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Der erste September begrüßte das angekommene, von Bädern und Reisen erheiterte königliche Paar mit der Aussicht auf die anmuthigsten Tage des Herbstes. Der Morgen streifte sein duftiges Nebelgewand vom tiefblauen Himmel; die Sonne schien über und über, und wohin sie strahlte, blitzten ihr von grünen Hügeln und grasigen Thälern die Tropfen des reichlich gefallenen Thaues entgegen.
Drei heiße, gewitterige Sommermonate liegen zwischen September und Mai, die beide, in günstigen Jahren, durch Erwartung oder durch Erinnerung, sowie durch die lieblichsten Gaben am reinsten erfreuen. Soviel der Mai an duftigen Blüten ausstreut, bringt der September an würzigen Früchten dar: jener entzückt durch seine reizenden Nachtigallenmorgen, er knüpft eine unendliche Sehnsucht in seine Blumensträuße; dieser beruhigt mit seinen langdämmernden Mondscheinabenden und haucht eine süße Wehmuth über seine duftigen Früchte. Wie Vieles verschwendete der singende Mai an den wachsenden Sommer, was der sinnige September nun im Innern sammelt, bewahrt oder auch betrauert!
Die lebhaftere Bewegung, die mit dem zurückgekehrten Hof in der Residenz entstand, blieb diesmal unbemerkter, weil sie in die letzte casseler Meßwoche fiel. Unter dem Lärm und der Lust des Volks, die an dem herrlichen Tag ihren Höhepunkt erreichten, achtete man kaum der Staatswagen, worin die hohen Beamten zum Mittagsmahle nach Napoleonshöhe fuhren.
Der weite Raum von der Königsstraße nach dem Author hinab war ein Tummelplatz aller halsbrechenden Künste, Schaubuden, Guckkasten und Carrousels, zwischen denen zahlreiche Musikbanden mit ihren Trommeln und Clarinetten, Zitherspielerinnen und Drehorgeln einen sinneverwirrenden Lärm anrichteten. Wie eigenthümlich stach nicht dieser hochgelegene belebte Platz gegen die Ruhe der sonnigen Herbstlandschaft ab, auf die man über Thal und Hügel weit hinausblickte! Doch wer achtete darauf! Die Jugend drängte sich um einen Guckkasten, worin für vier Centimes Napoleon mit seinen Marschällen gezeigt wurde, während eine heisere Stimme mit geläufiger Zunge die Heldenthaten des neuen Charlemagne und seiner Pairs ableierte.
Von da strömte man einer Menagerie zu, worin Löwe, Tiger und Hyäne zu sehen waren, bis die Stunde kam, daß die Seiltänzer ihre schwindelnden Künste producirten.
Auch die Waarenbuden erhielten heut, am Tage der Gehaltsauszahlungen, lebhaftern Besuch als in letzter Woche, wo die Damen mehr zu Hause blieben, weil die Gelder ausgegangen waren.
Lina hatte bei gutbestellter Hauskasse ihren Winterbedarf an Kleiderstoffen und Hausgeräth gleich in der ersten Woche unter vollständiger Auswahl angeschafft, und mit Ludwig und Hermann nach und nach auch die thierischen und menschlichen Künste und Seltenheiten besucht. Sie hatten selbst eine schsunddreißigjährige häßliche Lappländerin in ihrer kleinen Bude nicht verschmäht, und sich in dem großen Bretterhaus am untern Platz die vielbesprochenen Geistererscheinungen gefallen lassen. Für heut blieben ihnen nur noch die Canarienvögel des Monsieur Jeanet zu bewundern übrig. Diese Vögel waren abgerichtet, zu vorgelegten Worten die einzelnen Buchstaben aus Kästchen herauszupicken und zusammenzusetzen. Der Zudrang zu diesen gefiederten Schriftsetzern war immer sehr groß; hier gab's unter dem Erstaunen zugleich auch ein Räthsel über die Kunst der Vogelschnäbel oder über die Geschicklichkeit der Finger des Meisters zu lösen. Mit Unruhe erwartete man immer den sogenannten »Professor«, wie Herr Jeanet den geschicktesten seiner Canarienvögel zu nennen pflegte. Dieser löste sogar Rechnungsaufgaben.
Heut wie gewöhnlich brachte ihn der Meister mit prahlerischer Ankündigung hervor.
Voilà den Herrn Professor, meine Herrschaften! Sie sehen, er sein nicht gelb wie die zahmen, civilisirten canarins. Er haben noch das Grau von sein origine auf den Canarien, der Bauch verâtre, ich sage, le ventre grünlich. Das Grau bedeuten aber jetzt sein tief Weisheit. Nur die Augen sein roth wie bei die zahmen, bedeuten aber sein tief Studium in der Alphabet und Algebre. Haben sich neun Jahre präparirt, und sein der erste Professor in sein Fach in ganz Europa. Allons, Monsieur le Professeur, travaillez für ihr eigen Ehr!
Der Jude Sußmann, den Hermann seit jenem Jammer über den nach Spanien »gelieferten« Sohn nicht wieder gesehen, hatte sich in die vorderste Reihe der Zuschauer gedrängt und ein schriftliches Wort übergeben. Indem er bei dem letzten Ausrufe Jeanet's mit vorlauter Eitelkeit umherblickte, nahm er Hermann wahr und rief in das erwartungsstille Gedränge:
Herr Doctor! Geben Sie Acht, lieber Herr Doctor! Ich habe den berühmten Namen Jacobson vorgelegt – da dem Herrn Professor! Der Professor wird ihn liefern – in Buchstaben.
Unglücklicherweise winkte er, um Hermann's Blick auf sich zu lenken, mit seinem roth- und blaugewürfelten Schnupftuche, und gab so unbedachterweise das Signal zum entsetzlichsten Unglück. Der rothäugige Professor erschrak vor dieser heftigen Bewegung, scheute und flatterte auf, stieß sich mit dem Kopf an den hohen Käfig von gelbem Draht, worin seine Kunstgenossen, seine gefiederten Collegen saßen, und fiel zu Boden.
Halt! Ruhig, ruhig! rief Jeanet und warf sich, den Professor zu retten, auf den Boden. Der verscheuchte Vogel, unbeholfen wie mancher andere Professor, flatterte vor der zutappenden Hand seines Meisters weiter zwischen die Füße der Zuschauer; Jeanet schrie entsetzlich; die Umherstehenden, um ja Ruhe zu halten, geriethen in Bewegung. Ein Augenblick, und der Vogel lag zertreten da; ein dumpfes Ach! der Menge wurde bei dieser Entdeckung laut.
Aber wer beschriebe das Gebahren des entsetzten Jeanet? Er drängte sich, alle Wuth in den tiefschwarzen Augen, mit zwei gehobenen Fäusten nach dem Urheber des Unglücks, und da er den zurückgewichenen Sußmann im Gedränge nicht erreichen konnte, schlug er beide Hände verzweiflungsvoll in sein eigenes struppiges Haar. Ebenso heftig wechselte Fluchen mit Heulen, bis er sich soweit faßte, um in seinem Sprachenmischmasch zu klagen:
O mein arm Professor! Neun Jahre haben dressirt. O mon professeur nourricier, mein Ernährer – caput! Der Napoleon von tous les canariens – caput! Et sacré cochon, caput durch ein canaille von juif!
Auf diese letzten Worte, beleidigend und anzüglich zugleich, da hier Napoleon mit cochon, canaille und caput so nahe zusammengerückt war, rief eine Stimme in französischer Sprache:
Halt da, Monsieur Jeanet! Ruhe! Der Herr Oberst Bongars befiehlt Ruhe!
Es war der junge Mann, den Hermann unter dem Namen Wilke kannte und den er jetzt neben der ruhigen, ehrwürdigen Gestalt des Legionschefs der Gendarmerie erblickte.
Was soll hier der Name Napoleon? Und die Juden sind Bürger von Westfalen! fuhr der junge Mann fort, und wiederholte, um seinem Chef und dem Publikum zugleich zu genügen, jeden französischen Satz noch einmal deutsch. Beruhigen Sie sich, Jeanet. Das Unglück ist geschehen. Ein berühmter Canarienvogel ist hinübergegangen zu seinen Vätern. Auch die Professoren sind sterblich. Aber die Judenschaft von Cassel wird sich zu einer Entschädigung des bisherigen Besitzers verstehen, da Einer ihrer Leute durch sein emancipirtes Betragen das Unglück herbeigewinkt hat. Und nun wird für heut die Bude geschlossen. Die Canarienvögel legen Trauer an. Allons, meine geehrten Mitbürger, entfernen wir uns!
Das Gedränge der Zuschauer setzte sich in Bewegung. Der alte Bongars klopfte seinen Sprecher mit beifälligem Lächeln auf die Schulter.
Draußen drängte sich Sußmann an den jungen Freund mit den flüsternden Worten:
Der unglückliche Jacobson! Er liefert nicht nur Soldaten; er hat eben auch mit seinem bloßen Namen einen Professor geliefert.
Hermann, empört über solchen giftigen Judenwitz, wendete ihm ohne Antwort den Rücken. Lina beklagte den armen Inhaber der Vögel; Ludwig aber zweifelte nicht, daß der hingeworfene Wink wegen einer Entschädigung gute Folgen haben und keinesfalls wie der arme Professor würde todt getreten werden. – Aber ist es nicht zum Lachen? sagte er. Der junge Mensch nimmt sich erst des Juden als gleichberechtigten Bürgers an, und macht hernach doch die Judenschaft für Einen ihrer Leute verantwortlich!
So waren sie durch das Gedränge der Messe eben um die Ecke des Justizpalastes gekommen, als Minister Simeon, von der königlichen Tafel zurück, an ihnen vorüber in das Thor fuhr und durch das Wagenfenster Ludwigen ins Haus winkte.
Am Ende noch ein Geschäft, noch ein Auftrag vom König? bemerkte Hermann, indem er mit Lina langsam vorausging.
Das wäre mir heut unangenehm, erwiderte Lina. Der Abend ist so herrlich, und Ludwig selbst freute sich auf unsern Gang nach der kölnischen Allee. Die nächste Woche aber wollen wir auf unserm Landsitze recht genießen, Hermann, wollen die schöne Gegend um Homberg recht durchschwärmen. Du gehst doch gleich mit, nicht wahr?
Hermann bezweifelte es, hoffte jedenfalls aber bald nachzukommen.
Beide sprachen noch von den herrlichen Tagen, die sie auf dem kleinen Gute Ludwig's haben wollten, als dieser mit vergnügter Miene das Paar einholte.
Nun? Du strahlst ja, Ludwig! sagte Lina. Bist du vielleicht Präfect geworden?
Das nicht, versetzte er lachend, aber es steht uns doch eine andere Ehre bevor, eine Auszeichnung. Der Hofmarschall, Baron Boucheporn, bereitet nämlich ein großes Fest in der Bellevue vor, – eigentlich eine Demonstration wegen glücklicher Zurückkunft der beiden Majestäten. Deswegen soll die Theilnahme umfassend sein, sodaß auch die Bureaux der höhern Behörden vertreten werden. Ich bin nun Einer der Begünstigten. Wahrscheinlich hat sich der König, von unserer letzten Reise her, gnädig über mich ausgesprochen, sodaß der Minister gerade mich vorgeschlagen hat.
Und du hast nicht abgelehnt? fiel Lina ein.
Du begreifst wol, Lina, daß das hier nicht geht, so wenig ich sonst für solche große Gesellschaften bin. Aber es ist, wie ich sagte, eine Demonstration der Treue und Anhänglichkeit, und mir in meiner untergeordneten Stellung eine Auszeichnung dabei zugedacht. Ablehnen geht also nicht. Denk nur gleich an deinen Anzug, Linchen! Es ist eine Gesellschaft, ein Ball im Costüm, und du hast eine weite Wahl, aber kein langes Wählen. In einigen Tagen ist das Fest.
Der Gedanke an diese Wahl schien ihre Phantasie zu beschäftigen, sodaß sie des ersten unangenehmen Eindrucks von dieser Nachricht vergaß, bis sie auf ihre Frage, ob Hermann auch hingehe, vernahm, daß dies nicht zu erwarten sei, da Hermann noch keine anerkannte dienstliche oder gesellschaftliche Stellung habe.
Aber das ist mir recht fatal, sagte sie. Denn siehst du, Ludwig, – immer nur an deiner Seite zu bleiben, sieht sonderbar aus, ist in den Augen der großen Welt schlechter Ton, und ich finde doch am Ende keine Frau, an die ich mich anschließen möchte.
Möchte, liebe Lina! wendete Ludwig mit tadelndem Ton ein. Wenn man von gutem Ton in der großen Gesellschaft spricht, darf man auch im Wechselverkehr mit derselben kein »möchte« haben. Eine Frau, die sich da nur an ihre guten Freundinnen und Alltagsbekannten anklammert, erinnert an die Kinder, solange sie sich noch an den Tischen und Stühlen der Stube hinbewegen und keinen freien Schritt wagen. Geh', Linchen, sag' so 'was nicht! Du wirst Frauen genug finden, bei denen wir Besuch gemacht haben, und zwischen denen du mit gutem Ton und Takt ein paar Stündchen abwechselnd verkehren magst.
Ja doch, mischte sich Hermann ein, als sie eben vor das Thor gekommen waren, – und Lina wird dich überraschen, lieber Freund, wie damals bei euern Staatsbesuchen, wo du so entzückt über ihr feines Benehmen bei der Mutter zu Tische kamst. Genug! Jetzt disputirt euch nicht, sondern hört ein paar Verse an, die mir im Marktgewühl einfielen, weil sie das Leben mit einem Markte vergleichen.
Ja, lieber Hermann, versetzte Lina, laß mich nur Ludwig noch sagen, daß ich ihm zu Lieb gern mitgebe. Das Costüm erleichtert mir's: ich wähle mir ein anständiges; denn – ausgeschnittene Kleider habe ich verschworen!
Indem sie dabei Hermann bezüglich anlächelte, sagte sie:
Nun deine Verse!
Sie sind von dem persischen Dichter Attar, durch dessen Poesie ein mystischer Hauch weht. Hört!
Die ganze Welt ein
Marktplatz ist der Liebe.
Ist wol ein Ding, das fern von Liebe bliebe?
Ein Liebeszeichen schuf Gott jedem Wesen,
Das kannst sogleich du an der Stirn' ihm lesen.
So Erd' wie Himmel, Sonne, Mond und Sterne,
An jedem glänzt das Liebesmahl von ferne.
Von Liebeslust sind alle heiß entglommen;
Viel tausend Jahr' sie nicht zu Sinnen kommen.
Was suchen alle Wesen ämsig? – Liebe.
Was lispelt ein's dem andern eilig? – Liebe.
Und folgen sie nicht dem Verbindungstriebe,
So
sprechen mit sich selbst sie von der Liebe.
Als Hermann schwieg, sagte Lina:
Recht schön! Aber ich nehme die Verse, wie du sie gegeben hast, nur als Erinnerung an den Marktplatz, nicht als Vorbedeutung auf den Boucheporn'schen Abend, wo hoffentlich nicht ämsig von Liebe gelispelt wird und die costümirten Geschöpfe kein Liebeszeichen an der Stirne tragen.
Wenigstens die verheiratheten Männer nicht, Linchen! lachte Ludwig schalkhaft