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Im Lauf der nächsten Tage war Hermann seinem Auftrag an verschiedenen Cantonsorten des Districts Hersfeld nachgekommen, und ritt in der Frühe des 21. April von Rotenburg, wo er übernachtet, auf Vicinalwegen gen Homberg. Der Tag begann so frisch und heiter, wie es der Vorabend hatte erwarten lassen. Der Freund erinnerte sich kaum eines so herrlichen Frühlingssonnenuntergangs, als er, von der waldigen Parkhöhe des Landgrafensitzes über das Fuldathal und die Ebene von Bebra hinausblickend, Tags vorher genossen hatte. Und nun fand er an Hecken und Bäumen geschützter Lage die ersten aufbrechenden Blüten. Die Lerchen sangen und sonnten sich über den sprießenden Saatfeldern; die Landschaft war von pflügenden Ackerbauern und weidenden Heerden belebt.
Hermann ritt zum Theil über Pfade, deren er sich von den Landleuten bescheiden ließ, frei athmend und im Gefühl des ihm gelingenden Geschäfts, in Erwartung des Wiedersehens der homberger Freunde, seelenvergnügt. Aber auch mit diesem Verlangen ließ er doch keinen anmuthigen Ausblick von einem nahen Hügel, keinen durchsonnten Waldweg ungenossen. So kam es, daß er noch eine Strecke vor Homberg ritt, als von dort her die Mittagsglocke in ruhigen Schlägen zu ihm drang, und die Arbeiter sich aufrafften, das Feld zu verlassen.
Doch kaum hatte der Freund sein Pferd in lebhaftem Schritt gesetzt, als die eben verstummte Glocke abermal und in raschern Schlägen wie mit Sturmsignalen ertönte, und – als ob im Aufgebot dieser Zeichen – ein lebhafterer Wind Trompetenklänge und Trommelschläge dem Reiter entgegenführte.
Die militärischen Signale konnte sich Hermann erklären. Schon in Rotenburg war von dem bevorstehenden Aufmarsche der westfälischen Truppen, die am Kriege gegen Oestreich theilnehmen sollten, die Rede gewesen, und es ließ sich denken, daß vor dem Ausrücken Uebungen gemacht würden. Aber was bedeutete die Sturmglocke?
Er setzte sein Pferd in Trab. Sein Erstaunen wuchs aber, als er nicht blos einzelne Kürassiere aus der Stadt nach verschiedenen Seiten jagen sah, sondern auch Bauern, mit Flinten und Säbeln bewaffnet, von den nächsten Höfen der Stadt zueilten. Nun vernahm man auch von nahen und entferntern Ortschaften Glockenschläge, die offenbar, von der in Homberg noch forttönenden Sturmglocke geweckt, weit und weiter ins Land hinein ein Aufgebot verkündeten.
Mit ängstlicher Ahnung ritt der Freund in die Stadt. Er mußte Schritt halten, denn in den Gassen wimmelte es von Alt und Jung, und Alles eilte dem hochgelegenen Marktplatze zu. Ehe er selbst ihn erreichte, brach dort ein unendlicher Jubel aus, und der Reiter erblickte über den Häuptern der zusammengedrängten Menge das althessische Banner entfaltet und geschwenkt. Tausend Hüte und Mühen winkten in der Luft, und von den Fenstern der Häuser grüßten die Schnupftücher der Frauen. Als endlich der wilde Jubel, mit dem sich die langverhaltenen Herzen aufthaten und sich nicht genugthun konnten, auf einige Augenblicke verstummte, erhob sich in feierlichem Takt ein tausendstimmiger Ruf: »Es lebe der Kurfürst! Hoch!« Und dem gewaltigen Einklang knatterten einzelne Stimmen nach: »Zum Teufel mit den Franzosen! Zum Kuckuk mit dem Jerôme!«
Nur mit Mühe gelang es dem Reiter, durch Seitengassen Ludwig's Wohnung zu erreichen. Sein Herz schlug ungestüm. Die Volkserhebung hatte ihn überrascht, fern von Cassel, wo er jetzt sein sollte. Eine räthselhafte Geschäftsverwickelung hatte ihn von dem Posten entfernt, der ihm bestimmt war. Welche Theilnahme blieb ihm nun übrig?
Er stellte sein Pferd bei Ludwig ein. Nur Lina hatte ihn gehört und kam ihm an der Treppe entgegen – blaß, bebend. Sie reichte ihm schweigend die Hand und führte ihn rasch an Ludwig's Zimmer vorüber, aus dem man den Lärm wild durcheinander redender Männer vernahm. Auf ihrer Stube warf sie sich weinend an seine Brust.
So kommst du doch auch! rief sie. Und so willst du denn auch theilnehmen – o Gott, o Gott! – an dem Entsetzlichen, an dem ihr Alle zu Grund gehen werdet, das alles Unheil über uns bringen wird!
Hermann suchte sie zu beruhigen, ihr Muth und Vertrauen einzureden. Er setzte sich zu ihr, erzählte, wie er eigentlich hierherkomme und selbst von der Bewegung in der Stadt überrascht worden sei.
Wie ist das nur so plötzlich gekommen? fragte er. Und was hat man zunächst vor?
O der unglücklichen Fügung, die dich gerade jetzt hierherführt! rief sie aus. Ich glaubte dich noch in Hersfeld; ich wünschte dich nach Ziegenhain, Marburg; ich habe dich nie soweit von uns fortgewünscht, wie diesen Morgen, als der junge Martin von Cassel eintraf mit der Nachricht, daß es heut noch losbrechen sollte. Ach! Das Wagniß wird viel zu sehr übereilt, als daß es gelingen könnte, und ich – ich verliere Mann und Freund dabei!
In diesem Augenblicke stürmten die Männer aus Ludwig's Stube fort, und unser Friedensrichter selbst kam herüber, ein rothes Band um den linken Arm gebunden, ein Schwert an der Seite.
Lina warf sich lautweinend an seinen Hals.
Ludwig, auffallend blaß aussehend, gedankenvoll zerstreut, hastig in seinen Bewegungen, drängte etwas ungeduldig die besorgte, ängstliche Frau zurück, und reichte dem Freunde die Hand, indem er bei dessen Anblicke wie neubelebt ausrief:
Also bist du gekommen? Willst mit uns ziehen? O das ist treu, das ist brav von dir, Hermann! Aber du hast noch keine Waffen?
Nein, Ludwig, ich bin auf meiner Geschäftsreise hier und von dem plötzlichen Aufstand ganz überrascht. Ich komme ganz zufällig, aber recht glücklich dazu.
Es ist eine höhere Fügung, Hermann, kein Zufall! Das Vaterland ruft, und du bist da. An Waffen fehlt es uns nicht: rüste dich! Ja, es ruft, und du bist da!
Es war etwas Gespanntes im Ton dieser Worte, die auch dem verständigen Ludwig nicht recht eigneten und an ihm auffielen. Hermann erwiderte:
Gewiß rüste ich mich! Aber ich habe meinen Platz an Dörnberg's Seite, und bitte dich nur, mir zu sagen, wie die Sachen stehen, und ich eile dann nach Cassel. Euer Zug geht doch dahin; aber wann, Ludwig?
Nächste Nacht, Freund! Doch wir erwarten Dörnberg's Befehle wegen unsers Einrückens vor Cassel. Warte das ab, und du reitest dann voraus dahin und meldest, was hier geschehen. Dörnberg selbst nimmt in nächster Nacht die Stadt und besetzt sie. – So sei doch ruhig, beste Lina! Es ist gar keine Gefahr, es kommt zu gar keinem Kampfe, liebe Frau! Bis wir dort anlangen, ist der König mit seinem ganzen Anhange festgenommen; die Truppen treten zum Theil zu uns über, oder sind ohne Commando, sind unthätig, wir ziehen als Sieger ohne Kampf in die Residenz.
Diese beruhigende Ansicht war nicht blos um Lina's willen vorgebracht: sie entsprach den Voraussetzungen Ludwig's und der übrigen Anführer des Unternehmens, und bildete sozusagen die Wolkensäule, die dem aufbrechenden Zuge des Landsturms vorleuchten sollte.
Dennoch erschien der Friedensrichter von Homberg in einem Gemüthszustande, der solcher innern Beruhigung nicht sehr entsprach Es verrieth sich darin keine eigentliche Muthlosigkeit, sondern nur die nervenreizbare Natur des bisher nur gedankenthätigen Mannes, der, um ein großes, bedenkliches Vorhaben ruhig zu tragen, nicht Spannkraft des Gemüths genug besitzen mochte. Daher kam's auch, daß er sich so hastig, zerstreut und leicht empfindlich benahm, ja sogar, gegen seine gewohnte Mäßigkeit, öfter zu einem Glase Wein griff.
Hermann dagegen war mehr vom Schlage Derjenigen, die sich vor einem ernsten Unternehmen gesammelter, man möchte sagen zusammengeballter und daher gehobener und gespannter fühlen. Mit diesem eigenen Humor gelang es ihm auch, Lina aufzurichten, zu erheitern und in das Gleichgewicht ihres sonst so resoluten Herzens zurückzubringen.
Hermann vernahm nun von Ludwig, daß der plötzliche Anstoß zur Erhebung gegen den König eigentlich von diesem selbst herrührte. Sein Befehl zum Ausrücken der Truppen gegen Oestreich bedrängte die Verschworenen, die sich nach dem mitbestimmten Aufmarsche des ersten Kürassierregiments und der gelernten Jäger dieser so wichtigen Hülfswaffen beraubt gesehen hätten. Sie mußten sich rasch entschließen, vorher loszuschlagen. – Schnell war Herr von Bothmer nach Berlin geeilt, um den Major Schill zu benachrichtigen, der im Begriff stand, mit seinem schwärmerisch ihm ergebenen Regiment auf eigene Faust gegen die Franzosen auszurücken. Gestern Abend unter dem herrlichen Sonnenuntergang hatte noch eine Versammlung in Dörnberg's Wohnung stattgehabt, und waren die letzten Beschlüsse gefaßt worden. Mit diesen war der junge Martin über Nacht nach Homberg geeilt, um den Aufbruch in Bewegung zu setzen.
Die Flut dieser Bewegung stieg nun im Laufe des Nachmittags. Drei Escadrons der Kürassiere hatten sich auf dem Marktplatz aufgestellt. Die Offiziere hielten vor der Fronte, mit Ausnahme einzelner, die sich mit Unwohlsein entschuldigt oder stillschweigend nicht eingefunden hatten. Kleine Detachements wurden in die Umgegend abgeordnet, und durch Feldposten der Verkehr nach außen gesperrt.
Ein großer Schwung für das Unternehmen schien unter den Reitern gerade nicht zu herrschen. Eine Anzahl vormals preußischer und östreichischer Unteroffiziere dienten im Regiment und gefielen sich unter französischer Behandlung. Sie fühlten sich eben nicht gestimmt, zu Gunsten einer Wiederherstellung des Alten auf die Soldaten zu wirken. Diesen wurde nun auch noch vom commandirenden Offizier in einer Ansprache freigestellt, ob sie mit dem Volksheere ziehen oder zurückbleiben wollten, wo sie dann in Homberg sich ruhig zu halten hätten.
Gegen die kalte Haltung der Kürassiere stach die schwärmerische Begeisterung ab, mit der sich aus der Stadt und Umgegend Tausende bunt bewaffnet einfanden. Altkurfürstliche Soldaten, Förster und Amtleute, Postmeister und Schullehrer, Prediger und Gastwirthe, Juden und Weiber, Leute jeden Alters strömten herbei. Man brachte Waffen zusammen, die bisher waren versteckt gehalten worden. Lange Tafeln wurden aufgeschlagen, und die Soldaten, die sich zur Volkssache schlugen, mit Wein und Speisen bewirthet. Und der Wein wurde zum Werber.
Im Laufe des Nachmittags, als Ludwig fort war, um für die herrschaftlichen Gebäude und Kassen eine Schutzwache durch ehemalige hessische Jäger oder durch Füsiliere der alten Regimenter anzuordnen, erhielt Lina von Frau von Stölting ein Billet, worin diese um einen Besuch der Freundin bat, Cordula beruhigen zu helfen, die, von den lärmenden Vorgängen sehr angegriffen, sich ängstige, wo jetzt der liebe Freund Hermann sei, und ob er gar auch Antheil an dem bedenklichen Aufstand nehme.
Lina überredete den Freund mitzukommen. Sie wollte aber vorausgehen, das gute Kind über ihn zu beruhigen.
Die Wohnung der Dame hatte die Annehmlichkeit eines hochgelegenen Gärtchens am Hause. Hierher hatte sie ihre Kranke bringen lassen, um ihr an der bewegten Luft das Athmen zu erleichtern und die bebenden Nerven zu beruhigen. Hermann's vorbereitetes Erscheinen machte den besten Eindruck einer Gegenwirkung auf das besorgte Herz. Er setzte sich zu dem lieben Mädchen, und bewunderte die schöne weiße Lilie, die in einem Topfe gezogen ihren freiwachsenden Schwestern in der Zeit vorausgeeilt war.
Cordula erzählte ihm, daß es ihre Lieblingsblume sei, und die gute Frau Dechantin sie gezogen und ihr zugeschickt habe.
Wissen Sie, Hermann, womit ich diese Blume gern vergleiche? fragte sie. Mit einer Jahreswoche. Jede Woche ist gleichsam eine neue Lilie, nur nicht immer, ja gar selten und nur bei einzelnen Menschen in so reinem weißen Kelch abgeschlossen. Sehen Sie die sechs Staubfäden im Kelch oder in der Blume mit dem einen dreinarbigen Griffel? Ja, mein Lehrer, der jetzt Pfarrer ist, hat mir Einiges von den Blumengeheimnissen verrathen. Die sechs Staubfäden sind wie die sechs Wochentage der Arbeit. Sie schaffen den Samen der Zukunft für neue Lilien, und der eine Griffel da empfängt diesen Samen und gilt mir für den Sonntag in der Woche. Er sammelt den Gewinn der sechs für die Fortdauer der Lilie in neuer Aussaat.
Das haben Sie sich recht artig ausgedacht, liebe Cordula, erwiderte Hermann. Aber es hat auch eine recht gute Bedeutung, wenn Sie wollen. Sehen Sie, wenn man ihren Sonntagsgriffel da herausbräche, so verwehte all' der Staub dieser sechs Fäden vergebens in die Luft, und die Lilie welkte für immer hin. Und so ist alles Schaffen unserer sechs Wochentage, wie reich es ausfalle, ohne höhere Bedeutung und Folge für den Menschen, wenn es sich nicht in seinem innern Sinn zu den Gedanken des Ewigen und Göttlichen sammelt, worin allein er seine höhere Fortdauer und das Unsterbliche gewinnen kann. Diese Sammlung der Fruchtkörner göttlicher Gedanken wird für die Masse des Volks durch den Sonntag vorgestellt und vermittelt; er ist der hohe Griffel in unserer Wochenlilie. Und – wollen wir nicht auch in der dreifachen Narbe dieses Liliengriffels eine Bedeutung suchen? Je nun, man könnte sagen, die eine deutet auf die Andacht des Hauses und des Herzens Derjenigen, die keine Kirche besuchen können oder keine haben, keine, die gerade ihnen die Gedanken des Ewigen befruchtet. Die andere Narbe bedeutet die öffentliche allgemeine Sonntagserbauung, und die dritte gilt der Sonntagsfreude – der edeln Geselligkeit bei Musik und Gesang, dem fröhlichen Tanze des Volks und dem Jubel der Arbeiter von sechs Tagen.
Ach wie lieb, Hermann, daß Sie das Alles mit zum Sonntag rechnen! rief Cordula, und reichte dem Freund ihr zartes Händchen hin.
Gewiß, Herzchen! erwiderte er. Die Freude ist auch eine menschliche – Andacht; sie ist der Abendthau für Predigt und Messe, damit diese fröhlicher aufgehen. In der edeln Freude gedeiht das Echtmenschliche, in ihr fallen die Samenkörner des Göttlichen wieder in unsere Arbeitstage und gehen in schönem Wohlthun auf. Sehen Sie, drum gefällt mir der englische Sonntag nicht: die Andacht wird da zu einer Arbeit des siebenten Tags, und bildet, von keiner Sonntagsfreude durchsonnt, ein hochmüthiges Volk, das nicht singen kann.
Während dessen war Frau von Stölting in eifrigem Gespräche mit Lina hin und wieder gewandelt. Als Letztere jetzt den Sitz neben Cordula mit Hermann tauschte, nahm ihn die Dame beiseite. Sie war mit dem patriotischen Unternehmen innig vertraut, wie sie denn mit den angesehensten adeligen Familien der Nachbarschaft, die Antheil daran hatten, in gutem Vernehmen stand; desto mehr fiel dem Freunde die lebhafte Besorgniß auf, mit der sie sich über den Ausgang der jetzigen Erhebung aussprach.
Preußen ist jetzt so wenig wie im Jahre 1805 gestimmt, sich an Oestreich anzuschließen, sagte sie unter Anderm. Ach, zum Unglück Deutschlands wird es auch in Preußen nie an Eigensinn, an Eigendünkel und an Eigenliebe fehlen! Auch Schill, auf den man zählt, wird jetzt nicht kommen. Unser Aufstand bleibt mithin vereinzelt, und wird auch so übereilt, daß von acht Colonnen, auf die gerechnet war, nur drei sich in Bewegung setzen, wie ich vorhin vom Metropolitan gehört habe. Der Zuzug von Marburg, Ziegenhain, Frankenberg her wird sich, ungeachtet aller Thätigkeit des Oberstlieutenants Emmerich, verspäten, da die Männer von Homberg, Felsberg und Wolfhagen schon diesen Abend von hier aufbrechen. Sie werden vernichtet sein, ehe die Entferntern auch von Göttingen her eintreffen können. Ich sage Ihnen das nicht, lieber Freund, um Ihnen zu rathen oder abzurathen; ich muß mich auf bloße herzliche Wünsche für Sie zurückziehen. Sie sind dem Herrn von Dörnberg beigegeben, wie ich von Frau Lina höre. Ich kenne Dörnberg. Er war ein Freund meines seligen Mannes, und er ist der meinige. Ich schätze seinen hohen Sinn, ich kenne seine umfassenden Verbindungen, ich begreife seine erhabene Vaterlandsliebe; wie er aber sein Unternehmen gegen den König mit seinem demselben geleisteten Eid, mit dem von Jerôme angenommenen gunstvollen Vertrauen in Uebereinstimmung, in die Consequenz eines ritterlichen Mannes bringen will –? Ich maße mir kein Urtheil darüber an, aber – es macht mich bange, und schlägt alle meines Herzens Hoffnungen und Wünsche nieder. O ich bebe innerlich, lieber junger Mann, für Alle, die in edelm Enthusiasmus mitgehen, mitwagen, denen ich zurufen müßte: »Auf! Zieht mit Gott, edle deutsche Herzen!« und die ich heut doch lieber halten möchte mit meinen und – meines Kindes Händen. Ich begreife wohl, lieber Hermann, wie ein edler, hoher Mann, der in enger Sphäre untergeordneten, alltäglichen Berufs durch einen Eid gebunden ist, – wenn es plötzlich um die große allgemeine Wohlfahrt des Volks, wenn es um die Freiheit und Rettung des Vaterlands von fremder Schmach gilt, sich erheben und, zuerst selber frei, über seinem Wort stehen will, – ich begreife es! Aber das Beispiel von Eidesbruch ist und bleibt für die Welt beängstigend, und der Misverstand erhabener Absicht, der sich in eine selbstsüchtige, charakterlose Zeit fortwälzt, und jedem Schmeichler, jedem eiteln, egoistischen, spitzfindigen Wohldiener der Macht eine Handhabe, eine Waffe wird, ist entsetzlich. Gott, wenn ich mir dächte, eine Zeit könnte kommen, wo Alles schwankend in Hessen würde, was auf heiligen Eiden ruht, und wo man die Patrioten des Rechts, die Würdenträger der Treue und der Ueberzeugung mit pietistischen Fußtritten abfertigte –! Nein, der Himmel bewahre uns! Aber mein Herz ist heut sehr schwer. Auch liegt mir den ganzen Tag meine edle Freundin Marianne von Stein im Sinn. Sie werden wissen, welchen Antheil die guten Damen des Stifts an dem vaterländischen Unternehmen haben. Ich bange für meine liebe Marianne, wenn es schlimm ausgeht und der Brief ihres verbannten Bruders Karl dem König in Erinnerung kommt. Er wird den kleinen Napoleon an der Schwester machen, den der große am Bruder gemacht hat.
Ehe noch Hermann aus der tiefen Bewegung seines Gemüths etwas erwidern konnte, bemerkte Frau von Stölting, daß Cordula, da eben die Sonne das Gärtchen verlassen hatte, ihr wollenes Tuch fester um ihre Schultern zog. Sie eilte hin.
Wir müssen ins Haus, Herzchen! sagte sie. Ich vergaß auch ganz, daß es zu kühl für dich wird. Ich will den Andreas rufen, dich hinaufzutragen.
Ei, gnädige Frau, das können wir auch! rief Hermann, und Cordula winkte beifällig.
Er faßte Lina's Hand, Cordula setzte sich auf diese schwebende Schaukel zweier verbundenen Arme, und umschlang das tragende Paar um die Schultern. Aber die Treppe im Hause war zu schmal, und Hermann nahm hier die liebe Last allein auf seinen Arm.
Kaum hatte man das Zimmer betreten, als ein wilder Jubel sich vom Markte her erhob. Die Frauen erschraken, und Hermann, um zu ihrer Beruhigung zu sehen, was vorgehe, eilte mit leichtem Gruße fort.