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1925

Paris. 3. Januar 1925. Sonnabend

Diner bei Wilma: Sautreaus und die Georges Duvernois (er ist jetzt Generalsekretär des Seine-Departements). Wir sprachen über Anatole France, dessen Sekretär Brousson soeben ein skandalös indiskretes und boshaftes Buch über ihn veröffentlicht hat, das viel Aufsehen erregt. Duvernois erzählte: Als er France im Juni nach seiner ersten schweren Erkrankung besuchte, die ihn an den Rand des Grabes gebracht hatte, habe ihm France gesagt: »Maintenant j'ai été là-bas (nämlich im Totenreich) et je sais ce que c'est: eh bien, mon ami, il n'y a rien!«

Mme. Sautreau erzählte dann eine Reihe Anekdoten über France und seine langjährige Freundin, Mme. de Caillavet (eine Frankfurter Jüdin). Als Tochter von Björnson wurde Mme. Sautreau, als sie noch kaum zwanzig Jahre alt war, zu einem großen Diner bei dieser mit France eingeladen. Auf dem Tisch seien für tausend Franken Rosen gewesen; über diese hinweg habe sie France gefragt: »N'est-ce pas, vous êtes Socialiste, Madame?«, worauf sie ihm geantwortet haben will, indem sie eine Handbewegung auf die Rosen zu machte: »Oui, tout comme vous, Monsieur.«

Trotz des Aufwandes sei das Haus der Caillavet unbeschreiblich unordentlich und unsauber gewesen. Die Stühle, auf denen die Gäste bei Tisch saßen, hätten so abgefärbt, daß alle Damen nachher auf ihren hellen Abendkleidern große rote Flecken gehabt hätten. Nach Tisch habe Mme. de Caillavet ganz laut vor allen Gästen zu France gesagt: »Tout le monde sait que vous êtes amoureux de Mme. Björnson: allez vous asseoir à côte d'elle.« France habe sie, die junge Frau Björnson, darauf in einen Nebensalon geführt und angefangen, ihr unglaublich unanständige Geschichten zu erzählen, die sie sich, indem sie ihn mit ihren großen blauen Augen eisig ansah, als Tochter Björnsons standhaft angehört habe.

France sei ein unscheinbarer, auffallend unsauberer alter Mann gewesen. Mme. de Caillavet habe bei Gelegenheit ganz laut gesagt: »Je sais qu'il va voir une maitresse aujourd'hui, car il s'est lavé les pieds ce matin.« Als Björnson im Hotel Wagram in Paris im Sterben lag, habe ihn France besucht. Björnson lag in einem großen, hellen weißen Zimmer, die alte Frau Björnson, eine königliche Erscheinung, die immer ganz in Weiß geht, habe neben seinem Bett gesessen, und drei weißgekleidete norwegische Krankenschwestern hätten neben dem Bett gestanden. Als France diese Helligkeit und diese königliche Sauberkeit gesehen habe, sei er ganz überwältigt gewesen. Björnson und er hätten nur wenige Worte gewechselt; aber beim Hinausgehen habe France zu ihr, der jungen Frau Björnson, gesagt: »Je sais maintenant que j'ai été malheureux toute ma vie.« Nachdem Mme. de Caillavet gestorben war, hat France schließlich deren Kammerjungfer geheiratet. Ich fragte Duvernois: warum? Er sagte: France habe nicht mehr allein in Gesellschaft gehen können; die alte Kammerjungfer sei immer mitgekommen. »Ça a fini par créer une situation impossible; on ne savait jamais où la placer à table. Alors, pour simplifier, France l'a épousée.«

Sehr drollig erzählt Mme. Sautreau den feierlichen Empfang, den Fritz von Unruhs französischer Übersetzer in Paris im Hause seiner Mutter im vorigen Sommer veranstaltete. Er hatte eine Anzahl prominenter Damen, wie Mme. Sautreau, Mme. Dubost, Mme. Paul Clémenceau usw. eingeladen, um Fritz von Unruh zu sprechen. Als Mme. Sautreau eintraf, wurde ihr eröffnet, Unruh sei gerade dabei, in einem Hinterzimmer Journalisten zu empfangen; die Damen müßten sich gedulden. Unruh steckte einen Augenblick die Nase zum Hinterzimmer heraus und verschwand dann, nachdem er die anwesenden Frauenzimmer in Augenschein genommen hatte, wortlos wieder. Nach einiger Zeit entschloß sich Mme. Sautreau, auf das Vergnügen zu verzichten, und ging wieder. Auf der Treppe traf sie zuströmende Damen, denen sie die Situation mitteilte und die dann auch umkehrten. Ein bitterer Nachgeschmack ist in der Pariser Damenwelt von dieser Bevorzugung der Journalisten vor den Damen (sehr Unruhsch) geblieben.

Banyuls. 5. Januar 1925. Montag

Früh an in Port Vendres, von wo mit dem Auto weiter nach Banyuls.

In Port-Vendres am Hafen Maillols Denkmal für die Toten des Weltkrieges. Ich erkannte es von weitem an der Aufstellung auf der hohen Mauer der Piazza zwischen Stadt und Hafen als Silhouette gegen See und Gebirge. Die Figur ist eine bloße Variante des Cezanne-Denkmals. Eine typographisch garstige Inschrift am Sockel stört. Mein erster Eindruck vom Ganzen war akademisch und kalt; zur Not könnte die Figur auch von einem guten Schüler Maillols sein. Ich war enttäuscht. Bei längerer Betrachtung fand ich einiges von den großen Qualitäten Maillols: den edlen Rhythmus und Fluß der Linien, der so tief durchdacht ist. Aber doch ist es nicht eines von Maillols besten Werken.

Im warmen Sonnenschein bis an den Leuchtturm am Meer, das graublau im südlich winterlichen Licht glitzert. Einige Segelboote mit weißen Segeln in der Ferne.

Im Auto nach Banyuls auf einer guten Straße, die in Serpentinen auf- und absteigt, an der Küste entlang. In Banyuls ins Hotel Gineste.

Um zwei bei Maillol, der auf seiner Gartenterrasse saß und sehr überrascht war, als er mich sah, da er mich erst mit dem Zuge erwartet hatte. Ich erwähnte, daß ich in Port Vendres sein Denkmal gesehen hätte. Er sagte gleich, er sei damit unzufrieden, »ça ne fait pas bien, on ne voit pas les ›morceaux‹ que j'y ai mis; car j'y ai mis des morceaux, le dos, par exemple, qu'on ne voit pas. Je pense peut-être à le retourner, pour qu'on voit au moins le dos.«

Wir stiegen dann in sein oberes Atelier hinauf und arbeiteten am Vergil, in dem er einige Änderungen vornahm. Auch versprach er, zwei neue Holzstöcke zu machen, um die Löcher in Ekloge III und VII zu stopfen.

Sein Sohn Lucien kam hinzu und machte etwas an einem seiner großen Fußballspieler-Bilder. Lucien, den ich seit 1914 nicht gesehen hatte, hat sich unter dem Einfluß des Krieges (er war Flieger) ganz anders als sein Vater entwickelt; viel rauher, städtischer, weniger verfeinert, weniger kultiviert; er hat etwas Streberhaftes und Vulgäres, vielleicht nur äußerlich, angenommen. Seine Bilder beweisen aber sein starkes Talent.

Am späten Nachmittag mit Maillol spazieren in der zartgrauen Landschaft, in der alle Töne wie mit Silber gemischt sind. An der alten romanischen Kirche der Friedhof ganz antik, eine Gräberstraße mit Grabkapellen und Zypressen, die ganz an die von Pompeji erinnert. Maillol zeigte mir draußen zwischen Feldern das Grab, das er als das schönste der Gegend bezeichnete, eine niedrige Gruft, um die herum ein kleiner Hain von Ölbäumen und hohen Zypressen gepflanzt ist, mitten im Feld. Er sagte mir, daß er nach diesem Grabe den Holzschnitt im Vergil zum Daphnis gemacht habe, so wie die Quelle mit Quellnymphe zur IX. Ekloge nach einer kleinen Quelle, an der wir einst vor Jahren einmal gepicknickt haben.

Auf dem Rückwege besuchten wir seine vierundneunzigjährige Mutter. Die alte Dame ging noch ganz flink im Hause herum, ein kleines verrunzeltes, aber frisches Gesicht mit sehr lebendigen Augen, eingeschlossen von dem schwarzen Kopfschleier, den alle Frauen hier tragen. Sie sprach lebhaft und vollkommen geistesklar.

Abends gegessen bei Maillols. Er klagt über große Müdigkeit und zu viel Arbeit. In seinem unteren Atelier stellt er eine herrliche, jugendliche, nackte Frauenfigur fertig, eine Art Venus oder Jugendgöttin, die zu seinen vollendetsten Werken gehören wird. Zur Hilfe hat er einen jungen Spanier; er meinte aber, die Notwendigkeit, immer für diese Arbeit zu schaffen, lasse ihm selbst keine Ruhe.

Banyuls. 6. Januar 1925. Dienstag

Gegen zehn bei Maillol, um ihn zu unserer Tour nach Céret abzuholen. Wir gingen ins Atelier hinunter, wo er etwas an seinen Tonmodellen mit der Spachtel herumbastelte. Kleine hockende Frauenfigur. »C'est une variante de la vôtre à Berlin (die große Steinfigur). Mais celle-ci, je voudrais la faire pour être vue d'un seul côté, tandis que la vôtre, elle a quatre côtés. Celle-ci, je voudrais la faire comme un bas-relief. Mais il y a toujours une jambe qui gêne; il y a toujours une qui ne rentre pas. Je cherche; avec de la patience, j'arriverai!«

Das Gespräch ging dann über auf das Thema von den schlanken und den kurzen, gedrungenen Frauen (jambes courtes, jambes longues). »Hier, à la gare, j'ai vu une jeune fille avec des jambes épatantes. Du reste, ici, on n'a qu'à regarder, toutes les jeunes filles ont des jambes admirables. Il y a des gens, quand ils arrivent ici, qui les trouvent trop courtes; ils veulent des jambes longues. Mais ils n'entendent rien à la sculpture. En sculpture, il ne s'agit pas d'aimer les jambes courtes ou les jambes longues, mais il s'agit de trouver l'harmonie. D'Annunzio, quand il est venu à la maison avec vous (nach Marly), (vous rappelez-vous?) a dit que ma sculpture était très bien, mais que mes femmes avaient les jambes trop courtes; ça prouvait qu'il n'entendaitrien à la sculpture! On peut faire les jambes longues ou les jambes courtes; mais il faut que ça s'emmanche, il faut trouver l'harmonie. J'ai épousé une femme courte, j'ai toujours eu les jambes courtes devant les yeux; c'est pour ça que j'ai cherché l'harmonie des jambes courtes. Si j'avais épousé une Parisienne aux jambes longues, j'aurais peut-être cherché l'harmonie des jambes longues. Avant d'être marié, j'avais des Americaines du Sud qui me posaient, des femmes minces et longues, et j'ai fait une peinture avec des harmonies de femmes longues.«

Ich betrachtete lange die herrliche, nackte Figur eines schlanken, jungen Mädchens (die Füße fehlen noch, der Kopf ist in Ton skizzenhaft draufgesetzt), die in der Tat beweist, daß er auch junge, schlanke Weiber meisterhaft gestalten kann. Die Arme sind ebenfalls erst versuchsweise in Ton drangesetzt; nach rückwärts gestreckt; sie sollen ein Gewandstück schleifen: eine Badende, die ins Wasser schreitet. Er sagte, er werde die Arme vielleicht nach vorne und gegen die Brust biegen, weil zwischen Torso und Armen jetzt zu große, lange Löcher entstanden seien. »C'est une figure que je n'ai pas faite d'après une idée, mais pour laquelle je me suis servi d'un torse que j'avais fait d'après une jeune fille.« Wie dem auch sein mag, sie ist eine seiner schönsten Gestalten. Ich besprach mit ihm für mich ein Exemplar in hellrosa Ton.

Wir fuhren zuerst nach Elne und gingen dort vom Bahnhof in die Stadt, um sein Kriegerdenkmal auf dem Domplatz zu sehen. Er hat einfach seine ›Pomona‹ bekleidet und ihr ein Band in die Hände gegeben, auf dem eine Inschrift steht. Er ist von der Figur sehr befriedigt; ich fand sie schwerfällig und reizlos und in der Umgebung, vor der Apsis des mächtigen romanischen Doms und mit dem Anblick auf Meer und Ebene und Gebirge, winzig.

Von Elne fuhren wir nach Céret weiter, um Manolo zu besuchen. Wir frühstückten mit Lucien Maillol im Hotel und gingen dann zu Manolo, der ein kleines Bauernhäuschen an der Landstraße vor der Stadt bewohnt, nachdem wir vorher Maillols Kriegerdenkmal besichtigt hatten. Dieses ist wirklich groß und ergreifend. Eine einfache Frau aus dem Volke, die trauernd, mit aufgestützter Hand, sitzt. Die Figur selbst ist mächtig und ausdrucksvoll, das Material, ein hellgrauer Stein, der Umgebung angepaßt, und die Aufstellung auf einem weiten, schattigen Platz unter mächtigen Platanen, vor einer Reihe einfacher, alter grauer Häuser, über die ein gewaltiger Gebirgskamm emporsteigt, vollkommen geglückt.

Es ist von Maillols drei Kriegsdenkmälern das einzige, das gelungen ist. Das von Port-Vendres bezeichnete Maillol selbst heute wiederholt als verfehlt (raté), und das von Elne finde ich kleinlich und unschön. Aber hier in Céret ist ihm eines der wenigen ganz befriedigenden modernen Denkmäler geglückt. Die Umgebung tut allerdings viel dazu.

Manolo ist ein kleiner, rundlicher, glattrasierter, etwa fünfzigjähriger Spanier, der aussieht wie ein pensionierter Torero. Niemand würde ihm seine frühere Verbrecherlaufbahn ansehen. Seine Frau, viel jünger, eine frühere Pariser Kokotte, ist von einer mageren, charaktervollen Häßlichkeit und erweckt den Eindruck einer starken Persönlichkeit mit männlichem Einschlag. Er spricht ein Gemisch von Französisch und Katalanisch, das schwer zu verstehen ist. Er hatte nur Photographien von seinen Skulpturen zur Hand, da diese selbst bei Kahnweiler in Paris sind. Mir fiel ein Relief von Stierkämpfern und eins von Kühen im Stall auf; beide mit Anklängen an spätrömische Reliefs, doch sehr persönlich. Er hat eine bemerkenswerte Kraft des Ausdrucks (»il a le coup de poing«, sagte ich Maillol nachher), ein ungewöhnliches Talent, das Wesentliche dessen, was er sieht und gestalten will, auf eine einfache Formel zurückzuführen und überzeugend darzubieten; manchmal allerdings noch nicht ohne Willkür, was er selbst erwähnte und zu korrigieren versucht. Ich schlug ihm vor, einen Don Quichotte für meine Presse mit Holzschnitten zu illustrieren, was er freudig zusagte.

Maillol neben Manolo: ich beobachte die beiden Köpfe: das lange, feine, zarte, etwas müde Gesicht Maillols mit dem grauen Spitzbart und den lichten blauen Augen, ein Gesicht wie das eines griechischen Hirtendichters, und daneben den Rundschädel Manolos, das runde, feste, aber etwas fette Sancho-Pansa-Gesicht des südländischen Materialisten, der das Leben genießt, aber den Teufel fürchtet. Maillol erzählt, daß Manolo vor einem Gewitter in den Keller flüchtet und eine Heidenangst vor dem Tode hat. Diese beiden Typen sind vielleicht die Grundtypen der Mittelmeer-Kultur: Griechenlands, Roms, Spaniens, Frankreichs.

Paris. 7. Januar 1925. Mittwoch

Um elf vormittags in Paris an. Abends gegessen bei Mme. Sautreau (Tochter Björnsons) mit Wilma, Mme. Paul Clémenceau und Painlevé.

Langes Gespräch mit Painleve nach Tisch über die Entwaffnungsfrage. Er betrachtet die Frage der materiellen Entwaffnung Deutschlands als sekundär (wie alle französischen Politiker), weil Deutschland sich in kürzester Zeit wieder bewaffnen könnte. Auch die Entstaatlichung der Schupo bezeichnete er als eine ›mesure enfantine‹, wenn sie die Einreihung der Schupo in die Armee verhindern solle; höchstens könne sie diese um vierundzwanzig Stunden aufhalten. Das, worauf es ankomme, sei die moralische Entwaffnung. Aber das Unglück wolle es, daß die Höhepunkte des Friedenswillens in dem einen Lande immer mit dem Tiefstand des Friedenswillens im andren zusammenträfe: il n'y a jamais concordance, daher kämen wir nicht weiter. Das Bramarbasieren unserer Deutschnationalen und Völkischen nimmt er nicht sehr ernst; nach siebzig habe man auch in Frankreich Deroulèdesche Revanche-Gedichte mit Begeisterung in Volksversammlungen begrüßt, ohne daß das Volk oder die, die sich an ihnen berauschten, die Revanche wirklich wollten.

Die jetzige französische Regierung hält Painlevé für ›solide‹. Die Nationalisten selbst sähen ein, daß sie sie nicht stürzen könnten. Ein Staatsstreich sei nicht zu befürchten, die Armee in ihrer überwältigenden Mehrheit würde nicht mitmachen.

Mme. Sautreau erzählte nachher ziemlich giftige Geschichten über andre Gesellschaftsdamen; ganz amüsant und sie zu lebendigen Figuren machend. Ich sagte nachher, sie behandele ihre Freundinnen wie die Köchinnen die jungen Gurken, ›elle les conserve dans le vinaigre‹.

Paris. 10. Januar 1925. Sonnabend

Abends um sieben bei Painlevé im Palais de la Présidence. Palais XVIIIe siècle, vom Liebhaber der Herzogin von Bourbon, der für sie das Palais Bourbon baute, für sich errichtet und, wie mir Painlevé erklärte, mit einem Verbindungsgang zum Palais Bourbon ausgestattet, den jetzt der Kammerpräsident benutzt, um zum Sitzungssaal zu gelangen auf dem Wege, der früher den besagten Liebhaber zum Bett der Herzogin führte. Das Palais ist groß, schönräumig, aber bis auf einige schöne Gobelins schäbig ausgestattet im Geschmack der Bürgermonarchie und des zweiten Kaiserreichs. Das Treppengeländer würde eine Vorstadt-Mietskaserne entehren.

Cardiff. 19. Januar 1925. Montag

Mittags nach Cardiff, wo abends im University College Vortrag vor Studenten über Deutschlands innere und äußere Politik. Etwa dreihundert Studenten. Nachher Fragen beantwortet. Vorher war, wie mir gesagt wurde, Opposition seitens einiger Studenten geplant. Aber alles verlief in bester Stimmung, und zum Schluß brachten mir die Studenten ihren ›Kriegsruf‹, ein wildes Geschrei, als höchste Huldigung dar.

In der Dunkelheit die gewaltigen Massen vom Cardiff Castle mitten in der Stadt, eine der imposantesten mittelalterlichen Burgen, die ich je gesehen habe. Eigentum und Wohnsitz des Marquis of Bute.

Cardiff. Abergavenny. 20. Januar 1925. Dienstag

Vormittags in der Frühe nach Llandaff die Kathedrale besehen: einen gewaltigen, teils romanischen (normannischen), teils spätgotischen Bau, malerisch an einem grünen Hügelabhang gelegen, der mit Gräbern bedeckt ist, zwischen denen Zypressen stehen. Diese malerische Lage das Schönste, da der Dom selbst stark restauriert ist.

Nachher, um zehn, das Kastell in Cardiff besichtigt unter Führung eines Buteschen Lakaien in grüner Livree und Zylinderhut. Diese gewaltige quadratische Anlage ist ursprünglich römisch, ein befestigtes römisches Lager der klassischen Art, auf dessen Grundmauern die Normannen ihrerseits Befestigungen aufgeführt haben, ohne am ursprünglichen Plan etwas zu ändern. Die römischen Mauern, sechzehn Fuß dicker Beton, Feldsteine in Mörtel gebettet, sind als Kern unter und innerhalb der mittelalterlichen Mauern erhalten. Der jetzige Marquis läßt sie seit zwanzig Jahren innerhalb des normannischen Aufbaus freilegen. Es dürfte eins der besterhaltenen römischen Kastelle sein. Der Führer sagt, daß es durch Inschriften, die aufgefunden worden sind, datiert ist: es soll im Jahre 250 n. Chr. errichtet und in den folgenden Jahrzehnten weiter ausgebaut worden sein; also gerade zu der Zeit, wo das Römische Reich, durch Bürgerkriege zerrissen, auseinanderzufallen drohte. Ein Zeugnis, wie wenig die Palastrevolutionen und Kämpfe zunächst den ungeheuren Bau des Reiches und seine feste bürokratische Organisation erschütterten. Gleich nachher kam ja dann auch Diokletian. Man überschätzt wahrscheinlich sehr die Bedeutung der Kämpfe zwischen Kaisern und Prätendenten in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts: am groteskesten Ferrero.

Mittags nach Abergavenny, um Gill zu besuchen und Aufträge für den Vergil mit ihm zu besprechen. Als Adresse war mir Capelyffin (sprich Chapel-y-fin, das heißt capella ad finem) bei Llanvihangel aufgegeben worden. In Abergavenny kannte niemand den Ort. Ich nahm daher ein Auto und fuhr zunächst nach Llanvihangel in der Annahme, daß Gills Wohnort ganz in der Nähe sein müsse, da er von dort mein Telegramm beantwortet hatte. Mein Autofahrer hatte auch noch nie von Capelyffin gehört. In Llanvihangel wurde uns gesagt, es sei noch zwölf Meilen entfernt, ganz oben in den Black Mountains. Der Autofahrer jammerte, die Wege seien so schlecht und schmal, er könne nicht garantieren, daß wir hinkämen. Er selbst sei nie über das Kloster Anthóny am Fuß der Berge hinausgekommen.

Wir fuhren ein schönes, aber einsames Tal zwischen Wiesen und Hecken auf einem schmalen Landweg hinauf, der in der Tat in die Wildnis zu führen schien. Ich mußte an meine Fahrt im vorigen Jahr das Rio-Grande-Tal hinauf denken. Hinter der Ruine des mittelalterlichen Klosters Anthóny wurde der Weg immer schmaler, der Fahrer immer verzweifelter. Schließlich hielten wir an einem Abhang, und ein Eingeborener sagte uns, Gill wohne oben in einem andren Kloster, das dort der Vater Ignatius gegründet habe. Zwischen Hecken und Wiesen und schließlich einen steilen Pfad zu Fuß hinaufwandernd, kam ich an ein halbverfallenes Klostergebäude; einen in Reparatur befindlichen Klostergang entlang und durch ein Vorzimmer hindurch Stimmen hörend, stieß ich weiter vor und stand plötzlich in einem mittelgroßen Raum, in dem einige Frauen und junge Mädchen und zwei sehr würdig aussehende Mönche an einem großen, offenen Holzfeuer saßen.

Die eine von den Frauen, die ich als Mme. Gill erkannte, kam mir entgegen und fragte, ob ich nicht ihren Mann auf der Landstraße getroffen habe; er sei mir vor ein paar Stunden entgegengegangen. Wir hatten uns offenbar verfehlt. Dann stellte sie mir die beiden Mönche vor, von denen der eine der Prior des im Meere gelegenen Inselklosters war; ein schöner, ernst, aber freundlich aussehender Mann in mittleren Jahren. Er mußte noch heute nach seiner Insel im Ozean zurück, da morgen dort irgendeine Feier ist.

Ich schickte inzwischen mein Auto auf die Suche nach Gill, der auch nach etwa einer Stunde eintraf. Tolstoihaft aussehend in einem Kittel und Mantel, die halb bäuerisch, halb mönchisch anmuteten. Er brachte seinen Schwiegersohn mit, einen jungen Bildhauer und Zeichner.

Das Wiedersehen nach den Kriegsjahren war nicht dramatisch, aber doch beiderseits nicht ohne innere Erschütterung. Gill meinte, für ihn und seine Freunde sei, wie offenbar auch für mich, die Kunst jetzt in die zweite Linie gerückt; das Hauptziel sei Erneuerung des Lebens. Vor dem Kriege habe man zu oberflächlich gedacht. Daher seien sie hier ›trying hard to be good‹, was nicht immer leicht sei. Daneben müsse man aber doch schließlich seinen Beruf weiter ausüben, und sei es auch nur, um nicht zu verhungern. In der Tat produziert er sehr viel. Er zeigte mir sehr feine, kleine Buchsbaumfigürchen und Reliefs von sich und seinem Schwiegersohn, viele Holzschnitte und Kupferstiche, Heiligenbildchen, Kreuzigungen, Porträts usw. Alles von hoher Qualität.

Er und seine Frau und auch die Kinder (was merkwürdiger ist) fühlen sich, wie sie sagen, in der Einöde in der mönchischen Atmosphäre wohl. Ditchling sei zu kleinbürgerlich gewesen; sie hätten nur die Wahl zwischen der Wildnis und London gehabt und hätten sich entschlossen, es zunächst einmal mit der Wildnis zu versuchen; das Experiment sei bisher geglückt. Sie haben keinerlei Bedienung, machen sich alles selbst, kochen ihr Essen am offenen Herdfeuer (wie wir im Kriege im Biwak), führen eine Squatter-Existenz vier Stunden von London und sind dabei vergnügt und wunschlos zufrieden.

Ich ging mit Gill den Vergil und Maillols Holzschnitte durch und besprach mit ihm die Initialen, die er zu schneiden übernahm. Bei Nacht und Dunkelheit brach ich dann wieder auf und war um acht in Abergavenny in meinem gar nicht schlechten Landhotel (The Angel) wieder zurück.

Berlin. 26. Januar 1925. Montag

Winterfeldt (Jochen, der Landesdirektor) telephonierte und bat um eine Besprechung in einer ›sehr wenig erfreulichen Angelegenheit‹. Ich ging zu ihm ins Landeshaus, und er eröffnete mir, daß in der Canitzgesellschaft eine große Zahl von alten Herren meinen Austritt forderten wegen meiner außenpolitischen Tätigkeit und meiner pazifistischen Gesinnung, die mit den Grundsätzen und Traditionen der Canitzgesellschaft nicht vereinbar seien. Er habe es übernommen, mir diesen Wunsch zu übermitteln.

Ich sagte, ich sei selbstverständlich gern bereit auszutreten, denn mir läge nichts daran, in einer Gesellschaft zu bleiben, die meine politische Gesinnung und Tätigkeit mit der ihren für unvereinbar halte, wolle aber doch vorher feststellen, daß ich meine außenpolitische Tätigkeit stets in engster Fühlung mit dem Auswärtigen Amt ausgeübt habe und daß die Leiter unserer Außenpolitik Cuno und Marx, Rosenberg und Stresemann, Maltzan und Schubert mir immer wieder ihre uneingeschränkte Billigung für diese Tätigkeit ausgesprochen hätten, die, wie es scheine, in den Kreisen der Canitzkneipe jetzt so strenge Verurteilung fände.

Was meine pazifistische Gesinnung anbelange, so sähe ich als Politiker kein Mittel außer dem friedlicher Verhandlungen, um unsere außenpolitische Lage und die Härten des Versailler Friedens zu mildern. Auch würde nach dem Urteil sogar der Militärs ein Krieg unter den heutigen Umständen auf deutschem Boden ausgefochten werden, mit Deutschlands Niederlage enden und das deutsche Volk in noch tieferes Elend stürzen als der vorige. Ich hielte es daher für die patriotische Pflicht jedes verantwortungsbewußten deutschen Politikers, in erster Linie auf die Erhaltung des Friedens hinzuwirken. Wenn diese Gesinnung mit der von der Canitzkneipe gepflegten und geforderten unvereinbar sei, so würde ich es meinerseits für meine unabweisbare Pflicht halten, meine Verbindung mit ihr zu lösen.

Winterfeldt bat mich, ihm dieses in einem persönlichen Briefe zu schreiben, und erwog den Gedanken, ob ich diese Anschauungen nicht in einem Vortrag vor dem Vorstand der Canitzgesellschaft oder der Alten-Herren-Versammlung ausführen sollte. Ich erklärte mich hierzu bereit.

Nachdem sie mich sechs Jahre lang in Ruhe gelassen haben, zeigt dieses, wie jetzt den Reaktionären und Kriegshetzern der Kamm schwillt. Der Haupthetzer soll, wie Winterfeldt mir sagte, Medem sein. Sie glauben, ihre Zeit sei angebrochen, und befürchten keinen Rückschlag mehr, bei dem sie meine Protektion nötig haben könnten. Winterfeldt behagte seine Mission offenbar wenig; er brachte seine Sache mit sichtlicher Verlegenheit vor und versuchte, seine Person möglichst abseits zu stellen.

Abends Essen des Pen-Club, dem ich beigetreten bin, den ich aber zum ersten Mal in Fleisch und Blut erlebte: anwesend waren meistenteils nur Fossilien: der alte Rosen (der einmal zu unserem Unglück Außenminister war), der jetzt ganz verkalkt und verknöchert ist, Marie Bunsen, Ludwig Fulda, Federn, O.H. Schmitz, der kleine Prinz Rohan usw. Trüber Abend.

Berlin. 29. Januar 1925. Donnerstag

Abends Pirandellos ›Sechs Personen suchen einen Autor‹ in Reinhardts Komödie. Ein Stück Virtuosität, das manchmal über das verblüffende Können hinaus zu Kunst wird. Das Problem, zwei oder drei Handlungen auf der Bühne durcheinanderzuquirlen und jedesmal den Zuschauer über die Bruchstelle hinwegzuführen, ohne daß er aus der Stimmung kommt, ist von Pirandello mit unerhörter Frechheit und Sicherheit gelöst worden.

Berlin. 30. Januar 1925. Freitag

Das Friedenskartell hatte heute nachmittag zu einer gemeinsamen Sitzung mit der Demokratischen und Sozialdemokratischen Partei und dem Reichsbanner eingeladen, um über die Räumung Kölns und die Entwaffnungsfrage zu beraten und wenigstens eine gemeinsame Haltung und einen gemeinsamen Schritt zu beschließen. Die Anregung war von Küster (Hagen) und den westfälischen Gruppen der Friedensgesellschaft ausgegangen. Als Vertreter der Gauleitung Berlin des Reichsbanners erschien Ebert, ein Sohn des Reichspräsidenten. Leider erwies er sich als knotig, taktlos und indiskret, durch welche Eigenschaften seine Rede, in der er die Haltung des Berliner Reichsbanners darlegte, zur Sensation des Nachmittags wurde.

Nachdem die Beratung zwei Stunden hingeplätschert war und allerlei Vorschläge gemacht waren, um der Regierung wegen der Zeitfreiwilligen (Schwarze Reichswehr) auf den Leib zu rücken, erhob sich Ebert, ein stämmiger, etwas untersetzter junger Mann mit einem kugelrunden, schwarzen Schädel, und sagte: er wisse nicht, wozu er eigentlich hierher eingeladen sei. Er habe geglaubt, es solle über die Art, wie die Räumung Kölns beschleunigt werden könne, verhandelt werden; bisher sei aber nur über die Schwarze Reichswehr gesprochen worden (was nicht stimmte, da ich ausführlich über die Frage der Sicherheit und des Sicherheits-Paktes gesprochen hatte). Über die Schwarze Reichswehr sei das Reichsbanner besser unterrichtet als irgendeine andre Instanz. Es arbeite seit Monaten daran, das Material möglichst vollständig zu sammeln. Er selbst liege seit Monaten draußen und besuche in der Grenzmark systematisch jedes Dorf. Was dabei über die Schwarze Reichswehr herausgekommen sei, sei geradezu haarsträubend. Sie würden aber bald noch mehr heraushaben. In drei Monaten hofften sie so weit zu sein, daß sie jeden einzelnen Mann, der zur Schwarzen Reichswehr gehöre, genau registriert hätten. Aber sie würden es für ein Unding halten, das Material jetzt zu veröffentlichen und so der deutschen Regierung in diesem Augenblick in den Rücken zu fallen (womit ich ganz übereinstimme). Sie (das heißt die Gauleitung Berlin) stünde auf dem Standpunkt, daß, wenn die deutsche Regierung eine Schwarze Reichswehr nötig zu haben glaube, dann das Reichsbanner diese Schwarze Reichswehr bilden müsse, nicht reaktionäre Verbände (!!!).

Berlin. 31. Januar 1925. Sonnabend

Beim Korrespondenten des »Matin« Lauret gefrühstückt mit dem jungen Margerie (dem Sohn des französischen Botschafters), Alfred Kerr und noch zwei Franzosen. Lauret, der Luthers Rede gehört hat, und Margerie lobten sie beide als geschickt und gemäßigt. Der Eindruck sei gestern abend vorzüglich gewesen, sagt Lauret.

Margerie schilderte den Zusammenstoß zwischen Carl Sternheim und Madame de Noailles in Paris bei André Germain. Madame de Noailles habe von Goethe, von Nietzsche und andren großen Deutschen gesprochen; Sternheim habe sie alle als belanglos abgelehnt. Der Name Unruh habe ihn geradezu in Raserei versetzt. Er habe nur sich selbst und allenfalls Georg Kaiser als deutsche Dichter anerkannt, allerdings habe Kaiser ihn kopiert.

Kerr sprach in einem recht guten Französisch glanzlos über Kalifornien.

Berlin. 3. Februar 1925. Dienstag

Diner bei Bergens im »Adlon«: Bernhard Bülow, Graf und Gräfin Klinckowström (er früherer Gardedukorps, sie geb. Kanitz) und Frau v. Oheimb.

Die Gräfin Klinckowström, eine nicht schöne, aber sympathische und gebildete junge Frau (bester Typ des preußischen Adels), klagte über die verstockte reaktionäre Richtung der jüngsten Generation. Sie selbst sei mit siebzehn Jahren eine halbe Kommunistin gewesen; ihr junger Hauslehrer, ein Kandidat der Theologie, habe nie einen Zweifel an allen alten Traditionen gehabt. Und was er vom Geist seiner Kommilitonen auf der Universität erzähle, sei geradezu trostlos. Merkwürdig, aus diesem Munde das zu hören. Dabei ist sie stramm deutschnational.

Klinckowström erzählt, daß er ein offizielles Schreiben von Eulenburg-Prassen, dem angesehensten Adligen seiner Provinz, erhalten habe, in dem er ihm mitteilte, der Generalmajor XY habe ihn gebeten, Klinckowström mitzuteilen, es seien Anzeigen bei ihm eingelaufen, daß bei einer Gesellschaft bei Klinckowström Französisch gesprochen worden sei. Dabei habe es sich um einen Gast gehandelt, der mit einer seit dreißig Jahren bei Klinckowströms dienenden schweizerischen Gouvernante ein paar Worte Französisch gesprochen habe.

Der Abend nahm für mich ein etwas abruptes Ende, da Frau von Bergen ihre Absicht erklärte, mit Klinckowströms ins Palais Mascotte zu fahren, und mich fragte, ob ich mitführe. Vor dem »Adlon« verabschiedeten sich unter verschiedenen Vorwänden Bergen und Bülow und Frau v. Oheimb. Als wir ins »Palais de Danse« kamen, stellte sich heraus, daß wir beim Prinzen August Wilhelm zu Gaste sein oder mit ihm sitzen sollten. Da ich in die peinlichste Lage geraten wäre, verabschiedete ich mich, nachdem der Prinz, der uns entgegengekommen war, den Damen die Hand geküßt hatte, rasch von Klinckowström und bat ihn, mich bei Frau von Bergen zu entschuldigen. Als Botschafterin hätte sie mir eigentlich mitteilen können, was bevorstand. Die Ungeniertheit, mit der die Monarchisten wieder die Verbindungen und die Führung aufnehmen, ist verblüffend.

Weimar. 6. Februar 1925. Freitag

Maillol-Aufsatz geschrieben. Aus diesem Anlaß Platos »Symposion« auf griechisch gelesen und mich gefreut, daß ich noch ohne Schwierigkeiten es fließend konnte.

Berlin. 16. Februar 1925. Montag

Abends großes Diner bei Felix Deutsch: Eberts, Houghton, Krestinskis, Gevers, Löbes, Schachts usw. Ich saß an der Tafel neben Löbe und über Krestinski und auch Schubert, was eine Taktlosigkeit war und Aufsehen erregte.

Frau Ebert, die ich zum ersten Male sah und kennenlernte, macht einen fast vornehmen Eindruck; sie könnte eine ostelbische Gräfin vom Lande sein, etwas massiv und rot, aber nicht ohne Grazie. Geschmackvoll war, daß sie in dieser sehr eleganten Gesellschaft in einem ganz einfachen ausgeschnittenen Kleid ohne das geringste Schmuckstück erschien, nur ein winziges goldenes Kreuz am Hals, wie es jede Arbeiterfrau tragen könnte. Sie hat offenbar Takt und auch Würde. Frau Löbe brachte mich zum Lachen, als sie Renate Schubert »Frau Staatssekretär« anredete.

Regine Deutsch erzählte mir, daß Rathenaus Mutter gleich nach dessen Ermordung alle Briefe verbrannt hätte, die er von ihr, der Deutsch, erhalten habe. Der von beiden immer gehegte Plan (nach Frau Deutschs Behauptung), ihren Briefwechsel einmal herauszugeben, sei dadurch vereitelt worden. Ich fragte, warum die alte Frau Rathenau so gehandelt habe. Die Deutsch: »Aus Eifersucht! Eifersucht einer alten achtzigjährigen Frau.«

Berlin. 20. Februar 1925. Freitag

Nachmittags zum Tee bei Albert Einstein, der in den nächsten Tagen nach Argentinien fährt. Außer mir ein französischer Oberst, der Chef der chemischen Abteilung der Interalliierten Militär-Inspektion. Er sagte, in der chemischen Industrie sei in Deutschland alles in Ordnung; es könne keine Rede davon sein, daß sie Giftgase fabriziere oder irgendwie nicht völlig auf den Friedenszustand zurückgeführt sei. Morgans Artikel enthalte viel Unsinn. Er habe ihn geschrieben offenbar nur, um für sich Reklame zu machen.

Einstein sagte, als ich von seinen Erfolgen sprach, er habe nur mehr Glück als die andren gehabt; er kenne eine Reihe von Gelehrten, die genau den gleichen geistigen Anspruch auf große Entdeckungen gehabt hätten wie er; sie hätten nur weniger Glück gehabt. Ich: er scheine aber doch eine Art von besondrem Ortssinn zu haben, der herausfühle, wo das Loch sei, das aus einem Problem hinausführe. Mit dem französischen Obristen unterhielt er sich über wissenschaftliche Probleme.

Magdeburg. 21. Februar 1925. Sonnabend

Mit Gerlach und Guseck im »Magdeburger Hof« (seligen Angedenkens! mein Revolutionsquartier) gegessen und nachher in die Ausschuß-Sitzung des Reichsbanners im »Weißen Bären«. Hörsing erstattete Bericht und leitete die Sitzung. Er ist kein gebildeter Mann, aber ein Mann; und ein Mann, der seine Grenzen kennt, seine eigenen und die des seiner Organisation Möglichen; verschlagen, vorsichtig und bullenmäßig energisch und zielbewußt. Er spricht ein dialektisch gefärbtes, proletarisches Deutsch, ein Unteroffiziers-Deutsch, aber humorvoll und gewandt. Nuance Gastwirt, von Figur breit, kurz, viereckig, ein grober Klotz mit Humor und derber Faust.

Nachts um zwölf nach London abgereist.

Oxford (Balliol). 24. Februar 1925. Dienstag

Nach Oxford, wo ich im Balliol College für die »League of Nations Union« abends redete und beim Master of Balliol (Lindsay) wohnte. Im Zuge Gilbert Murray (der auch abends bei meinem Vortrag war) getroffen.

Ich bewohne im Hause von Lindsay in Balliol College ein schönes Zimmer mit anstoßendem, großem Badezimmer; leider sehr kalt. Vor Tisch saß ich mit Lindsay und seiner Frau in seinem Arbeitszimmer; mehrmals kamen Studenten herein und sprachen mit ihm oder baten um Unterredungen. Der Kontakt zwischen den Studenten und Lehrern ist hier viel enger als bei uns. Die unverheirateten Professoren wohnen im College, und abends versammelt sich um jeden in seinem Zimmer ein Kreis von jungen Leuten; ganz sokratische Methode.

Wir aßen in der Halle von Balliol, wo nachher auch die Versammlung war. Ich saß mit Lindsay und drei oder vier Professoren (alle im Talar) auf der erhöhten Bühne am Ehrentisch, die Studenten, ebenfalls in schwarzen Talaren, an langen, schmalen Tischen unten im Saal. Eindruck ein leise mönchischer, klösterlicher. Die Studenten aßen in wenigen Minuten (höchstens eine Viertelstunde), um wieder fortzukommen. Auffallend, wie wenig laut die Tischgesellschaft für eine Versammlung von jungen Männern ist. Ganz anders, wie es in Amerika oder Frankreich oder bei uns zugehen würde.

Nach Tisch gingen wir zunächst in den Common Room, während oben die Tische weggeräumt wurden, dann sprach ich, hauptsächlich zu Studenten und Professoren, über Deutschlands Haltung zum Völkerbund und zur Sicherheitsfrage. Nachher Diskussion; die Fragen, die gestellt wurden, verrieten meistens Sympathie für Deutschland. Zum Schluß sekundierte Murray einen von einem Studenten eingebrachten ›Vote of Thank‹ für mich.

Birmingham. 25. Februar 1925. Mittwoch

Mittags von Oxford nach Birmingham. Zu Gast bei Mrs. George Cadbury, Witwe des Kakaokönigs, auf ihrem fürstlichen Landsitz, dem Manor House von Northfield bei Birmingham. Wie alle englischen Kakaokönige sind die Cadburys Quäker. Das Haus liegt in einem großen Park, den ich in der Dunkelheit nur schattenhaft sah. Die Versammlung fand in Woodbroke Settlement statt, einer Art von internationaler Quäker-Erziehungsanstalt für angehende Missionare und ›international workers‹. Um sieben war mit den Zöglingen zusammen ein Abendessen, das etwas frugal in einem Ei, Tomatensalat und einem englischen Pudding, wozu Limonade gereicht wurde, bestand. Aber liebe, gute Menschen alle.

Nachher redete ich in der Kapelle, einem sehr einfachen Holzbau, unter dem Vorsitz der Kakaomillionärin. Unter den Zöglingen waren außer Engländern Deutsche, Franzosen, Amerikaner, ein Zuluneger; im ganzen, wie mir mitgeteilt wurde, elf Nationalitäten. Später sangen wir alle zusammen im großen Saal des Hauptgebäudes einen Choral. Kein Zweifel: eine sympathische Atmosphäre, aber was zu denken gibt, daß die tiefen Gespräche nicht aufgelöst, sondern überkleistert, ja nur überzuckert werden. Für ein paar Ausnahmenaturen mag diese Zuckerkruste genügen, um darauf außerordentliche Leistungen, ein außerordentliches Leben aufzubauen; eine Brücke für die Menschheit kann sie aber nicht sein. Sie teilt das Schicksal der Oberflächlichkeit mit der englischen präraffaelitischen Kunst.

Birmingham-Wolverhampton. 26. Februar 1925. Donnerstag

Bournville besucht unter Führung der achtzehnjährigen, sehr niedlichen Tochter der Mrs. Cadbury. Riesenanlage, zehntausend Arbeiter, Mädchen und Männer, alle appetitlich weiß gekleidet. Trotzdem riecht es so nach Kakao, daß mir fast übel wurde. Ringsherum haben die Cadburys eine Musterstadt gebaut, lauter reizende Cottages, parkartige Gärten, Bäder, Speisehallen, eine ideal schöne und praktische Schule, ein reizendes, altes englisches Herrenhaus, das Stein für Stein hierher geschleppt und wiederaufgebaut worden ist. Die Arbeiter sind glücklich. Auch haben sie einen Arbeiterrat, der nach den neuesten Methoden funktioniert. Es ist die vollkommenste Ausdehnung der bourgeoisen, kapitalistischen Kultur mit allen ihren Segnungen und Annehmlichkeiten auf die Arbeiterschaft. Weiter läßt sich diese Methode materiell und geistig nicht treiben. Vor allem steckt dahinter bei den Cadburys zweifellos ein wirkliches Ideal, der allerbeste und gütigste christlichste Wille.

Und doch bleibt ein großes Fragezeichen; ob nicht doch letzten Endes die Arbeiter bestohlen und betrogen, das heißt ausgebeutet werden, indem sie trotz aller Freigebigkeit der Besitzer weniger bekommen, als ihnen nach ihrem Anteil am Gesamtergebnis zukommt; und noch mehr, ob dadurch das ganze System, das für den Profit und nicht für den wirklichen Bedarf arbeitet, irgendwie besser, rationeller und moralischer wird. Führt von dieser Methode der Weg irgendwie weiter oder nicht nur tiefer in eine irrationelle und unmoralische Wirtschaft hinein? Handelt es sich nicht bloß um eine Art von Inzucht des hochkapitalistischen Systems, die zum Absterben, nicht zur Mutation in neue Formen der Produktion führt?

Die kleine blonde Miß Cadbury als letzte Blüte und Rechtfertigung dieser ungeheuren Produktionsmaschine ist etwas dünn. Und ebenso sogar die schöne internationale Liebestätigkeit der Mrs. Cadbury, die schließlich nur einer gütigen Laune der Herrin im Hause entspringt.

Nachmittags nach Wolverhampton, wo in einer von der Labour Party einberufenen Versammlung hauptsächlich vor Arbeitern gesprochen.

Manchester. 27. Februar 1925. Freitag

Früh in den Zeitungen Nachrichten, daß Ebert, der am Blinddarm operiert worden ist, in Lebensgefahr schwebt. Um zehn nach Manchester gefahren, wo ich am Bahnhof von einem Quäker, Mr. A. C. Wilson, empfangen wurde, älterer, ernster, angenehmer Mann, früherer Zivilingenieur; in den Linkskreisen von Manchester sehr einflußreich. Labour Party. Um eins Versammlung in der Universität von der Student's ›Union‹ (dem Studentenklub) einberufen.

Abends Versammlung im Quäker-Versammlungshaus. Ein Geistlicher, Mr. Roff, präsidierte. Lady Barlow, Allen, Wilson, Behrens, Miß Rinder saßen mit im Präsidium. Ich hatte einen sehr starken Erfolg. Der schöne, einfache, klassizistische Raum (etwa 1820), die reine, helle Atmosphäre waren kongenial. Ich habe mich selten sicherer und wohler gefühlt.

Manchester-Bradford. 28. Februar 1925. Sonnabend

Früh begleitete mich Wilson in die John-Rylands-Bibliothek. Der Kustos (Vine) zeigte uns herrliche mittelalterliche Handschriften, die meistens aus der Crawford-Sammlung stammen. Das Schönste war ein Buchdeckel aus Trier (zwölftes oder dreizehntes Jahrhundert); edelste deutsche Kleinplastik in vergoldetem Silber; winzige Figuren von Kaisern und Kaiserinnen, Heiligen, Bischöfen in Hochrelief im allerfeinsten und schönsten Stil, fast noch klassisch, und doch ganz geschwellt vom Geist, von der Anschauung der Minnesänger; ein wahres Kleinod aus der Zeit, wo die deutsche Kultur ihren Höhepunkt erreicht hat. Nie wieder hat das deutsche Volk diese Allgemeingültigkeit, diese edle Breite und Innigkeit erreicht. Diese kleinen Figuren sind Brüder und Schwestern der Naumburger Stifter, aber vielleicht noch edler und universaler.

Um zwei nach Huddersfield mit Wilson, wo wir am Bahnhof vom M. P. Hudson und dem Bürgermeister empfangen und vom Bürgermeister in seinem Auto zur Versammlung gefahren wurden. Es waren hundertfünfzig Delegierte der Gewerkschaften und andrer Vereinigungen versammelt. Ich redete unter wachsendem Beifall anderthalb Stunden über Deutschlands Stellung zum Völkerbund, Protokoll und Sicherheitspakten. Der Bürgermeister führte, mit seiner goldenen Amtskette geschmückt, den Vorsitz. In den Schlußreden feierten die Redner in einer mich in Verlegenheit setzenden Weise ›the great international figure‹, die heute zu ihnen geredet habe. Hudson, der die Sache inszeniert hatte, war offenbar hocherfreut.

Auf der Reise von Manchester nach Huddersfield machte auf mich die kalte, harte, baumlose Hügellandschaft, die einem scharfgeschnittenen, erbarmungslosen Gesicht gleicht, einen starken Eindruck. Sie ist die Geburtsstätte der englischen Industrie, des englischen weltumspannenden Industrie-Kapitalismus und auch des englischen politischen Radikalismus. Sie hat antike Größe, grau und trüb, eine Seele wie aus Kohlenstaub, und doch eine harte, unbezähmbare Energie wie die, die man in der römischen Campagna fühlt. Hier ist endlich England, das überall sonst nur Masken trägt. Selten hat mich eine Landschaft in so kurzer Zeit so durchdrungen und erschüttert. Wie wenn ein Schleier gelüftet wird von einem Geheimnis, das man immer geahnt, aber nie sich selber klar formuliert hat.

Um sieben waren wir wieder in Manchester. Am Bahnhof kaufte ich, weil ich über Eberts Befinden beunruhigt war, eine Abendzeitung, las sie auf der Straße, fand die Nachricht von Eberts Tod!

Im Hotel ein Telegramm von Foege, das mir die gleiche erschütternde Nachricht brachte. Ich hatte schon in Huddersfield Hudson gesagt, daß ich wegen Ebert sehr beunruhigt sei und vielleicht, wenn er stürbe, meine Tour unterbrechen und nach Deutschland zurückkehren würde. Ich bin im Zweifel, was ich jetzt tun soll. Nach Rathenau Ebert!

Bradford-Leeds. 2. März 1925. Montag

Nachmittags nach Leeds. Abends Versammlung im großen Auditorium der Universität, das halb besetzt war. Vorsitzender ein Professor der Mathematik, Freund Einsteins, Zionist, hält in nächster Zeit Vorlesungen in Jerusalem auf hebräisch. In dem Saal, der etwa sechshundert faßt, mögen höchstens dreihundert Zuhörer gewesen sein. Pearce und der Professor sagten, die Versammlung übersteige ihre Erwartungen; sie hätten nicht so viele Zuhörer erwartet. Alles in allem, nachdem ich jetzt in mehreren großen Städten gesprochen habe, ist mein stärkster Eindruck der der Gleichgültigkeit der großen Masse des Publikums hier gegen die Frage des Völkerbunds, des ›Protokolls‹, der Sicherheit usw. Die Veranstalter versuchten die Gleichgültigkeit vor mir zu verschleiern, aber sie besteht und ist mindestens ebenso groß wie in Deutschland. Die große Masse interessiert sich in England ebensowenig wie in Deutschland oder in Frankreich für den Frieden; man ist und bleibt ein Prediger in der Wüste trotz einzelner rührend eifriger Vorkämpfer wie Hudson (der offenbar der Führer und Erwecker aller dieser einzelnen in der Provinz ist) und Morell, der ihr Prophet gewesen ist. Die meisten besitzen zu wenig Phantasie und zu wenig Ernst, um sich für die Sache zu interessieren. Wenn unter diesen Umständen aus der Sache etwas wird, wird sie das Werk einzelner sein, einzelner Märtyrer, Vorkämpfer, Diplomaten, Staatsmänner, nicht des Volkes der verschiedenen europäischen Länder. Andernfalls wird die Hammelherde genauso ahnungslos und wehrlos zur Schlachtbank im künftigen Kriege eilen wie 1914. In dieser grundlegenden Frage der europäischen Zukunft ist das ›Volk‹ überall willenlos. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, bekommen auch die kleinen und sonst so elend und geistig arm erscheinenden pazifistischen Vereinigungen (Liga für Menschenrechte, Friedensgesellschaften, Quäker usw.) ein andres Aussehen und eine andre Bedeutung, und auch die einzelnen Vorkämpfer des Pazifismus wie Hudson, Morell, Quidde, Gerlach oder Frauen wie Mme. Jouve, Jane Adams, Katherine Marshall, Wilma usw. Ohne sie wäre überhaupt nichts da, und bei der allgemeinen Gleichgültigkeit ist der Widerstand auch relativ schwach, so daß geringe Kräfte mehr erreichen können, als man zu erwarten eigentlich berechtigt wäre.

Newcastle. 3. März 1925. Dienstag

Bei der Ankunft in Newcastle Telegramm von Paul, daß meine kleine Lulu gestorben ist; eine kleine Gefühlswelt, in der ich den mit zäher Treue festgehaltenen Mittelpunkt bildete, ist auf immer verloschen. Ihre kleine Seele blieb während jahrelanger Trennungen im Kriege treu bis zu Freudenkrämpfen, wenn ich wiederkam. Wir Menschen sind zu kompliziert für solche Liebe. Vor mir schweben in der Erinnerung ihre rassigen, langen, schönen Hände, ihre Lebhaftigkeit, ihre drollige Begeisterung für Zucker, alle die kleinen Charaktereigenschaften, die aus ihr eine kleine Persönlichkeit machten. Und wieviel Bande mit einer längst entschwundenen Vergangenheit.

Mama (die sonst Hunde nicht leiden konnte) hatte sie noch gestreichelt. Heymel hat oft mit ihr gespielt. Sie war die Lebensfreundin des armen Fip. Ich erinnere mich unserer Reise im Schlafwagen von Paris, als sie sechs Monate alt war und so drollig auf dem Bett lag und spielte. Bis zuletzt, noch bei meinem letzten Besuch in Weimar, gab sie ihr ganzes Temperament in wildem Bellen aus, wenn ich ankam. Die Nachricht hat mir Newcastle verleidet.

York-Rochdale. 4. März 1925. Mittwoch

Vormittags ins Münster. Wieder erschüttert von seiner Kühnheit, Grazie und Größe. Dieses dreizehnte Jahrhundert, das uns überall die gewaltigsten Bauten, die farbenprächtigsten Kunstwerke, eine Fülle von Dichtungen ersten Ranges, Heilige wie Franz von Assisi und der heilige Dominicus und Herrschergestalten wie Friedrich von Hohenstaufen, Ludwig den Heiligen, Innozenz III. und zur Krönung von allen noch Dante geschenkt hat, ist vielleicht das reichste und geschlossenste Jahrhundert der europäischen Geschichte gewesen, das Jahrhundert, das Europa eigentlich geschaffen und die weiße Rasse über alle andren Rassen erhöht hat.

London. 5. März 1925. Donnerstag

Früh an in London. – Nachmittags im Parlament zur erwarteten großen Debatte über die Außenpolitik vor Chamberlains Reise morgen nach Paris (Zusammenkunft mit Herriot) und Genf. Hudson hatte mir einen Platz ›under the gangway‹ verschafft, so daß ich tatsächlich im Sitzungssaal selbst unmittelbar hinter den Abgeordneten saß.

Herbert Fisher hielt zuerst eine inhaltlich gute, rhetorisch schwache Rede anstelle des erkrankten Lloyd George, in der er die Regierung über ihre Außenpolitik interpellierte und vor allem zwei Punkte hervorhob: die liberale Partei würde nicht eine Verquickung der Frage der verlängerten Besetzung von Köln mit der Sicherheitsfrage billigen und einen Sicherheitspakt zwischen Frankreich und England allein, ohne Zuziehung Deutschlands, nicht mitmachen.

Nach Fishers Rede stand sofort Chamberlain, der bis dahin mit dem spiegelblank gebügelten Zylinderhut auf dem Kopf und mit weit vorgestreckten Beinen, eine Klub-Figur auf der Regierungsbank, dagesessen hatte, auf, stellte den blitzenden Zylinder auf den Regierungstisch und antwortete. Er hat das undefinierbar jugendliche Aussehen eines der Schule entwachsenen englischen Boy; glattrasiertes, scharfes, mageres Gesicht, aber wenig intellektuell, wie ein Suppenhuhn oder wie ein schlechter Abdruck einer gutgeschnittenen alten Medaille.

Er redete miserabel, stotternd, sich fortwährend verbessernd, zeitweise steckenbleibend, offenbar unentschlossen, was er sagen und was er nicht sagen sollte. Auch inhaltlich ziemlich leer und unbefriedigend. Er gab zu, daß er noch keine eigene Politik habe; er habe sich über seine Außenpolitik noch nicht klarwerden können. (!!) Er wolle sich jetzt auf seiner Reise erst informieren. Dieses klägliche Geständnis wurde zunächst stillschweigend vom Hause hingenommen. Er berief sich auf Greys gestrige Rede, deren Ausführungen er sich zu eigen zu machen schien (worauf ihn nachher Grigg festnagelte).

Die zwei wichtigsten Punkte in seiner Rede und die einzigen, die er einigermaßen klar herausarbeitete, waren erstens: daß das Sicherheitsproblem nichts mit der Verlängerung der Besetzung von Köln zu tun habe und nicht damit in Verbindung gebracht werden dürfe, und zweitens: daß in der Tat die deutsche Regierung eine Garantie für die jetzige französisch-deutsche Grenze angeboten habe und daß die englische Regierung dieses Angebot für sehr wichtig halte; ja, er verstieg sich zu der mit einiger Wärme und selbst stimmlichem Pathos vorgetragenen Hoffnung, daß dieses Angebot der deutschen Regierung vielleicht die Brücke sein werde, die Europa aus dem traurigen Zustand, in dem es jetzt sei, in eine bessere Zukunft hinüberführen werde. Aber mehr könne er darüber im Augenblick nicht sagen.

Nachdem er einige Zeit ziemlich nichtssagend geredet hatte und bis zum Angebot der deutschen Regierung gestoßen war, rief ihm der Arbeiterabgeordnete Kirkwood höhnisch zu: »Na, jetzt kommt etwas ganz Wichtiges!« und wiederholte zwei- bis dreimal diesen ziemlich unschuldigen Zwischenruf, worauf der Chairman des Committee (das Haus war nicht als Vollversammlung, sondern als Ausschuß versammelt) den Abgeordneten Kirkwood zur Ordnung rief und, als er sich nicht fügte, aufforderte, das Haus zu verlassen. Chamberlain setzte sich mitten in seiner Rede. Kirkwood blieb auf seinem Platz, worauf der Vorsitzende ›named him‹ (eine Form des Tadels), die Sitzung unterbrach und unter großer Feierlichkeit den Speaker holen ließ, der in seiner Perücke erschien und die Ausweisung des Abgeordneten Kirkwood aufrechterhielt.

Jetzt intervenierte Ramsay Macdonald, aber erfolglos, worauf die ganze Labour Party unter höhnischen Zurufen der Konservativen geschlossen das Haus verließ. Der liberale Flügel der Opposition blieb sitzen. Nachdem sich so das Haus zu einem Drittel geleert hatte, fuhr Chamberlain fort. Aber der skandalöse Zwischenfall hatte ihn offenbar aus dem Konzept gebracht. Er redete noch unsicherer und konfuser als sonst und mußte sich nachher, als Grigg ihm antwortete, entschuldigen, daß er einen sehr wichtigen Teil dessen, was er hatte sagen wollen, vergessen habe und nachholen müsse.

Eine so klägliche Performance eines Außenministers in einem Parlament habe ich noch nicht erlebt. Selbst unser Rosenberg, der immer nur ablesen konnte und das sogar nur mangelhaft, war besser. Wie ein so unselbständiger, ungewandter, unentschlossener, unklarer Mann die wichtigsten Weltprobleme mit Herriot einigermaßen vernünftig besprechen soll, ist rätselhaft. Ich würde ihm nicht meine Vertretung in einem Mietsprozeß vor dem Schöffengericht anvertrauen.

In der Labour Party herrschte über das scharfmacherische Vorgehen des Ausschußvorsitzenden (eines Konservativen) gegen Kirkwood große Empörung. Macdonald will darüber interpellieren; und vorläufig ist die Labour Party, das heißt die offizielle Opposition, aus dem Parlament ausgeschieden.

London, 11. März 1925. Mittwoch

Vormittags Besprechung mit Ramsay Macdonald in seinem Zimmer im Unterhause. Er hat jetzt das, in dem ich vor zwei Jahren Asquith sprach. Ein großes, helles Feuer brannte im Kamin, da draußen kaltes, klares Wetter ist, und er stand die meiste Zeit nach englischer Art mit dem Rücken gegen den Kamin und nach hinten gekreuzten Händen vor dem Feuer.

Er nahm gegen unseren Garantiepakt-Vorschlag eine durchaus ablehnende Haltung ein. Unsere Diplomatie sei in den letzten Jahren leider fast immer ungeschickt (clumsy) gewesen. Auch jetzt wieder. Durch unseren Vorschlag würden Fragen zur Diskussion gestellt, für deren Lösung Europa noch nicht reif sei: die unserer Ostgrenze und die der Garantien, die Deutschland Frankreich bieten könne. Wir seien noch mitten im Kriege. Frankreich hasse und beargwöhne uns. Viele Leute in England haßten und beargwöhnten uns. Solange dieser Geisteszustand andauere, sei von einer Konferenz über die Sicherheitsfrage nichts Gutes zu erwarten. Konferenzen dürfe man nur abhalten, wenn man im voraus so gut wie sicher sei, daß sie zu einem günstigen Resultat führen würden. So habe er die Londoner Konferenz erst einberufen, als er sich sicher fühlte, sie zu einem erfolgreichen Ende führen zu können. Aber wenn sich jetzt England, Frankreich, Deutschland, Belgien um einen Tisch setzten, um unseren Paktvorschlag zu besprechen, dann werde Frankreich sofort die Frage unserer Ostgrenzen und der von uns zu bietenden militärischen Garantien aufwerfen, und wir würden entweder nachgeben müssen, oder aber die Konferenz werde an unserer Unnachgiebigkeit scheitern, und dann würde ganz Europa wieder die Hände zum Himmel heben über das böse Deutschland.

Gegen Schluß des Gesprächs war Arthur Henderson hereingekommen, der sich noch viel heftiger gegen unseren Vorschlag aussprach als Macdonald. Ich habe den Eindruck, daß, abgesehen von sachlichen Gründen, auch taktische und demagogische bei dieser Haltung, die die Labour Party einnehmen will, mitsprechen, sie wollen die Frage des Protokolls und des Friedens als Haupt-Sturmbock gegen die Regierung benutzen, um Stimmen zu gewinnen und wieder Wind in die Segel der Labour Party zu bekommen.

London. 13. März 1925. Freitag

Eric Gill besuchte mich und frühstückte mit mir mit Will Rothensteins. Ich besprach mit Gill seine Arbeiten für meinen Vergil und Initialen für die Caslon-Schriften. Dann gingen wir in die Goupil Gallery, wo mir Gill den sehr schönen Kopf eines schlafenden Christus zeigte, den er soeben in Stein gehauen hat. Auf meine Frage, ob er nicht für mich Holzschnitte machen wolle, sagte Gill, er würde sehr gern welche für einen lateinischen Druck des Hohen Liedes auf meiner Presse machen. Auch schlug er ein indisches Werk vor, das er brennend gern illustrieren möchte, eine indische Abhandlung über die Liebe ›Ananga-Ranga‹ (französisch Le traité d'amour hindou). Auf meine Frage, was der Inhalt sei, meinte er: »Well, in reality: thirty-four ways of doing it« (das heißt: vierunddreißig Liebesstellungen, vierunddreißig Arten des Liebesaktes).

Gill ist eine ganz unverdorbene Mischung von Religion und Erotik. Seine Religion (er geht in einer Art von Mönchskutte, und sein Leben in Wales ist bis auf die Tatsache, daß er verheiratet ist, das eines monastischen Einsiedlers) definiert er selbst als ›fully in love with Christ‹.

Gills Aussehen ist fast das eines Bettelmönches: struppiger Vollbart, ungekämmtes, ziemlich langes Haar, rotunterlaufene, reine, aber willensstarke, manchmal fast fanatisch leuchtende Augen, graubraune, fast bis zu den Füßen reichende wollene Kutte, alter, schwarzer, fast schon grauer Filzhut. Er sagte: er fände es ›such a comfort‹, seine ganze Kleidung bei sich zu Hause anfertigen zu lassen. Eine seiner Töchter lernt weben, und dann hofft er, auch alle Kleidungsstoffe für seine Familie zu Hause anfertigen zu lassen.

Er äußerte Bedenken gegen meine Absicht, von seinen Initialen galvanoplastische Nachbildungen anfertigen zu lassen, weil der galvanoplastische Prozeß von der ganzen modernen Industrie abhängig sei, also vom Kapitalismus, der die Welt zugrunde richte. Auf Einwände von mir antwortete er: er bekämpfe den Kapitalismus nicht; es genüge ihm, wenn er persönlich am kapitalistischen Prozeß nicht teilnehme und ›richtig lebe‹ (do what is right). Was die andren täten, sei nicht seine Sache. Aber er sei überzeugt, daß die ganze moderne Zivilisation in wenigen Jahren zusammenbrechen werde, ob wir es möchten oder nicht, so stark sei die Empörung gegen sie, die überall im Wachsen sei.

Alles in allem, mit seinem großen künstlerischen Talent, seiner rücksichtslosen Ablehnung der modernen Wirtschaft, seiner eigenartigen Gottseligkeit, die eine allumspannende Erotik ist, seiner Ablehnung der Ethik, seiner erotischen Askese, richtiger Vereinigung von Erotik und Askese, die an die Geistesverfassung gewisser ägyptischer Wüstenheiliger erinnert, eine sehr sonderbare und bemerkenswerte Erscheinung. Vielleicht verwandt am meisten mit van Gogh. Weltgeilheit.

London. 19. März 1925. Donnerstag

Abends im Comedy-Theater den ›Vortex‹ von Noel Coward gesehen, der in seinem eigenen Stück die Hauptrolle (einen jungen Kokainschnupfer) spielt. Ein sehr starkes Stück; und Coward spielte süperb, als großer Schauspieler, erschütternd wahr und dabei meisterhaft ›restrained‹, ohne billige Effekte die Tragödie des Sohnes einer eitlen, vergnügungssüchtigen, durch und durch verdorbenen und herzlosen schönen Frau. Nur hat das Stück keinen Schluß, weil es in der Tat aus dieser Situation keinen Ausweg gibt.

London. 20. März 1925. Freitag

Vormittags bei Mrs. Snowden im Hotel Victoria, wo sie jetzt wohnen. Er, Snowden, war bei einem Temperenzler-Kongreß in der Provinz. Sie ist eben von einer Vortragsreise in Amerika zurückgekehrt, wo es ihr ähnlich gegangen ist wie mir; man hat sie vor lauter Freundlichkeit fast umgebracht. Sie erzählte unter andrem, bei einem Vortrag vor zweitausend Menschen, nachdem sie vorher siebzehn Nächte auf der Eisenbahn verbracht hatte, hätten alle zweitausend ihr die Hand drücken wollen. Beim tausendsten oder zwölfhundertsten sei sie ohnmächtig geworden. Man habe sie hinausgetragen, mit Wasser oder Eau de Cologne besprengt, zu sich gebracht und dann wieder in den Vortragssaal zurückgeführt und gezwungen, trotz ihrer Empörung noch den übrigen achthundert die Hand zu geben. Macdonalds starres Eintreten für das Protokoll führte sie auf persönliche Eitelkeit zurück.

London. 23. März 1925. Montag

Gefrühstückt bei Rothenstein (in einem italienischen Restaurant, sehr schlecht) mit Sir Sidney Lee (dem Biographen Eduards VII.), der mich kennenlernen wollte. Ich sagte ihm in höflicher Weise, was ich von der vollkommen geistigen Leere und Ideenlosigkeit seines Helden denke. Er bestätigte, daß in der ungeheuren Masse seiner Briefe kaum eine politische oder andre Idee zu finden sei. Und nach 1880 sei offenbar ein geistiger Abstieg bei ihm festzustellen. Auch zitierte er, ohne zu widersprechen, das Urteil der ›New York Times‹, daß Eduard VII. und der Kaiser einander wert gewesen seien. Auffallend sei in den Briefen Eduards an Frauen die vollkommen geschäftsmäßige Art, wie er ihnen ein Stelldichein gegeben habe, ohne jede Spur von Galanterie oder Liebesgerede. Auch diese ›Liebesbriefe‹ seien ohne Witz oder Anmut oder Ideen; ganz geistlos. Aber als König habe er stärker, als es sich eigentlich nach der englischen Verfassung geziemt hätte, in die Politik eingegriffen. Am selben Tage, wo die Entente zwischen Frankreich und England unterzeichnet wurde, habe er aus eigenen Stücken in Kopenhagen (wo er sich gerade aufhielt) Iswolski (der dort damals Gesandter war) eine Entente mit Rußland vorgeschlagen. Iswolski habe ihn um die Erlaubnis gebeten, einen Bericht über ihre Unterredung aufzusetzen und ihm vorzulegen; und beide, der König und Iswolski, hätten dann den Bericht in zwei Exemplaren paraphiert. Lee hat das Exemplar des Königs in Händen gehabt. Seine Minister, wie Lansdowne, hätten aber eine sehr geringe Meinung von ihm gehabt. Ich versprach Lee, ihm Judels ›Paul Louis‹ und unsere Ausgabe der Berichte Iswolskis zu schicken, die er beide nicht kannte. Lee ist ein schon recht senil aussehender, offenbar ziemlich vorsichtiger Hofhistoriograph, der ebenfalls keinen geistig überragenden Eindruck macht.

London. 24. März 1925. Dienstag

Nachmittags und abends bei der Debatte über das Protokoll und unseren Pakt-Vorschlag im Unterhaus. Sthamer wohnte ihr bis zur Essenspause bei. Ich saß zwischen ihm und Garnett auf der ›Distinguished Strangers‹ Gallery.

Die Debatte bewegte sich durchweg auf einem sehr hohen Niveau. Henderson leitete sie um halb fünf ein mit einem recht geschickten, aber temperamentslosen, größtenteils abgelesenen Plädoyer für das Protokoll, in dem am Schluß meine Anregungen durchschimmerten und die Ablehnung unseres Vorschlages milderten. Chamberlain antwortete ihm im Gegensatz zum verunglückten Gestammel, das er vor seiner Reise nach Genf zum besten gab, in einer klaren und fesselnden Rede. Darauf folgte ziemlich verlegen und kunstlos der kleine Hartington, der den Eindruck eines Schulbuben machte, aber einige ganz kluge Fragen vortrug, die ebenfalls ungefähr mein Programm formulierten.

Dann platzte als Sensation des Tages die Rede von Lloyd George, eine heftige Philippika gegen das Protokoll und gegen Polen, das bereits fünf Elsaß-Lothringen besäße, ein sechstes gegenwärtig zu erschleichen suche (Danzig) und die eigentliche Kriegsgefahr auf dem Kontinent sei. Die Rede wirkte als Sensation, was er wohl auch beabsichtigt hatte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihr fehlte ganz sein üblicher Witz und Zauber, obwohl er einige ganz drollige Schlager hervorbrachte. Er wirkte aber wie ein ausgebrannter Vulkan, der nur noch etwas Dampf herauspufft. Das Zündende fehlte. Ein alter Schauspieler, dem man seine Heldenrolle nicht mehr glaubt. Etwas grauenhaft Groteskes lag in dem Versuch, sich durch diesen demagogischen Angriff auf sein eigenes Werk, Versailles, wieder der allgemeinen Aufmerksamkeit zu empfehlen. Der Zuchthäusler als Staatsanwalt, die alte Kokotte als Vorkämpferin der öffentlichen Sittlichkeit.

Chamberlain unterbrach ihn, um nachdrücklich seine Ausführungen abzuschütteln, und verließ dann als Protest das Haus. Und Macdonald bezeichnete ihn mit seiner schmelzendsten Tenorstimme und gutgespielten Nachsicht als Butler im Porzellanladen, der in der Innenpolitik vielleicht erträglich sei, wenn er in Außenpolitik einbreche aber zu einem europäischen Problem werde. Sonst war Macdonalds Rede ziemlich schwach. Unseren Vorschlag behandelte er, wenn auch ablehnend und geringschätzig, doch glimpflicher, als ich erwartet hatte: wenn er uns dem Frieden näherbringe, habe er seinen Segen.

Die rhetorisch glänzendste Rede hielt der junge Duff Cooper (Konservativer), der Mann der Diana Manners, offenbar ein Talent ersten Ranges und kommender Mann. Herbert Fisher versuchte recht geschickt das von Lloyd George zerschlagene Porzellan zu kitten, erklärte sich aber auch gegen das Protokoll. Den Schluß machte in einer recht witzigen Rede Baldwin, in der er ebenfalls warm für den deutschen Vorschlag eintrat. Die Gegnerschaft der Arbeiterpartei hat vorläufig nur die Wirkung gehabt, die Regierung noch mehr auf unseren Vorschlag festzulegen.

Paris. 29. März 1925. Sonntag

Vormittags bei Hoesch. Ich gab ihm eine Darstellung der Lage in England und sagte unter andrem, die englische Regierung klammere sich an unseren Vorschlag wie an den letzten Strohhalm: sie habe nichts andres mehr; wozu Hoesch dazwischenwarf: Herriot hat auch nichts andres. Hoesch ist daher der Ansicht, daß trotz der rüpelhaften Haltung der hiesigen Presse die französische Regierung doch schließlich in irgendeiner Form auf unseren Vorschlag eingehen wird.

Nachher bei Mme. Ménard-Dorian, die gestern mit Painlevé bei Hoesch gefrühstückt hat. Sie war in großer Aufregung wegen der heutigen Präsidentenwahl bei uns. Wenn nur nicht ein Nationalist gewählt werde! Als sie Wilma und mich an die Treppe begleitete, kam uns ein junger Mann mit einer älteren Dame entgegen. »C'est Monsieur Liebkné (Liebknecht) ce jeune homme: tout ce qu'il y a de plus bolchéviste!« flüsterte sie uns ins Ohr.

Paris. 30. März 1925. Montag

Abends aßen bei Wilma: Hoesch, Henri Lichtenberger, Francois Crucy, Lady Barlow und eine Mme. Malaterre. Bei Tisch Gespräch über Coudenhove, der allgemeine Sympathie genießt; aber Lichtenberger sagte, solange er England aus seinem Paneuropa ausschließen wolle, werde kein ernster Politiker in Frankreich seiner Vereinigung beitreten. Crucy sagte mir, Herriot sei in Wirklichkeit für unseren Paktplan sehr eingenommen; aber große Beunruhigung herrsche über den möglichen Ausfall unserer Präsidentenwahl.

Wir sprachen dann über Anatole France, mit dem Crucy intim befreundet war. Er schilderte den Besuch Einsteins bei France im ›Adlon‹ in Berlin (bald nach dem Kriege). Der Professor Nicolai sei auch dabeigewesen. France habe offenbar zu Einstein keine Beziehung gefunden, während er gleich mit Nicolai in einen sehr lebhaften Gedankenaustausch eingetreten sei. Einstein dagegen sei von der Zusammenkunft mit France tief bewegt gewesen. Crucy meinte, er habe sich diese merkwürdige Beziehungslosigkeit Frances zu Einstein nicht erklären können. Ich sagte: Einstein sei tief religiös, ganz von der Existenz Gottes durchdrungen, France ein Skeptiker. Es sei wohl gewesen, als ob Jehova plötzlich bei Voltaire eingetreten wäre. Voltaire hätte zu Jehova wenig Beziehungen gehabt, während Jehova Voltaire und seinen Skeptizismus noch immer als eine Emanation seiner Göttlichkeit, als eine Facette Gottes hätte begreifen und sich daran erfreuen können. Crucy lachte und meinte, ja, das sei vielleicht die Erklärung. Er klagte dann über den Schmutz, den Schriftsteller und Memoirenschreiber wie Brousson, Le Goff usw. über France jetzt ausschütten. Ich sagte, sie hatten trotz ihres Schmutzes den Glanz von Frances geistiger Stellung nur vermutet. Wie ein Rembrandtsches Porträt, das mit Schmutz gemalt sei, nur um so geheimnisvolleres Licht ausstrahle.

Banyuls. 1. April 1925. Mittwoch

Ich fand Maillol stark erkältet und wehleidig. Er leidet oder klagt mehr bei kleinen persönlichen Leiden als andre. Seit vierzehn Tagen habe er vor Kopfschmerzen nicht schlafen können. Daher sei er mit den Initialen für den Vergil nicht weitergekommen. Gebückt und in sich zusammengesunken ging er im Hause in einem alten hellblauen Ulster, einer gestrickten gelben Weste, einem dicken hellblauen Hemd und mit einem Hut auf dem Kopf herum; farbig wie ein alter, schöner Paradiesvogel. Dabei sahen seine hellblauen, klaren Matrosenaugen lustig unter seinen dicken grauen Augenbrauen aus seinem edlen, zerfurchten, aber gesunden Gesicht hervor.

Wozu ich überhaupt Initialen brauche? Das bloße Satzbild sei ohne Initialen viel schöner. Aber drei neue Holzschnitte hatte er fertiggestellt und den Entwurf eines vierten zur II. Ekloge, einen kleinen, fliehenden schwarzen Geißbock. Die Initialen kosteten ihn unendlich viel Zeit, jede einen ganzen Tag, und er wisse schon so nicht, wie er die Arbeiten, die er vorhabe, bis zu seiner Abreise nach Paris fertigstellen solle. Aber wenn ich es wünsche, müsse er die Initialen eben machen. Dabei lächelte er verschmitzt und gütig, halb wie ein ertappter Schuljunge und halb wie ein alter Philosoph, wobei er vergebens versuchte, seinen klaren Augen einen schmerzhaften Ausdruck zu geben. Er machte dann Probedrucke von den beiden Initialen zur I. Ekloge, die er fertiggeschnitten hat, wobei sich herausstellte, daß sie zu schwer sind und er sie korrigieren muß, was er ohne weiteres auf sich nahm, so daß ich mir selber fast unverantwortlich grausam vorkam. Er bat mich, morgen früh um zehn wiederzukommen, hoffentlich gehe es ihm dann besser, ›et alors nous travaillerons‹.

Schrecklich, einem Genie ein Pensum aufzugeben wie einem Schuljungen. Aber so ist es von Anfang unserer Beziehungen an gewesen; ohne sanften Druck und Rücksichtslosigkeit gegen seine fortwährenden Klagen wären weder die große ›Hockende‹ noch das große Relief, noch die Figur von Colin fertiggeworden.

Beim Durchblättern der Probedrucke machte er mich nochmals besonders darauf aufmerksam, daß für die mittlere Figur auf dem Holzschnitt zu Seite 98 (Silvanus) Rodin ihm als Modell gedient habe. Und für den neuen Holzschnitt zur III. Ekloge ein blühender Mandelbaum auf seinem Gütchen (wie zu dem Grab des Daphnis das schöne Familiengrab hier mitten im Feld hinter der Eisenbahn, zu dem er mich im Januar hinführte; zum großen Silen Terrus und zu dem Quellhaus auf Seite 93 das kleine Quellhaus, bei dem wir vor Jahren, bei meinem ersten Besuch in Banyuls, ländlich frühstückten).

Die Holzschnitte stecken voll von Erlebtem und Empfundenem. Es sind fast lauter kleine, lyrische Gelegenheitsgedichte. Was ihn bei den Initialen hemmt, ist, daß er bei diesen sozusagen aus dem Handgelenk arbeiten muß. Die Substanz seiner Kunst läßt ihn hier im Stich. Daher langweilen sie ihn und macht er sie mit Unlust.

Banyuls. 2. April 1925. Donnerstag

Maillol noch erkältet. Aber da morgens die Sonne schien, arbeitete er und machte zwei Initialen für den Vergil fertig, indem er den von Gill geschnittenen Buchstaben Ornamente hinzufügte: ein großes M für die III. Ekloge und ein großes U für die IV. Er malte zuerst mit einem feinen japanischen Pinsel das Ornament auf den Holzstock und schnitt es dann mit dem Messer heraus. Bei beiden Buchstaben erzielte er so mit sehr einfachen Mitteln erstaunlich reiche Wirkungen.

Als ich die Buchstaben bewunderte, meinte er: die spanischen Dorftöpfer hätten noch vor hundert Jahren mit noch einfacheren Mitteln noch erstaunlichere Wirkungen erzielt. Fayel habe eine ganze Sammlung solcher spanischer Topfwaren gehabt, deren Reichtum an Erfindung und Wirkung kaum glaublich gewesen sei. Als ich ihn drängte, einen dritten Buchstaben mit einem ähnlichen Ornament wie das des U zu machen, wehrte er ab: jeder Buchstabe müsse ein eigenes Ornament haben, ihm müsse etwas einfallen: »Il faut inventer chaque ornement, sans cela ce serait embêtant.«

Ich las ihm, während er arbeitete, die französische Übersetzung meines Aufsatzes über ihn vor. Er korrigierte einige biographische Einzelheiten, so, daß er nicht erst über Gauguin und seine dekorativen Studien zur Plastik gekommen sei, sondern schon als ganz junger Mensch in Perpignan bei einem jungen Bildhauer Stunden genommen und nachher mit zwanzig, zweiundzwanzig Jahren mit Bourdelle zusammengearbeitet habe. Er habe damals für irgend jemanden einen Christus gemacht, den Bourdelle sehr gelobt habe. »J'étais tout le temps fourré dans l'atelier de Bourdelle dans ce temps là.«

Banyuls. 3. April 1925. Freitag

Wolkenbruchartiger Regen mit Gewitter vormittags. Ein naßkalter, stürmischer Tag. Ich saß bei Maillol, während er arbeitete, da er aufhört, sobald ich fortgehe. Ich sagte, daß in Vollards ›Renoir‹, den ich eben lese, Renoir außer Gescheitem auch viel Unsinn schwatzt. Maillol meinte, Renoir habe oft absichtlich Vollard Unsinn erzählt, um ihn aufsitzen zu lassen. Er, Maillol, sei dabeigewesen, wie Renoir Vollard zum besten hatte. Außerdem sei Renoir kein Literat gewesen: »Ce qu'il pensait, il le pensait avec le pinceau.«

Vormittags machte Maillol das große I für das ›Incipit‹ der Vita des Vergil; so wie die andren Buchstaben erst mit dem feinen japanischen Pinsel auf Gills Holzstock in weißer Farbe die Dekoration aufmalend und dann sie mit Messer und Grabstichel herausschneidend. Er wischte, ehe er eine ihn befriedigende Dekoration gefunden hatte, mehrere Entwürfe immer wieder weg. Ich hatte ihm als Vorlage zwei Irisstengel mit Knospen gebracht. Er stellte sie vor sich hin, meinte aber: »Ça ne donne rien pour ce que je cherche. Il ne s'agit pas de trouver un motif, il s'agit de trouver de la couleur, de trouver l'effet«, das heißt als Hintergrund für Buchstaben.

Nachmittags schnitt er den kleinen davonspringenden Bock für die II. Ekloge. Primitivität seiner Hilfsmittel. Kein Pauspapier zum Durchpausen, sondern gewöhnliches Papier, das er gegen das Fenster hielt. Das Durchpausen besorgte er mit der Spitze einer herumliegenden Schere seiner Frau. Beim Schneiden stöhnte er immerfort, daß er kein scharfes Messer habe und mit einem abgebrochenen Grabstichel, so gut es ging, arbeiten müsse. Die Probeabzüge besorgte er, indem er mit einem alten Korken den Holzstock einschwärzte, das Papier drauflegte und mit einer Gabel darüber hin und her fuhr.

Ich aß abends bei Maillols. Maillol erzählte, daß er ein oder zwei Bronzen nach Japan verkauft habe. Öfters kämen japanische Künstler zu ihm. Das brachte das Gespräch auf ostasiatische Kunst. Ich sagte, in London habe Will Rothenstein in einem Vortrag Lichtbilder nach altindischen Skulpturen gezeigt, die mich lebhaft an Maillols Figuren erinnert hätten. Maillol: das sei leicht zu erklären, denn er habe sehr eingehend die altindische Plastik studiert, namentlich bei Gelegenheit der Weltausstellung 1900, wo ein ganzer indischer Tempel im Gipsabguß wiederaufgebaut gewesen sei. Er habe sogar, als der Tempel abgerissen wurde, einige Reliefs gekauft und in seinem Atelier aufgestellt (ich erinnere mich noch an diese Reliefs). Aber man könne diese orientalische Plastik nicht nachmachen, wie Gauguin versucht habe; man könne nur allgemein von ihr lernen.

Von Bourdelle sprach er mit gemischter Bewunderung. Sein großer Zentaur sei ein mächtiges Werk gewesen. Aber Bourdelle stelle diese gewaltigen Figuren nur in kleinem Maßstabe her und lasse sie dann mechanisch vergrößern. Er mache es sich leicht.

Banyuls. 4. April 1925. Sonnabend

Früh bei Maillol, dem es heute bei klarem Sonnenschein und blauem Himmel besser ging. Er nahm den Blütenzweig für die III. Ekloge vor und vervollständigte den Holzschnitt durch ein Ästchen, das er zeichnete und schnitt. Ich sprach dann mit ihm über den Preis für die vier neuen Holzschnitte, die er für den Vergil gemacht hat, und bot ihm achttausend Franken an, was er viel zu viel fand. Ich blieb aber dabei.

Im Hotel gefrühstückt. Nach dem Frühstück war ich um zwei wieder bei Maillol und bat ihn, einige Buchstaben des von Gill geschnittenen dreizeiligen Versalien-Alphabets zu ornamentieren. Erst redete ich nur von vier bis fünf Buchstaben. Er malte die Ornamente mit seinem kleinen, feinen japanischen Pinsel in weißer Farbe auf den Holzstock. Nach und nach brachte ich ihn dazu, das ganze Alphabet zu dekorieren. Um vier, nach zwei Stunden, waren alle sechsundzwanzig Buchstaben, bis auf das gestern verpatzte und verschnittene G, fertig und dazu ein sehr schönes vierzeiliges J. Er erfand für jeden Buchstaben ein andres Ornament. Einmal, als ich irgendeine Bemerkung machte, sagte er: »Vous m'avez coupé l'inspiration. Je ne retrouve plus ce que je voulais faire.« Trotzdem brauchte er für jeden Buchstaben noch keine fünf Minuten für Erfindung und Ausführung, eine kaum glaubliche Leistung. Ich begreife jetzt auch, wie die Mönche, die die mittelalterlichen Handschriften mit reichornamentierten Initialen zierten, gearbeitet haben.

Jeder Buchstabe mit den reichen bläulich-weißen Ornamenten auf dem schwarzen Grund sah nachher aus wie eine winzige kostbare Majolika-Kachel. Er schärfte mir ein, Gill solle beim Schneiden (denn dieses Alphabet schneidet er nicht selbst, weil seine Augen nicht für diese Feinarbeit reichen) ja nicht versuchen, die Unregelmäßigkeiten des Pinselstrichs zu imitieren, sondern möglichst gleiche und gleichmäßige Striche schneiden: »Plus ça sera régulier, plus ça paraîtra riche.« Er schien seine Motive aus einem unerschöpflich reichen Vorrat in seiner Phantasie fast mühelos zu schöpfen.

Wenn ich bedenke, daß Johnstone sich überhaupt nicht zutraut, ein Alphabet ornamentierter Versalien zu entwerfen, und jedenfalls Jahre dazu brauchen würde, und selbst Gill mindestens Monate daran zu tun hätte, während Maillol, der nie an die Ausschmückung von Buchstaben gedacht hatte, sie sozusagen aus dem Handgelenk produzierte, so erscheint diese Fülle von Formen, die in ihm lebt, wie ein Wunder.

Paris. 5. April 1925. Sonntag

Unruhs Buch über Paris hat hier durch den pöbelhaften Ton, in dem er von Mme. de Noailles (›die Noailles‹) und andren spricht, die ihn hier freundlich empfangen haben, wie ein öffentlicher Skandal gewirkt. Annette Kolb meinte in ihrer drolligen Ausdrucksweise, ›schlimmer als eine verlorene Schlacht‹. Man findet ihn taktlos, miserabel erzogen und größenwahnsinnig. Dagegen sei Rilke der Salonlöwe, ›gerade so, wie sich Franzosen einen deutschen Dichter vorstellend‹. Er hat sich anscheinend hier ganz von der Klossowska einfangen lassen.

Paris. 9. April 1925. Donnerstag

Abends die Ida Rubinstein in einer Bearbeitung von Dostojewskis ›Idioten‹ gesehen. Sie hat eine Größe und Grazie in ihren Bewegungen und namentlich in ihren Handbewegungen, die einzig sind.

Berlin. 18. April 1925. Sonnabend

Um zwölf bei Schubert. Berichtet über meine Eindrücke in England und Frankreich. Ich sagte, die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten würde ›eine außenpolitische Katastrophe‹ sein. Schubert bestätigte, dieses sei auch seine Ansicht. Stresemann habe bis zum letzten Augenblick gegen diese Kandidatur gekämpft. Ich sagte: es sei aber Stresemanns Pflicht als Außenminister, auch öffentlich gegen diese Kandidatur Stellung zu nehmen. Schubert: er, Schubert, habe auch schon an so etwas gedacht; aber nicht jetzt, sondern erst in den letzten Tagen vor der Wahl, da würde es wirksamer sein. Die Gefahr sei aber, daß Stresemanns Hervortreten gerade die entgegengesetzte Wirkung haben könne. Er sei allmählich so allgemein unbeliebt geworden, daß viele sagen würden: Nun gerade! Wenn Stresemann dagegen ist, dann stimmen wir für Hindenburg.

Berlin. 19. April 1925. Sonntag

Mittags bei Stresemann in seiner Villa. Frau Stresemann, die sich durch einen Bubikopf sehr verjüngt hat, empfing mich. Nachher eine Stunde allein mit Stresemann gesprochen. Er war über die Kandidatur Hindenburgs unverhohlen und ehrlich verzweifelt; nahm seine düsterste Miene an, als ich das Gespräch darauf brachte und die katastrophalen außenpolitischen Folgen einer Wahl Hindenburgs schilderte. Er, Stresemann, habe bis zum letzten Augenblick dagegen gekämpft. Leider sei er nicht in den Loebell-Ausschuß eingetreten aus Rücksicht auf Ebert, der, als er gebildet wurde, noch lebte. Das habe sich als schwerer Fehler erwiesen. Im Ausschuß sei über die Kandidaten abgestimmt worden, was ganz ungehörig gewesen sei. Kleine Parteien, ›mit siebzehn eingetragenen Wählern‹, hätten eine Stimme gehabt, und die Volkspartei mit drei Millionen Wählern nur drei. So habe die Volkspartei überstimmt werden können. Wenn er dringesessen hätte, hätte er sich das nicht gefallen lassen. Hindenburg sei aber zur Ablehnung der Wahl entschlossen gewesen. Ein Kommunique an die Telegraphen-Union in diesem Sinne habe schon vorgelegen. Da sei Tirpitz ganz heimlich nach Hannover gefahren und habe Hindenburg umgestimmt. (Mit andern Worten, Tirpitz hat Stresemann hineingelegt.) Aber Hindenburg werde nicht gewählt werden. Damit tröstete er sich.

Schließlich wurde er aber doch ganz elegisch: zwei Jahre Lebensarbeit würden ihm zerstört. Einen Vortrag über außenpolitische Fragen bei Hindenburg, wenn er Reichspräsident werde, könne er sich noch nicht recht vorstellen. Ich sagte, er müßte doch auch die Öffentlichkeit über die Gefahren dieser Kandidatur aufklären. Stresemann: das könnte leicht die entgegengesetzte Wirkung haben; Leute, die die Einmischung des Auslandes in unsere inneren Angelegenheiten ablehnten, dazu führen, nun gerade für Hindenburg zu stimmen. Die ganze Sache sei eine gegen ihn, Stresemann, gerichtete Intrige. Man habe nicht einen Reichspräsidenten gewollt, mit dem er sich gut stünde. Man habe gegen Jarres vorgebracht, er sei ›ein Freund Stresemanns‹.

Je länger wir sprachen, um so düsterer wurde er. Aber zu einem offenen Auftreten gegen Hindenburg fehlt ihm der Mut: ›Als Auswärtiges Amt habe man den Leuten die Wahrheit gesagt; aber als Außenminister öffentlich sich gegen Hindenburg zu erklären, das sei eine andere Sache.‹

Weimar. 20. April 1925. Montag

Früh Kippenberg. Ankauf der Papiermühle besprochen. Er: lassen wir die Finger davon. Sieht sehr trübe die geschäftliche Zukunft in Deutschland. Befürchtet große Absatzkrisen.

Nachmittags bei Frau Förster-Nietzsche. Sie empfing mich wie immer mit größter Freundschaft. Empört über Fritz Unruhs törichtes und taktloses Paris-Buch. Vor allem die Art, wie er ihre ›liebe Gräfin Noailles‹ angepöbelt hat. Geschäftliches. Bewundernswert die Resignation und der Mut der achtzigjährigen Frau, mit dem sie den Verlust des gesamten angesammelten Vermögens der Nietzsche-Stiftung in Höhe von rund achthunderttausend Goldmark durch die Inflation erwähnte. »Alles bis auf den letzten Pfennig weg«, wie sie sagte, indem sie fast freudig hinzufügte: »Aber jetzt leben wir von Honoraren, es ist fast ein Wunder, aber es ist so.« Auch hätten Münchener Gönner als Grundstock zu einem neuen Vermögen zu Weihnachten tausendzweihundert Mark (!) gestiftet. Diese Haltung, die in solchen Lagen bei ihr immer wieder ganz außergewöhnlich ist und an das Heroische grenzt, zwingt zur Verehrung der Schwester Nietzsches. Sie sprach dann auch noch sehr liebe Worte über Wilma.

Osnabrück. Lengerich. 21. April 1925. Dienstag

Früh um fünf in Osnabrück, wo den Tag über den Dom und die schönen alten Kirchen, Johanniskirche und Marienkirche, besucht. In der Johanniskirche Teil eines frühgotischen Chorgestühls, reich geschnitzt mit biblischen Darstellungen nach antiken Satyrmasken; außergewöhnlich schönes, reiches Stück. Sehr schöne frühgotische Sakristei. Die Marienkirche, der Innenraum, eine Perle des gotischen Stils um 1300; noch fast frühgotisch, das wundervolle Maß, die noch fast romanische Feierlichkeit der Frühgotik kämpft noch mit der ins Unendliche hinaufstrebenden Schlankheit, mit der vermessenen Kühnheit und Raumweite der späteren Gotik wie in einer aufbrechenden Knospe die Herbheit des noch halbgeschlossenen Kelchs mit dem zarten, wilden Trieb der Blüte. Dieses Innere der Marienkirche ist ebenbürtig den schönsten gleichzeitigen französischen Kirchen.

Die Jahreszeit der deutschen Kunst ist der April; auch ihre vollendetsten Werke, die Naumburger Stifter, Dürer, Cranach, haben die Herbheit des ersten Grüns, der frühen, noch vom Frost bedrohten Blüten. Die französische beste Kunst hat die Temperatur des Mai, noch gemäßigt vom nahen Winter, aber schon erwärmt von einer sommerlichen Sonne; alles noch zart, aber schon voll erblüht und seiner Blüte sicher. Italien, Rom, die Antike haben eine Kunst des ewigen Sommers und des reifen Herbstes, nackte, in der Hitze blühende Menschenleiber, die süße Frucht der zur vollkommenen Reife gelangten Schönheit. Nur die griechische Kunst hat bei aller Vollendung wie die deutsche noch etwas vom April bewahrt, das Gefühl der Unbeständigkeit des Schönen, der Gefährdung der allerzartesten Blüten durch Nachtfröste, den durch kein noch so strahlendes Licht tilgenden Beigeschmack der Vergänglichkeit, der Tragik aller Vollendung.

Abends in Lengerich für Marx geredet.

Bielefeld, 22. April 1925. Mittwoch

Bewegte Versammlung. Etwa hundert Stahlhelm- und Jungdo-Leute hatten sich eingefunden, die nur durch die von Müller herangeholten Reichsbannermänner in Ordnung gehalten wurden. Gleich bei meinen ersten Worten wurde ich durch Zwischenrufe unterbrochen. Im Laufe meiner Rede, die ich völlig sachlich zu gestalten suchte, legte sich die Unruhe.

Dann eilte mein alter Widersacher aus dem Wahlkampf, Dr. Krämer aus Blomberg, auf die Bühne, begrüßte mich mit einem stürmischen Händedruck und bat um zwanzig statt um zehn Minuten Redezeit; er verspreche, streng sachlich zu reden. Ich wies ihn an den Vorsitzenden, Rektor Obermaier, einen alten Herrn, der ihm unter wilden Zurufen und Drohungen der Jungdo-Leute nach einigem Schwanken die Verlängerung bedingt zugestand. Worauf Krämer sich in eine ausschließlich ans Gefühl appellierende, unverschämt demagogische Rede stürzte, die heftige Proteste der Demokraten und stürmischen Beifall seines Trupps und steigende Unruhe und Unordnung erregte. Er versuchte außerdem einen tätlichen Skandal zu provozieren, indem er wiederholt erklärte, er werde die Redezeit nicht einhalten, sondern sich nur der Gewalt fügen. Schließlich brach er ab, worauf sein Trupp das Deutschlandlied anstimmte und geschlossen abmarschierte. Irgendwelche sachliche Gründe, warum Hindenburg gewählt werden müßte, brachte Krämer in seiner langen Rede nicht vor, nur demagogisch aufgeputzte Erinnerungen an ›die große Zeit‹ von 1914 und an Hindenburgs Siege und gewaltige Gefangenenzahlen. Eine beschämende Leistung.

Berlin. 26. April 1925. Sonntag

Früh um sieben an. Um zehn in der Linkstraße gewählt. Regnerischer, kalter Morgen. Ein feiner Regen rieselt hernieder und leert die Straßen. Auf dem Potsdamer Platz nur einige Hakenkreuzjünglinge mit kräftigen Knüppeln, blond und dumm wie junge Kälber. In dieser Gegend wenig Fahnen, und die wenigen ziemlich gleichmäßig auf Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Rot-Gold verteilt.

Den Tag in besorgter Stimmung verbracht. Ich rechne, daß Marx und Hindenburg beide zwischen fünfzehn und sechzehn Millionen Stimmen bekommen werden und daß die Mehrheit von Marx günstigenfalls fünfhunderttausend bis eine Million Stimmen betragen kann.

Draußen geht unaufhörlicher Regen herunter. Das Publikum auf der Straße verhält sich gleichgültig. Die Lastkraftwagen mit Trupps von Schwarz-Weiß-Roten und Schwarz-Rot-Goldenen fahren grölend, ohne irgendwie beachtet zu werden, zwischen den Sonntagsspaziergängern und Regenschirmen hindurch. Niemand könnte aus dem Straßenbild entnehmen, daß eine lebenswichtige Entscheidung für Deutschland und Europa im Gange ist. Ich habe auf jeden Fall meine Pflicht getan, die Stresemann nicht getan hat. Er beruhigt sein Gewissen damit, daß Hindenburg ›ja doch nicht gewählt wird‹. Aber als deutscher Außenminister durfte er ein solches Risiko nicht auf sich nehmen, dazu ist es zu groß, sind die Folgen, die eine Wahl Hindenburgs nach sich ziehen würde, zu katastrophal für das deutsche Volk, das, wie 1914 von seinen leitenden Stellen und dem verantwortlichen Mann im Stich gelassen, ahnungslos in den Abgrund hineinrast. Daher mußte ich mindestens das sagen, was ich in Bielefeld gesagt habe.

Nach Tisch im Büro der Demokratischen Partei die Wahlergebnisse abgewartet. Bald nach eins steht das Ergebnis fest: Hindenburg ist gewählt. Was folgen wird, dürfte eins der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte sein.

Berlin. 27. April 1925. Montag

Mit der gestrigen Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten beginnt ein neuer Abschnitt der deutschen und europäischen Politik und Geschichte, der dem deutschen Volke zweifellos schwere Schläge und Demütigungen bringen wird.

Hilferding besuchte mich nachmittags. Wir besprachen, wie wir uns nunmehr zur Außenpolitik der deutschen Regierung verhalten, ob wir ihr weiter durch unsere persönlichen Beziehungen helfen sollten? Hilferding meinte entschieden: Nein! Bisher hätten er und seine Freunde sogar für das nationalistische Kabinett Luther in Frankreich gut Wetter zu machen versucht; jetzt sei es aber damit aus. Er rate auch mir, die Finger davon zu lassen. Man würde sich nur nutzlos kompromittieren und um jeden Kredit bringen. Hindenburg und seine Hintermänner sollten sehen, was sie allein, ohne fremden Beistand, außenpolitisch leisten könnten.

Berlin. 28. April 1925. Dienstag

Abends in ›Franziska‹ von Wedekind mit der Durieux in der Hauptrolle. Glänzende Regie von Karl Heinz Martin und glänzendes Spiel der Durieux. Das Stück wirkt merkwürdig modern und nachrevolutionär. Alle die Strömungen, die in der Revolution zum Ausbruch gekommen sind, die ganze revolutionäre Atmosphäre sind darin schon lebendig. Es riecht förmlich nach 1919/1920.

Krupps getroffen, die sehr bescheiden wie kleine Bourgeois im Parkett saßen. In der Pause mit ihnen gesprochen. Bohlen meinte, Hindenburg werde notwendig die enttäuschen, die von ihm ein Wunder erwarteten. Er werde seinen Nimbus dabei verlieren. Außenpolitisch werde auch er die notwendigen Konzessionen machen müssen. Sonderbarerweise wies Bohlen die Idee ständiger militärischer Kommissionen des Völkerbundes im Rheinland nicht zurück. Die militärische Besetzung sei schon jetzt nicht mehr sehr drückend. »Nicht wahr, Bertha?« Seine Frau bestätigte. Aber er sieht schwere wirtschaftliche Zeiten voraus. Wir kämen in eine ganz schlimme Wirtschaftskrise hinein. Jetzt hätten wir erst den Vorgeschmack davon.

Berlin. 12. Mai 1925. Dienstag

Gestern abend in Berlin an. Heute bei der Eidesleistung Hindenburgs im Reichstag. Ungeheures Polizeiaufgebot in der Budapester Straße und am Brandenburger Tor. Die Tribünen im Reichstag schon um elf, eine Stunde vor der Eidesleistung, überfüllt. Zum Glück hatte ich einen numerierten Platz, von dem aus ich gut sehen konnte. Vor mir saß Frau von Gerlach. Der Saal war ziemlich sparsam ausgeschmückt. Hinter dem Präsidentenstuhl, auf einer Wandbespannung befestigt, die schwarzrotgoldene Reichspräsidentenstandarte und auf dem Präsidententisch ein schwarzrotgoldenes Fahnentuch, flankiert von blauen Hortensien; das war alles. Der frühere Staatssekretär Lewald sagte zu mir: »Ein Saalschmuck wie bei der Einführung eines neuen Bürgermeisters in Kyritz an der Knatter!«

Punkt zwölf treten ohne Feierlichkeit Hindenburg und Löbe, beide im schwarzen Gehrock, durch eine der kleinen Türen hinter dem Präsidentenstuhl ein und sind da; man hat es kaum bemerkt. Aber plötzlich ertönen Hochrufe auf der äußersten Linken. Die Kommunisten lassen die Sowjetrepublik hochleben und marschieren dann im Gänsemarsch zum Saal hinaus. Darauf leistet Hindenburg, auf der Stelle stehend, wo Rathenaus Sarg gestanden hat, den Eid, eingeklemmt rechts und links von Schwarz-Rot-Gold, und liest eine Erklärung von einem mit gewaltig großen Buchstaben geschriebenen Blatt; man hätte mit einem guten Glas die Buchstaben von der Tribüne aus lesen können. Trotzdem schien dem alten Herrn die Entzifferung Mühe zu machen; er las stockend und unsicher und redete zu Anfang Löbe als ›Herr Reichspräsident‹ an.

Eindruck: eine etwas befangene, greisenhafte Generalsstimme, die Ungewohntes und Unverstandenes vorlesen muß. Aber auffallend war doch der über Erwarten starke Nachdruck, den die Erklärung auf den republikanischen und demokratischen Charakter der Verfassung und insbesondere auf die Volkssouveränität legte. Darin zeigt sich die Taktik an, die die klugen, hinter Hindenburg stehenden Monarchisten und Rechtspolitiker zunächst versuchen werden (Männer wie Luther und Loebell), eine Taktik, die auf die Gewinnung oder mindestens die Einschläferung der Republikaner gerichtet sein wird, die aber nicht umhin können wird, tatsächlich die Republik zu befestigen.

Rießer, der Sohn, der in Riga bei der Gesandtschaft ist, sagte mir beim Verlassen des Reichstags: »Eben haben wir die Geburt der deutschen Republik erlebt.« In der Tat wird sie mit Hindenburg hoffähig, einschließlich Schwarz-Rot-Gold, das jetzt überall mit Hindenburg zusammen als seine persönliche Standartenfarbe erscheinen wird. Etwas von der Verehrung für ihn wird unvermeidlich darauf abfärben. Es wird den Hakenkreuzlern schwer werden, es wieder durch den Straßenkot zu schleifen. Schon heute ist es in der Beflaggung der Straßen im Zentrum viel sichtbarer als bisher. Die Wilhelmstraße, die sonst nur sehr bescheiden und notdürftig einige schwarzrotgoldene Fähnchen zu zeigen wagte, schwimmt heute in Schwarz-Rot-Gold. Wenn die Republikaner ihre Wachsamkeit und ihre Einigkeit nicht aufgeben, kann die Wahl Hindenburgs für die Republik und den Frieden sogar noch ganz nützlich werden.

Weimar. 15. Mai 1925. Freitag

Nachmittags mit Goertz bei der Frau Förster-Nietzsche. Dort einen Herrn aus Mexiko, Direktor der dortigen deutschen Realschule, getroffen, der mir sagte, mein Buch sei noch immer das bei weitem beste über Mexiko; das werde dort allgemein anerkannt. Während wir beim Tee saßen, machte der General Hasse seinen Antrittsbesuch; er ist mit seinem Stabe gestern von Kassel hierher versetzt worden. Frau Förster fiel ihm fast um den Hals. Sie hat noch ihr Backfischherz für das bunte Tuch bewahrt. Ärgerlicher ist, daß sie gestern beim Einzug des Generals, der unter großer Volksbeteiligung stattfand, auf dem Bock ihres Wagens, wie sie erzählte, ihren kleinen Großneffen Oehler mit einem Stahlhelm auf dem Kopf und einer Trommel hat mitfahren lassen, also das blödeste Kleinkindersoldatenspiel mitmacht.

Alle Philister freuen sich über Hindenburg; er ist der Gott aller derer, die sich ins Philistertum zurücksehnen und die schöne Zeit, wo man nur zu verdienen und zu verdauen brauchte mit einem nach oben gerichteten Augenaufschlag. Hindenburg soll die Verhältnisse ›konsolidieren‹, das heißt wieder auf den Philister zuschneiden. Adieu Fortschritt, adieu Vision einer neuen Welt, die das Lösegeld der Menschheit für den verbrecherischen Krieg sein sollte; endlich wird man wieder als dicker Hammel oder gemästete Gans bequem leben können, bis der Schlächter kommt und den Blutlohn fordert. Der widerwärtige Eindruck, den die Verbrüderung von ›Gartenlauben‹-Militarismus mit engstirnigem Generalstäblertum bei Frau Förster-Nietzsche heute nachmittag machte, dauert fort.

Berlin. 25. Mai 1925. Montag

Bronnens ›Rheinische Rebellen‹ im Staatstheater. Steinrück als Ocec, Agnes Straub als Gien, Gerda Müller als Pola, alle drei außerordentlich. Starker Eindruck des zweiten Akts, der Szene auf der Bühne des Mainzer Stadttheaters. Nachher wird das Stück zu einem Drama der Leidenschaft, ja der Hörigkeit, aber immer noch mit starken Stellen. Bronnen hat ein sehr starkes Stück geschrieben, aber nicht das Grundproblem gelöst, die politischen und sexuellen Motive zu einer vollkommen überzeugenden Einheit zu verschmelzen; sie laufen nebeneinander her, statt sich gegenseitig zu bedingen.

Berlin. 26. Mai 1925. Dienstag

Kostümball bei d'Abernons. Ich ging im roten Frack mit weißen Eskarpins, der alten Tracht bei unseren Hofjagdessen im Jagdschloß Grunewald unter dem Kaiserreich, und erregte damit einiges Aufsehen. D'Abernon und andre machten mir Komplimente über die auffallend elegante und einfache Tracht.

Frau Stresemann zum Souper geführt. Sie war als badische Bäuerin erschienen mit ihren beiden Söhnen als Bauernburschen. Sie klagte bitter über die Angriffe gegen ihren Mann, ›ein so lieber, guter Mann‹. Sie wären froh, wenn sie erst wieder in der Tauentzienstraße wären und ihre Ruhe hätten. Außerdem koste sie die Repräsentation bei dem kümmerlichen Gehalt ein Heidengeld. Ich sprach mit ihr über den schlechten Stand der Paktverhandlungen und warnte nochmals durch sie ihren Mann vor Briand, der ein Saboteur und Verbrecher sei. Dann setzte sich d'Abernon zu uns.

Auffallend wenig Deutsche waren auf dem Ball; von offiziellen Persönlichkeiten nur Frau Stresemann und einige junge Attachés vom Amt; nicht Schuberts, nicht Horstmanns. Nur das diplomatische Korps war vollzählig erschienen. Die Italiener tanzten eine Tarantella, sehr hübsch, die Engländer, Amerikaner, Holländer einen englischen Country dance, an dem sich auch Frau von Gevers als holländische Bäuerin beteiligte. Lady d'Abernon, mit der ich während eines Tanzes saß, sah unglaublich jugendlich und hübsch aus als englisches Gainsborough-Bauernmädchen in hellem, geblümtem Stoff und Mützchen. Das ganze Bild war sehr farbig und lustig. Nur sieht man nicht recht ein, warum gerade Diplomaten in diesem Augenblick, wo die internationale Lage so gespannt und ernst ist, als Bauern und Bäuerinnen tanzen müssen.

Berlin. 16. Dezember 1925. Mittwoch

Bei Stresemanns gegessen. Großes Diner in der Villa. Bosdari, der Türke, Kühlmann, Rüfenachts, Schachts, Zechs usw.

Als ich über den Potsdamer Platz hinging, kam gerade die Postausgabe der ›Voss‹ mit der Nachricht von einem Attentatsplan auf Stresemann. Stresemann, dem ich beim Eintreten zum Scheitern des Komplotts gratulierte, hatte auch erst eben vom Polizeipräsidium davon erfahren. Er klagte bitter über den mangelhaften Schutz durch die Gerichte; daß einem Mann wie Pudor, der offen zu seiner Ermordung aufreize, nichts geschehe. Berger, der später kam, meinte: Früher hätten wir eine Justiz für den Staat gehabt (einseitig), nachher eine neben dem Staat und jetzt eine gegen den Staat. Wer jetzt mit dem Staat prozessiere, sei sicher, seinen Prozeß zu gewinnen. Siehe Fürstenabfindungen. Ich sagte, die Fürsten sollten die Aufwertungsquote bekommen, nicht mehr. Stresemann stimmte lebhaft zu.

Berlin. 22. Dezember 1925. Dienstag

Diaghilew mit seinem Ballett begann heute ein Gastspiel im ›Deutschen Künstler-Theater‹. Er gab die ›Biches‹, ›Tricorne‹, ›Matrosen‹. Tobender Erfolg. Ich ging auf die Bühne und gratulierte ihm.

Berlin. 28. Dezember 1925. Montag

Abends mit Max ins Russische Ballett. Nachher soupierten Diaghilew, Lifar, Nouvel, Boris Kochno und Max mit mir bei Förster. Boulanger spielte. Diaghilew die grausige Geschichte von seinem spanischen Tänzer erzählt. Einmal habe er einen neuen Nijinski entdeckt, einen jungen Spanier, García. Schon als er ihn in Barcelona aufsuchte, habe die alte Frau, bei der er wohnte, ihn ›el loco‹ (den Verrückten) genannt. Er habe aber darauf nicht achtgegeben und ihn nach London mitgenommen (im Kriege, 1916). Eines Tages sei García ausgegangen, und als er vor der Sankt-Martins-Kirche am Trafalgar Square eine rote Laterne brennen sah, habe er eine alte Bettlerin gefragt, die vor der Kirchentür saß, ob dies ein Bordell sei? Dann habe er ihr sein ganzes Geld geschenkt und gesagt: Es sei doch spaßig, daß selbst der liebe Gott in London im Bordell wohne. Darauf habe er versucht, in das ›Bordell‹ einzudringen, und schließlich die Tür aufgebrochen. Als er abends nicht zur Vorstellung kam, habe Diaghilew ihn gesucht und die Polizei benachrichtigt, weil er ein Unglück vermutete. Spät nachts hat ihn dann die Polizei in der Kirche, nackt vor dem Altar hangend, gefunden; vollkommen wahnsinnig. Im Irrenhaus, in das er geschafft wurde, soll er inzwischen gestorben sein.

Paris. 31. Dezember 1925. Donnerstag

Misia Sert im Hotel Meurice besucht, wo sie ein kleines Appartement mit ihren eigenen Möbeln und Bildern bewohnt. Die Wände mit Silberbrokat bespannt. Vorhänge aus Goldbrokat, in den Zimmern alles in hellen, sanften Farben. Sie wenig verändert. Philippe Berthelot ist noch immer ihr großer Freund. Er hat ihr gesagt, daß Stresemann in Locarno einen sehr intelligenten, guten Eindruck gemacht habe.


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