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Prospers erster Gang, nachdem er sich von Maximus entfernt hatte, war zu seinem jungen Schützling. Pauline nahm so viel Antheil an Allem, was ihm begegnete, sie bewies ihm eine so aufrichtige Anhänglichkeit, daß er überzeugt war, es werde sie glücklich machen, wenn sie erfahre, daß er endlich den Freund gefunden, von welchem er so oft sprach. Er beeilte sich daher, ihr die Begegnisse dieses Morgens mitzutheilen. Das junge Mädchen hüpfte vor Freuden in die Höhe, als sie erfuhr, daß sie einen Lehrer bekommen werde, der von ihren Eltern mit ihr sprechen könne; und als sie Prosper fragte, ob es ihr vielleicht angenehm wäre, die alte Mutter Bertholin zu besuchen, lief sie sogleich nach ihrem Shawl und Hut, und rief aus: »O! schnell! wir wollen auf der Stelle hingehen.« – Diese Antwort hatte ich zum Voraus von Dir erwartet, meine liebe Kleine,« sagte Prosper, »und war überzeugt, daß Du, um diese gute alte Frau zu besuchen, die Dich so sehnlich zu umarmen wünscht, nicht anstehen werdest, fünf Treppen hinaufzusteigen, kurz, in eine Dachstube zu gehen! ... – »Ich anstehen, in eine Dachstube zu gehen! Ach! ... wenn ich so dächte, müßte ich ein schlechtes Herz haben! und das glauben Sie nicht von mir, nicht wahr, mein lieber Freund?« – Nein, nein! ganz das Gegentheil! Wir werden Frau Bertholin besuchen; aber vorher will ich mich zu unsern Freunden nach Clichy begeben. Ich muß ihnen auch zu wissen thun, daß ich Maximus wieder gefunden habe. Poupardot wird so vergnügt darüber sein! Komme mit mir, Pauline; wir nehmen einen Wagen nach Clichy, um die Familie Poupardot auf morgen mit Maximus zum Mittagessen einzuladen, und nachher gehen wir zur Mutter Bertholin.«
Das junge Mädchen war entzückt, ihren Freund begleiten zu dürfen; in einem Augenblick hatte sie ihre Toilette beendigt. Sie fuhren in einem Wagen weg und langten bald vor Poupardots Wohnung an.
Dort erwartete Prosper eine neue Ueberraschung: kaum hatte er den Fuß in die Wohnung seiner Freunde gesetzt, als ein neben Elisa sitzender Offizier aufstand, ihm entgegeneilte und ihn zum Erdrücken umhalste und küßte.
»Hier ist er ja, der liebe Prosper! Ah! tausend Kartätschen! ich war auch bei Austerlitz und habe von dem edlen Benehmen dieses Franzosen gehört, der sich beinahe zusammenhauen ließ, als er fast allein das Haus eines seiner Landsleute gegen eine russische Schwadron vertheidigte! Aber ich hatte keine Vermuthung, daß dieser tapfere Prosper jener junge Buchdrucker sei, den ich so toll, so leichtsinnig gekannt habe! erkennen Sie mich?« – Ja, ja ... Sie sind Roger ... der im Jahr II. der Republik zur Aushebung abging. – »Und nun Rittmeister, mein Freund. Ha! Tausend Bomben und Granaten! unter dem Kaiser macht man seinen Weg, da avancirt man schnell! ich habe es zu unseren Freunden gesagt, als ich sie vor ungefähr zwei Jahren verließ: wenn ich wiederkomme, bin ich nicht mehr Lieutenant und ich habe Wort gehalten! Ah! welche schöne Regierung mein Freund, welche herrliche Epoche für Frankreich! wie Schade, daß Sie sich nicht dem Waffenstande gewidmet haben, Sie wären bestimmt höherer Offizier geworden, ich stehe dafür!« – »Es kann nicht Alles Soldat sein!« versetzte Poupardot – »Doch, doch! Unter Napoleons Herrschaft muß Jeder Lust zum Soldatenstand bekommen. Nur beim Militär macht man sein Glück.« – »Meine Freunde,« sagte Prosper, »ich habe euch eine Neuigkeit mitzutheilen, die euch gewiß viel Vergnügen machen wird. – »Was denn?« rief Roger aus, »werden wir einen neuen Feldzug unternehmen? – Werden die Assignaten eingelöst?« fragte Poupardot, »ich habe für achtzigtausend Franken in meinem Schreibtisch liegen. Meine Frau will immer Papilloten daraus machen, aber ich sage ihr stets: warte noch, man kann nicht wissen ... darum habe ich sie auf die Seite gethan. – »Von all dem ist nicht die Rede! sondern von einem alten Freunde von euch, von einem Manne, den wir Alle lieben.« – Maximus? – »Ach, ich war überzeugt, daß euer Herz ihn nennen würde; ja, Maximus habe ich wiedergefunden und gesehen.« – Wäre es möglich! Tausend Schwadronen, wo ist er? daß wir uns in seine Arme werfen können! – »Wo er ist? in einer armseligen Mansardenstube, wo er seine lahm gewordene Mutter von seinem Verdienste unterhält. Der Zufall oder vielmehr die Vorsehung hat mir zu seinem Wiederfinden verhelfen, indem ich einen französischen Sprachlehrer für meine Waise suchte. Uebrigens ist er immer der Alte, gleich stolz und gleich streng in seinen Grundsätzen. Wißt ihr, warum er nicht zu uns kam; seine Mutter hat mir es gesagt; weil er, da er arm ist, befürchtete, wir könnten seinen Besuchen die Absicht unterschieben, er wolle unterstützt sein oder Geld entlehnen. Und heute noch hat er nur unter der Bedingung eingewilligt, Paulinens Lehrer zu werden, daß ich ihm nicht mehr bezahle, als seine andern Schüler.« – Daran erkenne ich ihn,« sagte Roger, »es ist ein Mann von ächtem Schrot und Korn – »Ich glaube nicht, daß er unter irgend einer Regierung Glück machen wird!« murmelte Poupardot.– »Obgleich, meine Freunde. Maximus nicht über seine Armuth zu erröthen braucht, so könnte es ihm doch peinlich sein, euch in seiner dürftigen Wohnung zu empfangen ... aber Morgen kommt er zum Mittagessen zu mir, und ich hoffe, ihr werdet euch auch dabei einfinden.« – Von ganzem Herzen, mein Tapferer,« erwiderte der Soldat mit einem Handschlage, während Poupardot ausrief: »Gewiß nehmen wir die Einladung an! ... Maximus wiederzusehen, wird ein Festtag für uns sein ... da gehen wir Alle hin, wir nehmen auch unsere Kinder mit, nicht wahr, Elisa? nur dürfte es unsern Freund nicht geniren ...« – Mich geniren,« entgegnete Prosper, »bedenkt doch, daß ihr euch bei mir wie zu Hause betrachten müßt. Auf morgen also. Ich verlasse euch, denn Pauline und ich haben noch einen Besuch zu machen. Auf Wiedersehen, Kapitän; auf Wiedersehen meine lieben Freunde.«
Prosper verabschiedete sich von seinen Freunden und Pauline folgte ihm, nachdem sie die gute Elisa zärtlich geküßt und auf ihre leise Frage, ob sie immer noch glücklich sei, statt aller Antwort erzählt hatte, was ihr Beschützer schon für sie gethan.
Nun führte Prosper die Waise zu der guten Mutter Bertholin, und während der Fiaker in die Märtyrerstraße rollte, sagte er zu dem jungen Mädchen: »Ich habe Maximus' Wohnung nicht genannt, weil ich gefürchtet hätte, eine Indiskretion zu begehen ... er wird ja jetzt mit seinen Freunden zusammenkommen, und wenn er ihre Besuche wünscht, kann er sie ihnen selbst sagen. Glaube mir, liebe Kleine, wenn stolze Menschen im Unglück sind, so ist es ein großer Beweis ihrer Freundschaft, wenn sie uns gestatten, sie zu besuchen ... aber das begreift nicht Jedermann.«
Man langte an Maximus' Wohnung an; Prosper reichte Paulinen die Hand, um sie auf der dunkeln und gewundenen Treppe zu leiten, welche man hinauf klettern mußte, um zu der Mansarde zu gelangen. Das junge Mädchen achtete die vielen Stufen, die zu ersteigen waren, nicht; sie war ganz von dem Gedanken ergriffen, mit Personen zusammenzutreffen, die ihre Eltern gekannt hatten.
Endlich erreichten sie das fünfte Stockwerk. Prosper drückte auf die Thürklinke und ließ Paulinen eintreten. Die alte Mutter Bertholin saß in ihrem Lehnstuhle und ihr Sohn schrieb an einem Tische. Als Maximus das junge Mädchen hereinkommen sah, erhob er sich von seinem Sitze, trat ihr einige Schritte entgegen, und stand dann stille, um sie mit ehrerbietiger Miene zu betrachten.
»Hier ist die Tochter des Herrn Derbrouck,« sagte Prosper.
Die alte Frau schien völlig hingerissen; zwei Bäche von Thränen rannen über ihre Wangen herunter, während sie sich an Paulinen nicht satt sehen konnte. Maximus war fast eben so ergriffen, wie seine Mutter, als er das Kind dieses unglücklichen Paares vor sich erblickte, welches ein Opfer der Schreckensherrschaft geworden war. Und das junge Mädchen blieb, die Empfindung, welche ihr Erscheinen hervorrief, theilend, unbeweglich mitten im Zimmer stehen, suchte den sie anschauenden Personen zuzulächeln, fand übrigens ebenfalls nur Thränen in ihren Augen.
Endlich hob Mutter Bertholin ihre Arme auf, breitete sie gegen Paulinen aus und sagte mit von Schluchzen erstickter Stimme zu ihr: »Wollen Sie ... mein Kind ... wollen Sie ...«
Mehr zu sagen fehlte es der Alten an Kraft, aber das junge Mädchen hatte sie verstanden, flog in ihre Arme und rief aus: »O! ja, Madame! ... ja ... und ich will Sie auch recht lieb haben.«
Pauline lag mehrere Minuten in den Armen der guten alten Frau, welche nicht müde wurde, sie zu küssen, zu betrachten und wieder zu küssen. Dann trat Maximus auf sie zu, nahm ihre Hand, führte sie achtungsvoll an seine Lippen und sprach: »Wir fühlen uns glücklich, Fräulein, die Tochter dieses so ehrenwerthen Mannes, dieser so guten und wohlthätigen Frau zu sehen, deren Nachbarn zu sein wir das Glück hatten. Ihr Vater, werthes Fräulein, starb zu jener Zeit, wo die Revolution sich in Schrecken verwandelt hatte, wo blutdürstige Menschen ihre schönsten Seiten besudelten. Später wird man ohne Zweifel, wenn man die Ereignisse der Revolution schildert, Herrn Derbroucks Erwähnung thun, und ihn, weil er das Unglück hatte, mit Hebert und andern wilden Jakobinern jener Zeit in Verbindung zu stehen, falsch beurtheilen, ihm Gefühle zuschreiben, welche nie die seinigen waren! aber so schreibt man fast immer Geschichte! ... Wenn dies der Fall sein sollte, so betrüben Sie sich nicht, Fräulein; Alle, die Ihren Herrn Vater kannten, wissen, daß er ein rechtschaffener Mann und kein Verschwörer war, und wenn Sie je in sein Vaterland, nach Holland kommen, so werden Sie finden, daß sein Andenken geehrt und sein Name von all seinen Mitbürgern geschätzt wird.«
Pauline hatte Maximus mit andächtiger Aufmerksamkeit zugehört, und als er geendet, erwiderte sie: »Ich danke Ihnen für das, was Sie mir über meinen Vater gesagt haben; auch ohne dies war mir sein Andenken theuer, aber es ist stets so wohlthuend, Gutes von seinen Eltern sprechen zu hören.« – Liebe Kleine,« rief Mutter Bertholin aus; »das ist ganz die Stimme ihrer Mutter ... und wie sie ihr ähnlich sieht! ... ihre Nase ... ihre Augen ... Arme Dame! ... wenn ich mir sie vorstelle ... sie kam auch öfters zu uns, liebes Kind, um mir guten Tag zu sagen ... oder sich nach meinem Befinden zu erkundigen ... sie schämte sich ebenfalls nicht, in die bescheidene Wohnung armer Leute zu kommen! ... O! sie war so liebenswürdig, so anmuthig! ... mein Gott! mein Gott! und mußte so unglücklich sterben! – »Genug, liebe Mutter, genug ...« sagte Maximus; »Sie sehen ja, daß Sie das arme Fräulein zum Weinen bringen.« – O! das thut nichts,« fiel Pauline ein, »ich will gerne weinen und von meiner Mutter sprechen hören! – »Ja, aber ich kann das Weinen nicht länger mit ansehen,« fiel Prosper ein, »laßt uns unsere Augen trocknen! Wir kommen von Poupardots, mein lieber Maximus, sie waren überglücklich, Nachrichten von Dir zu erhalten! ... Aber Du weißt nicht, wen ich bei ihnen getroffen habe ... einen Husarenrittmeister ... der eben angekommen ist ... Roger ...« – Wäre es möglich! Roger ist hier? – »Ei freilich! und Du wirst ihn morgen sehen, sie speisen Alle bei mir. Ach! wie Schade, daß Deine gute Mutter nicht dabei sein kann!« – Daran müssen Sie nicht denken, mein lieber Prosper,« sagte die gute Frau; »denn ich freue mich stets, wenn mein Sohn glücklich ist, und morgen werde ich vergnügt sein, weil ich ihn im Kreise seiner alten Freunde weiß.« – Und wir werden auf Ihre Gesundheit trinken, Mutter Bertholin; o! wir werden Sie nicht vergessen.«
Prosper und Pauline verweilten beinahe eine Stunde bei den guten Leuten, und als sie sich endlich trennten, geschah es mit dem Versprechen, sich bald wieder zu sehen, denn das junge Mädchen hatte die arme Gelähmte um Erlaubniß gebeten, sie öfters besuchen zu dürfen, und man kann sich wohl denken, daß ihr das die Mutter Bertholin nicht abschlug.
Prosper führte Paulinen nach Hause zurück, wo man bereits Anordnungen für die morgige Mahlzeit traf. Dann ging er abermals aus, denn er hatte einen Plan gefaßt, und bei ihm war es vom Gedanken bis zur Ausführung nie weit.
Prosper dachte in seinem Sinne: »Morgen versammeln sich drei alte Freunde ... drei Jugendgenossen bei mir; könnte ich nicht mit ihnen noch andere unserer damaligen Bekannten einladen? Seit ich nach Paris zurückgekehrt bin, habe ich Picotin und seine Frau noch nicht gesehen; ich habe zwar oft an sie gedacht, aber andere Sorgen haben mich vergessen lassen, sie zu besuchen. Picotin war zwar durchaus kein Mensch von großem Verdienste, aber im Ganzen genommen war dieser arme Horatius-Cocles doch ein guter Junge, der nur den Fehler hatte, immer zu zittern und sich von seiner Frau an der Nase herum fühlen zu lassen. Was Euphrasia betrifft, so darf ich doch, wenn auch ihr Betragen fortwährend leichtsinnig war, nicht vergessen, daß sie meiner kleinen Pauline Milch gegeben hat, als ich mit dem Kinde auf dem Arme nach Paris kam; außerdem hat sie sich auch, als ich sie in ihrem atheniensischen Kostüme vor der Beschimpfung des Volkes rettete und ins Boulognerwäldchcn führte, sehr erkenntlich für meine Dienstleistung gezeigt. Ich wäre entschieden undankbar, wenn ich das Alles vergäße. Ich will mich zu ihnen begeben und Picotin und seine Frau auf morgen zum Mittagessen bei mir einladen.«
Deßhalb war Prosper noch einmal aus- und in die Bärenstraße gegangen, denn er erinnerte sich genau, wo der Pelzladen von Picotin gewesen war.
Aber Euphrasia und ihr Gatte hatten die Bärenstraße schon längst verlassen. An der Stelle, wo sonst der Pelzladen war, fand Prosper einen Spezereikrämer; er war einigermaßen verwundert, trat aber doch hinein und fragte, was aus dem Pelzhändler geworden sei, der sonst in diesem Hause gewohnt habe
Der Spezereikrämersjunge sah Prosper an, streckte gegen zwei Mägde, welche eben in den Laden herein kamen, die Zunge heraus und entgegnete: »Einen Pelzhändler! von dem weiß ich nichts ... Ich habe hier nie Pelz verkauft.«
Hierauf wendete sich Prosper an die Spezereikrämerin; diese wußte eben so wenig, rief aber ihren Vater. Der Alte kam und nachdem er lange sein Kinn gestreichelt hatte, rief er aus: »Ach! ja ... ein Pelzhändler ... der war vor mir in diesem Laden ...« – Ganz richtig, und wo ist er von hier aus hingezogen? – »Ich weiß nicht mehr ... Ach! doch ... in die Straße Saint-Honoré, gegenüber der Dürrenbaumstraße.« – Bin Ihnen außerordentlich verbunden.«
Prosper begab sich an den ihm bezeichneten Ort; er sah in der That einen Pelzladen, ging hinein und glaubte, Euphrasia oder ihren Mann im Comptoir zu finden, allein er begegnete nur unbekannten Gesichtern, und als er nach Picotin fragte, erwiderte man ihm: »Derselbe hat uns schon längst sein Geschäft übertragen; Herr Picotin handelt nur noch mit Schaffellen ... hier ist seine Adresse ... er wohnt in der Vorstadt Saint-Germain.
Prosper ging von da in die Vorstadt Saint-Germain. Er fragte nach dem Schaffellhändler Picotin, und man antwortete ihm: »Er ist schon vor einem Jahre ausgezogen und wohnt jetzt im Marais in der Rothenkinderstraße nächst dem Markte.«
»Sapperment,« dachte Prosper, »diese Leute ziehen in einem fort aus, das gibt mir keinen günstigen Begriff von ihrem Handel. Einerlei! ich leide ja nicht darunter, ich will sie also immerhin aufsuchen.«
In der Rothenkinderstraße angekommen, gelang es Prosper endlich, das Haus des Schaffellhändlers auszukundschaften, und der Portier desselben antwortete ihm: »Herr Picotin wohnt im vierten Stocke, gehen Sie nur hinauf, er ist zu Hause.« – Gott sei Dank!« rief Prosper aus, indem er rasch die schlechte Stiege hinaufkletterte, die dem übrigen Theile des Hauses zu entsprechen schien. Oben im vierten Stocke las er auf einem über einer Thüre angebrachten kupfernen Schilde folgende Worte: Anacharsis Picotin handelt mit Schaf- und überhaupt mit allen in sein Geschäft einschlagenden Fellen.
»Er ist immer noch gleich talentvoll in der Abfassung seiner Annoncen,« sprach Prosper zu sich, während er auf die Thürschnalle drückte.
Beim Eintritt zu dem Fellhändler kam man zuerst durch ein kleines, viereckiges Gemach, welches sonst als Speisezimmer gedient haben mußte, und jetzt, wie es schien, ein Bureau vorstellen sollte. Mittendurch ging ein vergitterter Verschlag, der eine Oeffnung hatte, wie ein Kassenbureau. Ueberdies hatte man einen weißen Papierstreifen an das Gitter geklebt, worauf mit sechs Zoll langen Buchstaben das Wort Kasse geschrieben stand. Aber auf der entgegengesetzten Seite des Gitters war Alles in größter Unordnung. Man sah auf dem Schreibtisch ein großes, aufgeschlagenes Buch, woraus man dem Anscheine nach halbe Seiten herauszureißen pflegte; ein mit Staub bedecktes Schreibzeug, einige dintenkrustige Federn, ein Federmesser ohne Klinge und einige mit Oel befleckte Papierbögen; in einer Ecke auf dem Boden lag ein Pack Schaffelle, die in einem sehr schlechten Zustande schienen; und auf der mit Eisen beschlagenen Kasse hatte man ein gewisses unnennbares Gefäß stehen lassen, das man in der Regel weder in, noch auf einer Kasse sucht.
Nachdem Prosper einen Blick auf dieses Bureau geworfen hatte, beeilte er sich, eine gegenüber von dem Gitter befindliche Thüre aufzustoßen, welche in ein anderes Gemach führte.
Nun befand er sich in einem Salon, den man in ein Schlafzimmer verwandelt hatte und zugleich als Küche benützen zu wollen schien; denn in dem Kamine, wo ein großes Feuer brannte, sah man Spieß und Pfanne. Dieses Zimmer, dessen Mobilien noch ziemlich hübsch, wenn sie nicht beschmutzt oder zerbrochen gewesen wären, war mit weiblichen Kleidungsstücken angefüllt; es lagen davon auf dem Bette, auf jedem Stuhle, hier ein Kleid, dort ein Unterrock; weiter entfernt Pantoffeln und ein Halskragen; auf einer Commode ein Pomadentopf, ein Kamm und ein Paar Strümpfe. Inmitten dieser Zerstörung schien ein Mann, in einer Jacke, mit einer Mütze auf dem Kopfe beschäftigt, die Haushaltung zu besorgen, denn erhielt in der einen Hand einen Besen, in der andern einen Wischlappen und unter dem Arme einen Schaumlöffel. Prosper brauchte den Mann nicht lange zu betrachten, um ihn zu erkennen; Picotin hatte sich nur wenig verändert! ... Personen, deren ganze Physiognomie in einem stark ausgedrückten Schafskopf besteht, behalten ihn unversehrt, wenn sie noch so alt werden.
Als Picotin einen Unbekannten ins Zimmer treten sah, fing er hastig an, die Möbeln abzustäuben und rief aus: »Madame ist nicht zu Hause! ... heute wird nicht ausbezahlt! ... sie hat die Schlüssel zur Kasse ... kommen Sie ein anderes Mal wieder! ...«
Prosper rührte sich nicht. Er konnte nicht umhin, zu lächeln, als er sah, welche Verrichtung Euphrasia ihrem Manne übertragen hatte.
Als Picotin gewahrte, daß der Herr, trotz seiner Worte, nicht von der Stelle ging, nahm er seinen Besen und suchte einen ungeheuren Staub zu machen, indem er wiederholte: »Madame Picotin ist ausgegangen ... man bezahlt heute nicht! ... sie hat die Kassenschlüssel ... es ist unnöthig, daß Sie warten ... sie kommt vor Mitternacht nicht nach Hause.« – Und wenn ich sowohl mit dem Herrn, als mit der Frau zu sprechen wünschte?« entgegnete Prosper vortretend.
»O! dann ... aber ich ... habe die Gelder nicht unter den Händen ... ich bekümmere mich nicht mehr um die Kassenangelegenheiten ...« – Ei! wer Teufels spricht denn von Deiner Kasse, mein armer Picotin? sieh mich einmal recht an ... suche einmal in Deinem Gedächtnisse ... ob Du nicht die Erinnerung an Jemand darin findest, der Dich früher einmal fast zu Tode ärgerte ... den Du während der ersten Aufführung von Epicharis und Nero, im Theater français, damals noch dem Theater der Republik, auf dem Schooße hieltest, wie eine Amme ihren Säugling? ...«
Picotin schlug sich an die Stirne, stieß einen Schrei der Ueberraschung aus, und schüttelte Prosper die Hand mit den Worten: »Ach! ich hab' es! ... o! Sackerlott! ich hab' es! ... Sie sind Prosper Bressange, der junge Buchdrucker ... von früher! Wenn Sie mir es aber nicht selbst gesagt hätten, hätte ich es nicht geglaubt! ... Ich hätte Sie nie erkannt! ... Ach! wie haben Sie sich verändert. Mein Gott! wie sind Sie alt geworden ... es ist unbegreiflich!« – Nein, mein lieber Picotin, darin liegt nichts Unbegreifliches! ... Damals war ich achtzehn Jahre alt, und jetzt stehe ich im einunddreißigsten. Der Mann kann nicht mehr aussehen, wie der Wildfang ... der Knabe, und besonders nicht, wenn er ein thätiges und stürmisches Leben durchgemacht hat! ... – »Ah! Sie waren stürmisch ... finden Sie mich sehr verändert?« – Meiner Treu, nein! Du siehst noch immer aus, wie früher ... Und Deine Frau? – »Ach! sie ist mit zwei Kürassieren, Freunden von uns, spazieren geritten ... Sie wird aber bald nach Hause kommen ... sie kehren zum Mittagessen zurück ... ich habe nur zum Vorwand gesagt, sie komme erst um Mitternacht nach Hause. Potz! ich muß nach meinem Braten sehen ... es ist ein Lendenstück, und wenn er mir verbrennen würde, finge meine Frau einen schönen Tanz mit mir an ... Ich fürchte auch, mein Fleischtopf möchte überlaufen ... Ich will einmal die Fleischbrühe versuchen ... Sie müssen mit uns essen, Prosper, das wird Euphrasia bestimmt ein großes Vergnügen machen ... sie spricht oft von Ihnen ... und es genirt uns nicht im mindesten ... Wo für Viere ist, reicht es auch für Fünfe, und wo für Fünfe, auch für Sechse ... das sagen mir unsere Freunde, die Kürassiere, alle Tage, wenn sie einen Kameraden weiter mitbringen.«
Während Picotin solches sprach, wendete er seinen Braten um, versuchte dann seine Fleischbrühe, schüttelte den Kopf mit unzufriedener Miene, holte eine Wasserkanne und schüttete die Hälfte des Inhalts in den Fleischtopf, wozu er brummte: »Sie wird immer noch gesalzen genug sein ... und gibt dann mehr aus, und unsere Freunde, die Kürassiere, essen die Suppe auf diese Weise gerne, von wegen des Trinkens ...« – Du bist also Köchin und Stubenmagd geworden?« fragte Prosper, Picotin beobachtend.
»Meiner Treu! mein lieber Freund, man muß etwas in der Welt thun ... der Handel geht so schlecht! ... meine Frau will kein Dienstmädchen halten ... sie behauptet, ich sehe solche zu verliebt an ... sie führt die Bücher ... folglich muß ich den Besen und die Bürste führen ... das gibt Beschäftigung ... Nun, es bleibt dabei, Sie essen mit uns, nicht wahr?«
Mit diesen Worten hatte Picotin die Wasserkanne wieder zur Hand genommen, und schien, im Falle einer bejahenden Antwort, entschlossen, den ganzen Inhalt vollends in die Fleischbrühe auszuleeren.
»Nein, nein, es ist mir unmöglich,« erwiderte Prosper; »ich wollte meinerseits Dich und Deine Frau auf morgen zum Mittagessen einladen, jedoch ohne Kürassierbegleitung, denn Du wirst Maximus Bertholin, Poupardot und seine Frau, auch Roger, der jetzt Husarenrittmeister ist, bei mir antreffen ... Ich hoffe, das sind Gründe genug, daß ihr mir es nicht abschlaget.« – Ah! beim Kuckuk! und wenn Sie nur allein wären ... würde es mir jedenfalls Vergnügen machen, außerhalb zu speisen ... ich habe ohnehin nicht viel Unterhaltung hier ... den ganzen Tag habe ich mit der Haushaltung und mit der Küche zu thun ... dann muß ich auch noch das Geschirr spülen ... Ach Gott! ach Gott! aber ich weiß noch nicht, ob ich wegkommen kann ... meine Frau hat auf morgen eine Partie ausgemacht ... sie sieht dem Manöver eines Regiments zu ... und bringt dann fünf Offiziere mit nach Hause ... – »Nun! lasse Deine Frau sich mit den Offizieren herumschlagen und komme allein. Nimm! hier auf dieser Karte steht meine Adresse ...« – Gewiß werde ich es einzurichten suchen ... denn es würde mich außerordentlich freuen, Maximus wieder zu sehen ... ich glaubte ihn ganz todt! ... Mit Roger habe ich vor achtzehn Monaten zu Mittag gegessen ... er ist ein recht braver Bursche! mit Freuden würde ich mit ihm zusammentreffen ... Leider will mich Euphrasia nicht ausgehen lassen ... zudem muß ich wieder ein ungeheures Fricandeau zurichten ... es ist doch ärgerlich ...«
In diesem Augenblicke hörte man Geräusch ans dem Nebenzimmer und eine heisere Branntweinstimme schrie aus vollem Halse: »Holla! he! Hausherr! ... Schaffellhändler! ... Heute wird doch Jemand zu Hause sein! ...«
Picotin wurde blaß und fing an zu zittern, indem er zwischen den Zähnen hindurch brummte: »Ach! Teufel! da ist schon wieder der Wursthändler Machis ..was mich dieser Mensch peinigt! ... das wird lustig werden ...«
»Ist Jemand draußen?« fragte Prosper, der im Vorzimmer klopfen und herumtappen hörte.
»Ja, ja; ich weiß, wer es ist ... er kommt wegen Geschäften ...Sie kommen allemal, wenn ich zu Mittag koche ... Ich will ihn aber jagen, den ...«
Picotin ging ins vordere Zimmer und sprach leise mit der eben angekommenen Person; da aber diese wie ein Mordbrenner schrie, so sah Euphrasia's Gatte bald ein, daß es von seiner Seite überflüssig sei, heimlich zu thun, und somit hörte Prosper folgendes Zwiegespräch: »Sapperment, Herr Picotin! heute werde ich hoffentlich nicht wieder vergeblich gekommen sein ...« – Es thut mir sehr leid, Herr Machis, allein Sie haben Unglück ... Sie kommen immer, wenn meine Frau nicht zu Hause ist. – »Sie halten mich schön zum Narren! Ihre Frau ist ja nie zu Hause ... übrigens brauche ich sie nicht ... Sie sind der Herr vom Hause, Sie müssen mich bezahlen, und machen Sie ein Ende ...« – Ich der Herr vom Hause? ... Herr Machis, das verstehen Sie nicht ... sie hat die Kassenschlüssel bei sich.–»Immer die gleiche Leier! ... das zieht nicht mehr ... Ihre Kasse ist schön bestellt! ...bezahlen Sie vielleicht mit der Münze, welche in dem Topfe auf derselben ist ...Vorwärts, machen Sie ein Ende ... Ich habe Ihnen Fleischwaaren geliefert ... Sie haben mir einen Wechsel von dreiundsechzig Franken ausgestellt ... und seit sechs Wochen vertrösten Sie mich von einem Tage auf den andern mit der Bezahlung ... Sapperment! läßt man einen Mann wegen dreiundsechzig Franken vierzigmal laufen?« – Mein Gott, wenn man kein Geld hat ... – »Dann ißt man keine Trüffelpasteten und gefüllte Hahnen. Du wirft mich bezahlen, potz Donnerwetter! oder ich erdroßle Dich!« – O! o! laßt mich doch los!«
Prosper eilte schnell ins Nebenzimmer. Es war hohe Zeit: Herr Machis hatte seinen Schuldner an der Gurgel gepackt, und schien nicht geneigt, ihn wieder los zu lassen. Prosper warf dreiundsechzig Franken auf den Schreibtisch und sagte zu ihm: »Hier ist Ihr Geld, mein Herr, nehmen Sie es und gehen Sie.«
Der Wursthändler ließ Picotin los, zählte das Geld, steckte es in die Tasche, gab den Wechsel zurück, und rief aus: »Ah! so macht man die Geschäfte ab, das heißt bezahlen, die Sache ist im Reinen; ich denke weiter nicht mehr daran. Nichts für ungut, Herr Picotin.«–Ja, warum nicht gar!« sagte Picotin, dem sich entfernenden Herrn Machis nachsehend; »nichts für ungut! wenn er mir die Zunge eine Elle lang aus dem Hals herausgetrieben hat. Ohne Sie, mein lieber Prosper, wäre ich hin. Wie viel bin ich Ihnen doch schuldig, lieber Freund! ... Das heißt dreiundsechzig Franken!« – Du bist mir gar nichts schuldig! sprechen wir nicht davon! es thut mir nur leid, sehen zu müssen, daß Deine Geschäfte nicht in gutem Gange sind.– »Ach, es ist wahr, es geht sehr schlecht, die mir versprochenen Lieferungen kommen immer noch nicht! und überdies wüßte ich auch nicht, was ich jetzt noch liefern könnte! Ich habe nichts mehr als einige Schaffelle, woraus meine Frau will, daß ich Hosen machen lassen soll; sie behauptet, ich würde dann einem Engländer ähnlich sehen.«
In demselben Augenblicke vernahm man auf der Treppe Euphrasia's Stimme und das Sporengeklirre der Herren Kürassiere.
»Da kommt meine Frau!« rief Picotin mit bestürzter Miene aus, und kniete schnell vor dem Kamin hin, wo er den Braten umkehrte und in den Topf sah.
»Der Vorplatz ist abscheulich schmutzig!« schrie Euphrasia beim Eintritt in das erste Zimmer. »Ich bin überzeugt, daß ihn Herr Picotin nie kehrt. Alle Hunde des Hauses begehen dort Unflätereien. Wahrhaftig, ich weiß nicht, was mein Herr Gemahl treibt.«
Prosper, der im zweiten Zimmer stehen geblieben war, sah bald eine ziemlich dicke Dame in einem grünen Reitkleide erscheinen, welches an mehreren Orten Fettflecken hatte, und dem an der Brust einige Knöpfe fehlten; auf dem Kopfe trug sie einen runden, sehr unternehmend auf der Seite sitzenden Filzhut, worauf eine alte, ehemals grün gewesene Feder steckte, die jedoch in Folge langen Wehens in der Luft allmählig gelb geworden war; sie hielt eine Reitpeitsche in der Hand, womit sie, wie es schien, beim Eintritt Miene machte, Jemand durchzupeitschen.
Prosper hätte schwerlich Euphrasia erkannt, wenn er sie anderswo als in ihrem Hause getroffen haben würde. Die Amazone hielt an, als sie den mitten im Zimmer stehenden Herrn gewahrte, der sie auf eine drollige Art ansah. Dann trat sie näher auf ihn zu, betrachtete ihn aufmerksam, stieß einen Schrei aus und stürzte sich in seine Arme, indem sie ausrief: »Das ist ja Prosper!«
Die beiden Kürassiere traten eben auf die Schwelle und blieben stehen beim Anblick ihrer Amazone, die einen Herrn höchst zärtlich in ihre Arme schloß; was Picotin betrifft, so lag dieser fortwährend auf den Knieen, drehte seinen Braten um und brummte: »Hm! wie vergnügt sie ist, Sie wieder zu sehen! ... O! ich sagte es Ihnen ja ... sie sprach so oft von Ihnen!« – Sie sind die Erste, die mich erkannt hat,« sagte Prosper, sich aus Euphrasia's Armen windend. – »O! ich, lieber Freund, ich habe ein paar Augen ... und ein Herz ... Sie haben zwar eine Schramme, die Sie etwas entstellt ... aber, gleichviel, ich hätte Sie unter Zehntausend wieder erkannt!«
Damit kehrte sich die Amazone gegen die beiden Militärs, machte ihnen eine Verbeugung und sprach: »Meine Herren, ich stelle Ihnen hier einen alten und bewährten Freund vor.«
Die Kürassiere langten mit der Hand an ihren Helm, während Picotin ausrief: »Glaubst Du wohl, Euphrasia, daß Prosper nicht mit uns essen will? ...« – Ah bah! ... und warum nicht?« fragte die Amazone. – »Weil es mir unmöglich ist, meine schöne Dame ... Ich verlasse Sie, da man mich zu Hause erwartet. Kann ich ein Wörtchen mit Ihnen sprechen, bevor ich mich entferne?« – Warum nicht! zwei, zehn ... so viel Sie wollen, lieber Freund!«
Hiemit folgte Euphrasia Prosper in das sogenannte Bureau, und dort brachte der alte Freund seine Einladung auf den folgenden Tag vor. Die Amazone ließ ihre Peitsche schwirren, und rief aus: »Ha! tausend Teufel! wie ärgerlich ist das! Morgen muß ich zum Manöver eines Regiments, und habe fünf Offiziere zum Mittagessen eingeladen ... Ach! der Kuckuk! Es geht nicht, außer ich dürfte diese Herren zum Essen bei Ihnen mitbringen.«– Nein, das kann nicht sein,« entgegnete Prosper lebhaft, »ich habe keinen Platz; mein Speisesaal ist zu klein. Wir wollen lieber die Partie auf ein andermal verschieben. Leben Sie wohl, meine liebe Madame Picotin. – »Ach! wie dumm! ... Nennen Sie mich doch Euphrasia ... Sie Unartiger! ...« – Sie haben Besuch, ich gehe. – »Ei! aber Sie kommen doch hoffentlich ein andermal wieder? ... Denken Sie auch an mich, Undankbarer, an mich, die Sie nie vergessen hat?« – Ja, ja, o! ich werde Sie bald wiedersehen ... Leben Sie wohl!« Damit entfernte sich Prosper eiligst, indem er dachte: »Wahrhaftig, ich bin froh, daß Madame Picotin morgen nicht am Mittagessen Theil nehmen wird, und ich werde sicher den Fuß nicht mehr in ihr Haus setzen, damit sie nicht etwa eine Anwandlung bekommt, mich zu besuchen; denn ich sehe wohl ein, daß Euphrasia's Gesellschaft durchaus nicht für meine theure Pauline taugen würde. Wenn man eine Blume bei sich hat, muß man dafür sorgen, daß sie keine jener schädlichen Lüfte berühre, die sie welk machen könnten.«
Am folgenden Tage hatte Alles bei Prosper, der seine Freunde würdig empfangen wollte, ein festliches Ansehen; und Pauline, die eine hübsche Toilette gemacht hatte, vertrat schon mit Grazie die Stelle einer Hausfrau.
Maximus langte zuerst an, dann kam Poupardot mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, deren erstes Wort beim Eintritt war: »Wird man bald essen?«
Maximus küßte Elisa und ihren Gatten und küßte sogar ihre beiden Kinder, obgleich Herr Navet sehr verdrießlich aussah, weil er kein Gedeck für sich bemerkte, und sein jüngerer Bruder ein unaufhörliches Bedürfniß äußerte, sich zu schnäuzen. Aber Poupardot war stets begeistert von seinen Söhnen und er zeigte sie Maximus mit den Worten: »Ei! Du mußt ihr Lehrer werden; das ist abgemacht. Ich vertraue Dir ihre Erziehung an und Du wirst Ehre mit Deinen Schülern einlegen; besonders bei den großen Anlagen, die sie zeigen.«–Ich will sie mit Vergnügen in dem Wenigen unterrichten, was ich selbst weiß,« sagte Maximus; »diesen hier muß man übrigens noch ein wenig heranwachsen lassen ... Was dagegen jenen betrifft, so kann er, wenn er gerne lernen mag ...–»Ich will lieber essen ... Ißt man noch nicht zu Mittag?« entgegnete Herr Navet, sich auf einem Stuhle schaukelnd. »Siehst Du den kleinen Schelm?« rief Poupardot lachend aus. »O! er hat erstaunlich geistreiche Einfälle.«
Die Ankunft Rogers unterbrach dieses Gespräch. Der Rittmeister warf sich an Maximus' Brust, und diesmal dauerte die Freude des Wiedererkennens länger und war rührender, denn es bestand eine innigere Freundschaft zwischen Roger und Maximus, als zwischen diesem und Poupardot. Die beiden Freunde konnten nicht müde werden, sich anzusehen, sich die Hand zu drücken und sich an die Vergangenheit zu erinnern.
Die Essensstunde hatte geschlagen und man wollte sich eben zur Tafel setzen, als die Glocke noch einen weitern Besuch ankündigte. Gleich darauf trat Picotin in einem äußerst abgeschabten Kleide ein, begrüßte die Gesellschaft demüthig und sagte: »Da bin ich, möge daraus entstehen, was da wolle! ... meine Frau kann schimpfen, wenn sie Lust hat ... Ich bin durchgegangen. Ich konnte dem Verlangen nicht widerstehen, ein gutes Mahl einzunehmen ... mit alten Freunden ... Wo ist denn Herr Maximus? ... Ah! hier ist er ... Ach, Gott! wie hat auch er sich verändert! ... Ah! da ist der Rittmeister Roger ... Guten Tag, Rittmeister; es lebe der Kaiser!«
Maximus drückte Picotin die Hand, hierauf ersuchte Prosper seine Gäste, in den Speisesaal hinüber zu gehen. Man setzte sich zu Tische und fing an, auf die Freundschaft und das Glück des Beisammenseins zu trinken. Der Hausherr war glücklich und stolz, seine alten Freunde bewirthen zu können. Er hatte nichts versäumt, was zum Glanze und Wohlgeschmack des Essens beitragen konnte. Man that demselben alle Ehre an, während man sich zugleich dem Vergnügen hingab, alte Erinnerungen aufzufrischen. Das Gespräch wurde allgemein, denn es gab kein Geheimniß und keinen Rückhalt unter diesen Männern, die sich so lange nicht gesehen hatten. Indessen waren ihre politischen Ansichten nicht die nämlichen. Maximus bedauerte die Republik, Roger pries das Kaiserreich, Poupardot war stets mit der Gegenwart zufrieden und Prosper schien für die Zukunft zu fürchten; allein ihre Erörterungen führten keine Zwistigkeiten herbei, da sie Alle ein offenes, rechtliches Herz hatten und sich gegenseitig hochschätzten.
Was Picotin betrifft, so bestand seine Ansicht dem Anscheine nach nur darin, gut zu essen. Er fand Prospers Küche vortrefflicher, als die von ihm selbst bestellte und schien sich auf mehrere Tage hinein satt essen und trinken zu wollen.
Die kleine Pauline saß neben Elisa und schien glücklich über die Freude, die aus den Blicken ihres Beschützers strahlte. Poupardot beschäftigte sich, trotz des Antheils, den er an dem Gespräche seiner Freunde nahm, viel mit seinen Söhnen, und sagte alle Augenblicke: »Navet hat einen gesegneten Appetit! ... Der Schelm stellt seinen Mann bei Tische, und mein kleiner Napoleon, seht doch, wie artig er sich beträgt!«
Roger, den diese Bemerkungen zu langweilen schienen, konnte nicht umhin, sich gegen Maximus zu neigen und ihm ins Ohr zu sagen: »Findest Du nicht auch, Maximus, daß es lächerlich ist, den Namen eines großen Mannes solchen dummen Jungen zu geben, daß es eine Entwürdigung dessen ist, was man achten sollte, und daß man, um Napoleon zu heißen, das Recht dazu haben muß?« – Deine Bemerkung ist ganz richtig,« entgegnete Maximus; »aber das ist der Fehler vieler Leute, daß sie in ihrer Begeisterung den Personen und Gegenständen, die sie am meisten lieben, Schaden zufügen.– »Ich schlage einen Toast auf die Freundschaft vor,« sagte Picotin, der schon ein wenig angetrunken war, aber nicht auf halbem Wege stehen bleiben wollte. Diese Aufforderung wurde angenommen. Gleich darauf brachte Prosper einen andern Toast aus; er hob sein Glas in die Höhe und rief: »Auf die Gesundheit von Maximus Mutter, der guten Frau Bertholin, welche ihre Gebrechlichkeit hindert, Theil an unserem Mahle zunehmen!«
Diese Gesundheit wurde mit Enthusiasmus getrunken und Picotin schrie, während er sein Glas füllte: »Auf die Gesundheit der guten, guten, alten Bertholin ... Es lebe der Kaiser!«
Beim Nachtische wurde die Unterhaltung noch lebhafter. Prosper sprach von seinen Reisen, Roger von seinen Feldzügen, Maximus von der Zeit des Direktoriums, Poupardot von seinen Assignaten und seinen zwei Jungen. Picotin hörte bloß zu, indem er seine Gabel fortwährend arbeiten ließ, nahm jedoch von Zeit zu Zeit das Wort, um einen Toast zu Ehren der Freundschaft auszubringen.
Pauline zog sich mit Madame Poupardot vom Tische zurück, als diese ihren kleinen Knaben, wie er eben anfing einzuschlafen, auf den Armen wegtrug; Herr Navet wollte bei den Männern bleiben und fortessen, so lange etwas auf dem Tische stand.
Die Freunde unterhielten sich bis beinahe elf Uhr. Aber jetzt näherte sich Herr Navet, der seit einiger Zeit aufgehört hatte, zu essen, seinem Vater, fing an zu weinen und schrie: »Papa, ich habe Bauchweh!«
Alsbald erhob sich Poupardot mit den Worten: »Du hast Bauchweh, mein Junge? es ist aber auch in der That spät ... beinahe elf Uhr ...um elf Uhr ist man berechtigt, Bauchweh zu haben, wenn man von fünf Uhr an gegessen hat ... Meine Freunde, bei Euch bekommt man allerdings keine Langweile, aber ich denke doch, daß es Zeit ist, auseinander zu gehen ... Komm', Elisa, setze Deinen Hut auf, wirf Deinen Shawl um ... lebhaft ... Navet hat Bauchweh.«
Die übrigen Gäste folgten Poupardots Beispiel, sie standen auf und schickten sich zum Weggehen an. Picotin allein rührte sich nicht. Roger trat auf ihn zu und rief: »Nun, Picotin! wird's bald? Willst Du die ganze Nacht bei Tische bleiben?«
Picotin machte einen Versuch, aufzustehen, fiel aber wieder auf seinen Stuhl zurück und stotterte: »Ich komme schon ... ich komme schon ... ich finde nur ... meine Serviette nicht mehr!« Jetzt erst bemerkte man, daß Herr Picotin vollständig betrunken war. Indessen konnte man ihn mit Hülfe seiner Freunde doch auf die Beine bringen, und Roger nahm ihn beim Arme, indem er zu ihm sagte: »Tausend Bomben! stütze Dich auf mich ... Ich will Dich nach Hause führen, sonst, denke ich, würdest Du schwerlich heimkommen.« – Ich will Dir auch beistehen,« sagte Maximus hierauf.
Man nahm Abschied und ging fort; Poupardot setzte sich mit seiner Familie in einen Fiaker, Maximus und Roger gingen zu Fuß, jeder einen Arm von Picotin haltend, der bei jedem Schritte strauchelte, und zu seinen Schutzmännern sagte: »Mein guter Maximus ... mein tapferer Rittmeister ... es ist sonderbar ... ich bin ganz aus dem Concepte ... Sagt nur um Gotteswillen meiner Frau nichts ... es soll mir nicht mehr vorkommen ...«– Sei ganz ruhig, armer Picotin, sie soll nichts erfahren.– »Meinen besten Dank, Rittmeister ... Es lebe der Kaiser! ...«
Als sich Picotin vor seinem Hause befand, verließen ihn Maximus und Roger und kehrten miteinander zurück. Sie gingen noch lange in den Straßen umher, sprachen eifrig und stritten sich bisweilen über politische Ansichten; als sie sich aber endlich trennten, waren sie so gute Freunde wie zuvor und drückten sich mit der aufrichtigsten Freundschaft die Hände. So sollte es mit allen politischen Ansichten gehalten werden!