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Bückeburg. 26. November 1924. Mittwoch
Nachmittags nach Bückeburg zurück, das mir immer unsympathischer und unheimlicher wird. Eine ranzige Kleinstadt-Atmosphäre dringt erschütternd auf einen ein, sobald man aus dem Bahnhof heraustritt: giftige Fäulnis-Bazillen einer toten Vergangenheit. Die ›Kleine Residenz‹ in ihrer korrumpiertesten Form. Ein übermäßig reiches Fürstengeschlecht und sonst nur dienende Kleinbürger vom pensionierten General bis zum Hofgärtner und Leibzahnarzt herunter. Vor diesem Publikum sprechen zu müssen, schnürt mir die Kehle zu. In den Lokalblättern stehen auch schon (zum ersten Mal im Wahlkampf) widerwärtige, gehässige persönliche Angriffe auf mich wegen meiner internationalen Verwandtschaften, meines ›Geistes‹ (Schöngeistigkeit, ›Joseph‹ usw.), wegen des Weimarer Flugblattes usw.
Der junge Hellmut Hoffmann, mein deutschnationaler Gegner von gestern, den ich im Restaurant traf und begrüßte, warnte mich, daß es heute abend in meiner Versammlung wohl etwas unruhig zugehen werde. Im übrigen sei ich viel zu schade für die Demokratische Partei, die ›mit Judengeld bezahlt‹ werde; ich gehörte von Rechts wegen zu den Deutschnationalen. Ich sagte, gerade umgekehrt scheine es mir, daß junge Idealisten wie er nicht einer so kleinlich machtlüsternen Partei wie der Deutschnationalen nachlaufen sollten.
Die Versammlung fand im Konzertsaal des Rathauses statt, der siebenhundert Personen faßt und überfüllt war. Hugo (DVP) soll neulich in einem viel kleineren Saal kaum hundert Personen gehabt haben. Den Vorsitz führte der Stadtrat Dr. Schröder, ein etwas weicher, unsicherer Mann, der Angst zu haben schien. Etwa ein Drittel des Publikums bestand aus Jungdo, pensionierten Offizieren, kleinen versauerten Adligen, die dem Höfchen hier anhängen (ein Graf Hardenberg, ein Rabe v. Pappenheim, ein v. Langen usw.); auch einer der Schaumburgischen Prinzen war aus Neugier mit dabei. Offenbar lag ein großer Spektakel in der Luft. Guseck telephonierte Michelsen aus Minden mit einigen Reichsbanner-Leuten heran; und ich legte meine Rede darauf an, Anlässe zu Demonstrationen zu vermeiden. Zunächst gab ich eine Erklärung in der Flugblatt-Angelegenheit ab, da diese heute hier von der Landeszeitung unter Hinweis auf meine Versammlung (›die verspräche, recht interessant zu werden‹: avis au lecteur!) herausgebracht worden ist. Dann redete ich ganz sachlich etwa anderthalb Stunden unter größter Aufmerksamkeit der Versammlung und ohne jede Störung.
Die Hofgesellschaft und ihr Prinz waren um ihr Vergnügen betrogen, den Gegnern in der Debatte offenbar ihre im voraus berechneten Effekte genommen, so daß auch die Aussprache nachher verhältnismäßig ruhig und sachlich verlief. Der Führer der Bückeburger Deutschnationalen, ein Zahnarzt Mützelfeld, klagte mit süßsaurer Höflichkeit, meine Rede sei ›so bestrickend‹ gewesen, daß die Zuhörer gar nicht gemerkt hätten, wie ich um die wesentlichen Fragen herumgeredet hätte; bezeichnete aber dann auch selber nicht diese wesentlichen Fragen. Der Führer der Volkspartei, ein Schulmeister Büsing, bezeugte mir auch meine ›Sachlichkeit‹ und drückte nur mit etwas drolliger Emphase die Hoffnung aus, daß ich auch nach Anhörung seiner Einwände mich nicht in meinem Schlußwort durch meinen Zorn zur Unsachlichkeit hinreißen lassen möchte; ›dann würde ich bei den Bückeburgern mein Ansehen gewaltig vermehrt haben‹.
Der einzige, der ganz aus der Rolle fiel, war ein deutschnationaler Herr von Langen, der mir meine englische Mutter vorwarf, aber sofort von der Versammlung niedergebrüllt wurde mit: »Nicht persönlich werden, zur Sache; was hat das mit dem Thema zu tun.« Als er mir gerade meinen Bruder (!), der irgend etwas pekziert haben sollte, vorhalten wollte, wurde die Opposition so stürmisch, daß er mitten im Satz abbrach und mit einigen nichtssagenden Sätzen über Politik seine Rede im beschleunigten Tempo zu Ende führte.
In meinem Schlußwort erwiderte ich ihm: der Vorwurf, daß der Spitzenkandidat der Demokratischen Partei eine englische Mutter habe, klinge etwas sonderbar gerade aus deutschnationalem Munde, da diese Partei an die Spitze des Deutschen Reiches einen Kaiser zurückberufen wolle, der ebenfalls eine englische Mutter gehabt habe, und die als zweiten Kandidaten auf ihre Reichsliste den jungen Fürsten Bismarck gesetzt hätte, dessen Mutter ebenfalls halb Engländerin, halb Ungarin sei. Die Versammlung applaudierte zu dieser Abfuhr stürmisch, und der arme Langen, der selber aussieht wie ein Wasserpolacke, jedenfalls nichts Germanisches in seinem Äußeren hat, saß ganz begossen und schweigend da. Am Schluß wurde ›Deutschland, Deutschland über alles‹ stehend gesungen, wobei sich der deutschnationale Teil der Versammlung sonderbarerweise nicht beteiligte, sondern schnell entfernte.
Schröder und die andern Parteifreunde waren über den Verlauf sehr erfreut. Einige sagten mir, eine so eindrucksvolle Versammlung hätten sie noch nicht in Bückeburg gehabt. Wir saßen dann noch sehr zahlreich lange zusammen im ›Berliner Hof‹.
Diese kleinen Residenzen haben gewiß viel Gutes getan für die allgemeine Bildung in Deutschland, sind kleine Kulturzentren gewesen: Bückeburg mit nur sechstausend Einwohnern hat noch heute ein gutes Theater und Orchester. Aber ich weiß nicht, ob nicht der Schaden, den sie angerichtet haben, indem sie mit der Kultur die allgemeine Servilität und Rückgratsverkrümmung in Deutschland auf das wirksamste gefördert und wie Pestzentren auf das platte Land und die Provinz verbreitet haben, noch viel größer gewesen ist. Sie haben die Kultur gefördert, aber den Menschen gebrochen. Die Jämmerlichkeit des deutschen Bürgertums ist zum großen Teil auf die intensive Förderung der Servilität durch die vielen deutschen Höfe zurückzuführen. Und dieser Einfluß dauert noch an in einer Stadt wie Bückeburg, wo das Fürstengeschlecht seinen Reichtum trotz der Revolution behalten hat.
Deutschland verdankt es seinen Fürsten, daß es das gebildetste, aber rückgratloseste Volk Europas ist.
Münster, 1. Dezember 1924. Montag
Nachmittags von Bielefeld nach Münster. In der Aula des Realgymnasiums gesprochen, die sehr wirkungsvoll mit schwarzrotgoldenen Fahnen geschmückt war.
Bielefeld. 3. Dezember 1924. Mittwoch
Früh nach Bielefeld zurück.
Abends in Bielefeld in der Stadthalle gesprochen. Wieder eine überfüllte Versammlung. Die Leute füllten stehend alle Gänge und hockten auf den Treppen. Ich hatte mit meiner Rede und in der Debatte stürmische Beifallssalven. Wenn man überall diese überfüllten demokratischen Versammlungen sieht, während die Rechts-Versammlungen meist, wie mir gesagt wird, viel weniger gut besucht sind, sollte man erwarten, daß wir einen starken Stimmenzuwachs bekommen.
Lemgo (Minden). 6. Dezember 1924. Sonnabend
Abschluß meines Wahlkampfes. Wahlversammlung abends in dem alten Hansestädtchen Lemgo in Lippe. Mittlerer Saal, der sich bald bis zum Ersticken füllte; insbesondere auch dadurch, daß im hinteren Teil eine geschlossene Phalanx von ›Jungdo‹-Leuten aufmarschierte, die offenbar die Absicht hatten, die Versammlung bei der ersten Gelegenheit zu sprengen, aber daran gehindert wurden dadurch, daß bald nach ihrem Einmarsch hinter ihnen eine noch stärkere Abteilung ›Reichsbanner‹ sich aufstellte.
Ich sprach anderthalb Stunden mit einer ziemlich lebhaften Unterbrechung. Ein Propagandaredner der Deutschen Volkspartei, Reusch, machte, als ich vom passiven Widerstand sprach, einen Zwischenruf, den ich und viele andre im Saal so verstanden: ›Severing hat ihn von hinten erdolcht.‹ Worauf großer Tumult; ich antwortete, der Herr, der den Zwischenruf ausgestoßen habe, sei ein gemeiner Verleumder; der Vorsitzende schritt ein und ließ den Zwischenrufer durch Polizei aus dem Saal entfernen. Erst um zwölf war die Sitzung zu Ende; ich brachte zum Schluß ein Hoch auf das Vaterland aus, in das die Jungdo-Mannschaften ostentativ nicht mit einstimmten, was ich sofort feststellte und brandmarkte. So weit ist die Verhetzung bei den jungen Leuten der Umsturz-Parteien von rechts schon gediehen!
Minden. 7. Dezember 1924. Sonntag
Der große Wahltag, der über die Zukunft Deutschlands und Europas entscheidet. Um zehn in Minden gewählt. Nachher im wunderschönen Dom einen Augenblick der Messe beigewohnt.
Um sechs in Berlin. Nach Tisch gegen zehn in das Büro der Demokratischen Partei, wo Koch und andre. Die ersten Ergebnisse lauten günstig. Aus meinem Wahlkreise wird eine Zunahme der demokratischen Stimmen um dreißig Prozent gemeldet, was meine Wahl sichern würde. Gegen eins zu den Sozialdemokraten, die einen besseren Nachrichtendienst haben, in den ›Parlamentsdienst‹ am Belle-Alliance-Platz. Dort Hilferding, Hermann Müller, Bauer, der Polizeipräsident Richter usw. Efringhaus lief mit einer Zigarrenkiste unter dem Arm und den einlaufenden Wahlergebnissen herum, die er verkündete. Starke Zunahme der Sozialdemokraten, aber auch der Deutschnationalen, schwache der Demokraten. Stimmung bei Bier und Schnäpsen gut, aber durch die deutschnationalen Erfolge getrübt. Um halb drei ging ich mit Hilferding fort, um zur ›Voss‹ zu gehen. Hilferding äußerte sich unter vier Augen unbefriedigt; das Wahlresultat sei enttäuschend, es habe keine Entscheidung gebracht. Bei Ullsteins gingen wir zu Reiner, der ebenfalls sehr unbefriedigt war. Gegen vier nach Hause.
Berlin. 8. Dezember 1924. Montag
Den ganzen Tag in Unsicherheit wegen meiner Wahl. Keine bestimmten Nachrichten aus meinem Wahlkreis.
Berlin. 9. Dezember 1924. Dienstag
Es steht jetzt fest, daß ich nicht gewählt bin.
Berlin. 11. Dezember 1924. Donnerstag
Bei Hilferdings gegessen mit Köster aus Riga. Nach Tisch kamen Georg Bernhards. Es wurde von allen als so gut wie sicher angenommen, daß eine Bürgerblock-Regierung kommt, die allerdings nur von kurzer Dauer sein wird, da sie außenpolitisch eine Schlappe nach der andren erleiden und innerpolitisch die breiten Massen ihrer Wähler enttäuschen wird, diese Wahlversprechungen nicht halten kann (Aufwertung, Beamtengehälter usw.). Man nahm an, daß vielleicht schon die Präsidentenwahl im kommenden Jahr die Auflösung des Reichstages nach sich ziehen werde; jedenfalls werde es kaum länger als anderthalb bis zwei Jahre dauern. Köster, der gestern bei Ebert war, sagt, daß dieser unter allen Umständen vermeiden wolle, die Kanzlerschaft einem Deutschnationalen anzuvertrauen; Stresemann oder eine andre der Volkspartei ›nahestehende‹ neutrale Persönlichkeit solle Kanzler werden. Die Entrüstung gegen Stresemann ist groß. Kösters Eindruck ist, daß im Amte Deutschlands Eintritt in den Völkerbund absichtlich sabotiert wird.
Berlin. 13. Dezember 1924. Sonnabend
Konzert von Strawinsky im Blüthner-Saal. Kolbes getroffen. Strawinsky hatte einen starken und unbestrittenen Erfolg.
Weimar. 16. Dezember 1924. Dienstag
In der Druckerei am Vergil gearbeitet.
Weimar. 17. Dezember 1924. Mittwoch
Mathey und der Bildhauer Thiel aus Leipzig bei mir; mit Mathéy in Druckerei am Vergil.
Berlin. 18. Dezember 1924. Donnerstag
Nachmittags aus Weimar nach Berlin zurück. Abends beim Jubiläums-Bankett von Bill Simons im ›Kaiserhof‹. Etwa hundert ›Prominente‹ aus der Politik-, Bank- und Geisteswelt; eine Mischung von Kapitalismus und Sozialismus meist auf jüdischer Grundlage.
Ich sprach ziemlich lange mit Albert Einstein, da wir uns beide etwas fremd fühlten in der Umgebung. Auf meine Frage, an welchen Problemen er jetzt arbeite, antwortete er, er denke nach; wenn man über irgendeinen wissenschaftlichen Satz nachdenke, käme man eigentlich immer vorwärts; denn jeder wissenschaftliche Satz, ohne Ausnahme, sei falsch: das läge an der Inadäquatheit des menschlichen Denkens und Begriffsvermögens gegenüber der Natur, infolge deren jede begriffliche Formulierung der Natur sich immer irgendwo nicht ganz mit ihr decke. Jedes Nachprüfen eines wissenschaftlichen Satzes erschüttere ihn daher und führe zu einer neuen, exakteren Formulierung, die aber wieder auch irgendwie nicht stimme und daher zu neuen Formulierungen führe; und so weiter in infinitum.
Der ironische (narquois) Zug in Einsteins Gesichtsausdruck, das ›Pierrot lunaire‹-hafte, der lächelnde und schmerzhafte Skeptizismus, der ihm um die Augen spielt, tritt immer stärker hervor. Man muß, wenn er spricht und man sein Gesicht beobachtet, manchmal an den Dichter Lichtenstein denken, an einen Lichtenstein, der nicht über die Oberfläche, sondern über die Wurzeln des menschlichen Hochmuts lächelt.
Berlin. 22. Dezember 1924. Montag
Abends Sternheims ›1913‹ in den Kammerspielen. Sternheim hat mit starker dramatischer und komischer Kraft die entscheidenden Faktoren in der Struktur des deutschen Volkes kurz vor dem Kriege herausgestellt. Krai ist Stresemann in seiner Werdezeit, der ›teutsche Jüngling‹ mit politischem Ehrgeiz, der durch die reiche Fabrikantentochter ›korrumpiert‹ wird, nicht durch eine Kokotte, wie es konventionell geschieht. Ein starkes und tiefes Stück.
Berlin. 23. Dezember 1924. Dienstag
Vormittags Mathéy wegen des ›Vergil‹ bei mir. Nachmittags bei Abegg im Ministerium des Innern. Er hielt mir einen einstündigen Vortrag über den Stand der Schupo-Frage. Die Reichswehr habe sich in Sachen der Militärkontrolle äußerst töricht benommen. Die zeitfreiwilligen Einziehungen und die Schwarze Reichswehr über jede Vernunft hinaus ausgedehnt: Waffen in der unvorsichtigsten Weise versteckt. Der politische Referent im Reichswehrministerium habe Ebert ganz eingewickelt. Auch Geßler sei hinters Licht geführt worden. Die Entente sei über dieses vertragswidrige Verhalten der Reichswehr ebensogut oder besser unterrichtet als unsere hohen Stellen. Auch sei die Reichswehr reaktionär, wenn auch Seeckt bisher immer loyal gehandelt habe.
Im Gegensatz zur Reichswehr sei die Schupo verläßlich republikanisch. Auch die früheren kaiserlichen Offiziere in der Schupo seien allmählich zu einer republikanischen, staatstreuen Gesinnung erzogen worden. Im vorigen Jahr, beim Küstriner Putsch, hätte die Republik es nur der Schupo zu verdanken gehabt, daß sie vor der allergrößten Gefahr bewahrt geblieben sei. Der Küstriner Putsch sei nur als der Anfang eines allgemeinen Umsturzes der Republik gedacht gewesen. Das Fort Hahneberg in Spandau sei schon in den Händen der Rebellen gewesen und auch noch fünf Tage geblieben, bis jede Hoffnung auf ein Gelingen des Putsches geschwunden gewesen sei. Teile der Reichswehr hätten offenbar mit den Putschisten unter einer Decke gesteckt, sonst hätten diese sich nicht des Forts in Spandau bemächtigen können. Nur das feste Zupacken der Schupo habe damals die Republik gerettet. Und jetzt wolle sie die Entente als Dank dafür auflösen! Weder er, Abegg, noch Severing könnten das durchführen. Wenn es dazu komme, so sei es auch Severings Ansicht, daß dann eine Rechtsregierung ans Ruder kommen müsse.