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Es war eine stille Frühlingsnacht, eine mailiche Aprilnacht, in die Hermann mit dem zweiten Abschiede von Lina hineinritt. Beim ersten Lebewohl für Ludwig und ihn war sie, von angstvollem Leid ganz aufgelöst, zurückgeblieben. Als Hermann nachher seine Waffen wieder überlieferte, nahm ihr Kummer, nach der ersten aufblitzenden Freude, eine sorgenvolle Unruhe um ihren verlassenen Ludwig auf. Sie fühlte, daß doch noch einiger Trost dabei gewesen war, zu wissen, daß beide Freunde neben einander, einer vielleicht dem andern zur Rettung, das gefährliche Unternehmen bestünden. Sie würde dem Freunde gezürnt haben, wenn sie ihn nicht geliebt hätte.
Nun ritt Hermann allein – allerdings auf gefahrlosern Wegen. Die Sterne schimmerten; da und dort von einsamen Gehöften her blickte Licht; zuweilen regte sich im Gebüsch ein aufgeschreckter Vogel, oder zwitscherte ein gefiedertes Pärchen, das im frischen Nest, hinter der noch nicht fertigen Gardine des jungen, sprießenden Laubes, seine Frühlingsliebe feierte. Einmal ließ sich auch schon eine Nachtigall hören, die zu ihrem großen Maiconcert Scala übte. – Jenes geheimnißvolle Säuseln der kurzen Sommernächte fehlte noch; dann und wann aber, und immer entfernter vernahm der Reiter die Schläge der Sturmglocke, womit das Volksheer, wenn es an einem Kirchdorfe vorüberkam, begrüßt und zuziehende Mannschaft aufgeboten wurde. Dazwischen brachte ein lebhafterer Nachtwind weither den schweren Hall eines feierlichen Gesangs, und Hermann unterschied die Melodie: »Ein' feste Burg ist unser Gott!«
Der Freund war nicht wenig überrascht, als er auf der leipziger Straße, eine ziemliche Strecke vor Cassel, von einer militärischen Feldwacht angerufen wurde. – Also war man in Cassel vorbereitet und erwartete von allen Seiten den Landsturm? – – Der Reiter, zum nächsten Offizier geführt, um sich über seinen nächtlichen Ritt von der gefahrdrohenden Seite her auszuweisen, fand einen ihm bekannten freundlichen Mann, der nach Einsicht seines Geschäftsauftrags ihm Nachricht über den Stand der Dinge in Cassel gab. Diese Mittheilungen konnten ihm zur Warnung für sein Benehmen dienen; aber sie beschwerten dafür sein Herz mit einer unsäglichen Angst um das von der andern Seite der Stadt heranziehende Heer, das auf solchen Empfang, soviel er wußte, nicht gefaßt war. Er dachte an Ludwig und Lina, und empfand eine tiefe Beschämung über seinen Ritt, der nun, der militärischen Bedeutung beraubt, wie eine schlaue Flucht aussah.
Als nun der Freund mit seinem Freipaß die Stadt erreichte, ward eben an den Thoren und Straßenecken eine Proclamation angeschlagen, worin mehre der ihm bekannten Männer namentlich geächtet und überhaupt die Stifter und Anführer der »Rebellion« zu ihrer Verurtheilung in drei Classen getheilt wurden, in solche, die nach Kriegsgebrauch standrechtlich erschossen; solche, die als Flüchtlinge verfolgt, und solche, die vor die gewöhnlichen Gerichte gestellt werden sollten.
Wie hart und heftig schlug nicht bei diesen das Unglück der Volkserhebung voraussetzenden Drohungen, und bei diesen ihm so bekannten, ja vertrauten Namen Hermann's Herz! Doch waren es nur einige wenige Namen. Man schien doch keine genaue Kenntniß von den Mitgliedern des Bundes zu haben.
Die theils geängstigte, theils bekümmerte Stadt war schon so früh in Bewegung, daß Hermann kein Bedenken nahm, gleich nach dem Hôtel seines Ministers zu reiten. Er wünschte doch vor allem auch den Rath seines Gönners für sein eigenes Benehmen zu hören.
Der Graf war schon vor dem Hause, im Begriff, nach dem Schloß zu reiten und sich dem König anzuschließen, der einen Theil der Truppen um sich versammelte. Er hörte nicht ohne Spannung den flüchtigen Bericht Hermann's an, und sagte dann, sichtlich erleichtert:
So ist's gut! Gehen Sie nach Hause und halten sich ruhig. Das Geheimniß des Bundes, kann ich Ihnen sagen, hat sich gut bewahrt; hoffentlich wird auch kein Verrath Diejenigen treffen, die der Gefahr glücklich entkommen. Man kennt bis jetzt nur jene Theilnehmer, und hat sie geächtet, die durch zeitige oder vielleicht auch zu voreilige Flucht sich selbst verrathen haben. Vor allem schließen Sie Ihr Untersuchungsprotokoll mit der Erklärung, daß Sie, zur Fortsetzung des Geschäfts nach Homberg gekommen, durch den eben ausgebrochenen Aufstand genöthigt worden seien, unverrichteter Sache über Nacht nach Cassel zu eilen. Es ist mir für die beschuldigten Beamten lieb, daß die ganze Sache sich als unbedeutend herausstellt. Auch weiß ich jetzt, daß sie nur zu einem Nebenzweck ausgegriffen worden ist, aber Ihnen, lieber junger Mann, zu gutem Glück. Wer weiß, wo Sie bei dem Aufstand hingerathen wären! Die ganze Geschichte läuft für uns auf einen Spaß, auf einen heimlichen Spott hinaus. Ich rede von Bercagny's Auftrag. Man hat Sie nämlich für einen heimlichen Liebhaber der Gräfin Bernterode – Sie wissen ja, jener Kammerjungfer, jener moralischen Saloppe – gehalten, und – ich weiß bis jetzt noch nicht, wen man nun beim Einsteigen in den Wagen der Dame nach dem Theater von Gendarmerie hat aufpacken und fortbringen lassen. Vorher hatte Ihnen Bercagny den angeblich höchst wichtigen Geschäftsauftrag zugewendet, und war andern Morgens nicht wenig erstaunt darüber, daß Sie die Geschäftsreise wirklich angetreten hatten, während er Sie auf einer unfreiwilligen Reise dachte, und wahrscheinlich Ihr gewissenlos verlassenes Amt alsbald mit seinem Günstling besetzen wollte. Nun ist er der Betrogene seiner eigenen Finte, und hat wieder einmal sich selbst überlistet. Er wird nun freilich die Ohren an den Kopf drücken, wie man sagt, und – findet leider! auch an dem unglücklich übereilten Volksaufstand einen Ableiter für den kleinen Verdruß.
Als Hermann nach Hause kam und seine besorgte Wirthin wegen ihres Schwiegersohns beruhigt, das heißt – aus guter Absicht und in Erwartung guten Ausgangs der Sache für Ludwig – getäuscht hatte, fand er auf seinem Zimmer einen Brief aus Halle. Baron Rehfeld schrieb:
»Das ausgesuchteste Quidproquo, ein wahrer Leckerbissen für einen Mann wie ich, hat mich hierher nach Halle geführt und vor dem Pfarrhause Ihres Herrn Vaters abgesetzt. Ich hatte unterwegs in der guten Gesellschaft einiger Gendarmen, die mir zur Unterhaltung mit eingepackt waren, meinen guten Humor wieder gewonnen, und benutzte eine so seltene Gelegenheit, den werthen Ihrigen meine Aufwartung zu machen und sie mit den frischesten Nachrichten von Ihnen zu erfreuen. Ich soll Ihnen das Herzlichste auch von Luise Reichardt vermelden, und erlaube mir, dieser angenehmen Besorgung eine kleine Bitte von meinetwegen beizuschließen. Ich werde vermuthlich Abhaltung haben, sobald wieder nach Cassel zu kommen, selbst wenn die Oper vom keuschen Joseph wiederholt würde. Haben Sie daher die Gefälligkeit, meine wenigen Habseligkeiten packen zu lassen und mir unter beigefügter Adresse zu übersenden. Sie finden auch noch Baarschaft im Secretär, zu dem ich den Schlüssel beilege, um die Miethe zu berichtigen und meinen Diener abzulohnen.
Soviel in Eile. Später Näheres. Hierbei Vollmacht, wenn Sie solche nöthig hätten. Adieu! Nun komme ich leider um Alles, was dort so glücklich vorbereitet ist. Ich habe einen ganz andern Burschen aufpacken wollen, und bin aufgepackt worden. Sic eunt fata hominum! Aber ohne Verdruß für mich im – Tugendbunde wird diese Wallfahrt, diese Hegira (sprich: Hedschra) nicht ablaufen!
Ich verbleibe in unvermutheter Ferne, wie in gewünschter Nähe, stets
Ihr
bekannter Eugen.«
In diesem Augenblicke fiel von fern her ein dumpfer Kanonenschlag. Hermann schrak zusammen. Er warf den Brief weg, dessen launiger, leichtfertiger Ton so entsetzlich mit diesem verhängnißvollen Kanonendonner übereintraf. Er öffnete das Fenster. Ein zweiter Kanonendonner rollte von der Höhe von Kirchbauna her. Der Nebel im Fuldathal wallte auf und nieder; der Söhrewald tauchte hervor. Ein dritter Donner erfolgte noch heftiger.
Hermann konnte sich nicht länger halten. Er eilte in die Stadt. Alles war in Bewegung. Neue Truppen, von der Position vor dem Leipziger Thor her, stürmten durch die Stadt zum Frankfurter Thor hinaus. Die Menschen rannten durch einander, – diese von Angst, jene von Erwartung, Alle von Mistrauen gegen einander bewegt. Der Freund begegnete dem Arzt Harnisch und vernahm die Vorkehrungen des gestrigen Tages. Wer den Aufstand zuerst verrathen, wußte man noch nicht genau. Ein junger Mann, ein Mitverschworener, sollte aus Unvorsichtigkeit und Uebereilung auf die Spur und Vermuthung gebracht haben. Andere nannten den Kammerherrn, Grafen von Jagow, der dem König die erste Warnung und Anzeige gegeben hätte. Der König, von der gegen Dörnberg erhobenen Beschuldigung betroffen, habe an dessen »Treulosigkeit« solange nicht glauben wollen, bis die Flucht des Obersten keinen Zweifel mehr gelassen, und eine wahrgenommene Volkserhebung auch von andern Seiten her bestätigt worden sei.
Soviel ich gehört und selbst beobachtet, hat der König eine gute Fassung und viel Freimuth bewiesen, sagte der Arzt. Zu Pferd und vom Grafen Bülow, sowie vom französischen Gesandten Reinhard begleitet, redete er die aufgestellten Truppen an, französisch, was Bülow Satz für Satz deutsch nachsprach. Jerôme berief sich auf die Rechtschaffenheit seiner Soldaten, stellte aber jedem Einzelnen frei, auszutreten und sich selbst ungehindert dem Volk anzuschließen. Wirklich traten mehre aus, legten ihre Waffen ab und verließen ungehindert die Stadt. Den Offizieren gab Jerôme sein Ehrenwort, daß Jeder, der Bedenken trage, für die Sache des Königs zu kämpfen, auf der Stelle ausscheiden und nach England oder Amerika auswandern dürfe. Keiner jedoch that es; alle riefen: »Vive le Roi!« und der König erklärte, er nehme diese Acclamation für einen neuen Eid an. – Ich kenne das Herz der Soldaten, hörte ich ihn rufen. Ich habe die schönere Hälfte meines Lebens im Felde zugebracht; ich kenne Soldaten, aber das Herz eines Verräthers lerne ich heut erst kennen an einem Manne, der mit einer Fülle meiner Gunst und Wohlthaten mich hintergangen, verrathen und verlassen hat.
Der Arzt hatte diese ganze, halblaut gemachte Erzählung bald etwas pathetisch, bald mit schalkhaftem Lächeln vorgebracht. Plötzlich rief er in einem ganz andern, etwas bittern Ton:
Apropos! Wissen Sie denn, wer eigentlich die Colonne draußen commandirt und die Kartätschen auf das arme Volk spielen, ich möchte sagen – speien läßt? O Sie errathen ihn nicht! Aber Sie kennen ihn! Es ist ein gewisser Oberst, der sich mit einem großen L schreibt, den Vorabend noch ein eifriger Theilnehmer an der Berathung und den Verabredungen bei Dörnberg war, über Nacht aber sich anders besonnen hat, zum Frühstück Brigadegeneral geworden ist, und jetzt droben bei der Knallhütte seine vaterländische Motion macht.
Hermann blieb stehen, in stummes, trübes Nachdenken versinkend.
Kommen Sie, Freund! flüsterte der Arzt, ich verschreibe Ihnen ein Löffelchen Syrup auf meine bittern Tropfen. Begleiten Sie mich nach Hause. Die Frau von Reinhard ist bei uns mit ihren Kindern. Der Gesandte hat uns beim Ausbruche des Aufstandes für den Fall einer Flucht des Königs, den er begleiten müsse, seine Familie übergeben, mit dem lächelnden Vertrauen, daß ich wol selbst zu den Verschworenen gehöre. Kommen Sie!
Hermann entschuldigte sich mit seiner Unruhe, seiner innern Angst und unüberwindlichen Herzenstrauer. Auch schlug er eine stillere Gasse ein, um sich so gestimmt keinem etwa begegnenden Bekannten zu zeigen.
Um die nächste Ecke wendend, erblickte er einen ihm bekannten Gastwirth, der eben vom Thor nach Hause geeilt seine Frau suchte, und da er hörte, daß sie im Keller sei, heiß, wie er war, durch die Kellerthür hinabrief:
Katharinchen, Katharinchen: Bonnes nouvelles! Der König ist nicht fort: wir siegen!