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1933

Berlin. 25. Januar 1933. Mittwoch

Diner bei Hilferdings. Brüning, Oscar Meyers, Mrs. Morgan, Schaeffer (von Ullsteins). Brüning machte auf mich einen ganz andren Eindruck, als ich nach den Bildern und Karikaturen erwartet hatte: viel jugendlicher, frischer, ja fast lustig. Seine Augen sind ›pleins de malice‹. Er gab sich auffallende Mühe, mir zu gefallen und gegen mich liebenswürdig zu sein. Wir unterhielten uns lange über die Revolutionstage, wo er in Aachen-Eupen war mit einem Eisenbahntransport. Er erzählte sehr lebendig davon. Nachher fuhr er mich in seinem Wagen nach Hause. Er sagte, er würde sich freuen, wenn wir uns in den nächsten Tagen wiedersehen könnten; er würde anrufen.

Nach Tisch mit Schaeffer über meine Memoiren. Er sagte: er wünsche sehr, sie in Verlag zu nehmen. Hertz sei jetzt auch in seinem Widerstand gegen ein zweibändiges Werk schwächer geworden; nach dem ersten Schreck erhole er sich langsam. Ullsteins kämen mir materiell sehr weit entgegen, weiter als irgend jemandem außer Bülow und Stresemann, wobei im Falle Stresemann Umstände mitgesprochen hätten, die außerhalb der kaufmännischen Kalkulation lagen (Unterstützung der Familie).

In Sachen Bülow sagte er, daß der Staatssekretär von Ullsteins den nachträglichen vollständigen Abdruck der gestrichenen Stellen in den Memoiren verlange. Er habe gerade heute wieder mit ihm darüber verhandelt und diese Forderung erhoben. Alle gestrichenen Stellen sollten in einem Sonderdruck zusammengestellt und den Beziehern der Memoiren gratis zugestellt werden. Da stünden Stellen wie, daß es lächerlich sei, Deutschlands Schuld am Weltkrieg zu bestreiten, oder daß der Kaiser »ein Lügner und Betrüger« sei und ähnliches. Ich warnte Schaeffer, daß, wenn sich solche Stellen über Engländer (zum Beispiel Lonsdale) darunter fänden, die Sache recht kostspielig werden könnte; sogar für Ullsteins keine Kleinigkeit. Er solle sich jedenfalls vom Bülowschen Familienverband eine Rückversicherung verschaffen.

Schaeffer sagte, er möchte mir diese ganzen Stellen in den nächsten Tagen vorlegen, damit ich ihm meine Ansicht sage. Bülow, den er darauf aufmerksam machte, daß ihm als Staatssekretär doch unmöglich daran liegen könne, von seinem Onkel bestätigen zu lassen, daß Deutschland am Weltkrieg schuld sei, und daß das seine Stellung im Amt erschüttern könne, habe geantwortet, das sei ihm alles ganz gleichgültig, er bestehe darauf, daß die gestrichenen Stellen restlos veröffentlicht würden.

Berlin. 28. Januar 1933. Sonnabend

Schleicher gestürzt, Papen mit Verhandlungen zur Regierungsbildung betraut. Er spielt jetzt unzweideutig die Rolle eines Günstlings des Präsidenten, da er ja sonst nichts hinter sich und fast das ganze Volk gegen sich hat. Mich überfällt ein Gefühl der Übelkeit, wenn ich denke, daß wir wieder von diesem notorischen Hammel und Vabanquespieler regiert werden sollen, noch dazu scheinbar als Außenminister, als welcher er alles noch vorhandene, mühsam gekittete Porzellan wieder zerteppern wird. Gravierender als alles übrige sind die Hintergründe dieser Intrige, die den im Augenblick völlig unnötigen Kanzlersturz herbeigeführt hat: der Osthilfeskandal, die riesige Korruption in Ostelbien, die gerade aufgedeckt werden sollte; Schleicher war den korrumpierten Granden zu lasch in der Vertuschung ihrer Schweinereien; daher mußte schnell wieder dem alten Mann sein Liebling präsentiert werden, der robuster in solchen Sachen vorzugehen wagen wird. Das Ganze ist eine Mischung von Korruption, Hintertreppe und Günstlingswirtschaft, die an die übelsten Zeiten der absoluten Monarchie erinnert. Beispiellos ist nur, wie schnell sich alle diese Giftpilze im Schatten der Diktatur dieses Mal entwickelt haben. Vorauszusehen ist, daß, wenn das kommende Kabinett Papen oder Hitler oder Schacht fällt, es den Präsidenten mit in seinen Sturz hineinreißen wird.

Berlin. 30. Januar 1933. Montag

Um zwei Uhr kam Max zum Frühstück, der die Nachricht von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler mitbrachte. Die Verblüffung war groß; ich hatte diese Lösung, und noch dazu so schnell, nicht erwartet. Unten, bei unserem Nazi-Portier, brach sofort ein Überschwang von Festesstimmung aus.

Abends war ich Gast von Seeckt, Simons und Solf im »Kaiserhof« bei einem Essen mit anschließendem Vortrag von Coudenhove über »Deutschlands europäische Sendung«, die Coudenhove natürlich in der Verwirklichung seiner Pan-Europa-Idee sieht. Was mich stört, ist, daß er sein Pan-Europa als Abwehr gegen Sowjet-Rußland errichten will und so den Imperialisten und Propagandisten eines Vernichtungskrieges gegen die Bolschewiki in die Hände spielt. Er erwähnte auch ausdrücklich, daß Churchill und Amery seine Pan-Europa-Idee unterstützen.

Hoetzsch erwiderte ihm sehr richtig in der Debatte, daß die Idee, Westeuropa gegen Rußland auszuspielen, bestenfalls die älteren Europäer, die über Fünfzig seien, für sich gewinnen könne; daß aber die europäische Jugend schon viel zu sehr mit kollektivistischen und sozialistischen Ideen erfüllt sei (auch die rechtsstehende), um da mitzugehen. Überhaupt sind Coudenhoves Gedankengänge logisch zwingend, aber nicht überzeugend, weil sie von einem viel zu engen und einseitig gesiebten Tatsachenmaterial ausgehen. Aber er spricht klar und menschlich sympathisch; un homme de coeur. Ich saß an einem kleinen Tisch zwischen ihm und dem berühmten Herrn v. Stauß, früher von der Deutschen Bank, der sich sehr dicke tat mit seinen intimen Beziehungen zu Hitler. Dieser habe ihm versprochen, er werde ihm jeden Wunsch, den er ihm zur Kenntnis bringe, erfüllen. Ich erlaubte mir den boshaften Scherz, ihm zu sagen, ich habe mich gefreut, vor wenigen Tagen von jemandem, der es wissen könnte, zu hören, daß Otto Wolff Hitler seine Schulden bezahlt habe; was Stauß sehr ungnädig und mit rotem Kopf aufnahm und mit einem ärgerlichen Gemurmel bestritt. An unserem Tisch präsidierte der frühere Reichsgerichtspräsident Simons. Es wurde erzählt, daß es bereits in der ersten Kabinettssitzung heute vormittag zu einem Krach zwischen Hugenberg und Hitler gekommen sei. Seeckt lud mich ein, seine Frau, die jeden Montag empfange, zu besuchen.

Berlin ist heute nacht in einer reinen Faschingsstimmung. SA- und SS-Trupps sowie uniformierter Stahlhelm durchziehen die Straßen, auf den Bürgersteigen stauen sich die Zuschauer. Im und um den ›Kaiserhof‹ tobte ein wahrer Karneval; uniformierte SS bildete vor dem Haupteingang und in der Halle Spalier, auf den Gängen patrouillierten SA- und SS-Leute; als wir nach dem Vortrag herauskamen, defilierte ein endloser SA-Zug im Stechschritt an irgendwelchen Prominenten (zweite Garnitur, Hitler selbst war in der Reichskanzlei) vorbei, die sich vor dem Hauptportal aufgebaut hatten und ihn mit dem Faschistengruß grüßten; eine richtige Parade. Der ganze Platz gepfropft voll von Gaffern.

Ich fuhr mit S. nach dem Potsdamer Platz zum Fürstenberg-Bräu. Auch über den Potsdamer Platz marschierten fortwährend kreuz und quer SA-Trupps in militärischen Formationen. Den Höhepunkt erreichte die Karnevalsstimmung aber erst im Bierhaus. Wir saßen zu fünfen mit S. an einem Tisch; da gesellten sich plötzlich zwei blonde Nutten zu uns, die S.s Einladung, sich zu uns zu setzen, prompt annahmen, so daß wir dann den Rest des Abends, bis zwei Uhr, mit diesen zwei blonden Kindern verbrachten. Ich hatte zuerst den Eindruck, daß die beiden Dämchen alte Bekannte von S. seien, was sich allerdings später als unzutreffend herausstellte. Denn er wurde mit dem Fortschreiten der Zeit und weil die beiden gar keine Anstalten machten, sich wieder zu entfernen, sondern im Gegenteil mit gutem Appetit sich von ihm bewirten ließen, immer verlegener, während sie ihm das ›Du‹ anboten und ihn ›Großpapachen‹ nannten. Es war ein würdiger und in die allgemeine Stimmung hineinpassender Abschluß dieses ›historischen‹ Tages.

Berlin. 2. Februar 1933. Donnerstag

Der Reichstag ist aufgelöst; die Neuwahlen sollen am 5. März stattfinden. Die Regierung hat die kommunistische Demonstration am Freitag und die SPD-Demonstration im Lustgarten am Sonntag verboten, dagegen dem gestern in einem Straßenkrawall erschossenen SA-Führer Maikowski ein Staatsbegräbnis im Dom(!!) bewilligt! Propaganda mit der Leiche.

Berlin. 5. Februar 1933. Sonntag

Dem ›Staatsbegräbnis‹ für den Totschläger Maikowski von der SA im Berliner Dom (in dem die letzte Aufbahrung die des alten Kaisers war) haben heute mittag der verflossene Kronprinz, der Reichskanzler Hitler usw. beigewohnt. Diese groteske Feier ist im übrigen ruhig verlaufen.

Berlin. 6. Februar 1933. Montag

Mittags Besprechung mit dem alten, tauben Sam Fischer über meine Memoiren. Er hat das erste Kapitel gelesen und begrüßte mich salbungsvoll, indem er mir die Hand drückte, mit den Worten: »Ich gratuliere Ihnen, Sie sind ein Dichter!« Aber er will von Verhandlungen nichts wissen, solange ich noch mit Ullsteins verhandele.

Berlin-Weimar. 8. Februar 1933. Mittwoch

Vormittags rief Frau Fischer wegen der Memoiren an. Sie habe den letzten Teil (des ersten Kapitels, Mamas Tod) ›unter bitteren Tränen‹ gelesen. Dieser ganze erste Teil sei ein kleines geschlossenes Kunstwerk, das ihr Mann gern als solches in seiner ›Rundschau‹ abdrucken möchte. Kaum hatte sie angehängt, rief Hugo Simon in derselben Angelegenheit an und plädierte für Sam Fischer.

Berlin. 19. Februar 1933. Sonntag

Kongreß ›Das Freie Wort‹ bei Kroll im großen Festsaal, der ganz voll war. Ich war, ohne mein Wissen, bei der vorbereitenden Versammlung gestern ins Präsidium gewählt worden; saß zwischen dem alten Tönnies und Georg Bernhard. Polizeioberst Lange führte den Vorsitz. Die Versammlung verlief zunächst ruhig. Etwas bewegter wurde sie erst, als der preußische Kultusminister Grimme außerhalb des Programms auf der Rednertribüne erschien, mitteilte, daß die Kundgebung des ›Kulturbundes‹ in der Volksbühne vom Polizeipräsidium unterbrochen worden sei, indem Levetzow zur gleichen Zeit ein Platzkonzert der SA auf dem Bülowplatz genehmigt und deshalb diesen abgesperrt habe, so daß das Publikum keinen Zutritt zur Volksbühne hatte. Laute Pfuirufe!

Dann verlas Grimme eine Botschaft, die Thomas Mann für die Kulturbund-Kundgebung bestimmt hatte und die mit starkem Gefühl für die deutsche Republik eintrat, ihr dabei aber nicht den Vorwurf ersparte, durch ihre Gutmütigkeit den jetzigen Zustand herbeigeführt zu haben. Dieser Passus wurde von der Versammlung am stärksten beklatscht. Dann hielt der alte Tönnies eine geschichtspolitische Vorlesung in seinen Bart hinein, die die Versammlung wieder einschläferte, obwohl er privatim mir gegenüber mit dem stärksten Temperament und den schärfsten Ausdrücken gegen Hitler losgezogen war: er nenne ihn nur H. W. und erläuterte die beiden Buchstaben als ›Hans Wurst‹. Er sei der unwissendste junge Mann, der ihm in seiner Laufbahn vorgekommen sei.

Nach Tönnies ergriff Heine das Wort und legte gleich mit den schärfsten Ausdrücken los, mit beißendem Hohn und ätzender Ironie. Ich sagte Bernhard, jetzt werde die Versammlung aufgelöst werden. Und richtig: Als Heine davon sprach, daß die neuerliche Bekehrung der Nazis zum Christentum vielleicht darauf zurückzuführen sei, daß in Palästina in einem zweitausend Jahre alten Grab kürzlich ein Hakenkreuz gefunden worden sei, trat der Polizeioffizier an Lange heran und erklärte die Versammlung für aufgelöst. Laute Rufe: »Weiterreden, weiterreden!« ertönten, aber Lange löste trotzdem unter großem Lärm auf. Dann wurde allerseits ›Freiheit‹ und von einigen ›Rot Front!‹ gerufen, und ein großer Teil der Versammlung sang die ›Internationale‹ und ›Brüder, zur Freiheit‹.

Während des Gesanges leerte sich allmählich der Saal. Es lag in der Situation ein starkes, mitreißendes Pathos. Viele hatten sicher ebenso wie ich das Gefühl, daß dieses für lange Zeit das letzte Mal sei, wo Intellektuelle in Berlin öffentlich für die Freiheit eintreten könnten. – Als zu Hause bei mir die Auflösung bekannt wurde, kam die Portiersfrau Schlöttke (er ist SA-Mann) auf den Hof, drohte mit der Faust nach oben und schrie fast hysterisch: »Das geschieht denen ganz recht. Dem Verbrecherpack da oben muß noch ganz anders geholfen werden.«

Berlin. 20. Februar 1933. Montag

Wieland Herzfelde bat mich dringend zu sprechen und erzählte mir, daß nach unbezweifelbaren Informationen die Nazis ein gestelltes Attentat auf Hitler planten, das das Signal zu einem allgemeinen Blutbad geben solle. Seine Informationen stammten aus der SA in Dortmund und aus einem abgehörten Gespräch zwischen Hitler selbst und Röhm. Die einzige Möglichkeit, dieses Verbrechen noch zu verhindern, sei, diese Absicht möglichst publik zu machen, und zwar, da das in der deutschen Presse unmöglich sei, in der ausländischen. Vielleicht würden sie dann doch davor zurückschrecken.

Berlin. 22. Februar 1933. Mittwoch

Abegg frühstückte bei mir mit Goertz. Er bekräftigte seine Voraussage eines Blutbades, einer Bartholomäus-Nacht; selbst Hitler könne sie nicht mehr aufhalten, denn er habe sonst nichts seinen Anhängern zu bieten. Er sei in der Lage eines Dompteurs, der mit zehn hungrigen Löwen in einen Käfig gesperrt sei. Wenn er ihnen kein Blut biete, werde er selbst von ihnen zerfleischt. Er zittere, gehe nur noch von zwölf schweren Jungens beschirmt. Göring und Levetzow, die die extremen Elemente verträten, seien ihm feindlich gesonnen und würden ihn im Falle einer Palastrevolution nicht schützen. Levetzow habe geäußert, er würde selbst den alten Hindenburg verhaften lassen, wenn er sich ihm entgegenstellte. Papen und Hugenberg hätten große Angst vor diesen extremen Elementen. Sie hätten dem alten Mann eine Einladung der bayrischen Volkspartei nach Bayern über die Wahltage verschafft, um ihn aus Berlin zu entfernen, wo er nicht mehr sicher sei.

Abegg bestätigte die Nachricht von der Absicht der Nazis, ein Attentat auf Hitler zu simulieren. Lobe beabsichtige, die Sache in den nächsten Tagen in einer Rede publik zu machen. Aber auch das werde nichts mehr nützen. Glücklicherweise werde der Spuk nicht lange dauern, weil die Nazis und Papen-Hugenberg aneinandergeraten müßten. Er schätze etwa sechs Wochen, spätestens aber bis in den Juli. Dann werde aber Abrechnung gehalten werden; nicht wie 1918! Mich warnte Abegg noch einmal eindringlich; ich solle ja vor den Wahlen fortgehen. Es handele sich jetzt nur darum, die nächsten Wochen zu überleben.

Mein Diener Friedrich bestätigte indirekt und unabsichtlich die Warnungen Abeggs. Er kam gestern zu mir und bat um Urlaub, weil sein Vater, ein alter Beamter a. D. und Nazi in Pankow, ihn dringend zu sprechen wünsche. Heute kam er und sagte, er müsse von mir fort; sein Vater habe das ihm absolut befohlen, weil in der nächsten Zeit ›Unangenehmes‹ bei mir im Hause zu erwarten sei und er nicht wünsche, daß sein Sohn darein verwickelt würde. Der Junge war kreidebleich. Ich sagte ihm, er könne gehen, wenn er Angst habe; ich wolle niemanden in Gefahr bringen. Aber vielleicht werde er es später einmal bereuen, seinen Herrn in einer kritischen Stunde verlassen zu haben. Schließlich sagte er, er wolle sich die Sache noch überlegen und mir morgen Antwort geben.

Berlin. 23. Februar 1933. Donnerstag

Die Revision der französischen Übersetzung meines Rathenau-Buches beendet und nach Paris abgeschickt. Gott sei Dank, unter den Umständen! Ich habe zehn Seiten ganz neu geschrieben und viele Teile, wie den Bericht über die Genua-Konferenz, zusammengezogen und präzisiert.

Tee für den Fürsten Rohan bei Münchhausens. Er und sein Bruder Karl Anton, Ceruttis, Margeries, Friedberg (vom Auswärtigen Amt), Nostitzens, Wolde usw. Lange mit Jenny de Margerie über die Lage. Alfred Nostitz sagt mir, daß er nach Erkundigungen, die er in Nazi-Kreisen eingezogen hat, meint, es sei doch doch etwas passieren. Karl Anton Rohan bekräftigte, was er mir neulich gesagt hat, daß Hitler nach den Wahlen ganz nach links gehen und daß es in der Tat in zehn Jahren keine Marxisten mehr in Deutschland geben werde. Letzteres bezweifelte ich höflichst.

Abends bei Hugo Simons gegessen. Sie schicken ihre Tochter fort, bleiben aber selber hier, weil Simon seine Angestellten nicht verlassen will. – Mittags bei Sam Fischer und den Vertrag mit ihm abgeschlossen, nachdem ich vergeblich versucht hatte, gestern und heute Hertz telephonisch zu erreichen. Die alten Fischers fahren nach Rapallo. Bermann schwankt noch.

Berlin. 27. Februar 1933. Montag

Ein historischer Tag ersten Ranges.Das geplante Attentat hat heute stattgefunden, aber nicht auf Hitler, sondern auf das Reichstagsgebäude. Als ich mit Max allein bei Lauer am Kurfürstendamm aß, kam gegen zehn der alte Lauer und sagte uns, er habe eben die Nachricht empfangen, der Reichstag brenne! Was daraus folgen wird, ist nicht abzusehen. – Nachmittags bin ich bei Hilferding gewesen. Er teilte mir streng vertraulich und ›nur für mich‹ mit, daß Schleicher, der weiterhin im Reichswehrministerium wohnt, äußerst aktiv gegen die jetzige Regierung wirke. Hilferding weiß von dem geplanten Blutbad und sagte, daß er selbst mit Gerlach und Braun unter den ersten fünf Namen auf der Proskriptionsliste stehe. Er geht nach München, da es keinen Zweck hat, sich nutzlos in Berlin abschlachten zu lassen.

Berlin. 28. Februar 1933. Dienstag

Beim Reichstagsbrand ist als Brandstifter ein armer Hascher, ein angeblicher holländischer Kommunist, Marinus van der Lubbe, festgenommen worden und hat prompt ausgesagt, er sei von kommunistischen Abgeordneten zu der Tat angestiftet worden; auch mit der SPD habe er in Verbindung gestanden. Dieser etwa Zwanzigjährige soll an mehr als dreißig Stellen im Reichstag Brandmaterial verteilt und angesteckt haben, ohne daß seine Anwesenheit oder Tätigkeit oder die Hereinschaffung dieses massenhaften Materials von irgend jemandem bemerkt worden sei. Schließlich ist er der Schupo direkt in die Arme gelaufen, nachdem er vorsorglich alle seine Kleidungsstücke bis auf seine Hose ausgezogen und im Reichstag deponiert hatte, damit ja nicht durch irgendein Versehen seine Identifizierung mißglücken könnte. Er soll sogar mit der Fackel aus dem Fenster gewinkt haben.

Göring hat sofort die ganze Kommunistische Partei des Verbrechens für schuldig und die SPD für mindestens verdächtig erklärt und diese vom Himmel gebotene, einzigartig günstige Gelegenheit ergriffen, um die ganze kommunistische Reichstagsfraktion, Hunderte oder gar Tausende von Kommunisten in ganz Deutschland verhaften zu lassen und die ganze kommunistische Presse auf vier Wochen, die ganze sozialdemokratische auf vierzehn Tage zu verbieten. Die Aktion mit Verhaftungen, Verboten, Haussuchungen, Schließung von Verkehrslokalen geht munter ins Unabsehbare weiter. Göring hält dazu blutrünstige Reden, die stark nach ›Haltet den Dieb‹ klingen.

Alles spricht dafür, daß dieses so überaus opportune Attentat mit den anschließenden Verhaftungen usw. auf ein Kompromiß zwischen den beiden Richtungen in der Nazi-Partei zurückzuführen ist, wonach die Extremen auf das ›Attentat‹ auf Hitler nebst anschließendem Blutbad verzichteten gegen die für Hitler weniger gefährliche und ihm schon deshalb sympathischere Brandstiftung im Reichstag mit anschließender Kaltstellung der KPD- und SPD-Führer im Gefängnis; diese Kombination war für beide Flügel befriedigend und, nachdem die älteren Pläne aller Welt bekanntgeworden waren, auch ratsamer. Niemand, den ich gesprochen habe, glaubt an eine ›kommunistische Brandstiftung‹. Nebenbei mußte die Zerstörung des verhaßten Reichstages den NSDAP-Leuten auch, abgesehen von jedem politischen Zweck, sympathisch sein.

Nachmittags, als ich gerade auf einen Tag nach Weimar verreisen wollte, kam ein junger Mann, der mich dringend im Auftrage von Plievier sprechen wollte. Er brachte einen Brief von Plievier, der mich bat, ihn zu empfangen. Der junge Mensch, der kreidebleich war, erzählte, Plievier wohne bei ihm; heute früh um sechs seien plötzlich SA-Leute gekommen, um Plievier zu holen. Als sie ihn nicht antrafen, hätten sie die ganze Wohnung zerstört, einen jungen Menschen, der im Bett lag und den sie für Plievier hielten, schrecklich verprügelt und dabei immerfort gebrüllt, an dem Schwein Plievier würden sie sich doch noch rächen. Plievier säße nun irgendwo ohne einen Pfennig Geld und könne nicht fort. Er selbst, der junge Mensch, der mit mir sprach, habe später, als er nach seiner Wohnung zurückkehrte, um zu sehen, was noch aus der Zerstörung zu retten sei, erlebt, wie ein naher Bekannter vor seiner Tür von Nazis niedergeschlagen und wie ein Stück Vieh mißhandelt wurde.

Mit dem Abendzug nach Weimar, um wegen der Hypothek zu verhandeln. In Weimar am Bahnhof empfing mich der alte Gepäckträger mit einem ganz verschüchterten Gesichtsausdruck. Hier in Weimar sei es schrecklich, überall ›Hilfspolizei‹ (SA), man wage nicht mehr ein Wort zu sagen.

Frankfurt a. M. 6. März 1933. Montag

Die Nazis haben 288 Mandate und 43,9 Prozent des Reichstags (gegen 196 und 33,1 Prozent am 6. November und 230 und 37,3 Prozent am 31. Juli). Die Sozialdemokraten haben trotz des unerhörten Druckes und der völligen Lahmlegung ihrer Propaganda nur hunderttausend Stimmen verloren, die KPD nur eine Million; das ist erstaunlich und bewundernswert als Beweis der Unerschütterlichkeit der ›marxistischen‹ Front. Die Nazis und die Deutschnationalen haben jetzt für vier Jahre vollkommene, verfassungsmäßige Bewegungsfreiheit; aber keine Zweidrittel-Mehrheit für Verfassungsänderungen.

Frankfurt-Paris. 8. März 1933. Mittwoch

Nachmittags ab nach Paris über Saarbrücken. In Saarbrücken, wo eine Stunde Aufenthalt, in die Stadt. Im Saarbrücker Abendblatt stand ein Artikel aus einer Pfälzer Nazi-Zeitung abgedruckt, in dem ein gewisser v. Leers die Nazi-Politik gegen die Arbeiter definiert. Sie geht darauf hinaus, aus Deutschland eine wirkliche Heimat für die deutschen Arbeiter zu machen, a land fit for heroes to live in. In Wirklichkeit kann es sich dabei nur um einen neuen Gimpelfang handeln, ein Wiederaufleben des patriarchalisch für seine Arbeiter sorgenden Herrn im Hause, der Arbeiter mehr oder weniger gehätschelt, aber wie ein minderjähriges Kind ohne Selbstbestimmungsrecht. Also nie und nimmer eine ›Links-Politik‹, deren Wesen eben das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen ist, nicht seine Stallfütterung. Kampf dem ›Marxismus‹ heißt bei Hitler nichts anderes als Kampf dem Selbstbestimmungsrecht des Arbeiters und der persönlichen Freiheit aller, Kampf dem freien Menschen! Der Staat soll ein komfortabler Stall werden, in dem alle gehorsamen Haustiere sich wohl fühlen und sich bei Bedarf artig schlachten lassen. Ich wüßte nicht, welche Konzeption mir entwürdigender und verhaßter sein könnte.

Paris. 18. März 1933. Sonnabend

Bis heute hatte ich gehofft, bald nach Berlin zurückkehren zu können. Heute erhalte ich über den Kurier einen Brief von Roland de Margerie, der dieser Hoffnung ein Ende macht. Goertz ist bei ihm gewesen und läßt mir durch ihn mitteilen, daß er durch einen Sturmführer der SA erfahren habe, daß etwas gegen mich geplant sei. Goertz hat daraufhin mit Mutius konferiert; dieser hat sich im Auswärtigen Amt erkundigt, wo ihm mitgeteilt worden ist, daß zwar meine Verhaftung nicht in Aussicht genommen worden sei, ›mais que, pour éviter des violences possibles de jeunes gens irresponsables, l'on envisagerait de vous appliquer, si vous reveniez en Allemagne, le regime de la ›Schutzhaft‹. Dans ces conditions, il semble à M. Goertz comme à M. Mutius (et comme à moi-même, s'il m'est permis d'émettre un avis) absolument nécessaire que vous prolongiez, pour un certain temps, votre séjour à Paris.‹ Abends rief mich der frühere Botschafter Margerie an, um mich im Auftrage seines Sohnes noch besonders auf die Dringlichkeit seines Briefes hinzuweisen.

Paris. 19. März 1933. Sonntag

André Gide besuchte mich. Er war durch den Brief von Margerie, den ich ihm zeigte, sehr erschüttert. Die Vorrede zu meinem Rathenau-Buch möchte er gern schreiben, sogar eine etwas längere Vorrede, er sei aber nicht recht auf dem Damm, außerdem sehe er nicht recht, wie er eine Vorrede schreiben könnte, die einigermaßen die Balance mit dem Schwergewicht des Buches hielte. Wahrscheinlich wird er nur einen offenen Brief an mich schreiben, der als Vorrede gedruckt werden kann. Er erzählte, daß er mit Strawinsky zusammen ein Ballett ›Persephone‹ für Ida Rubinstein schreibt. Sprach mit großer Anteilnahme von Hermann Hesse. Nachher fuhren wir zusammen in ein Konzert von Strawinsky in der Salle Pleyel, wo wir Ida Rubinstein und Guy de Pourtalès trafen. Die Rubinstein, die ich seit 1914 nicht gesehen habe, ist sonderbar eingetrocknet, eine alte Frau geworden.

Paris. 24. März 1933. Freitag

Den Botschafter Margerie besucht, um ihm für seinen Anruf zu danken. Er fragte mit dem Ausdruck größter Verwunderung, warum gerade ich in Deutschland bedroht sei, obwohl ich in den letzten Jahren mich politisch ganz zurückgehalten hätte? Er meinte, das sei ihm völlig unbegreiflich. Zur Sache selbst sagte er, nach seiner Ansicht sei Stresemann für Frankreich viel gefährlicher gewesen als Hitler, weil Hitler die ganze Welt gegen sich aufbringe, während Stresemann ›grignotait petit à petit‹ den Vertrag von Versailles. Er wies mit einer Art von Triumph auf den Umschwung der öffentlichen Meinung in England hin. Von Hitler selbst, dessen Rede er im Rundfunk gehört hat, hat er eine sehr geringe Meinung; die Rede sei völlig leer und phrasenhaft gewesen, ohne einen einzigen neuen Gedanken; lauter abgedroschenes Volksversammlungs-Geschwätz (ganz meine Meinung). Aber Margerie glaubt ebensowenig wie ich an einen baldigen Krieg.

Paris. 1. April 1933. Sonnabend

Der abscheuliche Juden-Boykott im Reich. Dieser verbrecherische Wahnsinn hat alles vernichtet, was in vierzehn Jahren an Vertrauen und Ansehen für Deutschland wiedergewonnen worden war. Ich weiß nicht, ob man mit diesen strohdummen, bösartigen Menschen mehr Ekel oder mehr Mitleid empfindet.

Paris. 5. April 1933. Mittwoch

Hugo Simon ist hier. Ihn und Demeter bei Wilma gesehen. Er hat Deutschland verlassen müssen,weil er dort nicht mehr sicher war. Zuerst hatten Freunde, die auch zu Papen und Hitler Beziehungen haben, ihm gesagt, er könne ruhig bleiben; Papen und eventuell sogar Hitler würden ihn schützen; dann sind diese selben Freunde zu ihm gekommen und haben ihm dringend geraten, fortzugehen, sie könnten für seine Sicherheit nicht mehr stehen. So ist er vor acht Tagen zu seinen Kindern nach Villefranche gefahren und wollte morgen in Amsterdam Freunde aus Berlin treffen, um Genaues über die Lage dort zu erfahren. Seinen Vorsitz im Aufsichtsrat von S. Fischer hat er niederlegen müssen. Ob S. Fischer in Berlin weiterexistieren kann, erscheint ihm nicht sicher.

Paris. 6. April 1933. Donnerstag

Quidde kam zum Frühstück. Er ist nicht flüchtig, sondern will nach Deutschland zurück. Er erzählte die ziemlich abenteuerliche Flucht von Gerlach aus Berlin und dann aus München nach der Schweiz ohne Paß. Er meint, daß wahrscheinlich nur ein Militärputsch uns von der braunen Pest befreien kann; es sei eine sonderbare Verkehrung der Lage, daß er als alter Pazifist seine Hoffnung auf das Militär setzen müsse.

Paris. 8. April 1933. Sonnabend

Einen kleinen Handkoffer mit Papieren und Briefen erhalten. Brief von Goertz, nach dem mein Diener Friedrich mich bestiehlt und an die Nazis verrät. ›Vor drei Tagen, auf Friedrichs Veranlassung, wurde Ihre Fahne von drei Nationalsozialisten von Ihrem Boden geholt und auf dem Hof zerrissen. Friedrich schämte sich nicht, seine besondere Befriedigung darüber auszulassen. Friedrich ist es gewesen, ich habe Beweise dafür, der die tollsten Nachrichten über Sie den Nazis zugetragen hat. Er ist es gewesen, der Ihren Safe und Ihre gesamten Verbindungen preisgegeben hat.‹ So schreibt Goertz.

Manchmal denke ich, daß ich in einem bösen Traum lebe, aus dem ich plötzlich erwachen werde. Die letzten Tage waren schlimm! Dabei geht das Leben doch irgendwie weiter. Ich arbeite, kann arbeiten, spreche mit Leuten, lese, aber immer ist ein dumpfer Schmerz wie ein dunkler Grundbaß mir bewußt.

Paris. 16. April 1933. Sonntag

Georg Bernhards, die vor kurzem als Flüchtlinge hier angekommen sind, und Annette Kolb aßen bei Wilma, Avenue Kléber. Bernhard, der seine ziemlich abenteuerliche Flucht über Franziskus-Krankenhaus, mecklenburgisches Forsthaus, Warnemünde und Kopenhagen erzählte, sagte, er ›wolle nie wieder nach diesem Lande (Deutschland) zurück. Er betrachte sich nicht mehr als Deutscher‹. Er sprach mit der äußersten Erbitterung.

Paris. 23. April 1933. Sonntag

Mit Nolef bei Mme. Homberg. Möglichkeiten eines deutschen Theaters in Paris besprochen. Plan, Klemperer nach Paris zu berufen, damit er im Théàtre des Champs-Elysées eine deutsche Opernsaison leitet: Weills ›Silbersee‹, Bergs ›Wozzeck‹. Sie rät, Mme. Charles de Noailles geborene Bischoffsheim an die Spitze des Komitees zu stellen. Da sie heute nach Florenz reist, kann die Sache erst nach ihrer Rückkehr im Juni eingeleitet werden. Dieser Tage war Heinz Simon aus Frankfurt auf ein paar Stunden hier. Mit ihm bei Sieburgs gefrühstückt. Er besprach mit mir vertraulich einen Plan, eine deutsche Schule und Universität für freie Deutsche in Barcelona zu begründen.

Paris. 25. April 1933. Dienstag

Voigt, der Korrespondent vom ›Manchester Guardian‹, der vor zehn Tagen aus Deutschland zurückgekehrt ist, frühstückte bei mir. Er erzählte ein grandioses Wort einer Arbeiterfrau in Berlin. Nazis forderten Einlaß in ihre Wohnung, um ihren Mann festzunehmen, der fort war, und einer von den Nazis hielt ihr eine Pistole auf die Brust. Ohne aus der Fassung zu geraten, sagte sie zu ihm in ganz ruhigem Ton: »Warum halten Sie mir die Pistole vor: ich will Ihnen doch nichts tun.« Voigt sagt, daß die Nazis fortfahren, Arbeiter zu verhaften und in furchtbarer Weise zu mißhandeln. Sie verfahren so, daß sie den Betreffenden aus seiner Wohnung verschleppen, acht bis vierzehn Tage festhalten, während der Zeit immer wieder prügeln und mit dem Tode bedrohen. Wenn der Mann nach Hause kommt, ist er physisch und geistig ›eine Ruine‹.

Abends bei Mme. van Rysselberghe gegessen mit Jean Schlumberger und Charles du Bos. Den ganzen Abend nur über Deutschland gesprochen. Du Bos sagte, er habe Vorträge in Deutschland halten sollen, aber abgesagt, weil er das Gefühl habe, daß es für ihn zur Zeit ›impossible‹ sei; er habe innere Hemmungen, die es ihm unmöglich machten, gegenwärtig in Deutschland zu sprechen. Er habe das Gefühl, daß die Deutschen ›effrénés‹ seien, keiner Bremse mehr gehorchten. Das sei ihm mit seinem französischen ›esprit de mesure‹ so konträr, daß er die Atmosphäre in Deutschland nicht ertragen könnte. Zwischen Deutschland und Westeuropa habe sich ein Abgrund aufgetan. Es gebe kein Europa mehr; jetzt noch von ›Europa‹ sprechen sei unmöglich, ›à moins de parler comme Monsieur Herriot‹.

London. 5. Mai 1933. Freitag

Vormittags anderthalbstündige Unterredung mit Hoesch. Er ist diplomatischer und kälter als Bernstorff, sachlich kommt es aber auf dasselbe hinaus, was Bernstorff mir gesagt hat. Die öffentliche Meinung in England sei binnen vierzehn Tagen ins genaue Gegenteil umgeschlagen. Vor Hitler war sie ausgesprochen deutschfreundlich, zu allerhand Konzessionen bereit, sowohl auf dem Gebiet der Abrüstung wie auf dem der Grenzrevisionen; heute sei sie geschlossen franzosenfreundlich und nicht mehr für das geringste Zugeständnis zu haben. Der Umschwung sei in den Tagen eingetreten, wo Macdonald und John Simon in Rom waren. Macdonald oder Simon hat Hoesch gesagt: »I left an England which was pro-German, and when I came back, I found an England which was unanimously pro-French.«

Hoesch hielt mir einen langen, sehr klaren, klugen, fast juristisch formulierten Vortrag, aus dem hervorging, daß alle Richtungen, die er eine nach der andren aufzählte, der englischen öffentlichen Meinung, bis auf ganz winzige und einflußlose Kreise, heute antideutsch oder richtiger anti-Nazi sind; und zwar, wie Hoesch sagt, leidenschaftlicher als die Franzosen, weil es sich bei ihnen um eine Art von enttäuschter Liebe handelt.

Die kalte, leidenschaftslose Bilanz, die Hoesch zieht, ist noch vernichtender als die erregtere von Bernstorff. Wenn man ihn gehört hat, kann man, trotz seines Vorbehalts, nur sagen: ›Lasciate ogni speranza.‹ Es ist der grausamste Selbstmord, den ein großes Volk je begangen hat. Auch Hoesch sagt, daß er nicht weiß, wie lange man ihn hier noch lassen wird. Seine englischen Freunde seien gegen ihn persönlich jetzt vielleicht noch freundschaftlicher als vorher; schrieben ihm ungezählte Briefe. Aber wenn an seine Stelle ein Mann wie Rosenberg komme, werde es ihm so gehen wie dem Sowjet-Botschafter Maiski, der in seinem Hause sitze und von der Gesellschaft vollkommen ignoriert werde.

Paris. 18. Mai 1933. Donnerstag

Bei Grasset zweihundert Exemplare meines französischen Rathenau-Buches mit Widmungen versehen auf Wunsch von Grassets. Mit Henry de Montherlant, der an einem Nebentisch das gleiche für eines seiner Bücher tat. Wir tauschten Widmungen aus. Montherlant: Bauerntyp, untersetzt, kräftig, mit auffallend schönen, energischen blauen Augen.

Paris. 20. Mai 1933. Sonnabend

Nachmittags zum kleinen Sonnabend-Empfang bei Charles du Bos in der Île St. Louis. Literaten und Literaten-Frauen. Jean Schlumberger, Pierre Rops, Ramon Fernandez, der ausgezeichnete Kritiker von ›Marianne‹, den ich kennenlernte, Frau Zifferer und Fräulein Rotbart vom ›Institut de Coopération intellectuelle‹. Ich sprach länger mit einer Mme. Bopp, einer französischen Diplomatenfrau und Freundin von Mme. Homberg. Die Wohnung der du Bos' in der fünften Etage an der Ecke am Quai ist winzig, so daß man sich kaum bewegen kann, hat aber eine schöne Aussicht auf die Seine, die Panthéon-Kuppel usw. Natürlich standen Deutschland und die Nazis im Mittelpunkt aller Gespräche.

Du Bos entwickelte, daß ein fundamentaler Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich darin bestünde, daß in Frankreich die Idee des ›Rechts› (l'idée du Droit) im Volk lebendig sei, in Deutschland nicht, und daß daher diese Idee, die in Frankreich automatisch als Bremse wirke, in der Dynamik des deutschen Volks keine Rolle spiele.

Paris. 23. Mai 1933. Dienstag

Mein Geburtstag. Briefe von Max und Uschi. Telegramm von Foeges, Blumen von Wilma und Jacques. Abends mit Wilma und Jacques zur Tänzerin Argentina im Théâtre des Champs-Elysées. Dort Keyserling, der hier Vorträge hält, getroffen. In der Pause mich zu ihm und der Gräfin, der geborenen Bismarck, gesetzt.

Keyserling überschüttete mich in seiner überstürzten Sprache mit der erschreckendsten Schilderung der Zustände in Deutschland, die ich bisher gehört habe. Die letzten drei Monate seien, trotz seiner Erlebnisse in der russischen Revolution, die schwersten seines Lebens gewesen. Die russische Revolution verhalte sich zur deutschen ›wie ein Floh zu einem Elefanten›. Der Nazi-Umsturz sei ›die totale Revolution›, die vollkommene Nivellierung, die wirkliche Auslöschung aller Klassenunterschiede. Die Bolschewiki hätten an die Stelle der alten herrschenden Schicht eine neue, das Proletariat, gesetzt. Die Nazis beseitigten radikal alle Klassen.

Dem widersprach allerdings, was Keyserling weiter sagte: daß in Deutschland jetzt nur noch der Bauer und der kleine Butiker, der mit Käse oder sauren Gurken handele, etwas gelte. Es sei die Herrschaft des kleinen Mittelstandes, die Diktatur des Ungeistes. Der Geist, der Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller gelte nichts mehr, sei ganz bedeutungslos geworden. Das sei aber gerade, was der Spießer sich immer gewünscht habe, was ihm als der Idealzustand erscheine. Daher seien siebzig Prozent des deutschen Volkes begeistert und stünden geschlossen hinter Hitler. Dieses Regime werde deshalb bleiben. Er, Keyserling, habe zum ersten Mal seit drei Tagen, das heißt, seitdem er in Paris sei, wieder ruhig schlafen können.

Als ich ihm mein Erstaunen ausdrückte, daß sein Schwager, Gottfried Bismarck, der doch ein Prominenter unter den Nazis sei, ihn nicht schützen könne, meinte er, solche Beziehungen spielten in Deutschland heute gar keine Rolle mehr, ha, ha, ha! Die Gräfin schwieg, schien es aber durch ihren traurigen Ausdruck zu bestätigen. Er fuhr fort: er, seine Frau und seine Kinder seien ständig bedroht gewesen, bis er eines Tages sein Telephon, das überwacht und abgehört werde, heruntergenommen und an einen Bekannten telephoniert habe, er werde dem ersten Nazi, der bei ihm eindringe, den Hals umdrehen. Das habe genützt; seitdem habe man ihn nicht mehr belästigt, ha, ha, ha!

Paris. 24. Mai 1933. Mittwoch

Wieder stundenlang bei Grasset Widmungen in Bücher geschrieben. Nach dem Frühstück zu Pierre Viénots, wo eine kleine Gesellschaft deutscher Flüchtlinge: Annette Kolb, Hilferding, Kracauer (an dessen monströse Häßlichkeit ich mich nicht gewöhnen kann), ein junger Schriftsteller Helmer, der ganz plötzlich hat fliehen müssen und noch ganz verstört aussieht. Dieser und Hilferding nach den Erzählungen von Sollmann schilderten die eiskalte Methodik der Nazi-Mißhandlungen; die Arbeiter und Intellektuellen, die sie in die Finger bekämen, würden ganz individuell und wie nach einer jedem vorgeschriebenen Kur mißhandelt, tage- und wochenlang, täglich etwa dreimal, morgens, mittags und abends, geprügelt und geistig gequält. Helmer sagte, was die Opfer am meisten herunterbringe, sei, daß man sie zwinge, bei den Mißhandlungen andrer dabeizusein und zuzusehen. Man bringe sie dadurch zum vollkommenen Zusammenbruch.

Hilferding schilderte die viehischen Mißhandlungen, denen Sollmann unterworfen worden sei. Offenbar spielt Sadismus dabei eine wesentliche Rolle; ein hysterischer Genuß an Blut und Leiden, ein krankhaftes Machtgefühl beim Quälen, eine dekadente Grausamkeit, wie sie immer wieder in der Geschichte bei nervenschwach gewordenen Völkern durchbricht, ein letztes Sich-Aufkitzeln der Impotenz, die kranke Seele des Lustmörders (Kürten, Jack the Ripper), die plötzlich in Hunderttausenden von Menschen tätig wird.

Abends Vortrag von Keyserling in der riesigen, fast leeren Salle Pleyel. Er sprach französisch (mit russischem Akzent) über ›Les basfonds de la nature humaine›; inhaltlich und in der Form glänzend. Er schilderte das Wiederauftauchen des untersten Bodensatzes der Seele in gewissen Epochen, der schon in den Kaltblütern der Urzeit wirksamen Ur-Instinkte der Furcht und des Hungers; der ganze Überbau der Kultur wird dann zeitweise überschwemmt; der. Geist spielt innerhalb der von diesen Ur-Instinkten ausgehenden Bewegungen und Ideologien keine Rolle. In seinem nächsten Vortrag versprach er dann aber doch eine Position für den Geist ihnen gegenüber aufzeigen zu wollen. Ohne je das Wort Deutschland oder Hitler zu gebrauchen, war der ganze Vortrag doch eine vernichtende Kritik der Nazi-Revolution. Er zeugte von großem, fast tollkühnem Mut, da Keyserling nach Deutschland zurück will.

Paris. 5. Juni 1933. Montag (Pfingsten)

Frühstück bei Julien Green, vier Personen, er, seine Schwester, eine hübsche, schlanke, sehr lebendige Person, und sein Freund St. Jean. Die Wohnung bourgeois möbliert, mit einigen modernen Bildern, doch im ganzen ziemlich altmodisch. Die Menschen alle drei mir sympathisch, freundlich, klug, offen. Green selbst hat etwas Vierschrötiges, Bäuerliches. Es wurde viel über den ›Rathenau› gesprochen.

Paris. 11. Juni 1933. Sonntag

Georg Bernhards, Xavier Marcu und Anton Kuh frühstückten bei mir im Hotel. Kuh ließ ein Brillant-Feuerwerk von Witzen und Anekdoten los. Eine Geschichte, die er erzählte, war fast shakespearisch. Am 31. Juli 1914, in Wien, als alles auf die serbische Antwort auf das österreichische Ultimatum wartete, hat er Berchtold im Wurstl-Prater gesehen an einem Karussell, das als Treffplatz für Strich-Jungens bekannt war. Ein bildhübscher Junge in weißen Hosen und weißem Pullover fuhr auf dem Karussell und zwinkerte mit einem Auge einem eleganten Herrn zu, der ihn immerfort anschaute. Als das Karussell Pause machte, stieg der Junge ab und ging auf den Herrn zu, der ihn begrüßte und mitnahm. Der Herr war Berchtold. Im Augenblick, wo die beiden zusammen fortgingen, kamen unter großem Geschrei die Zeitungsjungen mit Extrablättern gelaufen: »Serbische Antwort auf das Ultimatum. Krieg mit Serbien, österreichischer Einmarsch in Serbien!« Der Beginn des Weltkrieges, den Berchtold herbeigeführt hatte.

Paris. 12. Juni 1933. Montag

Lefèvre interviewte mich für die ›Nouvelles Littéraires›; er macht die Sache sehr gewissenhaft und nimmt sich sehr ernst. – Nachher zum Montagsempfang bei der Gräfin André de Fels. Dort lange Gespräche mit Jacques Bainville und Henry Bordeaux. Bainville sagte ich, Léon Daudets zwei Artikel über mein Rathenau-Buch hätten mich ›très touché›; namentlich da mich Daudet sonst immer heftig angegriffen hätte. Bainville meinte, Daudets Angriffe dürfe man nicht zu ernst nehmen, er sei ›une force de la nature› und völlig hemmungslos, aber ein sehr großes Talent. Ich bat Bainville, Daudet auszurichten, daß seine Artikel ›m'avaient touché›. Abends traf ich mich mit Wieland Herzfelde, der auf der Durchreise hier ist, im Café de la Paix. Er hat seinen Malik-Verlag wieder aufgemacht in Prag und plant die Gründung eines zweiten, nichtkommunistischen Verlags für die verbannten deutschen Autoren, für den ihm ein Kapital von hunderttausend Mark zur Verfügung gestellt worden ist. Er fährt zu einer Besprechung dieses Planes morgen nach Amsterdam. Die unterirdische Arbeit in Deutschland komme in Gang. Die ›Rote Fahne› erscheine wieder regelmäßig illegal, es fänden wieder Funktionär-Besprechungen in Deutschland statt; sehr beliebt als Ort für solche Zusammenkünfte seien Autobusse, auf denen sich ›zufällig› drei oder vier Funktionäre (nie mehr) träfen; eine Autobusreise von drei viertel Stunden genüge vollkommen und biete eine gewisse Sicherheit gegen Beobachtung und Abhören.

Paris. 13. Juni 1933. Dienstag

Nachmittags Empfang bei der Gräfin Jean de Pange geb. Broglie zur Feier der Zuwahl ihres Bruders, des großen Physikers Louis de Broglie, in die Akademie der Wissenschaften. Louis de Broglie hat einen schönen, ernsten Gelehrtenkopf mit dunklen Wuschelhaaren, etwas wie Einstein. Er schien ganz fremd und verlegen im Gedränge von Gesellschaft und Wissenschaft, das ihn umflutete und gegen die Wand preßte. Sehr lebendig ist dagegen sein Bruder, der Herzog, der trotz seiner weißen Haare wie ein Knabe die Treppe (fünf Etagen) hinauflief im Wettrennen mit dem Fahrstuhl, in den er mich hineingestopft hatte.

Die Gräfin, eine Urenkelin der Mme. de Staël, über die und deren ›Entdeckung‹ Deutschlands sie ein kleines Buch geschrieben hat, stellte mich einer Menge von Leuten vor, dem Herzog von Lévis-Mirepoix, einer langen Reihe von Gräfinnen, die sich um mich aufbauten und mit der sehr netten und klugen Mme. Paul Morand mich mit Komplimenten zudeckten, als plötzlich eine Frau, die ich zuerst nicht erkannte, weil sie gegen das Licht stand, den Kreis durchbrach: »Vous ne me reconnaissez pas, j'ai lu votre livre, votre admirable livre. Non, non, je vois que vous ne me reconnaissez pas.« Aus Höflichkeit log ich, daß ich sie ganz gewiß wiedererkenne; als plötzlich, zu meinem nicht geringen Ärger, ich _ wirklich die Herzogin von Clermont-Tonnerre erkannte, die mich in ihrem Buch mit Schmutz beworfen hat. Jetzt war es zu spät, sie zog mich in eine Fensternische, wir müßten uns sehen usw. usw.

Ich lernte auch unseren Botschafter Köster und seine sehr reizende und elegante Frau kennen. Ich erklärte Köster, warum ich ihn bisher nicht besucht hätte. Er meinte, was die Nazis über mich dächten, sei ihm ganz egal, er bäte um meinen Besuch. Auch Frau Köster sagte, sie würde sich sehr freuen, mich bei sich zu sehen.

Paris. 15. Juni 1933. Donnerstag

Nachmittags zur Probe von Nabokows ›Hiob› im Théâtre des Champs-Elysées. Ernste Musik großen Formats. Nachher bei Misia Sert mit Serge Lifar, Nabokow, Nathaniel Wolff usw. Lifar zerpflückte Wolffs Ballett-Libretto, war dabei aber so klug und graziös, daß sogar Wolff ihm recht gab. Lifar sagt von den ›Ballets 1933‹ und insbesondere von Kurt Weills ›Les Sept Péchés Capitaux‹ »C'est de la pourriture de ballet.« Weills Ballett hat überhaupt hier sehr enttäuscht.

Paris. 16. Juni 1933. Freitag

Heute vor dreiundfünfzig Jahren habe ich dieses Tagebuch angefangen.

Nachmittags bei Guy de Pourtalès in seinem Studio in Passy. Großes, helles Atelier, alte Möbel, Ostasiatisches, viele Bücher in hohen Regalen, was man eine ›kultivierte Umgebung› nennt, ohne viel Originalität. So etwa wie seine Bücher. Er erzählte, daß er auf seinem Gut in der Schweiz während des Krieges sowohl Lenin wie Trotzki als Mieter gehabt habe; allerdings ohne zu wissen, wer Lenin, der sich Uljanow nannte, wirklich sei. Er habe sie oft in die Stadt gefahren und mit ihnen geplaudert. Als der Bedeutendere sei ihm Trotzki erschienen, aber Lenin habe mehr Seele gehabt. Nach ihrem Fortgang habe er die Bücher, die sie gelesen und zurückgelassen hatten, durchgesehen: alle mit zahlreichen Bleistiftnotizen von Lenin versehen. Diese Notizen seien alle negativ gewesen, das heißt, Auseinandersetzungen mit dem Verfasser, immer im Widerspruch mit ihm. Zu den von Lenin am meisten gelesenen Autoren hätten Nietzsche und Maupassant gehört. Namentlich Maupassant habe ihn offenbar stark gefesselt durch seine pessimistische, die Menschen verachtende Art.

Abends im Théâtre des Champs-Elysées im Rahmen der ›Ballets 1933› Erstaufführung von Nabokows Oratorium ›Hiob›. Leider eine verfehlte Veranstaltung, teils weil ein so ernstes Werk in den Rahmen einer Ballett-Saison überhaupt nicht hineinpaßte und das Publikum des Balletts langweilte und ärgerte, teils weil die Chöre und Sänger mittelmäßig waren. Es kam zu Pfiffen, Teile des Publikums gingen demonstrativ fort. Viel zum Mißerfolg trugen verwirrend und lächerlich wirkende Laterna-magica-Projektionen von Blakes Illustrationen zum Buch Hiob bei.

Paris. 17. Juni 1933. Sonnabend

Abends mit Jacques im Théâtre des Champs-Elysées zu den ›Ballets 1933›, wo Kurt Weills Pantomime ›Les Sept Péchés Capitaux› gegeben wurde. Sie hat trotz der Beliebtheit, die Weill hier genießt, eine schlechte Aufnahme in der Presse und beim Publikum gehabt. Ich fand die Musik hübsch und eigenartig; allerdings kaum anders als die der ›Dreigroschenoper›, Lotte Lenya sang mit ihrer kleinen, sympathischen Stimme (deutsch) Brechts Balladen, und Tilly Losch tanzte und mimte graziös und fesselnd. Man hat offenbar von Weill hier zu viel erwartet, ihn gleich mit Wagner und Richard Strauß in eine Linie gerückt; Snobismus.

Paris. 18. Juni 1933. Sonntag

Nachmittags bei Clémenceaus. Man spricht dort mehr deutsch als französisch. Schon das Dienstmädchen empfängt einen auf deutsch. Dort Antonina Vallentin (Mme. Luchaire), mit der Paul Clémenceau zu sprechen sich weigert, Fräulein Köster, Mme. Sautreau, Chocarnes, Frau v. Porada, Toch, Alfred Kerr mit Frau (beide sehr ›stuck up›, obwohl es ihnen recht schlecht geht), Casella, Marya Freund.

Paris. 22. Juni 1933. Donnerstag

Mit Bermanns und Tagger (Bruckner) bei Calvet gefrühstückt. Mit Bermann vorher über die Verhandlungen mit Plon und Faber gesprochen, die beide vor dem Abschluß stehen. Bermann sagt, daß der Fischer-Verlag in keiner Weise belästigt worden sei, auch keine Nazizelle habe. Ja, er selbst sei, obwohl Jude, in den Überwachungsausschuß für ›Schund und Schmutz› berufen worden. Er meint, wenn ich mir in Paris vom Konsulat ein Wiederausreisevisum geben lasse, sehe er keine Bedenken gegen eine zeitweise Rückkehr. Er glaube nicht, daß ich in Deutschland belästigt würde. Überhaupt werde das Regime allmählich milder. Gewisse Leute (Juden), die sie vertrieben hätten (namentlich in der Kinobranche), bäten sie auf den Knien, wieder zurückzukehren, weil sie ohne sie nicht auskämen. Dagegen sei die wirtschaftliche Lage trostlos und werde immer trostloser. Trotzdem glaubt er an eine lange Dauer des Regimes. Tagger meinte dagegen, es werde an seiner Unfähigkeit scheitern.

Abends rief mich zu meiner großen Freude Max aus Weimar an. Er sagte, der Garten sei unbeschreiblich schön, die Rosen seien unwahrscheinlich gewachsen und stünden in reichster Blüte, die Magnolien seien mit Blüten bedeckt. Es sei ein Märchen. Ich war tief bewegt.

Paris. 23. Juni 1933. Freitag

Abends mit Bermanns ins Kino in den Champs-Elysées. Wir trafen auf den Champs-Elysées nachher Fritz Osborn, Frau Schnitzler und andre. Der ganze Kurfürstendamm ergießt sich über Paris. Bermann bleibt dabei, daß er den Nazis eine lange Dauer prophezeit, allerdings sei die Endkatastrophe gewiß; aber wann? Ich begründete meine abweichende Ansicht.

Paris. 28. Juni 1933. Mittwoch

Hugenberg ist zurückgetreten, die Deutschnationale Partei hat sich ›aufgelöst ›. So haben sie ihre Quittung für ihren schmählichen Verrat am deutschen Volk. Papen wird auch noch drankommen. Vorläufig ist er nach Rom gereist, offenbar um den Papst zu beruhigen, der die Katholikenverfolgung in Deutschland, die immer schärfer wird, wohl mit steigender Empörung sieht.

Bermann, mit dem ich um zehn eine Unterredung hatte, war ganz durcheinander, einem Zusammenbruch nah. Er, der, als er aus Deutschland ankam, die Lage ganz optimistisch ansah, ist, wie er selbst sagte, nach acht Tagen im Auslande vollkommen umgefallen, befürchtet jetzt das Schlimmste, Enteignung der Juden, der Großgrundbesitzer, der Banken, Bolschewismus usw. Er frage sich, ob man nicht besser täte, so schnell wie möglich aus Deutschland fortzugehen. Ich beruhigte ihn, sagte ihm, er sei von der Emigranten-Krankheit angesteckt, die müsse jeder einmal durchmachen wie Masern oder Grippe; das gebe sich nach weiteren acht Tagen usw.

In Wirklichkeit sehe ich die Dinge auch schwarz; eine Art Bolschewismus kommt sicher, und darunter bereitet sich eine heftige Auflehnung des größeren Teils des deutschen Volkes, der Sozialisten, Kommunisten, Konservativen, Agrarier, Katholiken, Evangelischen, Großindustriellen, Hanseaten, vor, mit dem Hitler nicht fertig werden wird. Am aktivsten sind bisher die Kommunisten, obwohl Hitler in ihrem Sinne arbeitet. Aber auch die andren werden gezwungen werden, aktiver sich zu wehren; und wenn erst irgendwo ein Flämmchen Aufruhr emporzüngelt, wird auch schon der ganze schüttere Nazi-Bau in Flammen stehen. Die Wiener ›Reichspost› behauptet, daß die ›Rote Fahne› schon wieder in dreihunderttausend (!?) Exemplaren illegal verbreitet wird!

Paris. 6. Juli 1933. Donnerstag

Zur Gare de l'Est, von wo die Gräfin Keyserling nach Deutschland abreiste, während Hermann Keyserling noch bis morgen hierbleibt. Wir setzten uns zusammen nachher auf die Terrasse und tranken zwei Flaschen Champagner, wobei Keyserling sehr interessant über die Nazis und Hitler sprach. Er wiederholte, daß die Nazis eine viel radikalere Revolution als die Bolschewisten vorhätten; denn sie wollten nicht bloß die politische und soziale, sondern auch die geistige Struktur des deutschen Volkes von Grund aus ändern. Es sei in Wirklichkeit eine religiöse Erhebung, wie die Mahomeds, allerdings mit betont lokalem Charakter. Sie seien dabei, den Protestantismus und Katholizismus, ja überhaupt das Christentum abzuschaffen, um zu dem, was sie für den altgermanischen Glauben hielten, zurückzukehren. Daher hätten sie auch weder Zeit noch Interesse für Außenpolitik und machten Zugeständnisse, die keine frühere Regierung gemacht hätte. Ja, sie könnten wie Trotzki in Brest-Litowsk den andren Nationen sagen: ›Warum so wenig? Wollt ihr nicht auch noch das und das haben?› Hitler, den er genau studiert habe, sei nach Handschrift und Physiognomie ein ausgesprochener Selbstmördertyp, jemand, der den Tod suche, und verkörpere damit einen Grundzug des deutschen Volkes, das immer in den Tod verliebt gewesen sei und dessen immer wiederkehrendes Grunderlebnis die Nibelungennot sei. Die Deutschen fühlten sich nur in dieser Situation ganz deutsch, sie bewunderten und wollten den zwecklosen Tod, das Selbstopfer. Und sie ahnten, daß Hitler sie wieder einer Nibelungennot, einem grandiosen Untergang entgegenführe; das fasziniere sie an ihm. Er erfülle damit ihre tiefste Sehnsucht. Franzosen oder Engländer wollten siegen, die Deutschen wollten immer nur sterben. Ich glaube, daß Keyserling in diesem Punkt sehr tief und richtig sieht. Er meinte, daß im Augenblick gegen die Nazis nichts zu machen sei; aber etwa in zwei Jahren würden sie platzen, und dann werde die Zeit für freie Geister, wie er einer sei, wiederkehren. Inzwischen wolle er schweigen und sich für die dann an ihn herantretende Aufgabe vorbereiten. Der unerhörte Druck bereite eine unerhörte geistige Elite vor, eine Renaissance. Wir seien wieder im sechzehnten Jahrhundert, im Reformations-Zeitalter. Auch die Juden würden in Deutschland wieder mächtig werden, viel mächtiger, als sie je gewesen seien. In zehn Jahren würden sie Deutschland beherrschen, weil sie die einzigen sein würden, die Handel treiben könnten. Auf Grund irgendeines Minderheitenstatuts würden sie sich dieses Monopol erkämpfen. Die Deutschen würden zu Bauern und Muschiks degradiert sein mit einer kleinen geistigen Führerschar. Von Hitler meinte er, er selbst sei nichts; nichts weiter als ein Medium, durch das die Bewegung wirke. Andrerseits sagte er aber auch, daß nur Hitler die Bewegung im Zaume halte; wenn ihm etwas geschehe, wenn er sterbe oder verschwinde, dann würden wir Entsetzliches erleben, den furchtbarsten Pogrom, es würden Zehntausende umgebracht werden.

Paris. 10. Juli 1933. Montag

Nachmittags bei Frau von Porada, die eben aus Berlin zurückgekehrt ist. Sie hat dort Gottfried Benn gesprochen, der ein fanatischer Nazi geworden ist und behauptet, die Nazi-›Revolution› sei ein geschichtliches Ereignis ersten Ranges, eine totale Neugeburt des deutschen Volkes, die Rettung Europas, das alles mit allerlei Metaphysik durchmischt.

Paris. 11. Juli 1933. Dienstag

Mit Jenny de Margerie und Mme. de Courcel im Louvre den Direktor der ägyptischen Abteilung Borreu besucht. Bei dieser Gelegenheit die neue Aufstellung der Nike von Samothrake gesehen, die, vom Berliner Pergamon-Museum beeinflußt, dem Werk seine ganze hinreißende Romantik und Hoheit wiedergibt. ›Paris-Soir› bringt als einzige der Pariser Abendzeitungen als letzte Nachricht (›Derniere minute›) die Meldung, daß die ›Deutsche Revolution› heute nach einer Verordnung des Reichsinnenministeriums ›beendet sei›! Was das heißen soll, weiß kein Mensch.

Paris. 15. Juli 1933. Sonnabend

Albert Flechtheim gesprochen. Er erzählte von den Vorgängen in Berlin in der Kunst: die entgegengesetzten Richtungen innerhalb der Nazis, die, die die moderne Kunst bejahen, auch Nolde und Barlach, und die, die sie ausrotten möchten unter Führung von Schultze-Naumburg. Die verbotene Ausstellung, die von nationalsozialistischen Studenten geplant war. Flechtheim meint, daß überhaupt innerhalb der Nazis verschiedene Richtungen und Persönlichkeiten sich erbittert bekämpfen, so Göring und Goebbels. Diese inneren Streitigkeiten und die unabwendbare furchtbare Not würden sie zugrunde richten. Flechtheim meint, im Herbst werde der Zusammenbruch kommen.

Paris. 11. Oktober 1933. Mittwoch

Kurt Weill spielte bei uns abends vor Mme. Homberg große Teile seiner ›Bürgschaft›. Wieder gewaltiger Eindruck. Das Werk wirkt wie das Buch eines alttestamentarischen Propheten, Jesaias, Jeremias, ›messianisch›, ein Volk im tiefsten Unglück auf den Erlöser wartend, und insofern auch wie ein großes historisches Dokument und Zeugnis vom Zustand des deutschen Volkes um 1930 in Erwartung von Hitler. Ein Werk ganz großen Wurfs und Formats. Mme. Homberg fand aber, daß es gefährlich sein würde, es jetzt in Paris aufzuführen, weil es die Leute durch seine revolutionäre Wucht erschrecken und den ›refugiés› schaden würde.

Paris. 14. Oktober 1933. Sonnabend

Die Nachmittagszeitungen bringen die Nachricht, daß die Hitler-Regierung ihren Austritt aus dem Völkerbund und der Abrüstungskonferenz proklamiert und gleichzeitig den Reichstag aufgelöst und Neuwahlen auf den 12. November festgesetzt hat. Das hat hier und, wie es scheint, auch in London wie eine Bombe eingeschlagen. ›Coup de tonnerre› schreiben die Abendblätter. In der Tat ist es das folgenschwerste europäische Ereignis seit der Ruhrbesetzung. Es kann in kurzer Zeit zur Blockade Deutschlands und vielleicht zum Krieg führen.

Paris. 19. Oktober 1933. Donnerstag

Vormittags Hermann Keyserling besucht. Er hat hier an einem Kongreß der ›Coopération Européenne› teilgenommen und war in einem Zustand überschwenglichster Erregtheit. Er und Paul Valéry hätten den ganzen Kongreß geleitet, er habe immerfort reden müssen, es sei alles glänzend gegangen. Er verspricht sich von dem Zusammenschluß einiger hundert europäischer Geister die Rettung der europäischen Zivilisation. Das Schrecklichste am Hitlertum sei die Ungeistigkeit. Aber es sei dagegen vorläufig nichts zu machen; man müsse eine Insel schaffen, auf die sich die Geistigen retten könnten.

Paris. 20. Oktober 1933. Freitag

Keyserling auf die Bahn gebracht. Vorher mit ihm gegessen. Er war in einem Zustand fast beängstigender Erregung. Er sagt, das deutsche Volk bestünde aus sechzig Prozent Feigheit und vierzig Prozent Neid. Kein Mensch habe Mut. Das Schauspiel der allgemeinen Plattheit errege selbst bei den führenden Nazis Ekel. Als irgendein früher deutschnationales großes Tier bei Hitler mit dem Nazi-Abzeichen im Knopfloch erschienen sei, habe ihm Hitler nur gesagt: »Ich hatte geglaubt, Sie hätten mehr Charakter« und den Rücken gedreht. Keyserling behauptet, er habe noch niemanden über Dreißig in Deutschland gesehen, der wirklich ein überzeugter Nazi sei. Aber alle täten so. Gerhart Hauptmann habe sich diesen Sommer bei Keyserlings Schwager Gottfried Bismarck, der der ›Tyrann von Rügen› sei, gemeldet und um Aufnahme in die Nationalsozialistische Partei gebeten. Bismarck habe ihm das abgeschlagen, aber ihm anheimgestellt, in irgendeine der Nazi-Partei angeschlossene Organisation einzutreten, an die er einen monatlichen Beitrag von hundert Mark zu zahlen habe. Hauptmann habe das angenommen!! Keyserling flüsterte mir ins Ohr: wenn er zwischen Nazis und Bolschewiken wählen müßte, würde er die Bolschewiken wählen. Ähnlich erzählte mir Bernstorff neulich, Winston Churchill habe zu seiner Nichte Claire Sheridan gesagt, gegen Hitler würde er sogar mit den Bolschewiken ein Bündnis schließen.

Paris. 23. Oktober 1933. Montag

Nachmittags in der Spanischen Botschaft bei Madariaga, um mir mein Visum und eine Empfehlung für den Gouverneur von Mallorca zu erbitten. Abends nach Zürich ab.

Basel. 27. Oktober 1933. Freitag

Früh von Zürich nach Basel. Meine Maillols in der Kunsthalle gesehen. Schmerzlich!

Auf See. 10. November 1933. Freitag

Jacques mittags ins Hotel gekommen. Mit ihm und Max gefrühstückt. Abends ging unser Schiff, die ›Djamilah›, ein uralter Kasten, der noch dazu schlecht geladen war und ganz nach Backbord überhing. Jacques brachte uns an Bord. Mäßiges Essen, winzige Kabine.

Palma. 11. November 1933. Sonnabend

Um drei in Palma an. Frau Simon und Ursula Demeter am Landungssteg. Mit ihnen im Auto zu ihrem Haus, das eine große Enttäuschung war; fast keine Möbel, keine Heizung außer einem einzigen Kamin in der guten Stube, keine Aussicht, kein Blumengarten, nichts. Frau Simon sagte mir gleich, sie glaube nicht, daß ich mich hier wohl fühlen werde. Die arme Frau tat mir leid. Simon hat offenbar bloß an seine Hühnerfarm gedacht, aus der nun auch nichts geworden ist. Wie er sich mein Leben und das der Goertzens hier in eiskalten, feuchten Zimmern ohne Heizung gedacht hat, ist unvorstellbar; wahrscheinlich war ihm das ganz gleichgültig. Ich müßte mindestens eintausendzweihundert bis eintausendfünfhundert Peseten an Heizungskörpern, Bad, Schränken usw. hineinstecken, um hier überwintern zu können. Natürlich denke ich nicht an einen solchen Unsinn.

Palma. 15. November 1933. Mittwoch

Endlich das richtige Haus gefunden: Plaza Iglesia 3 im Bona Nova, auf der Höhe über Palma mit einem herrlichen, grandiosen Blick auf das Meer, die Bucht von Palma und die Stadt selbst. Hübsches, hübsch eingerichtetes, einstöckiges, ganz modernes Haus mit großen Terrassen und Blumenbeeten nach Süden zu. Wir waren sofort entschlossen, es zu mieten.

Palma, i. Dezember 1933. Freitag

Vollkommen klarer, heißer Tag wie Hochsommer. Im Garten gesessen und an den Memoiren zu arbeiten wieder angefangen. Leipzig 1890/91.

Palma. 22. Dezember 1933. Freitag

Abends um acht, während ich ganz ruhig Zeitung lesend vor dem Feuer saß, plötzlich mich unwohl gefühlt und einen schweren Blutsturz bekommen; in wenigen Minuten weit über ein Liter Blut verloren. Max und Uschi, die auf der Terrasse waren, gerufen, während das Blut in Strömen mir aus dem Mund floß. Max ließ gleich telephonisch einen Arzt (César Bañolas) rufen, der in kurzer Zeit da war und mir eine Einspritzung machte, die das Blut aufhielt; sonst wäre ich verblutet. Der Arzt sagt, das Blut käme aus dem rechten Lungenflügel.

Palma. Silvester 1933. Sonntag

Ruhiges Silvester, da noch immer schwach. Vor Mitternacht zu Bett. So endet dieses tragische Jahr.


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