend, zweimal als Spionin zum Tode verurteilt, und doch noch so einfach, so voller Güte wie am ersten Tage und so schön wie eine Ballkomtesse. Solche Menschen, wo Kraft zur Güte wird und doch noch Kraft bleibt, sind die wahren Übermenschen. Nicht, daß sie Tausenden das Leben gerettet hat, sondern daß sie ihnen den Glauben an die Menschheit gerettet hat, ist das tief Bewegende an ihr.

Sie erzählte: einmal habe sie die Nachricht erhalten, ihr Vater sei todkrank; sie hätte zurückgekonnt, aber sie blieb, denn ihr Vater hätte alles, was nur möglich sei an Hilfe, aber draußen um sie herum verlören Tausende ihre letzte Hoffnung, wenn sie fortginge. Und ihr Vater wurde gerettet wie durch ein Wunder. Als sie zurückkam nach Jahren, habe er ihr gesagt, er hätte sie verachtet, wenn sie zurückgekommen wäre. Sie sagte mir, ihre früheren deutschen Kriegsgefangenen aus Sibirien seien heute noch wie eine Familie. Sie hätten von den Russen das Beste gelernt: die Anerkennung des Gegners, die tiefe, warme Menschlichkeit, die unterschiedslose Kameradschaft. Die Bolschewiki seien besser gewesen als die kaiserlichen Beamten. Über die Schlampigkeit des kaiserlichen Regimes erzählte sie Entsetzliches. 1915 hätten sie einen Zug mit gefangenen Türken in Moskau auf ein Nebengeleise geschoben, wo die Gefangenen in plombierten Waggons erfroren seien; als man die Waggons öffnete, habe man die Leichen mit Hacken aus dem Eise heraushauen müssen. So sei es auch in Pensa und andren Orten gegangen. Nicht aus Bosheit, sondern aus Schlampigkeit: Nitschewo. Vieles andre noch. Alles mit erschütternder Einfachheit und Selbstverständlichkeit erzählt, während sie eine Tasse Tee trank und einen kleinen Kuchen mit der Gabel zerkleinerte oder mit der Perlenkette spielte, die sie am Halse trägt. Sie unterhält noch ein Kinderheim in Sachsen für Kinder von Kriegsgefangenen, denen sie auf ihrem Totenbett versprochen hat, für ihre Kinder zu sorgen. Ich hatte den Eindruck: ein einfacher, aber ganz großer, hinreißender Mensch, eine weltliche Heilige, vor der man knien möchte.

Berlin. 24. Februar 1926. Mittwoch

Abends aßen bei mir Harden, Max Reinhardt, Oscar Fried, Vollmoeller, Fräulein Landshoff, Goertz und Guseck. Herrendiner. Auch Fräulein Landshoff im Smoking sehr hübsch, wie ein Junge aussehend, was sie noch durch eine Hornbrille unterstrich und aufgeschminkte Andeutung schwarzen Bartflaums. Harden, der immer mehr wie ein Mittelding zwischen Voltaire und einer alten Schauspielerin aussieht, sehr amüsant und witzig. Er schweigt viel, schießt dann aber plötzlich einen scharf geschliffenen Pfeil los, der ritzt und ins Fleisch eindringt. Dabei eine fast ängstliche Zartheit der Stimme und der Haltung, die oberflächlich wie mit ›Ancien régime‹ gepudert ist. Zwischen ihm und Fried, der viel offener und klobiger ist, entspann sich ein drolliger Froschmäusekrieg, hauptsächlich über Juden und Sowjetrußland.

Nach Tisch gegen Mitternacht holten die Landshoff und Guseck die kleine Negertänzerin Josephine Baker, für die ich das Bibliothekszimmer ausgeräumt hatte, damit sie tanzen könne. Sie war aber verstimmt und saß zuerst stundenlang in einer Ecke, offenbar verschüchtert in ihrer Nacktheit vor den ›Damen‹, Helene und Luli Meiern, die inzwischen auch gekommen waren.

Erst als ich Reinhardt und Vollmoeller die erste Szene der Pantomime, die ich für sie vorhabe, erzählte, wachte sie aus ihrer Verschüchterung auf: eine Variation über die Motive des ›Hohen Liedes‹, halb modern, halb orientalisch. Salomo, ein schöner junger König (ich denke an Lifar), der sich eine Tänzerin (Sulamith, die Baker) gekauft hat, läßt sie sich nackt vorführen, überhäuft sie mit Geschenken, mit seinem ganzen Reichtum, mit seinen eigenen Gewändern und Juwelen. Aber je mehr er ihr schenkt und ihr umlegt, um so mehr entschwindet sie ihm. Mit jedem Tag wird der junge König nackter, die Tänzerin für ihn unsichtbarer. Schließlich ist es der König, der nackt ist, die Tänzerin aber entschwindet ihm ganz in einer kostbaren, aus den Stoffen und Juwelen, die er abgelegt und ihr geschenkt hat, sich erhebenden goldenen und dann schwarzen Wolke (tulpenhaft sich um sie erhebend, wie bei der Loïe Fuller). Zum Schluß der Szene kommt im Halbdunkel der junge Liebhaber im schwarzen Smoking ... Die Fortsetzung behielt ich zunächst für mich.

Reinhardt und Vollmoeller sagten, sie fänden die Szene dramatisch und choreographisch so stark, daß sie sie eigentlich als Schluß des Ganzen sähen; darüber hinaus könnten sie sich eine Steigerung nicht denken.

Die Baker war wie verwandelt; drängte, wann sie das tanzen könne? Dann machte sie einige Bewegungen, stark und ausdrucksvoll grotesk, vor der großen Maillol-Figur. Offenbar setzte sie sich mit dieser auseinander; sah sie lange an, machte ihre Stellung nach, lehnte sich in grotesken Stellungen an sie an, sprach mit ihr, sichtbar beunruhigt von der ungeheuren Starre und Wucht des Ausdrucks, tanzte um sie in grotesk grandiosen Bewegungen herum wie eine kindlich spielende, über sich selbst und ihre Göttin sich lustig machende Priesterin. Man sah: der Maillol war für sie viel interessanter und lebendiger als die Menschen, als Max Reinhardt, Vollmoeller, Harden, ich. Genie (denn sie ist ein Genie der Grotesk-Bewegung) sprach zu Genie. Dann brach sie plötzlich ab und tanzte ihre Negertänze und Karikaturen von allerlei Bewegungen. Den Höhepunkt erreichte sie, als Fried versuchte, sich in ihre Pantomime einzufügen, und sie jede Bewegung, die er machte, immer toller, immer gesteigerter karikierte. Was bei Fried hilflos war, wurde bei ihr großer Stil, Ur-Groteske, Figur, die die Mitte hielt zwischen ägyptischem Reliefstreifen und mechanisierter Puppe von George Grosz. Die kleine Meiern, die zwischendurch Tanzbewegungen improvisierte, sehr reizend und harmonisch, wurde von ihr wie weggepustet. Eine Armbewegung der Baker, und die Grazie der Meiern war ausgelöscht, wie Nebel aufgelöst, durchsichtig.

Reinhardt, der nächstens den ›Napoleon‹ von Unruh aufführt, meinte, er werde von seiner Umgebung, namentlich dem ›unheilvollen‹ Heinz Simon größenwahnsinnig gemacht. Ihm sei von vornherein verdächtig gewesen, daß Unruh, der als großer Revolutionär auftrete, so gar keine revolutionäre Sprache, sondern eine tote, gipserne habe.

Berlin. 28. Februar 1926. Sonntag

Richard Strauß in der Oper, wo er die ›Frau ohne Schatten‹ dirigierte, nach der Vorstellung aufgesucht. Er lud mich zum Mitfahren nach Hause und zum Essen ein, was ich aber ablehnen mußte, da bei Vollmoeller zugesagt. Hinter der Bühne nach Schluß der Vorstellung und lange nachdem ich schon mit Strauß in seiner Loge saß, Toben des Publikums hörbar. Strauß über ›Joseph‹ gesprochen. Er mit allem einverstanden. Er schien sehr müde und abgehetzt vom Dirigieren und Geldverdienen.

Nach Mitternacht zu Vollmoeller am Pariser Platz, um die Baker zu sehen. Er hatte wieder eine sonderbare Gesellschaft beisammen, wo niemand wußte, wer der andre war, und aus der nur seine sehr reizende Geliebte, Fräulein Landshoff (wieder in Männerkleidern), hervorragte. Eine Deklassierten-Atmosphäre. Er ist oder fühlt sich als ein deklassierter Dichter und liebt um sich Deklassierte, Frauen in allen Stadien der Nacktheit, deren Namen man nicht versteht und von denen man nicht weiß, ob es ›Freundinnen‹, Nutten oder Damen sind; jüdische junge Männer, die Verleger oder Ballettmeister sein können, Schauspielerinnen, die jemand eben ›entdeckt‹ hat; dazwischen heute Pallenberg, Luli Meiern, Goertz, Meiern-Hohenberg, Charell. Das Grammophon schnarrte ununterbrochen alle Schlager, die Baker saß auf dem Diwan und aß, statt zu tanzen, eine Bockwurst nach der andren (›hot dogs‹), man erwartete die Fürstin Lichnowsky, Max Reinhardt, Harden, die aber nicht erschienen. So gings bis drei, als ich mich empfahl.

Alles in allem eine trostlose, fast tragische Atmosphäre um einen Mann wie Vollmoeller, der wirkliches Talent hat. Ich las heute im Manuskript sein ›Achtes Wunder der Jungfrau Maria‹. Steinharte, feste Sprache, wie sie sonst niemand in Deutschland kann, fast dorisch in ihrer Strenge, aber der Stoff dünn, flach, man weiß nicht recht, warum er ihn gewählt hat. Und eine üble Lüsternheit; etwas Disparates, Zerfahrenes unter der klassischen Oberfläche.

Berlin, 1. März 1926. Montag

Abschied von meinem Seurat, die ›Poseuses›, die ich (leider) für hunderttausend Mark nach Schottland verkauft habe. Die so selbstverständlich sich auswirkenden Massen und die zarten Farben haben fast dreißig Jahre mir ihre heitere Anmut geschenkt. Ich trenne mich von ihnen wie von geliebten Wesen. Ich hätte nicht in den Verkauf willigen sollen.

Abends mit Max in Tollers Stück ›Der entfesselte Wotan‹ (Tribüne). Ralph Roberts als entfesselter Friseur possenhaft amüsant. Das Stück ist ein falscher Sternheim ohne Sternheims ätzenden Wirklichkeitssinn. Wo Sternheim ins Schwarze und Tiefe trifft, tastet Toller unsicher an der Oberfläche herum. Ein zweites Stück von Toller, ein falscher Hofmannsthal (eine Renaissance-Liebesangelegenheit), verließen wir nach dem ersten, ganz bedeutungslosen Akt und liefen Toller in der Garderobe in die Arme, der gerade ankam und etwas enttäuscht schien, daß wir fortgingen. Ich erfand irgendeinen Grund und er erzählte von seiner Rußlandreise, die er morgen antritt.

Berlin. 3. März 1926. Mittwoch

Gefrühstückt bei Frau Simon. Sonnemanns mit Heinz Simons. Mit diesem über Unruhs, Fritz und Curt. Ich sagte ihm, daß die Wirkung von Unruhs Buch über Paris höchst unglücklich gewesen sei. Simon versuchte es zu verteidigen. Es habe nur in einem kleinen Kreis von Literaten in Paris verstimmt. Ich sagte: ja, aber gerade in dem Kreis, der sich am meisten um eine Annäherung an Deutschland bemühte und speziell Unruh mit großer Freundlichkeit entgegengekommen sei. Simon deutete an, daß Unruh gegen mich stark verstimmt sei wegen meiner Einstellung zu seinem Buch. Das hätte wohl auch Curt mir entfremdet. Gegessen bei Schwabachs mit Bruno Schröder (der auf einen Tag aus London hier ist), Schuberts, Dircksens (den jungen), Hannah Wangenheim, Lancken, der Gräfin Lehndorff. Bei Tisch zwischen Renate Schubert und der Frau von Dircksen.

Renata ist innerlich und äußerlich die schöne, elegante, impertinente Aristokratin geblieben, für die Stresemann, Luther, die Parlamentarier überhaupt noch immer ›Leute‹ sind, ein groteskes Bürgergesindel, das sich gegen alle Ordnung in die Macht gesetzt hat. Sie die ganz große Dame mit ihren herrlichen Schultern und Bewegungen, ihrem alten, etwas altmodischen Familienschmuck, den fast schon sterbenden Perlenschnüren, dem immer etwas müden Gesichtsausdruck, den beißenden, zynischen Worten: Stresemann: ›Faust im Tornister‹ usw. Dabei ist sie die einzige große Dame der Republik, neben der Frau Stresemann, Frau Luther, von Frau Löbe zu schweigen, aussehen wie Tippmamsells im Sonntagsstaat.

Von Schwabachs zum Ball des demokratischen Studentenbundes im ›Esplanade‹. Bourgeoise Eleganz, wie sie Renata so komisch findet, die jungen Herren im Smoking, viele schwitzende junge Mädchen.

Helmbrechts (im Frankenwald). 6. März 1926. Sonnabend

Früh aus Berlin fort, um in Helmbrechts im Frankenwald für das Reichsbanner zu reden. Eisenbahn bis Hof. Von dort um sieben in einem offenen, kleinen Auto eines Herrn Winzheimer bei Schneesturm fort nach Helmbrechts, das etwas über zwanzig Kilometer von Hof entfernt liegt. In den Schneewehen im Gebirge blieb das Auto zunächst mehrere Male stecken und dann kurz vor einem Dorf Volkmannsgrün endgültig liegen. Ich stieg mit Guseck aus, und Winzheimer versuchte Pferde zu finden, während wir im Wirtshaus einen Grog tranken.

Der Wirt, zwei alte Bauern und zwei junge Burschen betrachteten uns zuerst mißtrauisch, wußten nicht, was sie aus uns machen sollten, stellten vorsichtige Fragen, wo wir her wären, wo wir hin wollten, ob wir für das Volksbegehren reden wollten? Wir sagten: Nein, fürs Reichsbanner in Helmbrechts über Locarno. So, aber ob wir nicht auch über die Fürstenabfindung sprechen würden? Was es denn überhaupt mit dem Volksbegehren auf sich habe? In den Zeitungen stehe doch, man solle sich nicht eintragen! Die, die sich eintrügen, stimmten dafür, daß man den Fürsten noch mehr Geld nachwerfe! Ich klärte die armen Leutchen auf, die ganz empört waren, als sie einsahen, daß sie von ihrem Lokalblättchen ›dumm gemacht‹ worden waren. Sie sprachen sich allesamt dagegen aus, daß man den Fürsten irgendwelche größeren Beträge zuwende. Tausend Mark monatlich als Pension, meinte der Wirt, allenfalls zweitausend Mark seien reichlich. Wer mehr als vierundzwanzigtausend Mark im Jahr auf den Kopf schlage, sei ein Lump.

Schließlich erschien Winzheimer und sagte, Pferde seien nicht zu haben. Ich entschloß mich darauf, zu Fuß zu gehen. Es war inzwischen halb zehn geworden. Der Schneesturm hatte aufgehört. Klarer Himmel mit Sternen, die wie Eiszapfen funkelten über den weiten, welligen Schneefeldern und kleinen schwarzen Waldstückchen. Guseck und ich stapften allein auf der tiefverschneiten Landstraße durch die nächtliche Schneewüste. Nach etwa drei viertel Stunden hörten wir in der Ferne Singen. Leute kamen. In der Ferne dahinter ein Trupp. Das Reichsbanner aus Helmbrechts, das telefonisch von unserem Kommen benachrichtigt war, holte uns ein. Wir kamen in das ganz verschneite Städtchen mit hübschen mittelalterlichen Gassen, schließlich in den Versammlungssaal, der überfüllt war und uns mit Hurra und Tusch sehr freundlich, ja begeistert empfing, trotzdem die Leutchen zweieinhalb Stunden gewartet hatten. Denn es war inzwischen halb elf geworden.

Ich sprach dann etwa eine Stunde über Locarno und den bevorstehenden großen Akt in Genf. Formulierte unser Ziel als ›die Rationalisierung des europäischen Verwaltungsapparats, des politischen sowohl wie des wirtschaftlichen‹. Als einen ersten Schritt dazu hätten wir den Kaiser abgebaut (wildes Hallo und Händeklatschen). Wir könnten in einer rationalisierten europäischen Verwaltung keine erblichen Verwaltungsbeamten brauchen. (Nein, nein, bravo!) Aber wenn wir auch den Neubau Europas nach vernunftgemäßen Grundsätzen rationalisieren und vereinfachen wollten, so beabsichtigten wir doch keineswegs, auf Ideale und Schönheit des Lebens zu verzichten. So wollten auch wir das neue, vereinfachte und rationalisierte Europa zu einem Dom ausbauen, der durch den Geist des Friedens und der Brüderlichkeit geheiligt werde und in dem eine Menschheit, die weder Knechte noch Herren kenne, sich zu immer größeren Aufgaben und immer höheren Idealen emporschwingen könne.

Der Erfolg der Rede war sehr groß. Um zwölf fuhren wir dann wieder mit Winzheimer in seinem notdürftig reparierten Auto über das Gebirge nach Hof zurück, wo wir noch gerade rechtzeitig anlangten, um den Ein-Uhr-einundfünfzig-Schnellzug nach Berlin zu fassen.

Weimar. 18. März 1926. Donnerstag

Major Oehler bei mir gefrühstückt; ein ganz sympathischer, vierschrötiger, aber kultivierter Mann, der die Welt gesehen hat. Fragen des Nietzsche-Archivs besprochen, Ehrensold für Frau Förster, Verlängerung der Schutzfrist, Gesellschaft der ›Freunde des Nietzsche-Archivs‹. Ich stimmte letzterem zu, bin aber der Ansicht, daß es das vernünftigste wäre, nach Frau Försters Tode das Nietzsche-Archiv mit dem Schiller-Goethe-Archiv zu vereinigen.

Berlin. 22. März 1926. Montag

Abends zum ersten Mal im neuen Klub (Gesellschaft für Politik, Wissenschaft und Kunst) bei Nierendorf in der Lützowstraße. Dort Becher, Heinrich Vogeler, George Grosz, Piscator, Samuel Sänger. Nierendorf zeigte mir sehr schöne, orgelartig tief klingende Aquarelle von Nolde.

Vogeler, der ganz nach Moskau übergesiedelt ist und dort im Dienste der Sowjet-Kunstpropaganda tätig ist, sagte, es gebe schon eine Reihe junger, sehr eigenartiger russischer Maler. Sie hätten die noch vor zwei Jahren herrschende abstrakte Richtung überwunden; ihre Kunst sei jetzt eine Art von synthetischem Realismus. Vogeler erwartet viel von diesen jungen Künstlern. Er ist übrigens so stark gealtert, daß ich ihn kaum wiedererkannte. Haust in Moskau ziemlich ärmlich, reist in ganz Rußland herum, war jetzt an der Murmanküste und soll nach seiner Rückkehr gleich nach Turkestan.

George Grosz sagte, er habe sich erst seit kurzem wieder der Malerei zugewendet, nachdem er in den letzten Jahren fast nur gezeichnet habe. Sein erstes malerisches Experiment sei das Porträt von Hermann-Neiße gewesen, das daher auch etwas trocken geraten sei. Er hoffe allmählich mehr hineinzukommen. Er möchte, wie er sich ausdrückte, ›moderne Historienbilder‹ malen, zum Beispiel ›das Parlament‹. Ihm schwebe etwas vor wie Hogarths politische Bilder.

Samuel Sänger sprach sehr lange mit mir über Genf; fragte, ob ich als deutscher Vertreter hingehe, wenn wir eingeladen seien? Er habe mich Stresemann genannt, und dieser habe ausweichend, aber nicht verneinend geantwortet. Ich sagte: ich regte keinen Finger, um hinzukommen. Sänger: Aber die ›force des choses‹ bereite mir den Weg.

Alles in allem hinterließ mir der Klub einen lebendigen, anregenden Eindruck. Zwischen den Hurenbildern von Dix (der auch da war) eine Halbboheme, die ganz amüsant war. An einem Büfett servierte eine Dame warme Würstchen und Bier unter einer alten Hure von Dix.

Berlin. 23. März 1926. Dienstag

Abends Diner bei Carl Fürstenberg in der Behrenstraße. Der Reichskanzler, Stresemanns, Schachts, McFadyean, der alte Monts, Rüfenachts, Kanitz, Lancken, die Roland de Margeries, Frau Deutsch, Frau von Schwabach usw. Lancken, Kanitz und ich scheinen eine Art von ständiger Junggesellengarnitur (obwohl Lancken verheiratet ist) für große Diners zu werden.

Luther holte ich aus einer Gruppe heraus und sagte ihm, ich habe mich gefreut zu hören, daß er sich von Dix malen lassen wolle. Er meinte, ja, überall werde das erzählt, aber die Sache sei noch keineswegs sicher. Wenn er bloß Dr. Luther wäre, würde er sich ohne weiteres von Dix malen lassen. Aber ob dabei der deutsche Reichskanzler herauskomme, sei ihm zweifelhaft. Slevogt habe eben von ihm ein durchaus beachtenswertes Bild gemalt, und er verspüre keine große Lust, sich sofort wieder malen zu lassen. Ich sagte: Ja, es sei mühsam, Modell zu stehen. Luther: Nein, eigentlich mache es ihm Vergnügen zu sehen, wie der Maler aus ihm das Persönliche heraushole; es sei sogar unheimlich.

Ich sah ihn mir an: massiger, ziemlich gewöhnlicher Rundschädel, aber lebendige, unbedingt gütige und junge Augen und ein feiner Mund. Trotz der undistinguished Umrisse keine gleichgültige Physiognomie. Vitalität und Eigensinn, nicht ohne Geist. Vor allem Beweglichkeit. Ich sagte es ihm. Er meinte: eine gute Karikatur von ihm existiere noch nicht. Er besitzt eine Art von Unschuld, mit der er die Freude über seinen Aufstieg zum Ausdruck bringt. Er verkörpert sehr gut den äußerlich harten, innerlich weichen und etwas formlosen, aber nicht geistlosen Deutschen; die Knochen grob, aber das Herz weich und der Intellekt nervös beweglich. Ich sagte ihm, es sei neu und überraschend, einen deutschen Reichskanzler zu finden, der sich für die allermodernste Kunst interessiere. Das schien ihm wie Honig einzugehen. Offenbar langt er auch nach dem Lorbeer des Mediceers, der ihm als Oberbürgermeister von Essen durch das vorzügliche Essener Museum und die Tätigkeit von Osthaus begehrenswert geworden ist.

Berlin. 26. März 1926. Freitag

Abends ›zwangloses Zusammensein‹ beim amerikanischen Botschafter Schurman; ein großes Chaos von Menschen, großenteils unbekannten. Als ich kam, führte mir Schurman gleich einen Herrn zu, den er als Mr. Stetson, amerikanischen Gesandten in Warschau, vorstellte. Dieser Stetson (aus der Hutfabrikanten-Familie, Stetson hats), ein kleiner, blasser, ungesund aussehender Mann mit rötlich blonden Augenbrauen und Schnurrbärtchen, attackierte mich sofort in bezug auf die schlechte Behandlung der polnischen Minderheit in Deutschland; die Polen hätten im Gegensatz dazu die Deutschen in Polen immer with the greatest moderation behandelt und there had never been any complaints. Ich fragte: Wie lange er Gesandter sei? Stetson: Seit August. Ich: Dann müßte ich ihn auf seine Gesandtschaftsakten hinweisen, die zweifellos aus der Zeit, ehe er Gesandter war, noch die zwei Schiedssprüche des Haager Schiedsgerichts enthalten müßten über die von der polnischen Regierung versuchte und vom Haager Schiedsgericht als vertragswidrig und nichtig erklärte Enteignung der deutschen Bauern in Polen. Stetson: Davon wisse er nichts. Ich: Eben, daher urteile er so, wie er urteile.

In diesem Augenblick kam Schubert herein, den ich heranwinkte und mit Stetson bekannt machte. Ich sagte, Mister Stetson habe mir eben auseinandergesetzt, wie mustergültig die polnische Regierung die deutsche Minderheit in Polen behandele. Schubert kriegte einen roten Kopf und sagte ziemlich heftig Stetson die Wahrheit, während Stetson ganz stur und wie aus Leder zuhörte. Schließlich pflanzte ihn Schubert, als es zu Tische ging, neben Luther, der anscheinend auch recht energisch auf ihn einredete. Ich saß neben Köpke und regte an, man solle über Stetson nach Washington an Maltzan telegraphieren, damit dieser bei Gelegenheit die falschen Berichte von Stetson richtigstelle. Schließlich hetzte ich noch Gerlach auf Stetson, damit er ihn aufkläre. Der Hutmacher im Wurstkessel war die unterhaltendste Begebenheit des sonst ziemlich trüben Abends.

Weimar. 6. April 1926. Dienstag

Den ganzen Tag auf der Presse gearbeitet an den Titelblättern zum Vergil. Mußte leider viel von Gills geschnittenen Titeln opfern und durch Typendruck ersetzen, weil sonst das Ganze zu schwer geworden wäre.

Lugano. 13. April 1926. Dienstag

Mittags in Basel und gleich nach Lugano weiter, wo abends an. Hier ist alles überfüllt, weil sich der ganze Strom der Deutschen, die sonst nach Italien reisen, im Tessin gestaut hat. Huguenin, der Konditoreibesitzer, der jetzt einen Monat in Nervi war, sagt, dort seien die Hotels ganz leer ›wegen der Mussolini-Rede‹. Hier ist kein Zimmer zu haben. Obwohl wir schon vor vierzehn Tagen im Hotel Zimmer bestellt hatten, sind wir in einer Privatwohnung untergebracht. Einige hundert Millionen wird Mussolinis schöne Rede Italien gekostet haben! Ein etwas teurer National-Tenor. Dafür, daß es eine komische Figur an der Spitze der Regierung hat, ist der Preis für Italien etwas hoch. Un polichinelle un peu cher!

Abends Max aus Locarno zurück, wo er Fräulein van Adel besucht hatte. Er sagt, ganz Locarno sei nur Stresemann. Überall Photographien von ihm. Er sei dort sehr beliebt, sehr freundlich gegen alle, viermal am Tage in der Konditorei von Frau Scheurer, die für ihn begeistert sei. Aber immer ein Schwarm von Geheimpolizisten hinter ihm her.

Auf See (›Principessa Mafalda‹). 16. April 1926. Freitag

Vormittags Navigazione Generale. Spanischer Konsul usw. in großer Hetze. Mittags um zwölf ab auf dem Südamerika-Dampfer der ›Navigazione Generale Italiana‹, der ›Principessa Mafalda‹. Hübsches Zehntausend-Tonnen-Schiff, recht freundlich und sogar luxuriös (wenn auch schon etwas verblichener Luxus) eingerichtet in einem ziemlich einfachen Louis-XVl.-Stil; große, luftige weiße Kabinen mit Betten, ausgezeichnetes Essen. Nur wenige Passagiere erster Kajüte, unter diesen der Genfer Kapellmeister Ansermet mit Frau und Tochter, die sämtlich ihr Gepäck an der italienischen Grenze verloren haben und so ohne Gepäck nach Südamerika reisen! Nachmittags schöne Fahrt an der ligurischen Küste entlang, über der die schneebedeckten Seealpen glänzten. Nachts, im Golf du Lion, wurde die See etwas stürmisch.

Barcelona. 17. April 1926. Sonnabend

Früh spanische Küste. Eine kleine, saubere weiße Stadt neben der andren wie eine hellglänzende Perlenkette am Strande, hinter dem kleine, sanft gerundete braune Hügelkuppen aufsteigen, in der Ferne übertürmt von den Pyrenäen. Um zwölf in Barcelona an Land. Überraschender Eindruck der ganz modernen Stadt, die nichts südlich Verschlafenes oder Opernhaftes an sich hat. Lauter fleißige, hastende Menschen in großen, breiten, modernen Straßen und Alleen, die von Platanen beschattet werden. Man gewinnt den Eindruck: halb Paris, halb Buenos Aires! Eine ganz andre, weit modernere und echtere Atmosphäre als in Italien. Goertz sagt sehr richtig: das Moderne, das in Italien nur als Oberflächenlack und Aufputz aufgeklebt ist, scheint hier aus dem Grund, aus dem fleißigen Volk selbst zu wachsen.

Abends mit Max in die Tingeltangel am Parallelo, um spanische Tänze zu sehen. Leider hat das Kino viel verdorben. Die Arbeiter wollen nicht mehr die Vollendung des Volkstanzes sehen, sondern die halbnackten Gesellschaftsdamen und Kokotten, die sie im Film gewohnt sind. Daher drittklassige provinziale ›Pariser‹ Tänzerinnen statt der rassigen, einzigen spanischen Tänze, die man früher in den Tanzlokalen des Parallelo sah. Nur eine gute spanische Tänzerin und Sängerin sahen wir ganz am Schluß der Vorstellung in dem einen Haus: Aurea Cruz.

Barcelona. 18. April 1926. Sonntag

Stiergefecht. Widerwärtiger, ertötender Eindruck trotz des bunten, wild lebendigen, grandiosen Bildes. Empörend und ekelhaft die Abschlachtung der altersschwachen, hilflosen alten Pferde, denen die Gedärme aus dem Leib gerissen werden und die mit blutigen, aus dem Bauch herausquellenden Fetzen noch sporniert werden. Auch der Stier, der als schöner, junger, rassiger hereinkommt und nach einer halben Stunde als totes Fleischstück hinausgeschleppt wird, erregt bei mir nur Ärger und Mitleid. Dafür, daß immer wieder der Tod hilfloser Tiere, denen keine Chance gegeben wird, zur Sonntagsbelustigung einer rohen Menge herhalten muß, entschädigt auch der bunteste, flimmerndste Anblick nicht. Ich wurde immer müder und abgespannter. Schließlich war ich wie mit einem Beil vor den Kopf geschlagen, innerlich ganz apathisch und bis zum Rande mit Ekel gefüllt. Der ganze Abend war wie das Erwachen von einem schweren, betäubenden Rausch.

Palma. 24. April 1926. Sonnabend

Regenwetter. ›Don Quichotte‹ gelesen mit steigender Bewunderung, jedes Wort wie eine reife Frucht, aus der man Saft quetschen kann. Die Vollendung des Prosa-Erzählungs-Stils. – In San Francisco in Palma das Grab Ramón Lulls.

Palma. 26. April 1926. Montag

Im Auto nach Sóller über Valldemosa und Miramar. Herrliche Autofahrt durchs Gebirge und an der gebirgigen Nordwestküste der Insel entlang auf ausgezeichneten, zum Teil dichtbeschatteten Straßen. Im Karthäuserkloster Valldemosa, vierhundert Meter hoch in schöner Gebirgslandschaft, werden die Zimmer gezeigt, in denen 1838 George Sand und Chopin überwinterten; mehrere freundliche Zimmer um einen kleinen Garten herum, von dem aus man ins wilde Gebirgstal hinunterblickt; ein idealer Aufenthalt für ein romantisches Paar, lieblich, wild und weltfern. Eine Nokturne von Chopin hier bei Vollmond unter Rosen (üppigen weißen Rosen) mit dem einsamen Felsental als Hintergrund würde den Geist der Chopinschen Musik in der Vollendung verkörpern.

Hinter Valldemosa bekommt man bald im Hochtal Blick auf die andre Küste. Hier rechts eine Meierei des verstorbenen Erzherzogs Ludwig Salvator, dessen große Besitzungen hier anfingen. Hoch am Bergabhang gelegenes, hübsches, solides und sauberes Vorwerk, das jetzt irgendeinem Erben des Erzherzogs, einem griechischen Doktor, gehört. Das wunderschön gelegene, hübsch im Landesstil gebaute, saubere Haus ist innen ziemlich geschmacklos mit allerlei Sammlungen und zusammengekauftem gutem und schlechtem Mobiliar eingerichtet. Nur zwei kleine bescheidene Photographien waren ergreifend schön, zwei kleine Bilder der Kaiserin Elisabeth als ganz junge Frau, offenbar Geschenke an den jungen Erzherzog. Das Gesicht von strahlender und zugleich herber Schönheit ist selbst in diesen mäßigen Photographien von anbetungswürdiger Schönheit.

Von hier weiter an die hohe felsige Küste. Die Straße führt hoch über dem Meer am Gebirge entlang zwischen Ölbäumen, Myrten, Orangen, unten die weiße Schaumlinie der Brandung an der wild zerklüfteten Küste, und weithin Vorgebirge hinter Vorgebirge in grandiosen, großgeschwungenen Formen ins blaue Meer vorspringend. Eines der schönsten, grandiosesten Küstenstücke, die ich gesehen habe. Noch schöner, großartiger als die Riviera oder selbst Capri. Die Weite, die gewaltigen Gebirgsformen, die Üppigkeit der Natur, die Mischung von Herbem und Lieblichem, von Gigantischem, Unermeßlichem und Intimem ist hier zu etwas ganz Paradiesischem geworden. Auch Teneriffa bietet kaum etwas gleich Bezauberndes und Großes. In seiner Art ist dieses hier wohl das Vollkommenste.

Miramar selbst, wo der Erzherzog gewohnt hat, ist ein ganz bescheidenes Landhaus inmitten von Gärten und Pflanzungen, hoch über dem Meer an der Küste gelegen. Auffallend überhaupt, daß der ganze riesige Besitz des Erzherzogs nicht als Luxusgut mit Landschlössern, Parks usw., sondern daß er ganz als landwirtschaftlicher Nutzbetrieb angelegt ist und daß der herrlichen Landschaft allein für Schönheit zu sorgen überlassen ist; es wird nicht versucht, ihr Konkurrenz zu machen oder sie noch mehr zu ›verschönern‹. Man bekommt Respekt vor diesem hohen Herrn, der so geschmackvoll und vernünftig hier einen wirklich fürstlichen Besitz geschaffen und verwaltet hat.

Überhaupt haben die letzten Habsburger verstanden, in Schönheit zu sterben: Maximilian von Mexiko, die Kaiserin Elisabeth, der Erzherzog Rudolf, hier der Erzherzog Ludwig Salvator, sogar das bescheidene Grab des letzten Kaisers in der kleinen Dorfkirche auf Madeira nötigen zu einem ästhetischen Respekt, während die letzten Hohenzollern jeder Ästhetik, ja jeder menschlichen Achtung mit ihrer Roheit, Feigheit, Wüstheit und Geschmacklosigkeit geradezu ins Gesicht schlagen; die letzten Habsburger enden wie Gentlemen, die letzten Hohenzollern wie Rollkutscher.

Palma. 29. April 1926. Donnerstag

Unser letzter Tag in Palma. Häßliches, trübes Wetter. Nochmals in die Kathedrale. Trotz der Kahlheit und Dunkelheit gewaltiger Eindruck des ungeheuren Raumes.

Abends ab auf dem ›Luxusdampfer‹ Jaime I. Ganz hübsches kleines Drei- bis Viertausend-Tonnen-Schiff. Nur sind die Kabinen aus papierdünnem Holz, so daß man alles hört, was im ganzen Schiff vorgeht, und da die See ziemlich bewegt war, war die Nacht gräßlich. Neben uns eine seekranke Familie und ein halbes Dutzend seekranker junger und alter Engländerinnen, die die ganze Nacht brachen, stöhnten, klingelten, wieder brachen, wieder stöhnten, wieder klingelten. Dazwischen heulten die Kinder, wenn sie nicht auch brachen, die Mutter schien sich die Seele aus dem Leib zu kotzen, der Vater, der auch in einem tiefen Baß brach, schwor dazwischen: Nie wieder nach Mallorca: es la ultima vez!

Jamás, jamás! In dieses Konzert stimmten bei Sonnenaufgang eine Ladung seekranker Hühner und Hähne mit ihrem Krähen und Gackern ein. Und das kleine Schiff rollte und stampfte unermüdlich. Daß ich nicht auch seekrank wurde, war eine Leistung.

Barcelona, 1. Mai 1926. Sonnabend

Pahissa kam zum Frühstück. Ich vermeide, ihn über Politik auszufragen. Aber heute kam er doch auf Primo und die Zustände in Katalonien zu sprechen; sehr objektiv, wie mir schien. Das Direktorium habe Spanien vor dem Kommunismus gerettet. Sie seien kurz davor gestanden.

Abends kam Pahissa wieder zu Tisch und führte uns, Sardañas sehen, eines der überraschendsten, unwahrscheinlichsten Schauspiele. Mitten in der ganz modernen Großstadt, auf dem Bürgersteig irgendwo vor einem Cafe, fängt das Publikum an zu tanzen, Arbeiter, Kleinbürger, Kinder, Soldaten, Matrosen, einen Tanz von größter Anmut und Leichtigkeit. Das Orchester, vier Blechinstrumente, vier Holzbläser, ein Kontrabaß und ein ›Flaviol‹ (Flageolett), das einen ganz merkwürdigen, schrillen Klang hat, sitzt auf einem erhöhten Podium im Freien, setzt mit einem kurzen Vorspiel ein, und dann gerät allmählich der ganze Platz, die ganze Menge in Bewegung, aus dem grauen Alltag entwickelt sich Grazie, Rhythmus, Schönheit, aber scheinbar so selbstverständlich, daß gar kein Kontrast entsteht: nur als ob der graue Alltag einen Augenblick verzaubert wäre, Poesie würde. Das Groteske, Unnatürliche, Gemachte unserer sogenannten ›Tanzvergnügungen‹, ›Bälle‹, ›Fünf-Uhr-Tees‹ kommt einem schaudernd in Erinnerung. Hier wirken Tanz, Schönheit, Grazie wie in der Antike als Fortsetzung und Teil des Lebens. Man glaubt, keine ungraziöse Gestalt, keinen häßlichen Menschen mehr entdecken zu können; alle scheinen plötzlich anmutig. Auch ist keine Roheit, keine Sentimentalität oder grobe Lüsternheit zu sehen; wie ein Volk von graziösen, leichten Kindern schwingt sich die Menge in Reigen an Reigen. Es sind uralte Tänze; aber sie haben sich, wie Pahissa sagt, erst seit zwanzig Jahren wieder über ganz Katalonien verbreitet, von Ampurias aus (der alten griechischen Kolonie in der Nähe von Banyuls) als Bekräftigung und Symbol der katalanischen Nationalität. Die Politik hat der Bewegung die Stoßkraft gegeben, der Protest gegen Spanien (auch Pahissa gab dies zu). Ich sagte ihm, es sei die einzige geistvolle Form des Nationalismus, die mir bisher begegnet sei.

Barcelona. 2. Mai 1926. Sonntag

Nachmittags noch einmal zum Stierkampf. Ein junger, sehr gewandter Matador mit einem streng geschnittenen, fast mongolischen, gelblichbraunen Gesicht, Agrabeño, von vollendeter Meisterschaft, ein Tänzer vor dem Stier, war schön und sehenswert; aber die feige und rohe Art, wie die Pferde dem Stier preisgegeben werden, bleibt ekelhaft und empörend. Alles in allem ein Schauspiel von erstaunlicher Roheit, erstaunlich namentlich, weil dieselben Menschen, die diese widerliche Tierquälerei sich zum Schauspiel machen, die graziösen, leichtbeschwingten Tänzer des Sardañas sind. Roheit und Anmut, Grausamkeit und Schönheit wohnen hier dicht beieinander wie bei den Griechen.

Überhaupt scheint mir die Struktur der spanischen Seele mehr Ähnlichkeit mit der der griechischen zu haben als die irgendeines andren europäischen Volkes, vielleicht weil sie durch ähnliche geographische und historische Bedingungen geformt worden ist. Beide, Griechen und Spanier, sind in den entscheidenden Jahrhunderten ihrer Volkwerdung Grenzvölker, Grenzvölker gegen einen kulturell weit vorgeschritteneren, ihre Existenz bedrohenden Orient gewesen; beides waren sozusagen Schützengraben-Völker, für die eine fast fanatische Bejahung ihrer eigenen, roheren Kultur, eine rücksichtslose Grausamkeit in der Selbstbehauptung primäre Existenzbedingungen waren. Dazu kam bei beiden eine mystische und tragische Religiosität, die von Sinnlichkeit und Blut getränkt war, und im Gegensatz hierzu eine natürliche Heiterkeit und Anmut des Temperaments, das Bedürfnis, die Sinnlichkeit zu sublimieren, sie ins Zarte, Anmutige, Spielerische emporzuführen, aber ohne jemals die Verbindung zwischen diesen heiteren Blüten der Sinnlichkeit und ihren mystischen und tragischen Wurzeln und dem blutigen Mythus zu durchschneiden. Griechen und Spanier sind so Menschen geworden, in denen mehrere Seelen nebeneinander wohnen, von denen bald die eine und bald die andre die Oberhand gewinnt, jede aber immer auch im Augenblick ihres höchsten Triumphes durch Reflexe von den andren erhellt oder verdüstert wird. Nietzsche hätte bei den Spaniern bessere Beispiele zur Erklärung des Griechentums gefunden als bei den Italienern der Renaissance, die viel unkomplizierter, einseitiger, sagen wir das Wort, flacher waren als Spanier oder Griechen.

Valencia. 4. Mai 1926. Dienstag

Früh an in Valencia. Erster Eindruck von der Stadt: viele Blumen, ein zartes, schwingendes Licht, ordinäre Straßen, ganz charakterlos, sie könnten die einer armen Vorstadt von Brüssel oder Paris sein, viel Staub, Unsauberkeit und Unordnung im Gegensatz zu Barcelona. Ich finde hier mein altes Spanien wieder. Eine Sehenswürdigkeit ist in der Stadt eigentlich nur die alte Seidenbörse, die Lonja de la Seda, eine gewaltige gotische Halle aus der Zeit Ferdinands und Isabellas (um 1490), stolz, reich und streng, eine Verkörperung des Spaniens, das zum Weltreich emporstrebte, Amerika entdeckte und die letzten Mauren aus Europa vertrieb. Drei Schiffe, gebildet durch gewaltige, schlanke, gewundene Säulen, die oben palmenartig in die gotische Decke übergehen; die Wände schmucklos bis auf die mit sehr schönem Maßwerk geschmückten Fenster und die reich dekorierten Türeinfassungen; ein Wechsel zwischen herber Schmucklosigkeit und üppigem Ornament, der beides, die Strenge und den Reichtum, durch den Kontrast zu erhöhter Wirkung bringt. Diese Lonja ist eines der grandiosesten und zugleich anmutigsten gotischen Profangebäude, architektonisch viel gelungener, einheitlicher als Or San Michele in Florenz oder etwa die Loggia dei Lanzi; sie ist aber auch eigentlich das einzige, was die Reise nach Valencia lohnt.

Tarragona. 5. Mai 1926. Mittwoch

Früh fort aus Valencia ohne Herzweh, obwohl das Hotel (Reina Victoria) ganz gut und sehr sauber war. Aber als Stadt hat es mir Valencia nicht angetan. Schöne Fahrt an der Küste entlang nach Tarragona. Kurz hinter Valencia Sagunt, das sogar von der Bahn aus mit seinem gewaltigen Mauerring auf dem steil abfallenden Stadthügel einen stolzen, gewaltigen Anblick darbietet.

Nachher hinaus etwa drei Kilometer von der Stadt zur ›Torre dei Scipioni‹, einem einsamen römischen Grabmal am Meer zwischen Ölbäumen. Poussin hätte es so in dieser Lage erfinden können. Ein schlanker, turmartiger Klotz aus sonnenvergoldeten Steinquadern, an dem vorne noch zwei Figuren trauern, uralte Ölbäume darum herum und dahinter, nur einige hundert Schritt entfernt das blaue, über einen Sandstrand heraufschäumende Meer; ein unvergeßlich schönes und ergreifendes Bild.

Paris. 16. Mai 1926. Sonntag

Mit Henry van de Velde, Thylla van de Velde und Max im Auto nach Chartres. Van de Velde war von der Kathedrale ganz überwältigt. Er meinte beim Eintreten: »Ça m'etouffe, je ne peux plus respirer.« Die Schönheit und den Rhythmus der Massen hob er immer wieder hervor. Man sehe, daß demgegenüber das Ornament gar keine Rolle spiele. Auch Max sehr bewegt, namentlich von der Plastik und den Fenstern.

Van de Velde hatte mir gestern seine grandiosen Entwürfe für das Schelde-Ufer in Antwerpen gezeigt, die ebenfalls ganz auf den Rhythmus ungeheurer Massen (Wolkenkratzer) gestellt sind.

Berlin. 18. Mai 1926. Dienstag

Früh um acht in Berlin an. Vormittags in die Sitzung des Pen-Clubs. Jules Romains präsidierte; Fulda, Galsworthy, Pierard, Martin du Gard und andre gesprochen. Mit Helene fort. Abends Festbankett des Pen-Club im ›Kaiserhof‹. Fulda präsidierte. Galsworthy redete deutsch und gut, sehr zu Herzen gehend auch der Schwede Björnsberg, dessen schöner Kopf und ganze Ausdrucksweise eine hart durchgekämpfte Existenz ahnen ließen. Fulda war trivial, wie kaum anders zu erwarten, Jules Romains amüsant ohne viel Tiefe oder Wärme. Ich saß zwischen Martin du Gard und einem Monsieur Berge. Die vielen Reden und das lange Sitzen bis elfeinhalb ermüdend; aber die Stimmung war gut und harmonisch.

Berlin. 19. Mai 1926. Mittwoch

Bei von der Heydts im ›Esplanade‹ gefrühstückt mit den jungen Dircksens, Frau Weißmann, dem Direktor Kümmel, Voretzsch (unserm Gesandten in Lissabon), Flechtheim und Cohn vom Völkerkunde-Museum. Ein ›asiatisches‹ Frühstück, wie Heydt sagte, lauter Liebhaber ostasiatischer Kunst. Frau Weißmann erzählte mir, ihr Mann habe gestern auf der Amerikanischen Botschaft eine ›Rencontre‹ mit Stresemann gehabt, weil er den ›Potemkin‹-Film zugelassen hat. Sie meinte, der Film sei der künstlerisch vollendetste, den sie je gesehen habe; so was könne man doch nicht verbieten. Nachher gingen wir alle zu Gutmann (Kunsthändler in der Bellevuestraße), um eine indische Bronze zu besichtigen, die Heydt gekauft hat.

Nachmittags kam der Belgier Piérard (der Verfasser der ›Vie tragique de Vincent van Gogh‹) mit Helene zu mir zum Tee, um meinen van Gogh zu sehen. Er sagt, der Sturz des belgischen Ministeriums habe die Errichtung des Instituts für van de Velde in Brüssel wieder in Frage gestellt oder wenigstens in weite Ferne gerückt. Abends mit Guseck den ›Potemkin‹-Film in der ›Schauburg‹ an der Königgrätzer Straße gesehen. Grandiose Aufnahmen und sehr wirkungsvoller dramatischer Aufbau; beste Kunst fürs Volk. Ich begreife, daß er den Rechtsparteien und Militaristen entsetzlich ist.

Weimar. 21. Mai 1926. Freitag

In der Presse Cole abgeholt, der auf Urlaub fährt. Abends bei Bassianos gegessen, die mit einem ganzen Schwall von Verwandten und Freunden aus Rom hier sind zur Premiere seiner Oper ›Hypatia‹. Essen in der ›Kaiserin Augusta‹ am Bahnhof. Dreizehn Personen, Roffredo selbst nicht anwesend, da in der Probe. Sein Bruder Gelasio, der frühere italienische Botschafter in Washington, Graf und Gräfin Lovatelli, Gräfin Piccolomini, Roland de Margerie und Frau, ein Professor Luciani, der eine unbekannte Sprache spricht, die Französisch sein soll, Hofmannsthal, den ich zum ersten Mal nach neun Jahren wiedersah; als dreizehnte Helene Nostitz, die abgesagt hatte, aber dann doch gegen Schluß kam. Ich saß zwischen der Prinzessin und Luciani und Gelasio Gaëtani gegenüber. Viel über d'Annunzio. Das Wiedersehen mit Hofmannsthal war durchaus harmonisch. Er hatte mich schon nachmittags besucht, aber nicht getroffen.

Weimar. 23. Mai 1926. Sonntag

Hofmannsthal frühstückte bei mir allein, wie er es gewünscht hatte. Gespräch über die Möglichkeit eines deutschen Romans, die er bezweifelt, weil als Untergrund einer Romanliteratur eine ›Gesellschaft‹ und eine wirkliche Hauptstadt nötig sei wie Paris oder London und die Pariser und Londoner ›Gesellschaft‹. Ich verwies auf die russischen Erzähler der Nachkriegszeit, die jetzige junge Generation, Iwanow, Lebedinski, Babel usw. Hofmannsthal kannte sie nicht, fragte: wo sie die Spannungen und Gegensätze hernähmen, die als Antrieb einer epischen Handlung unentbehrlich seien, da das Motiv des Geldes und im gewissen Sinne auch das der Liebe fortgefallen seien? Er wird schon recht haben, daß er jedenfalls aus der jetzigen Zeit keinen Roman herausdestillieren kann. Wir sprachen dann noch über Max Weber, den er ebenso wie ich sehr hoch stellt, und Scheler, dessen innere Brüchigkeit ich betonte. Hofmannsthal sagt, daß er viel Einfluß auf gewisse Kreise übt. Von Rohan denkt er auch besser als ich. Dem Anschluß scheint er sehr skeptisch gegenüberzustehen; ernsthaft wollten ihn in Österreich nur die Kreise, die in Deutschland zum Stahlhelm und Werwolf gehören und die gerade heute hier in Weimar eine ziemlich klägliche Heerschau im Regen abhalten. Er möchte statt des Anschlusses eine engere wirtschaftliche Verbindung mit den Nachfolge-Staaten, damit Wien, das jetzt ein völlig überflüssiger und absterbender Wasserkopf sei, wieder seine Funktion als Luxusstadt des europäischen Ostens aufnehmen könne.

Paris. 27. Mai 1926. Donnerstag

Russisches Ballett. ›Romeo and Juliet‹. Lifar und Nikitina als Liebespaar in den Bewegungen von großer Schönheit. Schwache Musik eines englischen Komponisten. Im Zwischenakt durch Misia Sert Picasso und seine Frau kennengelernt.

Paris. 28. Mai 1926. Freitag

Vormittags Goertz im Louvre die Houdons gezeigt.-Nachmittags mit ihm zu Maillol nach Marly. Fand Maillol in schlechter Stimmung. Er sagt, er habe seit sechs Monaten keine Skulptur mehr gemacht, sei für Plastik wie gelähmt. Er wisse nicht, was er habe, ›je n'ai même pas pu mettre les bras à ma statue‹ (es handelte sich um eine sehr schöne, kleine Frauenstatuette). Er sei seit seiner Rückkehr nach Paris noch nicht einmal in seinem Atelier gewesen, habe es noch nicht aufgeschlossen, möge es nicht sehen.

Ich bewog ihn, mit uns hinzugehen. Er fand überall etwas auszusetzen, beschuldigte seinen Stein-Arbeiter, daß er ihm die Figur für das Cezanne-Denkmal verdorben habe, ›il a fait le nez de deux centimètres trop court; comment voulez-vous arranger ça?‹ Ich beruhigte ihn, fand die Figur sehr schön, was ihm Freude zu machen schien. Schließlich schloß er ziemlich widerwillig das Atelier auf, wo unter Staub und in Unordnung halbfertige und fertige Sachen durcheinanderstanden. Er zeigte auf ein Bündel Hohlformen, das auf der Erde lag: »C'est ça qui m'a tué«, und erklärte, es sei die Büste von Daniel de Monfred (dem Freund Gauguins); er habe die Büste machen müssen, weil ihn Monfred dazu gedrängt habe und er ihm zu Dank verpflichtet gewesen sei; Monfred habe ihn früher, als es ihm schlecht ging, einige Monate durchgefüttert. Aber der Kopf habe ihn nicht interessiert, er sei tout en bosses gewesen, il m'embêtait et je m'obstinais dessus. Si encore ç'avait été le buste d'une jolie femme! Über dieser Büste sei er zusammengebrochen, weil er mit Widerwillen sich zur Arbeit zwang. Seitdem habe er keine Skulptur mehr machen können. Dagegen habe er viel gezeichnet.

Paris. 1. Juni 1926. Dienstag

Nachmittags Baby Goldschmidt-Rothschild besucht. Sie empfing im Bett, rosa Damast-Bettzeug, hellblauer Pyjama, chinesisches Bett mit gelbem Atlas bezogen. Aufmachung wie in der Bettszene eines Ehebruch-Dramas. Curt Bois, der Schauspieler, wurde mit mir zugleich empfangen.

Nachher Musik bei Madame Dubost: ein ausgezeichnetes französisches Quartett, »Pro Arte«, spielte. Interessant ein neues Quatuor von Darius Milhaud (dritter Satz namentlich). Viele junge französische Musiker waren zugegen: Auric, Milhaud, Poulenc usw. Auch Weißmanns aus Berlin.

Abends Russisches Ballett. Aurics »Pastorale«. Mißstimmung mit Helene, die sich durchaus in ein von Misia Sert arrangiertes Souper, das sie heute auf einem Boot auf der Seine gab, hineindrängte. Misia Sert höflich, aber ziemlich kühl. Nach dem Ballett fuhr Helene mit unter dem Vorwand, daß Nabokow sie eingeladen habe. Goertz, der von Misia eingeladen war, um Diaghilew zu sprechen, auch. Es war die Einweihung einer »Péniche« auf der Seine, die von jungen polnischen Malern als »Dancing« eingerichtet ist unter dem Patronat von Misia Sert, der Baronin Rothschild usw. Eine improvisierte Jazzband junger polnischer Maler spielte blendend und ohrenbetäubend.

Im übrigen verlief alles bürgerlich, aber polnisch: die Elektrizität funktionierte nicht, so daß bei Stearinkerzen in Flaschenhälsen gegessen und getanzt wurde. Essen und Getränke schlecht und phantastisch teuer (hundertfünfzig Francs für eine Flasche Sekt). Schließlich stürzte die Garderobe ein, so daß ein jeder sich das Seinige aus einem Desaster von Hüten und Mänteln heraussuchen mußte. Es wimmelte von polnischen Grafen (Rzewuski, Hutten-Czapski usw. usw.) und russischen Tänzern. Im mystischen Zwielicht der wenigen Kerzen drehte sich alles mit allem, Helene mit Goertz, Lifar mit Misia Sert. Diaghilew kam an unseren Tisch und versuchte im fürchterlichen Tosen des Jazz Goertz Einzelheiten zur Geschichte des Tänzers García zu erzählen. Regen und Wind rasten gegen die Bretterbude mit dem Jazz-Lärm um die Wette. Es fehlte nur noch, daß der Kahn leck geworden wäre, um die dramatische Linie dieser polnischen Veranstaltung zu ihrem logischen Schluß zu führen. Wobei zugunsten der Polen zu bemerken ist, daß trotz der Schlampigkeit die Sache nie wüst wurde, sondern unausgesetzt in den besten gesellschaftlichen Formen verlief, selbst als zum Schluß alles auf der Erde herumkroch und in der Dunkelheit unter den Trümmern der Garderobe Abendmäntel und Hüte suchte. Helene entdeckte ihr slawisches Suworowsches Blut und fand alles entzückend.

Paris. 3. Juni 1926. Donnerstag

Frühstück bei Claude Anet in der Rue du Bac. Allein mit ihm und seiner Frau und einer französischen Advokatin mit polnischem Namen (der Mann Associé von Paul Boncour). Hübsche, geschmackvoll eingerichtete Parterrewohnung mit schönen persischen Fayencen, Vuillards und Bonnards. Einfaches Frühstück. Makkaroni, Gigot de Mouton und Erdbeeren. Claude Anet über seinen Erfolg in Deutschland, der ihm materiell sehr zustatten kommt. »Je vis de l'étranger.« Ich mußte meine Pilsudski-Erlebnisse erzählen.

Nachher mit Helene und Brions zu der musikalischen Abendunterhaltung, die Painlevé für Seipel gab, der heute einen Vortrag in der Sorbonne gehalten hat. Die Soiree fand im Hotel Claridge statt, nicht im Kriegsministerium, angeblich, weil Painlevé, als er die Einladungen verschickte, den Sturz des Kabinetts erwartete; er hatte lieber vorgebaut. Kleine, elegante, gut ausgewählte Gesellschaft: französische Intellektuelle und Generäle, österreichische und deutsche Diplomaten, ein Einschuß französischer Parlamentarier. Madame Clemenceau wirkte ganz als Hausfrau. Marya Freund sang deutsch und französisch; auch wurde ungezwungen viel deutsch gesprochen trotz der französischen Generäle in großer Uniform; niemand schien darauf zu achten.

Seipel, dem Zifferer mich vorstellte, sprach mich auf meine Tätigkeit in Genf im Herbst 1924 an. Er schien darüber gut unterrichtet und sagte, man habe erwartet, daß ich deutscher Völkerbunds-Delegierter werde. Harter, scharf geschnittener Kopf, bäuerlich, aber auffallend leise, sanfte Stimme. Dann ließ mich Madame de Noailles holen und erneuerte unsere Bekanntschaft in ihrer aufgeregten, überschwenglichen Weise. Die kleine rabenschwarze Frau hatte schwarze Handschuhe zu ihrem Abendkleid angezogen; ihre Finger fuhren mir wie schwarze Nattern ins Gesicht. Sie frischte Erinnerungen an unser Zusammensein in Weimar, an Frau Förster-Nietzsche usw. auf. Dann schoß sie plötzlich auf Rakowski los und drückte den in eine Ecke. Irgend etwas sehr Erregtes über Bolschewismus sprudelte ihm ins Gesicht. Im selben Augenblick griff Ravel, der ganz weiß gewordene Ravel, der wie eine arische Ausgabe von Oscar Fried aussieht, nach meiner Hand, »cher ami« usw., »seit so lange nicht gesehen...« Es war ein allgemeines Wiedersehen, Stimmung europäisch trotz der glänzenden französischen Uniformen, gar nicht wie bei einem Kriegsminister, eine große europäische Gesellschaft. In dieser Beziehung kann man vielleicht sagen, »que cette soirée marque une date«.

Paris. 5. Juni 1926. Sonnabend

Diner bei Martin du Gard mit Helene, Paul Valéry, Edmond Jaloux. Blitzblanke, ganz moderne Einrichtung wie auf Kunstgewerbe-Ausstellung, eiskalt und wie unbewohnt. Valéry, ein kleiner, hagerer Herr mit kunstvoll unordentlichen grauen Haarsträhnen und schönen, tiefen Augen und leiser, musikalischer Stimme, war bei Tisch von bissiger Bosheit gegen Cocteau und die modische »Thomisten«-Schule (Jünger von Thomas von Aquino, Maritain usw.). Er erzählte dann, daß er für Wasmuths »Orbis Terrarum« die Vorrede zum Band über Frankreich schreibe und ausführen wolle, das französische Volk sei das ethnographisch zerrissenste Europas mit Ausnahme des russischen. Dies spiegele sich auch in der Sprache wider, die gerade deshalb so abgeschliffen sei, polie comme un caillou.

Gleich nach Tisch mußte ich fort, da ich Fräulein v. Korányi (die Tochter des ungarischen Gesandten) und Jacques ins Russische Ballett eingeladen hatte. Sie: hübsches, geistvolles Mädchen. Sie erzählte, wie viele Russen hier jetzt verarmten. Neulich habe sie auf der Straße eine Autodroschke angehalten und zu ihrem Schreck bemerkt, daß der Fahrer ein russischer Prinz war, mit dem sie im vorigen Winter oft getanzt hatte. Sie habe gestutzt, ihm dann aber die Hand gereicht und sei eingestiegen. Unterwegs überlegte sie, ob sie ihm ein Trinkgeld geben solle oder lieber nicht. Schließlich habe sie ihm beim Aussteigen ein Trinkgeld gegeben, aber gleichzeitig gesagt: »Vous viendrez prendre le thé un de ces jours, quand vous serez libre, n'est-ce pas?« Eine in der Tat reizend taktvolle und geistvolle Lösung.

Paris. 6. Juni 1926. Sonntag

Helene nach Meudon zu Jacques Maritain gefahren, der sie durchaus kennenlernen wollte. Unterwegs fragte sie mich, was das Wort ›pédéraste‹ heiße, das sie so oft hier auf diesen oder jenen angewendet höre! Ich riet ihr, ihren Mann zu fragen.

Ich fuhr nach Hause und holte Wilma ab zu Madame Clémenceau, wo Sautreaus und andre zu ihrem Sonntagsempfang. Painlevé hatte mir dort Rendezvous gegeben; aber ich konnte ihn nicht abwarten, da ich Nabokow versprochen hatte, ihn zu besuchen. Ich fand ihn in einer erbärmlichen Pension hinter dem Panthéon, 3, Rue de l'Estrapade; schmutzige, übelriechende Treppe, winziges Kämmerchen, in dem nur ein Klavier, ein unordentlicher Diwan, auf dem er offenbar schläft, ein Stuhl und ein paar Photographien an den Wänden; Eindruck gräßlicher Misere, den sein Auftreten in der Welt, sein gepflegtes Äußere, seine Grandseigneur-Haltung nicht vermuten lassen. Er empfing mich aber ohne jede Befangenheit, als ob er mich in seinem Schloß bewirtete. Und dann spielte er eine Kantate, die er auf Verse von Lomonosow komponiert hat, und ich war tief ergriffen: der Kontrast zwischen dem genialen Werk und der ärmlichen Umgebung war erschütternd, so wie ich ihn früher bei Munch in Berlin gehabt habe.

Nachher plauderten wir, wobei Nabokow noch mal seine Mißachtung für die ganze französische Musik aussprach, weiter aber auch heftig gegen den Orientalismus, das Ethnographische, Volksliedhafte (l'exotisme dans la musique), auch gegen den Jazz loszog. ›Si vous me demandez pourquoi je déteste l'exotisme en musique, je vous répondrai: parce que j'aime Bach.‹ Inbegriffen in diesen Haß ist auch die russische Musik, soweit sie ethnographisch ist: Rimskij-Korssakow usw. Nur Borodin habe sich ein wenig über diesen Orientalismus in die Region der reinen Musik zu erheben vermocht. Aber Bach und Mozart sind seine Götter; das Höchste sei es immer, wenn die Musik ›entre dans le temple‹, religiös werde. Er sagte, ich müsse unbedingt Maritain kennenlernen; er sei jetzt die interessanteste Persönlichkeit in Frankreich.

Offenbar ist auch Nabokow stark von der ›thomistischen‹ Strömung erfaßt. Von Strawinsky zitierte er mit großem Vergnügen ein ziemlich stupides Wort: ›D'un côté il y a Luther, le Protestantisme, Kant et cette vieille vache de Sand (ausgesprochen wie deutsch ›Sand‹), de l'autre, le Catholicisme et le bon vin.‹ Nabokow macht aber trotz dieses etwas unreifen, überschwenglichen katholischen Radikalismus den Eindruck eines wirklich genialen jungen Riesen.

Paris. 11. Juni 1926. Freitag

Nachmittags Besuch bei der Herzogin von Clermont-Tonnerre, dann bei Mme. Ménard-Dorian und dann bei Baby Goldschmidt. Abends aßen Hoesch, Claude Anets und Serts bei mir in den ›Ambassadeurs‹ zur Neger-Revue von Florence Mills. Die eleganteste Gesellschaft von Paris, das wirkliche ›Tout Paris‹ speiste dicht gedrängt an kleinen Tischen: ich traf Boni de Castellane, mit dem ich zum ersten Mal seit dem Krieg sprach, er sehr heruntergekommen aussehend. Neben uns saßen der italienische Botschafter mit einer größeren Gesellschaft, die Schauspielerin Maud Loty usw., usw. Das erste Mal seit fünfzehn Jahren, seit der ersten Premiere des Russischen Balletts, wo ich wirklich das ›Tout Paris‹ in vollem Glanze zusammen sehe. Hoesch war entzückt, konnte sich vor Freude über die Eleganz, den Anblick gar nicht fassen; ebenso Claude Anet.

Paris. 13. Juni 1926. Sonntag

Bei Maillol in Marly gefrühstückt. Während des Frühstücks kam Gauguins Freund, Daniel de Monfred, ganz weiß geworden. Als ich von den ›Ambassadeurs‹ sprach, erzählte Maillol: »C'est aux ›Ambassadeurs‹ que j'ai fait ma première décoration en arrivant à Paris, oui, j'ai décoré les ›Ambassadeurs‹!« Er sei damals ›sans le sou‹ gewesen und sei von Freunden mitgenommen worden, um dort als Stubenmaler mitzumachen und ein paar Pfennige zu verdienen. Und er sei schließlich der einzige von allen gewesen, der bezahlt worden sei, weil die Direktion ihn wegen völliger Unfähigkeit hinausgeschmissen und seinen Lohn ausbezahlt habe, während die andren, die weiterarbeiteten, nichts bekamen, weil die Direktion inzwischen Bankrott gemacht habe. Maillol lachte über das ganze Gesicht bei dieser Geschichte. Er fügte hinzu, er habe auch für den ›Moulin Rouge‹ eine große Dekoration gemacht, zwei Pierrots, frei nach Willette, die beim Brand vor ein paar Jahren mitverbrannt seien. Diese Dekoration sei sogar ganz festlich eingeweiht worden. Er sei im Maskenkostüm als ›Fusain‹ (Kohlenstift) erschienen im grünen Trikot mit schwarzen Ärmeln und Handschuhen, die Artisten des ›Moulin Rouge‹ hätten ihn im Triumph herumgetragen, schließlich seien ihm alle Kleider bis auf das grüne Trikot vom Leibe gerissen worden. Maillol kam durch diese Erinnerungen sehr in Stimmung; schien überhaupt besser und sagte mir, Gott sei Dank könne er wieder arbeiten.

Paris. 15. Juni 1926. Dienstag

Gefrühstückt bei Misia Sert mit Hoesch, Mme. de Jouvenel und der sehr hübschen Nichte von Serts, der Hoesch sehr die Cour schnitt. Sert nannte mir als größten lebenden französischen Dichter Léger (St.-J. Perse), der im Nebenberuf Kabinettschef von Briand ist. Über Radiguets Tod: er sei auf dem Totenbett von strahlender Schönheit gewesen, la figure couleur d'acajou. Trotzdem habe Cocteau sich geweigert, ihn zu sehen oder sich irgendwie um ihn zu kümmern. Sie, Serts, hätten sein Begräbnis bezahlt. Von dem kleinen Ort Sitges bei Barcelona erzählte Sert: er habe einen starken heidnischen Einschlag. So käme es vor, daß kleine Jungen mit zwölf bis vierzehn Jahren aus Sitges als Matrosen fortführen, nach zehn Jahren wiederkämen, sich in ihre Schwester, die sie fast vergessen hatten, verliebten, mit ihr ein Verhältnis anfingen und Kinder bekämen und, obwohl kirchlich natürlich nicht verheiratet, bis an ihr Lebensende, von der Bevölkerung geachtet, mit ihr wie Mann und Frau zusammenlebten.

Abends Premiere von Cocteaus ›Orphée‹ bei Pitoëff im Theâtre des Arts. Die Billetts kosteten hundert Francs (wie für das Russische Ballett), das Publikum das übliche elegante, internationale, viele Amerikaner, Engländer, sogar Japaner. Das Stück, das bei Serts seit langem als Meisterwerk gepriesen wird, enttäuschte mich. Ich fand es unsicher, tastend, keine wirkliche Tragik und keine wirkliche Komik, und im Mittelpunkt eine unmögliche, unfreiwillig komische Engelsfigur (dem modischen, katholisierenden Geschmack Rechnung tragend), die von einem widerlich süßlichen, tantigen jungen Menschen gespielt wurde (Herrand mit Namen), der aus einem ganz schlechten Friseurladen entsprungen schien. Dieser süße Junge verdarb mir vollends den Geschmack an der Aufführung, die auch noch darunter litt, daß Mme. Pitoëff wieder einmal hochschwanger ist, was für eine Eurydike fast grotesk wirkt. Ich war so mißgestimmt, daß ich, ohne Cocteau oder Serts zu begrüßen, mich nach der Aufführung rasch drückte.

Paris. 16. Juni 1926. Mittwoch

Diner bei Hoesch in der Botschaft zu Ehren des hier tagenden Kongresses der Dramatiker und Komponisten. Aus Deutschland waren Fulda, Arnolt Bronnen und Wegener da, aus Österreich Auernheimer und Zifferer, dazu natürlich viele Franzosen: Tristan Bernard, Lugné-Poë, Yvette Guilbert (die ich an unser Frühstück bei Bernard Shaw kurz vor dem Kriege mit Rodin und Mme. Greffulhe erinnerte), Jules Romains, Claude Anet, Gémier usw. Sehr glanzvolles Bild, da die schönen Empire-Salons der Königin Hortense mit einer Überfülle von roten und weißen Rosen dekoriert waren. Die Stimmung ganz ungezwungen und kameradschaftlich zwischen Franzosen und Deutschen.

Einen sonderbaren Eindruck machte auf mich Bronnen, den ich erst heute kennenlernte: unverbindlich, unsicher, süffisant, übel aus dem Munde riechend, im Straßenanzug (wo alle andren selbstverständlich im Frack erschienen waren), aber mit eingeklemmtem Monokel; als Salon-Revolutionär halb Knote, halb Konfektion, soweit er den Mund auftat, auf gut Glück Unsinn redend, so mir die jüngste russische dramatische Literatur anpreisend, die uns viel näherstehe als die französische, und als ich sagte, ich kennte zwar junge russische Dichter und Novellisten, aber keine Dramatiker, ganz naiv antwortend: er kenne auch keine! Eine offenbar subalterne, schwache, nervöse Natur, die Überlegenheit markieren möchte, so etwas wie ein literarischer Sommerleutnant, der mit der Stimme schnarrt, weil er sonst seine Rolle nicht durchführen könnte, ein pervertierter Spießer, flach, ohne Horizont, krankhaft eitel, kurz ›un grand homme de province‹, hinter dem nicht viel steckt. Er sprach mit niemanden, oder höchstens eine unhöfliche, rauhbeinige Antwort auf eine höfliche Anrede (so sagte er zu Wegener, der ihn ansprach: »Wissen Sie, Herr Wegener, ich mag Sie nicht, und Sie mögen mich auch nicht«), streifte mit eingeklemmtem Monokel unstet und schweigend in den schönen, hellen, rosengeschmückten Salons herum wie irgendein Nachtvogel, der aus Versehen hineingeraten wäre, verflatterte, nachdem er ein paar Leute, die sich freundlich seiner annehmen wollten, durch rüpelhafte Antworten von sich gestoßen hatte, vollkommen und wurde nicht mehr beachtet.

Hoesch bewegte sich zwischen all diesen Literaten und Schauspielern gewandt und graziös; er übt auf die Pariser zweifellos einen gewissen Charme aus. Jules Romains und Claude Anet sprachen mit mir viel über ihre Aussichten, in Berlin aufgeführt zu werden. Zufällig kam ich im Gespräch auf Büchner und ›Woyzeck‹, den Jules Romains nicht kannte; er äußerte den Wunsch, ihn eventuell zu übersetzen, und ich versprach, ihn ihm zu schicken.

Spät kam Coudenhove nach. Er stand lange mit mir am Spiegeltisch zwischen den beiden Fenstern im großen Saal, eindringlich auf mich einredend, während in seinem steinernen mongolischen Gesicht immer nur die dünnen Lippen und die kleine, fast kindliche Falte in der Backe sich bewegten, alles andre unnatürlich starr blieb; und dicht vor uns in einem der schöngeschwungenen Schwanen-Fauteuils der Königin Hortense Yvette Guilbert sich fächelte, jetzt eine etwas üppige, rothaarige Dame in einer altmodischen Atlasrobe, in nichts mehr an die von Toulouse-Lautrec verewigte, spindeldürre Grisette mit den langen Armen und langen schwarzen Handschuhen erinnernd. Er behauptet, in England für sein Paneuropa mehr Verständnis als auf dem Kontinent gefunden zu haben.

Paris. 21. Juni 1926. Montag

Der Volksentscheid ist, wie vorauszusehen war, mit etwa fünfzehn Millionen Stimmen fehlgeschlagen. Ich bin noch immer krank: jetzt mit einer Art von Kopfgrippe, nachdem der Husten etwas nachgelassen hat.

Meine Krankheit (aufgezeichnet in Capri nach den Notizen der Krankenpflegerinnen).

Donnerstag, den 24. Juni, fuhr ich mit dem Mittagszug von Paris nach London, las unterwegs den abscheulichen (mir von Nabokow als geniales Werk empfohlenen) Roman ›Sous le Soleil de Satan‹. Kam um sechs Uhr fünfundvierzig nachmittags in Victoria an, wo ich eine halbe Stunde auf mein Gepäck warten mußte, fuhr dann ins ›Cecil‹, trug meinen Namen ein, wurde auf mein Zimmer geführt, wo ein Fenster offen war; ich hatte es kalt und bekam einen Schüttelfrost. Da das Fenster festgehakt war und ich es nicht herunterziehen konnte, rief ich den Hausdiener, der mit einer Stange kam und das Fenster zumachte. Ich ging dann zum Essen hinunter, hatte aber keinen Appetit, ließ alles stehen und legte mich zu Bett.

Freitag, den 25. Juni, stand ich früh auf, fühlte mich sehr elend, ging aber doch zum Frühstück hinunter, da ich zu Donovan in der City fahren wollte, um mit ihm eine Besprechung zu haben. Ich konnte aber nichts anrühren, beschloß daher, mich wenigstens noch den Vormittag ruhig zu halten, und legte mich wieder zu Bett.

Sonnabend, den 26. Juni, rief ich früh Donovan an, sagte, ich fühlte mich elend und könne ihn heute nicht aufsuchen, auch nicht empfangen, machte aber für Montag eine Stunde aus, wo ich zu ihm kommen wolle. Lag den ganzen Tag zu Bett. Ein rührender alter Kellner (Österreicher) sorgte für mich.

Jetzt verwirren sich allmählich meine Erinnerungen. Den Hotelarzt, Dr. Noel, ließ ich, glaube ich, am Montag, dem 28. Juni, holen. Dieser konstatierte sofort eine Lungenentzündung. Am selben Tage rief Frank Heywood an, wollte zu mir kommen. Ich sagte ihm am Telephon, ich könne leider niemanden empfangen, fühlte mich zu elend, hätte eine Lungenentzündung. Heywood gab diese Nachricht offenbar nach Paris weiter. Abends kam eine Krankenpflegerin, die aber nach einiger Zeit wieder fortging. Die Nacht blieb ich allein.

Dienstag, den 29. Juni, kam morgens meine von da an ständige Krankenpflegerin, Miß Wrigley, und abends zum Nachtdienst meine treue Miß Bostock, die bis Capri bei mir blieb. Noël holte zur Konsultation den Doktor MacDonagh herbei, den er als einen ›großen Arzt‹ bezeichnete und der mir in der Tat wohl das Leben gerettet hat; einen Mann von außerordentlichem Können, gewissenhaft, taktvoll, angenehm, der in aufopferungsvoller Weise mich gepflegt und geheilt hat.

Donnerstag, den 1.Juli, zeigte sich eine innere Darmblutung. Sobald ich sie bemerkte, soweit war ich noch bei Sinnen, sagte ich Noël: die sei für mich tödlich, zwei so schwere Krankheiten wie Lungenentzündung und Darmblutung könne ich nicht überstehen. Ich war dabei sehr ruhig und gar nicht ängstlich, vielleicht, weil ich so schwach war.

Am Freitag, dem 2. Juli, kam Wilma aus Paris im Flugzeug herüber, in Begleitung des englischen Obersten bei der Versailler Militärkommission, George Heywood, der ihr noch spätabends das Flugzeug besorgt hatte. Wilmas Liebe und Pflege, die das Äußerste an Aufopferung waren, verdanke ich neben MacDonaghs Wissenschaft mein Leben. Sie hat zwei Monate lang Tag und Nacht vor meiner Tür gesessen, kaum gegessen oder geschlafen, in steter Sorge und Angst sich aufgerieben, schwerer und tiefer gelitten als ich.

Montag, den 5. Juli, trat die Krisis in meiner Lungenentzündung ein. Die Fiebertemperatur fiel plötzlich um mehrere Grade, äußerste Schwäche trat ein, ich hatte einen Herz-Kollaps. Nurse Wrigley packte mich, legte mich auf den Rücken, flößte mir mit einem Teelöffel Branntwein ein, die Ärzte wurden eiligst herbeigerufen, ich bekam eine Sauerstoffeinspritzung. Diese sowie Sauerstoff-Atmung wurden in den nächsten Tagen mehrmals wiederholt.

Am Donnerstag, dem 8. Juli, kamen aus Berlin im Flugzeug Max und Fritz abends an; aus Paris Christian und Jacques. Dies führte zu einem tragikomischen Zwischenfall. Um elf Uhr nachts, als ich schon meine Sauerstoffspritze und ein Schlafmittel bekommen und angefangen hatte zu ruhen, tat sich die Tür auf, alle Lichter wurden plötzlich grell angedreht, und an meinem Bett erschienen, von Dr. Noël begleitet, vier schwarzgekleidete Männer, die ich erst nach einigen Sekunden als Christian, Jacques, Max und Fritz erkannte. Mir war vorher nichts davon gesagt worden, daß sie nach London kämen. Es war die klassische Sterbebettszene in bester Regie. Ich faßte sie auch gleich als solche auf, begrüßte, so gut ich es bei meiner Schwäche konnte, die vier und flüsterte der Nurse, die sich über mich beugte, zu: »Tell them I am not dying yet.«

Da die Darmblutung anhielt, wurde ich von Tag zu Tag schwächer. An diesem Donnerstag, dem 8. Juli, hatte ich die erste Bluttransfusion bekommen. Eine schöne Einrichtung in London ermöglichte sie ohne Zeitverlust. Die englischen Pfadfinder haben unter Leitung des englischen Roten Kreuzes eine Organisation gebildet, die jederzeit, Tag und Nacht, junge Leute zur sofortigen Bluthergabe bereit hält. Einer dieser jungen Leute wurde an diesem Tage für mich herangeholt. Später, als Wilma dem Leiter einen Dankesbrief schrieb, antwortete er, er habe nur eins bedauert, da dieses das erste Mal seit dem Kriege sei, daß ein Engländer für einen Deutschen sein Blut hergegeben habe, daß nicht er selbst sein Blut habe zur Verfügung stellen können.

Am nächsten Tage, Freitag, dem 9. Juli, wurde, da die Schwäche zunahm, eine zweite Bluttransfusion vorgenommen. Diese verlief unglücklich. Meine Temperatur stieg gleich danach plötzlich wieder auf hundertdrei Grad Fahrenheit, und Noël erklärte Wilma, wenn sie noch um einen Grad steige, könne er für nichts mehr stehen, sie sollte sich auf das Schlimmste gefaßt machen. Diese Krisis ging vorbei, aber meine Schwäche nahm von Tag zu Tag zu.

Am Dienstag, dem 13. Juli, war ich so gut wie tot. MacDonagh erklärte Wilma, es gäbe nur noch ein Mittel, mich zu retten, eine dritte Bluttransfusion, aber es sei auch möglich, daß die Transfusion mich sofort töten werde. So oder so sei die Gefahr gleich groß. Ich könne in einer Stunde tot sein. Er könne nicht die Entscheidung treffen; sie müßte bestimmen, ob das Experiment der Bluttransfusion gewagt werden solle. Nach einer Beratung mit Guseck entschied sie sich für diesen letzten Versuch. Ich bekam die dritte Bluttransfusion, und diese rettete mich: ich kam wieder zu mir und wurde dann über die nächsten Tage mit Sauerstoffspritzen und künstlicher Atmung am Leben erhalten. Die Darmblutung hielt aber an, und am Mittwoch, dem 14. Juli, bekam ich zu ihrer Stillung zum ersten Mal Coagulin Ciba.

Am Donnerstag, dem 15.Juli, nachdem das Schlimmste schon vorbei war, kam aus Berlin der Direktor der Charité, von Wilma auf MacDonaghs Rat zur Konsultation herbeigerufen, Geheimrat Leschke, in London an, blieb dreieinhalb Tage und liquidierte dafür dreihundertfünfzig Pfund (siebentausend Mark). Auf Vorhaltung von Guseck sagte er, er werde sonst nur zu Königen und Premierministern gerufen, und diese zahlten soviel; er könne keine Ausnahme machen. Leschke saß viel an meinem Bett, sagte, er wolle in Berlin Stresemann sprechen, ich müsse im September mit nach Genf usw.; im übrigen bekräftigte er nur MacDonagh in seiner Heilmethode und fuhr am Achtzehnten, ohne viel geleistet zu haben, mit seinem Honorar wieder ab.

Da ich nachts sehr unruhig war und die Schlaflosigkeit meine Schwäche noch steigerte, bekam ich am Dienstag, dem 20. Juli, zehn Uhr, die erste Morphiumspritze (Heroin). Von jetzt an bis in den September in Broadstairs stand ich dauernd und in steigendem Maße unter Morphium. Die Wirkungen steigerten sich allmählich zu vollkommenen Sinnesstörungen und halber Verrücktheit. Ich bildete mir Vorgänge ein, die nie stattgefunden hatten, bekam Weinkrämpfe, wenn ich merkte, daß man sie mir nicht glaubte, wurde hochgradig nervös und zänkisch, und doch hielt ich es nachts ohne Morphium nicht mehr aus. Vor allem, weil ich nachts die furchtbarsten Muskelschmerzen in den Oberschenkeln hatte, die, wenn ich kein Heroin bekam, die Nachtstunden zu einer Hölle für mich machten. Alle andren Schlafmittel, die auf Rat von Leschke versucht wurden, waren völlig wirkungslos und machten mich nur noch nervöser. Die Darmblutung ließ jetzt allmählich unter der Wirkung des Coagulins nach, und am Sonnabend, dem 24. Juli, begann eine neue Darmbehandlung durch Miß Willett.

Die nächsten Wochen waren eine Zeit langsamer Besserung unter großen Schmerzen, die eigentliche Zeit meiner großen Schmerzen, während das lebensgefährliche Stadium meiner Krankheit, bis auf die Hustenanfälle, verhältnismäßig schmerzlos gewesen war. Wenn ich in der ersten Hälfte Juli an meiner Lungenentzündung und Darmblutung gestorben wäre, wäre ich fast schmerzlos dahingegangen, einfach eingeschlafen; wenn man dem Tode so nahe gewesen ist, verliert er einen großen Teil seiner Schrecken, man lernt ihn als sanften Tröster erkennen. Dagegen litt ich jetzt, wo es mir besser ging, große Qualen, namentlich von den Muskelschmerzen in den Beinen und den heftigen Hustenanfällen, die oft stundenlang mich fast ohne Pause schüttelten. Daher wurde zur Heilung der Lunge jetzt der Versuch gemacht, mich mit meinen eigenen Giftstoffen zu impfen. Aus meinem Sputum wurden einige Impfstoffe hergestellt und am Mittwoch, dem 18. August, mit diesen Impfungen begonnen. Meine Kräfte nahmen langsam zu, und am Montag, dem 23. August, war ich so weit, daß ich im Krankenauto nach Broadstairs in ein Genesungsheim transportiert werden konnte.

Das Wetter war ungewöhnlich schön, ich hatte eine geschützte Terrasse nach der See zu vor meinem Zimmer, und hier konnte ich gleich von den ersten Tagen an jeden Tag einige Stunden in der Sonne liegen. Hier machte ich nach einigen Tagen auch meine ersten Gehversuche, zunächst im Hause, dann langsam die Treppe hinunter und wieder herauf und schließlich im Garten und bis an den Strand. Man weiß nicht, wenn man nicht lange schwerkrank im Bett gelegen hat, welche große Kraft dazu gehört, um ein paar Schritte zu gehen; eine verbissene Energie gehörte für mich dazu, um die ersten paar Male von meinem Bett bis auf den ersten Treppenabsatz hinunter- und wieder heraufzugehen. Wilma und Guseck waren mit in Broadstairs und meine treue Miß Bostock, die jetzt Tagesdienst hat, während eine sehr lustige und noch junge Krankenschwester, Miß Merishead, den Nachtdienst übernahm.

Am Dienstag, dem 14. September, fuhr Wilma wieder nach Frankreich zurück. Ich blieb bis zum Freitag, dem 1. Oktober, in Broadstairs zurück unter der Behandlung des ausgezeichneten Dr. Raven, eines jungen, liebenswürdigen, sehr gewissenhaften und fähigen Arztes. Die Impfungen wurden fortgesetzt. Am Freitag, dem 17. September, machte Raven mir eine stärkere Impfung, die zur Folge hatte, daß ich die Nacht, von Mitternacht bis fünf Uhr morgens, den schlimmsten Hustenanfall meiner Krankheit hatte. Ich hustete vier bis fünf Stunden ohne Unterbrechung, Blut, kleine Gewebestückchen wurden ausgehustet, mein Brustkorb war wie zerrissen von der Qual und Anstrengung; ich wurde in einem Sessel hochgesetzt, bekam Morphium. Nichts half. Ich dachte, ich müßte sterben. Schließlich schlief ich gegen fünf vor Erschöpfung ein. Als ich aufwachte, war der Husten vorbei. Ich habe überhaupt nie wieder gehustet. Als Raven kam, gab er zu, daß die Dosis Impfe zu stark gewesen sei, aber ich hätte offenbar den Rest Lungenentzündung durch den heftigen Husten ausgehustet, die kranke Stelle unten links in der Lunge sei kaum noch aufzufinden. Meine wirkliche Rekonvaleszenz begann mit diesem Tage.

Also am 1. Oktober (Freitag) fuhr ich mit Guseck und Miß Bostock bei schönstem Wetter und schon bedeutend kräftiger nach London zurück ins ›Cecil‹, wo ich eine hübsche Suite von Zimmern an der Themse nahm.

Vom Freitag, dem 1., bis Dienstag, dem 5. Oktober, blieben wir in London. Ich konnte einige Schritte auf der Straße gehen und einige Besorgungen machen, aber unter erschöpfender Anstrengung. Beim Anprobieren von Anzügen bei Cavanagh fiel ich vor Erschöpfung fast um. Ein Film, den ich zu sehen wünschte, ein englischer Propagandafilm ›Mons‹, wurde für mich zu einer übermäßigen Anstrengung.

Am Dienstag, dem 5. Oktober, nachmittags fuhren wir, Guseck und Bostock, ab nach Southampton, um uns auf der ›Homeric‹ nach Frankreich einzuschiffen. Die Nacht verbrachten wir in Southampton. Am Mittwoch, dem 6. Oktober, fuhren wir bei herrlichem Herbstwetter auf der ›Homeric‹ von Southampton nach Cherbourg, wo mir Wilma auf dem Tender entgegenkam mit Jacques und Henry Villard von der ›Nation‹, der auf der ›Homeric‹ nach New York weiterfuhr. Ein junger, schöner deutscher Polizeihund begleitete ihn. Wir schliefen in Cherbourg und fuhren am nächsten Tage in Wilmas Auto von Cherbourg nach Deauville in Jacques' Villa.

Vom 6. bis Dienstag, dem 12. Oktober, blieb ich in Deauville, das völlig ausgestorben, aber bei schönem, sonnigem Wetter einen sonderbaren Eindruck machte. Wir fuhren im Auto in der Normandie herum und auch zu meinem lieben Sainte Honorine, das unverändert, aber öde und geschlossen in seinem schönen Park lag. Viele traurige Erinnerungen stiegen auf an unsere arme Mutter, mit der ich hier die Sommer vor dem Kriege verbrachte. Es lag wie die Ruine eines vergangenen Lebens tot und leer da.

Am Dienstag, dem 12. Oktober, fuhr ich mit Wilma und Bostock im Auto nach Rouen, um Géraud in seinem Landerziehungsheim bei Clères zu besuchen. Am 13. Oktober fuhren wir nach Clères und sahen Géraud gesund und munter unter seinen kleinen Kameraden in dem wunderschönen Park seiner Schule.

Am Donnerstag, dem 14. Oktober, fuhren wir von Rouen nach Paris, wo ich bis zum 18. Oktober blieb. Ich sah dort unter andren Gustav Hasperg und Colin, war viel bei Wilma, aber immer noch recht schwach. Am Abend des 18. Oktober fuhren wir, Wilma, Bostock und ich, mit dem Simplon-Expreß nach Brissago ab.

Am Dienstag, dem 19. Oktober, kamen wir früh in Stresa an, wo uns Goertz in Empfang nahm, und fuhren mit ihm im Auto über Pallanza nach Brissago.

Vom 19. Oktober bis Freitag, dem 29. Oktober, blieben wir in Brissago, wo aber kaltes, regnerisches Wetter einsetzte. Wilma fuhr daher am Sechsundzwanzigsten nach Paris zurück, wir, Goertz, Bostock und ich, am Neunundzwanzigsten nach Genua, um uns nach Neapel einzuschiffen.

Am 30. Oktober mittags schifften wir uns auf dem Dampfer der Navigazione Generale Italiana ›Colombo‹ nach Neapel ein. Stürmische Fahrt, mittelmäßiges Schiff. Einklassentypus, so daß wir mit recht unsauberen italienischen Auswanderern, die fürchterlich seekrank wurden, zusammen waren.

Am Montag, dem 1. November, kamen wir in Neapel an und blieben dort bis zum Sechsten. Ich war einmal mit Max in Pompeji, was mich aber sehr anstrengte.

Am Sonnabend, dem 6. November, fuhren wir, Max, Bostock und ich, nach Capri.

Vom 6. bis Sonntag, dem 14. November, mit Goertz und Nurse Bostock im ›Quisisana‹ in Capri. Am Dreizehnten kam Guseck an, am Vierzehnten fuhren wir alle zusammen nach Neapel, um Goertz, der nach Berlin zurückreiste, und Nurse Bostock, die über Paris nach London fuhr, fortzubringen.

Am Montag, dem 15. November, verabschiedete ich mich am Bahnhof in Neapel von meiner treuen Bostock. Guseck und ich fuhren am nächsten Tag nach Capri zurück und wohnten dort zunächst wieder im ›Quisisana‹. Ich suchte aber eine Villa und fand schließlich ein schönes, geräumiges, hübsch im englisch-italienischen Stil der Jahrhundertwende eingerichtetes Haus auf der Höhe mit einem herrlichen Blick auf beide Meere, Golf und Südmeer, Neapel, Vesuv, Sorrent und die Kalabrische Küste bis über Paestum hinaus: die ›Ca' del Sole‹, einem Kapitän Borselli (Faschist und Vertrauensmann von Mussolini, der ihn nach Amerika als Propagandisten entsendet) gehörig. Ich mietete diese von der Signora Borselli, einer Australierin, für dreitausendfünfhundert Lire monatlich von Mitte Dezember an.

Am Montag, dem 6. Dezember, fuhr ich mit Guseck nach Sorrent und übernachtete im ›Victoria‹. Am nächsten Tage, dem 7. Dezember, fuhren wir im Auto über die Berge nach Positano hinüber, von dort nach Amalfi und schließlich nach Ravello, wo wir im ausgezeichneten Hotel Bella Vista übernachteten. Am Mittwoch, dem 8. Dezember, besuchten wir die herrlichen Gärten von Ravello, hoch über dem Meer schwebende Paradiese, die nacheinander von den Byzantinern, Sarazenen und frühmittelalterlichen Italienern angelegt und in wirrer Schönheit erhalten worden sind. Von ihnen scheint Richard Wagner seine Vorstellung von Klingsors Zaubergarten entnommen zu haben. Eine Ansichtskarte mit einer eigenhändigen Bemerkung von ihm, die das ausspricht, wird im Palazzo Ruffolo verkauft.

Am Donnerstag, dem 9. Dezember, fuhren wir im Auto weiter über Salerno nach Paestum und suchten auf dem Rückweg von Cava dei Tirreni aus am 10. Dezember in Vietri den begabten deutschen Keramiker Richard Dölker (Pankok-Schüler) auf: eine Art von jungem Sonderling, der mit Hirten und Briganten in Sardinien nach dem Kriege gelebt hat und jetzt in Vietri ein schwunghaftes Geschäft mit der von ihm fabrizierten ›italienischen Volkskunst‹ (›Made in Germany‹) betreibt. Er hat Talent, Witz und Erfindungsgabe. Er heißt in Vietri nur ›Riccardo‹ oder ›Riccardo il Germanese‹, unter welchen Namen ihn dort jeder kennt. Ein schlauer Schwabe, der sich ein warmes Nest hier geschaffen hat, dessen Fortbestand jetzt allerdings, wie er sagte, von Mussolinis Finanzern bedroht wird.

Am Freitag, dem 10. Dezember, kamen wir abends wieder in Neapel an und blieben dort bis zum 14. Dezember. Am Dreizehnten abends besuchten wir das Konzert eines jungen, von d'Annunzio als Wunderkind warm empfohlenen Violonisten, Gimpel, der in der Tat wundervoll spielte, aber vor einem leeren Hause.

Am Montag, dem 13. Dezember, suchte ich in Neapel auf Rat meines englischen Arztes in Capri, Doktor Pemberton, den deutschen Augenarzt Praun aus München auf. Von den ersten Tagen meiner Krankheit an habe ich an Sehstörungen des linken Auges gelitten. Ich sprach davon schon zu Leschke in London. Damals sah ich mit dem linken Auge doppelt und dreifach, hinter Leschke, wenn er links von meinem Bette stand, zwei oder drei andre Gestalten, von denen ich, wie ich ihm sagte, wußte, daß sie nicht da seien, die ich aber als Halluzination nicht auslöschen konnte. Weder Leschke noch MacDonagh oder Noël achteten auf meine Aussagen. Schließlich bekam ich Pemberton dazu, eine Untersuchung anzustellen, wobei sich herausstellte, daß ein Teil des Sehfeldes des linken Auges verdunkelt, das Auge in der unteren Hälfte erblindet war. Pemberton riet mir, zu Praun zu gehen. Praun stellte ein Skotom im linken Auge fest, verbot mir Lesen und Schreiben und verordnete Strychnin-Einspritzungen in die linke Schläfe. Als Ursache nahm er die schweren Blutverluste infolge meiner Darmblutung an.

Am Dienstag, dem 14. Dezember, fuhr ich mit Guseck wieder zurück nach Capri und zog in die Ca' del Sole ein.

Am 16. Dezember fuhr Guseck aus Neapel nach Berlin zurück, ich blieb allein in Capri bis zum Donnerstag, dem 23. Dezember, wo Musch Richter zum Besuch aus Deutschland ankam.

Weihnachtsabend feierten Musch und ich allein in der Ca' del Sole. Zu Silvester lud ich Walter Hermans, die hier bei Pagano sind, mit einem jungen Baron Malsen, anscheinend dem Verlobten der jüngsten Tochter Herman, ein. Hübsche, stimmungsvolle Feier in der Ca' del Sole.


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