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Vor vierhundert Jahren.
Geschrieben am Tage des Lutherfestes, 10. November 1883.
Die herbstliche Sonne, welche heute vor vierhundert Jahren emporstieg, blickte auf eine wohlbewehrte Stadt. Fest und trotzig, wie ein stahlgepanzerter Krieger, stand sie bereit zu Angriff und Abwehr selbstbewußt da. Vom festen Mauerring überall umschlossen, durch Festungsthürme nach jeder Seite geschützt, von hohen Kirchen überragt baute sie sich in enger Geschlossenheit am hohen Ufer der Leine, das ihr den Namen gegeben, gar stattlich auf. Und in ihrer Mitte stand der getreue Wächter der Stadt so stolz und gerade aufgerichtet wie heute, der alte Marktthurm, noch nicht so grau freilich von Sturm und Wetter, aber sonst ganz ebenso massig und solide und mit dem etwas verkrüppelten Haupt auf den festen Schultern. Er ist das Wahrzeichen Hannovers geblieben, und wer sich der Voreltern und ihres Daseins erinnern will, der trete zu ihm und horche auf den Klang seiner Glocken, die Jahrhunderte hindurch den wechselnden Geschlechtern die Geburts- und Sterbestunde verkündet haben. Und heute vor allem sollen wir den würdigen Alten respektiren, denn er hat den Tag anbrechen sehen und hat seine erste Stunde laut ins Land hineingerufen, dessen vierhundertste Wiederkehr ganz Deutschland heute in festlicher Weihe begeht. Auch heute wieder haben seine Glocken zuerst mit mächtiger Stimme zum Feste geladen und haben den Morgengruß bis zu den äußersten Häusern der Stadt hinausgerufen, die sich immer weiter und weiter vom ihm entfernen. Dazumal war es ihm leichtere Mühe, sein Reich zu überschauen. Eng und klein war Hannover vor vierhundert Jahren, an dem Tage, als in bescheidener Stube zu Eisleben mit leisem Weinen zuerst die Stimme ertönte, welche bald wie ein Löwenruf machtvoll durch Deutschland erklingen sollte. Eng und klein war Hannover, aber wohlhäbig, mächtig und selbstbewußt. Die Wehrkraft der Bürger und die Macht der Kirche hatten ihr gemeinsam den Stempel ihres Wirkens aufgedrückt, und so stand sie auf beschränktem Gebiete, doch von außen vielleicht noch ansehnlicher und malerischer, als heute, da.
Dem heiligen Bernward, dem kunstreichen Bischof von Hildesheim, verdankt das Dorf Hannover seine erste urkundliche Erwähnung zu Beginn des 12. Jahrhunderts. Bald aber muß das Dorf sich zur Stadt erweitert haben, denn schon im Jahre 1156 wird sie als solche genannt und zugleich von ihr berichtet, daß Heinrich der Löwe sie «gebessert», d. h. wohl, mit Festungswerken zum Theil versehen habe. Jedenfalls nur zum Theil, denn erst allmählich schloß sich der Mauerring, am spätesten nach jener Seite, wo die zuerst 1215 genannte Burg Lauenrode auf dem jetzigen «Berge» lag. Zu der Grafschaft derer von Roden, welche jetzt nach dem Schlosse Lauenrode benannt wurde, gehörte Hannover von alten Zeiten her, und die Herren auf der Burg – seit 1241, als die Stadt von einem der Grafen an den Herzog Otto Puer abgetreten wurde, die Herzöge in selbsteigener Person – mochten nicht dulden, daß zwischen ihnen und den Bürgern eine feste Mauer sich erhob, deren Thore bei Gelegenheit auch vor ihnen vielleicht einmal hartnäckig verschlossen bleiben konnten. Meist freilich herrschten gute Beziehungen zwischen der Stadt und den Herzögen, und den Bürgern war auch die Kampfeslust für einige Zeit wohl gründlich verleidet, seit in den Kriegen zwischen Heinrich dem Löwen und Kaiser Friedrich auch sie schwer heimgesucht waren, indem König Heinrich VI., des Kaisers Sohn, die Feuerbrände in die Stadt schleudern ließ und sie verbrannte. Das war im Jahre 1189, doch blühte die Stadt aus der Asche bald wieder empor und noch nicht hundert Jahre später war sie mächtig genug, einen Bund mit Herzog Albrecht von Sachsen gegen den Herzog Magnus zu schließen und auf dies Bündniß gestützt, die Burg Lauenrode zu brechen, die zu ihr herüberdrohte. Nun ward diese vom Boden vertilgt, um nicht wieder zu erstehen. Immer fester schloß die Stadt sich von jetzt ab in ihre steinerne Wehr, ringsum ward die Mauer geschlossen und nach allen Seiten blickten die Wartthürme drohend ins Land. So blieb Hannover die nächsten Jahrhunderte hindurch, so fand sie der anbrechende Tag der Reformation. Die Spuren, welche von den ansehnlichen Befestigungswerken bis heute übrig geblieben, sind gering, doch geben sie uns zusammen mit den Nachrichten der Chroniken die Möglichkeit, das alte Hannover aus Luther's Zeit in Gedanken wieder aufzubauen. Noch heute ist der Platz an der Leine beim alten Zeughaus und am Beghinenthurm, wo der schnellfließende Fluß zwischen hohen, steilabfallenden Ufern vorübereilt, der malerischste Punkt Hannovers. Viel stattlicher noch mußte sich's aber damals hier präsentiren, als an der Leine entlang vom alten Marstall bis zur Klickmühle hin die hohe, mit vielen Thürmen bewehrte Stadtmauer sich erhob und mit dem Flusse vereint einen trefflichen Schutz gewährte. So giebt die Leine auf dieser Strecke noch jetzt getreu die Grenze der Altstadt Hannovers an. Von der Mühle ab verfolgte die Stadtmauer die Linie der jetzigen Friedrichstraße, bog scharf um, sich der großen Wallstraße anschließend, und nahm dann die Richtung, welche durch die Georg- und Schillerstraße festgelegt wird. Darin lag der enge Raum der Stadt, auf welchem die Kämpfe der Reformation sich abspielen sollten. Drei Thore nur schufen die Verbindung mit der freien Welt da draußen, das Steinthor, das Aegidien- und das Leinthor. Vom letzteren ist nicht einmal der Name erhalten, während die der beiden anderen mit Plätzen in Verbindung geblieben sind, von welchen die alten Thore noch ziemlich entfernt lagen. Das Aegidienthor befand sich auf der jetzigen Breitenstraße nahe der Aegidienkirche, das Steinthor an der Stelle, wo Schiller- und Steinthorstraße sich kreuzen, das Leinthor an der jetzigen Schloßstraße, welche damals Schuhstraße hieß, unmittelbar vor der Brücke am Schloße. Alle drei standen fest da mit unfangreichen Thurmbauten, welche spitzbogige Durchfahrten zeigten, als Hüter der Stadt. Hinter den Mauern aber hauste ein kriegsbereites Geschlecht, und den vier uralten Hauqtquartieren Hannovers, der Oster-, der Markt-, der Köbelinger- und der Leinstraße, waren je zwei Hauptleute (capitanei) vorgesetzt, um deren Person die wehrhaften Männer sich zu schaaren hatten, wenn der Ruf zu den Waffen an sie erging. Durch Handel und Wandel waren die Bürger reich geworden, doch das Schwert war ihnen locker, wenn es galt, den Besitz zu vertheidigen. Mannigfache Privilegien waren ihnen von den Landesherren verliehen, darunter das Recht des Tuchhandels, die Schiffe fuhren fleißig hinunter nach Bremen, die Kraft des Wassers trieb zahlreiche Mühlen, und schon im 14. Jahrhundert zählte die Stadt ihre 17 Gilden. Da mochte man denn auch daran denken, der Bürgermacht ein Denkmal im neuen, prächtigen Rathhausbau zu setzen, der fertig dastand, als das 15. Jahrhundert sich zum Ende neigte. Aus Noth und Verfall hat unsere Zeit den würdigen Bau, der mit den großen Erinnerungen Hannovers so eng verbunden ist, wieder hergestellt, so daß er heute fast in denselben Formen zur Nachbarin, der Marktkirche, hinüberschaut, wie damals. Auch in jenen Tagen waren nur die beiden Flügel am Markt und an der Marktstraße vorhanden, an dem Platze aber, wo jetzt der neue Flügel steht, befanden sich die Stadtwaage und der Schuhhof. So hat dieser zweiflügelige Bau aus dem 15. Jahrhundert manch anderes Gebäude überdauert, darunter auch einen dritten Rathhausflügel an der Köbelingerstraße, der seit jener Zeit erbaut, in Verfall gerathen und wieder abgerissen ist, um dem nachgeahmten Dogenpalast Platz zu machen, der sich in dieser Umgebung gar fremdartig ausnimmt. Auf dem Marktplatze blickt uns die alte Zeit am vertrautesten an, denn das Rathhaus erscheint stolz und in neuer Jugend, wie damals, und auch die Kirche drüben ist im Ganzen dieselbe geblieben, die sie war.
Die Kirche! Wer gedächte nicht heute ihrer in Ehrfurcht! Höher und machtvoller, als Warten und Thore, stieg ihr Thurm vor vierhundert Jahren empor, und während jene zerfallen, zerstört, niedergerissen sind, hebt er das Haupt genau so kühn, wie damals. Die Marktkirche ist die älteste Kirche der Stadt, von welcher wir wissen. Sie wird schon 1238 erwähnt, und eine Nachricht von ihrer Baufälligkeit vom Jahre 1266 verkündet, daß jener erste Bau der Zeit und ihren Stürmen schon lange getrotzt hatte. Erst um die Mitte des folgenden Jahrhunderts ward jedoch der Neubau begonnen und in großem Stil zu Ende geführt; nur der Thurm mußte unter ungünstigen Verhältnissen fertig gestellt werden und erhielt seinen Aufbau, der zu dem Ganzen nicht paßt, weil «die Bauleuthe seind müd und im Säckel krank worden». Nur wenig haben spätere Jahrhunderte daran geändert, wohl hie und da einmal gebessert und restaurirt, wenn's Noth that, aber den Kern des Baues doch unangetastet gelassen. So gut ist es den Schwesterkirchen nicht ergangen. Von ihnen kommt die Aegidienkirche der Marktkirche im Alter am nächsten, und ihre Chorpartie und die Außenwände reichen zurück in jene Tage. Aehnlich auch die Kreuzkirche, das dritte Gotteshaus der alten Stadt, das jedoch durch manche späteren Anbauten verändert wurde, während die ursprünglich mit der Kreuzkirche verbundene, dann von ihr getrennte Heil. Geistkirche am Ende der Schmiedestraße bis auf den letzten Stein vom Erdboden verschwunden ist. Ebenso ist es den vielen anderen Gebäuden ergangen, die neben diesen Hauptkirchen im 15. Jahrhundert der Stadt die Zeichen katholisch-kirchlichen Wesens aufprägten; sie sind abgerissen, oder so sehr umgestaltet, daß man sie nicht mehr erkennt. Ein einziges eigentliches Mönchskloster besaß Hannover freilich nur, das der Minoriten, doch war dasselbe groß, einflußreich und machte sich vielfach bemerklich. Es erhob sich dicht an der Leine neben der Stadtmauer am Platze des jetzigen Schlosses, und von seiner dazumal viel größeren Kirche ist ein Theil zu der heutigen Schloßkirche verwandt. Dort hausten die Mönche und durchzogen die Stadt und wußten sich den Einfluß auf die Gemüther zu sichern. Ein Begräbnißplatz im Kloster galt als eine Art Bürgschaft der ewigen Seligkeit, Papst Benedict XI. hatte den Mönchen das Recht verliehen, die Leichen derer, welche hier bestattet werden sollten, in feierlicher Prozession durch die Stadt zu führen, und oft genug machten sie von diesem Rechte Gebrauch zu geringer Freude der Stadtpfarrer, denen dadurch die Stolgebühren verloren gingen. Außer diesem eigentlichen Kloster aber erhob sich fast an jeder Straße noch ein Gebäude, welches gewissermaßen als Filiale der auswärtigen Klöster diente. Da war der in veränderter Gestalt noch heute vorhandene Loccumer Hof an der Osterstraße, der Marienroder Hof an der Köbelingerstraße, eine Niederlassung der Dominikaner im Pewelerhof an der Köbelingerstraße, das Haus der Carmeliter, der Augustiner an der Oster- und Reselerstraße und der Barsinghäuser Hof an der Burgstraße. Hinzu kam noch das Haus der Beghinen an der Pferdestraße, nach welchem bis heute der dicke, halbrunde Wartthurm daneben, der ebenso alt ist, wie die Marktkirche, genannt wird. So war kein Mangel an Vertretern der Kirche, und daß die Bürger den Lehren derselben zugänglich waren, bewiesen die Stiftungen der beiden Hospitale St. Nikolai und St. Spiriti, die von dem milden, frommen Sinn ihrer Erbauer Zeugniß ablegten. Wie die Bürger aber zum Schutz und zur Vertheidigung ihrer Feldmark Vorposten gleich die Landwehren, den Döhrener-, den Pferde-, den Kirchroder Thurm und andere ins offene Land hinausgestellt, so baute auch die Kirche als Boten ihrer Macht Kapellen jenseit der Stadtmauer hinaus ins freie Feld. Dort lag ganz nahe beim Aegidienthore die Kapelle der seligen Jungfrau Maria, die zweimal verlegt in der jetzigen, vom alten Platze ziemlich entfernten Gartenkirche fortlebt. Weiter hinaus lag nach der andern Seite die zum Theil unverändert erhaltene Nikolai-Kapelle, die capella leprosorum, die wie das gleichnamige Hospital ursprünglich den fremden Kranken, namentlich den Aussätzigen, gewidmet war. Zum Schlosse Lauenrode hatte früher die St. Gallenkapelle, gehört, die nach der Zerstörung desselben jedoch in die Stadt selbst auf den St. Gallenhof zwischen Burg- und Knochenhauerstraße verlegt war, während auf der Neustadt, die nur spärlich, besonders mit einzelnen größeren Adelshöfen, bebaut war, Herr Cord von Alten die neue Marienkapelle gründete. Hier gab es noch viel Wiesen, Weide und Feld. Der Ort, wo die Burg Lauenrode gestanden, lag öde, und auf dem Platze des späteren Neustädter Marktes dehnte der Judenteich sich aus.
Reichthum, Selbstbewußtsein und Macht der Bürger standen auf ihrer höchsten Stufe. Die Selbständigkeit der Städte war immer größer geworden, der Bund der Hansa bildete ihren mächtigen Rückhalt. Uebergriffe der Herrscher wurden nicht mehr geduldet, doch ward Freundlichkeit mit gleicher Münze zurückgezahlt. Die häufige Geldnoth der Fürsten machte man sich zu Nutze, um neue Privilegien zu erlangen, doch zeigte man den eigenen Reichthum gern beim Besuche der Herrscher, und die Stadt, welche bei einem Fürstenkinde zu Gevatter geladen wurde, brachte kostbare Geschenke. Schwere Kalamitäten, der schwarze Tod, welcher Tausende dahinraffte, Feuersbrunst und Kriegsnoth vermochten die zähe Lebenskraft des Bürgerthums nicht zu tilgen.
Aus dem Bürgerthum heraus ward in Hannover auch die Einführung der Reformation erzwungen. Schon lange hatte sich in den niedersächsischen Landen der Ueberdruß an den bestehenden kirchlichen Zuständen mit ihren bösen Auswüchsen im Stillen geregt. Und als dann die Kunde von Luther's Auftreten auch in Hannovers Mauern kam, da hob sich aufathmend die Brust der Bürger im Drange nach geistiger Befreiung. Mit letzter Kraft vertheidigten die Mönche und Pfaffen die alte, für unantastbar gehaltene Macht, und auf ihre Seite stellte sich der Rath von Hannover; doch gegen Mönche, gegen Pfaffen und Rath zusammen erhob sich die Bürgerschaft. Vom Sturmwind der neuen, gewaltigen Zeit war sie erfaßt, nun hieß es: Vorwärts, hinein in den frischen, freien Tag, hinaus aus dem Dunkel, in dem wir so lange geschmachtet! Die Minoriten aus dem Kloster an der Leinstraße, vor denen sich ehemals Alles gebeugt, mußten sich's gefallen lassen, daß sie verhöhnt und ihre Heiligenbilder in Stücke geschlagen wurden. Der Rath aber, welcher die neue Lehre nicht dulden wollte, kam immer ärger ins Gedränge. Zuerst gab es Verhandlungen, dann kam es zu lärmenden, tumultuarischen Scenen, und als nach jahrelangem Bemühen die Bürger noch immer nicht erreicht hatten, was sie verlangten, da geschah das Unerhörte, daß sie den eigenen Rath auf dem eigenen Rathhaus belagerten, um von ihm zu ertrotzen, was er nicht freiwillig zugestehen wollte. Die Mönche des Klosters zogen hinaus aus der Stadt und heimlich die Männer des Rathes hinter ihnen her, sie alle nach Hildesheim, wo ihnen eine Zuflucht zu Theil wurde. Die Bürger aber jubelten in hoher Siegesfreudigkeit und führten die Prediger der neuen Lehre herein in ihre befreite Stadt. Die Lieder des Dr. Martin Luther erklangen jetzt in den Kirchen, und Gottes Wort in unverfälschter Klarheit von den Kanzeln herab. Und als nach Jahresfrist ein neuer Magistrat gewählt war, da konnte der große Reformator selbst in einem Sendschreiben, mit welchem er die von Urbanus Rhegius entworfene evangelische Kirchenordnung übersandte, von den «Radtherrn der Statt Hannofer» als von seinen «besonder guten Freunden» reden. Die Schlußworte dieses Schreibens, in welchem der große Mann zu unserer Stadt geredet, mögen auch hier stehen als Schluß- und Mahnwort, das heute so kräftig wirken und nachklingen möge, wie damals, als Martin Luther es niederschrieb: «Unser lieber Herr Christus gebe euch und allen seynen heiligen Geist, sterck und Gnade, daß ihr bey der reinen Christlichen Lehre müget bestendig und fest bleiben, und in diesen geschwinden Zeiten vor aller List, rotten vnd secten deß teuffels behüt werden, Euch vnd Ewer gemeinen Statt freundtlich zu dienen, bin ich willigk, Datum Wittemberg 3 Martii Anno Domini 1535. Martinus Luther, D.»