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Prosper war im höchsten Grade erfreut, endlich das Kind bei sich zu haben, dessen Eltern ihm so werth gewesen waren. Er dachte nichts Anderes, er beschäftigte sich mit nichts Anderem als mit der Beglückung des jungen Mädchens, welches nun bei ihm wohnte. Er widmete der Waise alle mögliche Sorgfalt, Zuvorkommenheit und Aufmerksamkeit. Den ganzen Tag war er bemüht, ihr angenehm zu sein; unaufhörlich empfahl er sie ihrer Erzieherin, und gab seinen Dienstleuten den Auftrag, unbedingt ihren geringsten Wünschen Folge zu leisten. Eine Mutter hätte nicht aufmerksamer sein, ein Vater nicht mehr thun können.
Indessen lag in dem Tone und Wesen Prospers nichts, was einen galanten oder bei Damen zuvorkommenden Mann angedeutet hätte. Sein Gemüth war immer offen, seine Rede ohne vielen Wortschwall gewesen, aber seit seinen langen Reisen war er ernster geworden, und sein Benehmen bisweilen so lebhaft, daß es an Barschheit grenzte. Es war schwierig zu behaupten, ob er körperlich häßlich oder hübsch sei. Er war groß und hing den Kopf etwas auf die Seite; sein vom Reisen gebräuntes Angesicht hatte einen strengen Ausdruck angenommen, der bisweilen in Traurigkeit umschlug. Die Narbe, die bis zu seiner Wange herabging, entstellte ihn nicht, sondern verlieh ihm nur etwas Ungewöhnliches; seine Augen endlich waren voll Feuer, wenn sie sich belebten, was leicht geschah, wenn er von Jemand sprach, dem er wohl wollte; so war nun Prosper Bressange, der dem jungen Buchdrucker von ehemals wenig mehr glich, der aber noch immer sehr gefallen oder gänzlich mißfallen konnte.
Wenn Paulinens Beschützer irgend ein neues Möbel oder neuen Schmuck für das junge Mädchen gekauft hatte, womit er ihr ein Vergnügen zu machen gedachte, so sagte er nur mit hastigem Tone zu ihr: »Hier, mein liebes Kind, das ist für Dich!«
Und wenn das junge Mädchen seine Dankbarkeit ausdrücken wollte, so unterbrach er sie mit den Worten: »Es freut Dich, mehr verlange ich nicht.« Damit entfernte er sich, um nichts weiter hören zu müssen.
Aber Pauline wußte doch das Mittel zu finden, Prosper zu beweisen, wie sehr sie von Allem, was er für sie that, gerührt war; die beste Art, ihm ihre Erkenntlichkeit an den Tag zu legen, war, ihm bemerklich zu machen, wie glücklich sie bei ihm sei, wie wenig sie den Aufenthalt von Clichy vermisse. Dahin ging auch ihr ganzes Bestreben, und das wurde ihr nicht schwer, da sie bei ihrem Beschützer das angenehmste Leben führte.
Wenn Prosper zum Mittagessen nach Hause kam, fand er Paulinen im Salon, am Klaviere studirend, welches sie zu lernen gewünscht hatte; dann stand sie auf, eilte ihrem Freunde entgegen, und empfing ihn mit einem anmuthigen Lächeln. Hierauf drückte ihr Prosper zärtlich die Hand und sagte zu ihr: »Du bist also zufrieden, liebes Kind; Du langweilst Dich nicht bei mir? ...«
– Ich mich hier langweilen,« entgegnete Pauline! »während Sie all' meinen Wünschen zuvorkommen? Ach! da müßte ich sehr undankbar sein! aber dem Himmel sei Dank, ich bin es nicht, denn ich liebe Sie sehr und fühle mich äußerst glücklich bei Ihnen.
– »Dann bin ich es auch,« versetzte Prosper, »denn Dein Glück ist von nun an mein einziges Bestreben.«
Während aber Prosper solche Worte sprach, entwand sich oft ein Seufzer seiner Brust, und sein Lächeln drückte eher Schwermuth als Glück aus.
Das kleine Mädchen, dessen Verstand über seine Jahre hinausging, bemerkte bald, daß die Heiterkeit ihres Beschützers nicht so natürlich war, als er es glauben machen wollte; dies betrübte sie oft bis in den Grund ihrer Seele, aber sie wagte nicht, ihn deßhalb zu befragen.
Prosper brachte einen großen Theil des Tages außer dem Hause zu; er wollte Maximus auffinden. Er gab wenigstens vor, dies sei der Grund seiner vielen Ausgänge; vielleicht verband er auch noch eine andere Hoffnung damit, die er sich selbst nicht recht gestehen wollte.
Man hielt am Anfange des Jahres 1807.
Die kleine Pauline wohnte schon seit einiger Zeit bei ihrem Beschützer, und ihre Anhänglichkeit an ihn nahm mit jedem Tage zu, denn sie sah wohl ein, daß er unter einem zwar strengen und etwas rauhen Aeußern doch ein glühendes Herz für seine Freunde und ein weiches Gemüth für alle Unglücklichen barg.
Prosper wollte seinem Schützlinge gerne alle zur Wissenschaft und Bildung dienenden Lehrer halten; die Erzieherin mußte ihm daher begreiflich machen, daß zu viele Studien das junge Mädchen angreifen würden; worauf er sich entschloß, sie nur lernen zu lassen, wozu sie Neigung hatte. Indessen waren im Kreise der Familie Poupardots, wo man zu viel mit den Herren Navet August und Napoleon zu schaffen hatte, die ernsten Studien etwas vernachlässigt worden. Pauline schrieb ziemlich schlecht und machte auch Sprachfehler; deßhalb war Prosper bemüht, ihr einen Sprach- und Schreiblehrer aufzufinden.
Prosper hatte mehrere Adressen von Lehrern erhalten und sie aufgesucht, aber keiner hatte ihm noch gefallen; er war sehr schwierig in der Wahl derselben; er setzte mit Recht voraus, daß man sich nicht genug über Personen erkundigen könne, die man in einen so nahen Umgang mit einem jungen Mädchen bringen wolle.
Eines Tages kam Prosper vom Besuche eines in einem hübschen Hause der Vorstadt Montmartre wohnenden Professors zurück, dessen pedantischer Ton ihm durchaus nicht zugesagt hatte, als sich ihm beim Herausgehen aus dem Hause eine alte Köchin, die ihn nach dem französischen Sprachlehrer hatte fragen hören, schüchtern näherte und zu ihm sagte: »Der Herr kommen von dem Lehrer oben? ...Haben sich der Herr mit ihm geeinigt? ...« – Nein,« entgegnete Prosper, das alte Weib betrachtend; »warum stellt Ihr mir diese Frage? habt Ihr mir vielleicht einen andern Professor zu empfehlen? – »O! ja, mein Herr, ich kenne einen andern! ... und einen sehr verdienstvollen Mann! ... und obgleich er nicht viel aus sich macht ... ist er doch sehr gut erzogen ... und wenn er keine Unglücke nicht gehabt hätte! ...« – Habt Ihr vielleicht auch Sprachunterricht bei ihm gehabt?« fragte Prosper die Köchin mit etwas spöttischem Blicke. –»O! nein, mein Herr; ich hab's nur so von mich selber gelernt; wenn ich eben Zeit hatte! ... Aber der Professor, den ich Sie empfehlen wollte, kommt zu meine Herrschaft; er instuprirt unsern neunjährigen Kleinen ... und der Junge, der vor drei Monaten noch wahre Pfannenstiele machte, schreibt jetzt wie Sie und ich, und spricht, daß es einem angst wird, und das kostet so wenig ... zwölf Stunden des Tags ... wollte sagen ... zwölf Franken des Monats, und dabei alle Tage Stunden, mit Ausnahme des Sonntags.«
Prosper, welcher dieser Empfehlung der Köchin durchaus kein Zutrauen schenkte, wollte sich entfernen, ohne weiter auf ihr Geschwätz zu hören, als diese noch beifügte: »Und außerdem, mein Herr, erhält dieser arme Lehrer noch seine lahme Mutter ... Alles, was er verdient, verwendet er auf ihre Pflege und bei all dem will sie das Glück doch nicht!«
Prosper stand stille, kehrte wieder um und fragte die Köchin: »Wie heißt und wo wohnt der Lehrer?« – Warten Sie, mein Herr ... den Namen ... mein Gott! ich erinnere mich desselben nicht gleich ... ich heiße ihn immer den Professor oder den Lehrer des Kleinen ... aber seine Wohnung, die weiß ich, ich bin eines Tages dort gewesen, als unser junger Herr keine Stunde nehmen konnte, weil er nach Saint Cloud auf den Markt gehen durfte. Nicht weit von da wohnt er, dieser Lehrer, in der Märtyrerstraße ... Nro. 66 ... ganz oben, zum Beispiel im fünften Stockwerke unter dem Dache ... Ach! mein Gott! nicht so schön wie der hier im Hause ... – »Märtyrerstraße ... sechsundsechzig .... schon gut, und der Name fällt Euch nicht ein?« – Warten Sie doch ... er fängt mit dem V. an ... so etwas, wie Mathurin oder Claudius. – »Schon gut, ich danke Euch ... werde ihn schon finden.«
Prosper ließ sich die Köchin auf den Namen besinnen, der ihr aus dem Gedächtniß entschwunden war, und begab sich sogleich in die Märtyrerstraße. Er fand das ihm bezeichnete Haus bald. Er trat in einen finstern Gang, suchte vergebens nach einem Portier und entschloß sich sodann, die fünf Stiegen hinaufzuklettern, wobei er sich jedoch wegen der Finsterniß auf der Treppe vorsichtig am Geländer hielt.
Bei jedem Absatz wurden die Stufen höher und steiler; auf der fünften Treppe war es eine wahre Galgenleiter; Prosper zauderte und dachte: »Der arme Teufel muß sehr wenig Zöglinge haben, um so schlecht zu wohnen ... daß flößt mir kein großes Zutrauen in seine Geschicklichkeit ein ... ich will übrigens doch einmal sehen, zuweilen geht es mit dem Verdienste wie mit der Tugend, man weiß oft nicht, wo es sich verbirgt.«
Prosper stieg somit die Leiter vollends hinauf und befand sich vor einer Thüre mit einer Klinke; er blieb stehen.
»Hier muß es sein,« sprach er zu sich; »armer Schreiblehrer! ... die Tanzmeister wohnen nicht so hoch! ... Allein die Franzosen sind gewöhnt, Leute die sie unterhalten, besser zu bezahlen, als solche die sie unterrichten.«
Er klopfte an die Thüre; eine alte und schwache Stimme rief von Innen; »Drücken Sie auf die Klinke und treten Sie ein.« Prosper öffnete die Thüre; er befand sich in einer Dachstube, deren ganzes Mobiliar aus einem Gurtenbett, einem alten nußbraunen Kasten, einem Tische und einigen Stühlen bestand; Alles war übrigens so reinlich, daß man die Armseligkeit kaum bemerkte. In einer dunkeln Ecke dieses Gemaches saß eine alte Frau in einem, wie es schien, noch neuen gepolsterten Lehnsessel, dessen bequemes Aussehen von den übrigen Mobilien im Zimmer grell abstach. Prosper, welcher Anfangs die Alte nicht bemerkt hatte, trat auf sie zu, zog seinen Hut ab und begann: »Entschuldigen Sie, Madame, ich suche einen Lehrer im Schreiben und im Französischen, dessen Namen man mir nicht sagen konnte; wohnt er hier?« – Ja, mein Herr,« entgegnete die alte im Lehnstuhle sitzende Frau, »ja, Sie sind am rechten Orte ... mein Sohn ist der Lehrer, von welchem man Ihnen gesagt hat ... Er wird sogleich nach Hause kommen ... wollen Sie nicht gefälligst Platz nehmen ... Verzeihen Sie, daß ich Ihnen nicht selbst einen Stuhl hinstelle ... aber seit sechs Jahren habe ich den Gebrauch meiner Beine ganz verloren!«
Die Stimme der lahmen Frau drang zu Prospers Herz; er besann sich, wo er wohl diese Töne schon gehört habe, die eine solch erstaunliche Bewegung in ihm hervorbrachten. Während er nun einen Stuhl nahm und sich zu der alten Dame hinsetzte, betrachtete er sie mit Aufmerksamkeit.
»Wir wohnen ein wenig hoch.« fuhr die Alte fort, »und Sie haben sich so weit herauf bemühen müssen ... Aber die Logis sind in Paris so theuer ... und die Schreiblehrer verdienen so wenig ... Es ist wahr, mein Sohn ist zu bescheiden ... und hat doch viele Kenntnisse; diese Lobeserhebung könnte in dem Munde einer Mutter parteiisch klingen ... allein wenn Sie meinen Sohn verwenden, so werden Sie sehen, daß sie nicht übertrieben ist ... und damit verbindet er so viele Tugenden ... so viele edle Eigenschaften! Er sorgt für mich; er entzieht sich Alles, damit seiner kranken Mutter nichts abgehe! Armer Junge! er schläft hier auf dem Gurtenbett. Ich habe ein ganz gutes Bett mit zwei Matratzen und einem Roßhaarpolster in dem Nebenzimmerchen dort ... er hat es so verlangt. Gehen Sie, diesen guten und schönen Lehnsessel hat er mir vor zwei Monaten auch gekauft, damit ich bequem sitze ... Ich habe mit ihm gezankt ... aber was! es war schon zu spät ... Wollen Sie ihn nicht erwarten, mein Herr?«
Während die gute Frau sprach, hatte sich nämlich Prosper von seinem Stuhle erhoben, weßhalb sie befürchtete, er wolle wieder fortgehen; aber anstatt sich zu entfernen, näherte er sich im Gegentheil der Gelähmten mehr und mehr und betrachtete sie mit immer größerer Aufmerksamkeit, dann fing er an zu zittern, seine Beine trugen ihn fast nicht mehr, und Thränen flossen über seine Wangen herab, während er, sich auf den Rücken des Lehnstuhls stützend, seine Hand auf die der guten Dame legte und stotterte: »Heißt Ihr Sohn nicht ... sein Name fällt mir eben wieder ein ... Maximus Bertholin? ...«– Ja, mein Herr ... ja ... Ah! Sie kannten den Namen meines Sohnes? – »Freilich kenne ich ihn! ... Ach! war er denn nicht immer in mein Herz eingegraben? ... Sie sind es, meine gute Mutter Bertholin, Sie sind es? ... Endlich finde ich Sie wieder!«
Prosper hatte die gute Frau beim Kopfe genommen und küßte sie, wie ein Sohn seine Mutter küßt. Diese, ganz erstaunt, und solche Aeußerungen der Zärtlichkeit von Seiten eines ihr unbekannten Mannes nicht begreifend, rief aus: »Ja, mein Herr, ich bin die Mutter Bertholin, aber Sie ... der uns kennt ... wer sind denn Sie?« – Wer ich bin! ... Ach! in der That ... von dreizehn Jahren her können Sie mich nicht mehr erkennen ... Aber Sie werden Prosper, den jungen Buchdrucker, den Sie so oft ermahnten, vernünftiger zu werden, nicht vergessen haben. – »Sie! ... Du! ... Prosper!«
Und damit küßte die alte Frau Prosper, den sie endlich erkannte, ihrerseits, und rief aus: »Ach! wie wird sich mein Sohn freuen!« – Und ich!« sagte Prosper, sich die Augen trocknend, »ich suche ihn schon so lange! ... aber warum verbirgt er sich auf solche Weise ... lebt wie ein Wolf ... besucht seine Freunde nicht mehr ... Poupardot und seine Frau wären so glücklich, euch wiederzusehen. Warum läßt er sich für todt beweinen? Das ist nicht recht ... Ich weiß zwar, daß ich es ungefähr ebenso gemacht habe ... Aber Maximus, ein so kluger, vernünftiger Mensch, konnte nicht dieselben Beweggründe haben wie ich. – »Du fragst mich, lieber Prosper, worum mein Sohn seine Freunde nicht besuchte! ... Kennst Du denn Maximus' Charakter nicht mehr; hast Du sein stolzes Gemüth vergessen? ... Als mein Sohn im Jahre Vierundneunzig seine Stelle in der Druckerei verlor, befanden wir uns in großer Noth, daher übernahm er ein kleines Amt, welches man ihm in Limoges antrug; wir zogen also von Paris weg und lebten dort fünf Jahre lang so gut es ging. Maximus fühlte sich zu jener Zeit heiter und glücklich, denn damals war die Republik groß und siegreich. Nach Verlauf von fünf Jahren büßte er sein Amt ein, und wir kehrten hierher zurück; da Maximus keine Anstellung mehr hatte, so fing er an Unterricht im Schreiben und im Französischen zu ertheilen: wir lebten ziemlich zufrieden, als ich nach einer langen Krankheit von gänzlicher Lähmung an den Beinen heimgesucht wurde. Maximus verkaufte und verausgabte beinahe Alles, was wir besaßen, um mich gut zu verpflegen; und das hat uns in die bedrängten, ich könnte beinahe sagen, elenden Umstände gebracht, worin wir uns jetzt befinden. Allein mein Sohn arbeitet so viel er kann, und klagt nie, wenn er glaubt es gehe mir nichts ab. Oefters habe ich ihn an Poupardot ... an seine alten Freunde erinnert und ihn aufgefordert, sie zu besuchen, aber dann hat er mir stets geantwortet: Liebe Mutter, wenn ein armer Mann seine reichen Freunde besucht, so sieht es beinahe immer aus, als ob er sie um Unterstützung bitten wollte; diese können es wenigstens voraussetzen, wenn er selbst auch nicht daran denkt; da ich nicht möchte, daß man so etwas von mir vermuthe, da ich mich von Niemand unterstützen lassen will, wenn ich auch noch so arm bin, so entziehe ich mir lieber das Vergnügen, zu meinen Freunden zu gehen.« – Ein Teufelsmensch mit seinen strengen Grundsätzen! ... Somit würde er von mir, der ich jetzt reich bin, auch keine Unterstützung annehmen? ... – »Nein, mein lieber Prosper, er schlüge Alles aus ... er wäre im Stande, böse zu werden, wenn Du darauf beständest ...« – Daher bin ich höchst erfreut, Sie zuerst gefunden zu haben ... Hier, meine gute Mutter, nehmen Sie diese Börse ... dieses Gold ... Ah! ich hoffe, daß Sie nicht so stolz sein werden, als Ihr Sohn ... daß Sie mich nicht des Vergnügens berauben werden, Ihnen nützlich zu sein ...«
Mit diesen Worten legte Prosper eine fünfzig Louisd'or enthaltende Börse in den Schooß der guten Frau, und diese seufzte, während sie das Gold betrachtete, dessen sie so bedürftig war, und sagte: »Ach! lieber Freund ... Du bist zu gütig ... wenn aber mein Sohn dieses Gold sieht ... was soll ich ihm sagen? ... er wird böse werden, wenn er die Wahrheit erräth.« – Machen Sie ihm Etwas weis ... Beim Kuckuk! die Weiber sind doch sonst nie verlegen ... sagen Sie ... Ach! da fällt mir ein herrlicher Gedanke ein ... Sie hätten mit zwölf Sous zwölfhundert Franken in der Lotterie gewonnen! Einen solchen Gewinnst schreit man nicht in den Straßen aus. – »Aber ich kann ja nicht gehen und folglich auch nicht hinuntersteigen, um mir ein Loos zu kaufen.« – Kommen die Looshändler nicht herauf, wenn man sie ruft? ... Haben Sie nicht außerdem irgend eine gefällige Nachbarin ... Gehen Sie! gehen Sie! die Sache ist im Reinen, Sie haben in der Lotterie gewonnen. – »Nein, guter Prosper! ...« – Still! still! ... sprechen wir nicht mehr davon ... man kommt die Treppe herauf ... Es ist Maximus ... er muß es sein ... mein Herz hat eine Ahnung ... Sagen Sie ihm nichts ... O! er wird mich auch nicht mehr erkennen.«
Es war in der That Maximus; die Jahre, welche seit der Trennung von seinem Freunde verflossen waren, hatten sein Aeußeres nur wenig verändert. Es war immer noch jenes schöne, ernste, etwas strenge Antlitz, nur war es noch blässer und magerer geworden als früher; und auf dieser noch jugendlichen Stirne, die den Stempel der Sorgen und des Unglücks trug, fing das Haar bereits an dünn zu werden.
Als Maximus einen Fremden bei seiner Mutter sah, begrüßte er ihn und begann: »Darf ich fragen, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?« – Was ich will,« entgegnete Prosper, nachdem er seine Blicke eine Zeitlang stillschweigend auf seinen alten Freund geheftet hatte: »was ich will? ... o! vor allen Dingen Dir um den Hals fallen.«
Mit diesen Worten stürzte er sich in Maximus' Arme. Dieser betrachtete ihn nun ebenfalls aufmerksam und rief dann aus: »Du bist Prosper!« – Du erkennst mich also? – »Ich erkenne Deine Stimme ... Deinen Blick ... im Uebrigen gestehe ich, hätte ich mich irren können ... Diese Narbe ... Bist Du Soldat?« – Nein ... aber dessen ungeachtet kann man sich doch schlagen, wenn sich Gelegenheit dazu darbietet ... Ich sehe Dich also endlich wieder ... Nach beinahe dreizehn Jahren ... Welche Ereignisse seit jener Zeit! ...«
Maximus seufzte, schüttelte traurig den Kopf und erwiderte: »Ja, es sind in der That viele Veränderungen vorgegangen!« – »Du seufzest, Maximus; Du siehst verdrießlich aus, indem Du dieses sagst ... Theilst Du die Begeisterung nicht, welche alle diese glänzenden Siege des Kaisers hervorbringen? ... Bist Du für den Ruhm Deines Vaterlandes nicht empfänglich?« – »O! das kannst Du von mir unmöglich glauben, Prosper; Niemand ist empfänglicher für den Ruhm seines Vaterlandes als ich; aber ehe wir einen Kaiser hatten, waren wir auch Sieger, wir triumphirten bei Lodi, bei Arcole, bei Rivoli ... noch zur Zeit der Republik ... Für mich war der General der Armee von Italien weit größer als euer Kaiser. Doch lassen wir diesen Gegenstand ... sprechen wir nicht mehr über Politik ... Es würde vielleicht unser gegenseitiges Einvernehmen stören. Erzähle uns lieber Deine Abenteuer ... Sage uns, wie es Dir erging, seit wir uns nicht mehr gesehen haben.«
Prosper setzte sich zwischen Maximus und seine Mutter und schilderte ihnen getreulich seine Abenteuer, seine Liebe und seine Reisen; er verhehlte ihnen nicht das Mindeste, doch glitt er nur flüchtig über das hinweg, was er zur Rettung von Madame Derbrouck gethan hatte. Als Maximus erfuhr, daß die Tochter des unglücklichen Holländers lebe, und Prosper für sie einen Sprachlehrer suche, drückte er seinem Freunde gerührt die Hand und sagte: »Ach! Du bist immer der Nämliche ... ein leichter Sinn, aber ein vortreffliches Herz!« – Mein Sinn ist jetzt weit gesetzter und vernünftiger,« erwiderte Prosper lächelnd. »Du thust mir zu viel Ehre an, wenn Du mich noch für einen Schwindelkopf hältst ... Ich meine, ich sehe nicht mehr so aus. – »O! das thut nichts ... Ich kenne Dich ... Ich wette, Du denkst noch an jene kleine Gräfin ... die Dich zum Narren hielt und Dich nie geliebt hat.« – Daß sie mich nie geliebt hat, ist möglich, aber zum Narren hat sie mich nicht gehalten, weil sie mir nie Hoffnung gemacht hat ... Uebrigens schwöre ich Dir, daß ich nicht mehr an sie denke. – »Das glaube ich Dir nicht, Du denkst immer noch an sie ... Ich habe das an Deiner Erzählung bemerkt, und wenn Du sie wiederfändest, wärest Du abermals im Stande, alle möglichen Thorheiten ihretwegen zu begehen ...« – Was habe ich denn für Thorheiten begangen? Daß ich ihrem Vater sein Gut wieder zurückgab ... die einzige Hülfsquelle, die ihm blieb, da all sein sonstiges Besitzthum sequestrirt war? – »Nein, ich tadle diese Handlung nicht; aber Durouleau hatte Dir Vermögen hinterlassen. Du hast es verschwendet ... durchgebracht ... Der Zufall hat Dir ein neues zugeschickt, sorge dafür, daß Du dieses erhältst.« – Dieser Maximus bleibt immer der Alte ... er schmeichelt seinen Freunden nicht ... Sei ruhig, strenger Mann! man wird sich klug aufführen. Ei, willst Du meiner jungen Waise, dem Kinde dieser braven Leute, die uns so werth waren, Stunden geben? – »Welche Frage? ... Ach! Du verschaffst mir ein wahres Glück dadurch! die Tochter dieses unglücklichen Holländers ist für mich ein Gegenstand der Liebe und Verehrung.« – Ganz gut, da man aber davon nicht leben kann, so biete ich Dir hundert Franken für den Monat an ... ist es genug? – »Bist Du toll! meine besten Schüler bezahlen mir nur vierundzwanzig ... Mehr nehme ich nicht ...« – Wenn Deine andern Schüler arme Schlucker oder Filze sind, so geht mich das nichts an. Du bekommst hundert Franken. – »Und ich nehme nur vierundzwanzig oder verzichte lieber auf das Vergnügen, der Lehrer dieses theuren Kindes zu werden.« – Welcher Eigensinn! ... Mein lieber Maximus, Du bist entsetzlich starrköpfig! Ich habe die Bemerkung gemacht, daß man immer thun muß, was Du willst. Gleichviel ... es soll geschehen; aber sage mir, wird Dir Dein erhabener Stolz auch verbieten, mitunter mein Gast zu sein und an dem Tische Deines Freundes Platz zu nehmen?«
Maximus lächelte und schüttelte Prospers Hand, indem er entgegnete: »Nein, nein, ich werde mit großem Vergnügen bisweilen bei Dir essen.« – Ach! das ist recht! ... Und ich hoffe, es wird Dir nicht unangenehm sein, wenn Du dann auch Poupardot und seine Frau antriffst? ... – »Nein, gewiß nicht, im Gegentheil. ..« – Ach! herrlich ... nun will ich gleich hingehen und ihnen sagen, daß ich Dich wieder gefunden habe ... Sie werden sich außerordentlich freuen! ... denn siehst Du, wir lieben Dich alle, und sind nicht so stolz wie Du, wir scheuen uns nicht, es merken zu lassen. Ich kann auch kaum erwarten, bis ich Paulinen gesagt habe, daß ihr neuer Lehrer ihre Eltern gekannt hat, daß er in Paris in demselben Hause mit den Unglücklichen wohnte. Diese arme Kleine! sie tritt kaum erst in ihr vierzehntes Jahr. Aber Du wirst sehen, welch ein Engel sie ist! ... Sie vereint bereits die Vernunft und das Gefühl einer Jungfrau mit der Sanftmuth und Offenheit eines Kindes.«
»Armes Kind,« sprach Mutter Bertholin. »Als ich sie sah, hing sie noch an der Mutter Brust ... Ich würde sie gewiß nicht mehr erkennen ... Aber ich hätte mich so glücklich geschätzt, sie in meine Arme zu schließen ... Doch leider! es ist unmöglich ... ich kann mich nicht von hier wegbewegen! ...« – Nun dann, Mutter Bertholin, bringe ich Ihnen Paulinen her, dann können Sie das liebe Kind hier umarmen. – »Wie, Prosper ... Sie wollten die Güte haben! ...« – Die Güte! ... werde ich nicht zugleich auch Paulinen ein Vergnügen verschaffen ... wenn ich sie zu einer Person führe, welche ihre Mutter gekannt und geliebt hat? Ah! sie wird mir dankbar dafür sein.«
»Aber ... diese schlechte Treppe heraufzusteigen ... in diese elende Dachwohnung heraufzukommen. um eine alte Gelähmte zu sehen ...« – Sieht man auf die Schönheit einer Wohnung, zählt man die Treppenstufen, wenn man seine Freunde besucht? Sie sind alt und gebrechlich, das sind zwei Gründe, Sie zu lieben und zu achten. O! seien Sie ruhig! meine Pauline ist keine Zierpuppe; sie wird sich glücklich schätzen, zu Ihnen kommen zu dürfen. Adieu, Mutter Bertholin; leb' wohl, lieber Maximus ... Ach! ich bin so erfreut! Ich komme mir vor, als ob ich noch achtzehn Jahre alt wäre ... Ich muß hinaus, muß mir Bewegung machen ... Ich kann nicht auf dem Platze bleiben. Auf Wiedersehen! auf Wiedersehen! meine theuern Freunde.«
Prosper küßte die alte Frau auf beide Wangen. Dann drückte er Maximus an seine Brust und verließ unter Lachen und Singen, wie solches ihm schon lange nicht mehr begegnet war, die Dachstube.