Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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1. Auf grünem Boden.

In der Gasse steht seit dem frühesten Morgen ein mit allerlei Hausrat hochauf belasteter Wagen. Die Luft ist kalt, und der Fuhrmann gibt durch ungeduldiges Schnalzen mit der Peitsche seine unlustige Stimmung kund. Aber, als ob die Pferde gerechter sein wollten als ihr Herr, als ob sie wüßten, wie schwer es aufs Herz von Menschen fällt, eine Stätte langgewohnten Daseins zu räumen – stehen sie da mit gesenkten Köpfen, scharren nicht mit den Hufen und schicken kein mahnendes Wiehern in die Lüfte.

Denn nach einiger Zeit werden aus jenem Hause Leute herauskommen, die dahin nicht mehr zurückkehren wollen. Der zuletzt Hinausschreitende wird dann an die Haustüre einen schweren eisernen Riegel anlegen, zum Zeichen, daß hier alles, was zurückbleibt, dem atemlosen Banne des Schweigens überantwortet sei. Haben hier einst Kinder gejubelt? Hat hier einst eine Mutter im stillen Harme geweint? Ein Vater kummervoll gerungen? Wer wird es wissen? Die nackten Wände werden nichts verraten . . . und sollte selbst ein anderes Geschlecht mit glückgehärteten Gesichtern, strahlend vom Lächeln irdischen Behagens hier einziehen . . . sie werden nichts erzählen. Denn die Leute in diesem Hause wollen auswandern.

Das ist ein sonderbares Spielen und Walten in der menschlichen Natur! Kein Tag vergeht, daß uns das Zeitungsblatt nicht Kunde bringt von jenen, die der heimatlichen Scholle die Treue aufgekündigt. Die ziehen bereits; jene rüsten und wollen nachfolgen, wenn der Frühling das erste Schneeglöckchen läutet; die haben bereits ihr Gut unter den Hammer des Auktionators fallen lassen. Aber blöde und gleichgültig fliegen die schwarzen Zeilen an deinem Auge vorüber. Halten sie dich nur für eine flüchtige Minute fest? . . . Doch hast du nur einmal den Stab in der Hand des Auswanderers gesehen, der ihn zur überseeischen Prärie geleiten soll, dann wird's deine Seele träumerisch überkommen, du weißt nicht, wie? Unnennbare Schauer durchfliegen sie; es ist, als ob von unsichtbaren Zungen tausend Fragen an sie gerichtet würden, eine unheimlicher als die andere: Du bleibst also? Mit einem Fluche auf den Lippen und die Faust zornig geballt, haben wir das Haustor hinter uns zugeschlagen, daß der dröhnende Klang das deutsche Vaterland durchhallt – und du bleibst? . . .

Hast du das starkmutige Herz, zu sagen: Bleibet! Gehet! Drüben ist's gut, aber hüben sind die Gräber eurer Eltern? Drüben hat die müde Taube bereits eine Stätte für ihren Fußballen gefunden . . . aber hüben hat euch die Mutter die Hände falten gelehrt, sei es nun zum »Vaterunser«, oder zum erhabenen »Schmah Jisroel«?

Zum Glücke werden an uns Fragen von solch »politischer Tragweite« in diesem Augenblicke nicht gerichtet, und wenn überhaupt der Beginn dieser Geschichte etwas trübe gestimmt war, so haben das nur die alten, hochaufgelasteten Hausgeräte verschuldet, die uns das »Scheiden und Meiden« so lebhaft vor die Augen rückten!

Dennoch findet aus diesem Hause eine Auswanderung statt, nur mit der einen Ausnahme, daß die weiße Landstraße und nicht der trügerische Ozean sie ziehen sehen wird. Statt des dampfenden Seerosses wird der knarrende Wagen sie an ihr Ziel bringen – und dieses Ziel nicht »jenseits«, sondern »diesseits«, nicht im fernen »Amerikum«, sondern in einem stillen, böhmischen Dorfe sein!

Zehnmal in einem Atem war an jenem frühen Morgen ein schwarzhaariges Mädchen von ungefähr dreizehn Jahren vor das Haus gekommen, hatte die großblickenden Augen bald prüfend zu der ungewissen Himmelsfarbe emporgehoben, bald das spitzige Näschen forschend in die Luft gesteckt, ob nicht eines jener wässerigen Atome, die man Regentropfen nennt, daran haften bliebe . . . Was in der Seele dieses Kindes an jenem Morgen vorging? Es hätte mit seinen Blicken so gerne, so gerne die düster hängende Himmelsdecke durchschneiden gewollt, um das goldene Sonnenlicht über die ganze Natur, wie einen Mantel, auszubreiten! Licht, helles Licht sollte über der Straße liegen, die sie ziehen sollten! . . . Licht sollte glänzen über dem Weg, der sie aus der dumpfen Gasse in das böhmische Dorf hinausführte. Das kleinste Bänkchen, das unbedeutendste Geschirre des alten Hausrates hätte heute schimmern sollen wie an einem Festvorabend . . . Zogen sie doch mit hinaus in das stille böhmische Dorf! . . .

Plötzlich fuhr das Mädchen mit einem lauten Schrei in das Haus zurück.

»Vetter Koppel,« konnte man es rufen hören, »was sagst du dazu, vom Himmel ist ein Tröpfel gefallen.«

Vetter Koppel saß in der Küche auf einem Holzklotz, auf dem gewöhnlich die kleinen Brennstücke für den Herd zubereitet wurden. Ein eisgrauer, alter Mann, mit tief gerunzeltem Gesicht, dessen einstige Jugend an den Marken eines fernen Jahrhunderts zu liegen schien, saß dieser »Vetter Koppel« da und hielt mit seinen Händen etwas, was einem in einen schwarzen Rahmen eingefaßten Bilde glich, gegen seinen Schoß gepreßt. Als er sich bei seinem Namen genannt und zugleich die Witterungsnachricht hörte, zuckte auf dem alten Antlitz eine namenlose Angst auf; die Hände konnten gar nicht von dem bildähnlichen Dinge lassen, an das sie sich mit krampfhafter Gewalt angeklammert hatten.

»Was sagst du, Tilleleben,« rief er beklommen, »ein Tröpfel ist vom Himmel gefallen? Was soll dann mein ›Mogen Dovid‹ machen um Gottes willen, wenn er naß wird?«

Vetter Koppel meinte mit jenem seltsamen Namen das umrahmte Ding in seinem Schoße, das in der Tat nichts anderes war als ein »Misrach«, wie er in jeder guten Judenstube an der Ostseite der Wand zu finden ist. Zwei züngelnde Ungeheuer, die sich bei näherer Betrachtung als die Löwen Judas herausstellten, hielten den Schild Davids empor, zwei verschobene Dreiecke, in deren Mitte Jerusalems Weltgegend »Misrach« (Ost) in großen, dicken Lettern flammte.

»Und wenn er naß wird?« rief Tille mit leichtsinnigem Lachen. »Hört dann die Welt auf? Du nimmst dann deine große Truthahnfeder und deine Farben und machst dir einen neuen Misrach!«

Aber Vetter Koppel rief, den Kopf ängstlich schüttelnd:

»Red nicht so, Tilleleben; du weißt gar nicht, wie schwer du dich versündigst. Mit dem Misrach da, wie du ihn siehst, ist etwas ganz Eigenes vorgegangen; ich hab' dir's ja noch gar nicht erzählt. Als nämlich König David weit fortgeflohen ist vor seinem Sohn Absalom, weil er sich gefürchtet hat vor ihm, da hat er den Misrach da verloren und hat ihn nicht mehr finden können. Das war in einem tiefen, tiefen Wald, und du weißt, in einem Wald, wo so viel Bäume sind, da kann man nicht so leicht wieder zu etwas kommen, wenn man es einmal verloren hat . . .«

»Kann's denn anders sein?« meinte das Mädchen spöttisch, ohne von der sonderbaren Mitteilung besonders getroffen zu scheinen. »Man find't oft die Sach' nicht, die man im Haus verlegt hat . . . wie soll man einen ›Misrach‹ finden, den König David verloren hat?«

»Und siehst du,« rief Vetter Koppel triumphierend aus und seine Augen begannen dabei in jenem eigentümlichen Lichte zu funkeln, das wir die Abenddämmerung der Vernunft nennen möchten, weil ihm nur die gänzliche Nacht fehlt. »Und siehst du,« rief er, »er ist doch gefunden worden, und von wem ist er gefunden? Dein Vetter Koppel kommt durch den dicken Wald; auf einmal sieht er etwas liegen zu seinen Füßen . . . wie er's aufhebt, was war's?« . . .

»Dein Misrach, Vetter Koppel,« lachte das Mädchen so unbändig, als hätte es zum ersten Male die Geschichte dieses Fundes vernommen. »Aber sag mir nur, Vetter Koppel, wie bist du denn in den Wald gekommen?«

»Das will ich dir auch sagen,« entgegnete dieser hastig. »Absalom, des Königs Sohn, hat zu mir an jenem Tag gesagt: Koppel, geh hin und brich meinem Vater das Herz. Und da bin ich hingegangen in den dicken Wald . . . und hab' den Misrach da gefunden.«

»Du kranker Vetter, du,« rief Tille plötzlich mit einem so ernstgewordenen Ton, daß er selbst das irre Gehirn des alten Mannes treffen mußte; denn, schluchzend wie ein Kind, dem man ein bitteres Leid angetan, begann er den Kopf auf und nieder zu neigen, und herzzerreißend klang es, als er in die klagenden Worte ausbrach: »Ja, zu Buß' gesagt sei es! er hat mich verführt . . . er hat zu mir gesagt: Geh hin und brich meinem Vater das Herz . . . und da bin ich leider Gottes! hingegangen« . . .

Die Geschichte dieser umnachteten Seele ist bald und in wenigen Worten erzählt; aber sie jetzt so gleichsam zwischen Tür und Angel, unter dem ungeduldigen Knallen der Peitsche in aller Eile erzählen zu müssen, wird man sich selbst das auf dem Totenbette verzeihen können?

Vetter Koppel gehörte so eigentlich nicht ganz zur nächsten »Freundschaft« des Hauses; er war nur ein entfernter Verwandter, oder wie man das in der Gasse besser auszudrücken versteht: das ferne »Peitschenknallerl« dieser Familie. Sein Vater war ein armer Thoraschreiber in der Gemeinde gewesen, der jahraus, jahrein durch Böhmen und die angrenzenden Länder zog, ja sogar weit bis nach Ungarn kam; von ihm hatte er die schöne Schreibekunst erlernt. Da kam einst der Thoraschreiber von einer seiner Wanderschaften zurück und starb noch am nämlichen Tage seiner Ankunft. Auf seinem Totenbette fragte man ihn, ob er etwas seinem Sohne sagen ließe, wenn der einmal zurückkommen sollte. Sie sollten ihm sagen, klang es schauerlich von seinen blassen Lippen, er habe ihm das Herz gebrochen. Lange Jahre darauf kam ein verwilderter Schnorrer in die Gemeinde, in welcher man mit Mühe Koppel, den Sohn jenes Thoraschreibers erkannte. Man richtete ihm die letzte Botschaft seines Vaters aus. Von diesem Augenblicke an überkam ihn jene Geistesverwirrung, sie mochte durch Elend und Entbehrung in ihm vorbereitet gewesen sein. Mildtätige Leute der Gemeinde nahmen sich des Hilflosen an, bis ihm endlich die Familie dieses Hauses, weil er doch zur »Freundschaft« gehörte, ein Obdach gewährte. Man vermochte nie aus ihm herauszubringen, wie er in diesen Zustand geraten; man vermutete nur, sein Vater müsse ihn irgendwo auf »unrechten Wegen«, vielleicht auf dem Wege zu einer Kirche angetroffen haben. Darauf deuteten die letzten Worte des Thoraschreibers und der Wahnsinn des Vetter Koppel selbst. Wie Absalom, der Königssohn, seinem Vater schier das Herz gebrochen, so war es auch von ihm geschehen. Das mochte übrigens in jenen ersten Augenblicken ihm vorschweben, als seine Seele noch Lichtpunkte genoß. Später versank sie ganz in die Vorstellung, er sei zwar nicht Absalom selbst, aber dessen treuester Anhänger, ausgeschickt von ihm, um dem Vater das Herz zu brechen. Der Fund des »Misrachs« in jenem dicken Walde hing übrigens mit dieser abenteuerlichen Vorstellung nur lose zusammen. Vetter Koppel hatte nämlich von seiner Schreibekunst, die er von seinem Vater erlernt, nichts behalten als das Zeichnen solcher Blätter, wie man sie an der Ostseite der Stuben aufzuhängen pflegt. Darin bestand seine ganze Beschäftigung, die sich allmählich gleichfalls mit seinem rebellischen Königssohne verwebte. Jahraus jahrein saß er mit einer Truthahnfeder in der Hand über diesen Zeichnungen, die dann regelmäßig den Weg in die Hände der Kinder fanden. Den schönsten Misrach, ein wahres Meisterstück seiner Kunst, hatte er für das Haus gefertigt; wir haben ihn soeben in seinen Händen gesehen!

Drin in der Stube ist indessen ein anderes Gespräch zwischen Personen geführt worden, die wir kennen müssen, ehe sie in den Rahmen dieser Geschichte treten. Werden Menschen, die fortziehen, sei es selbst in ein nahes Dorf, sich nicht Bedeutungsvolles zu sagen haben auf der Schwelle zwischen Ein- und Ausgang? Wir wollen es hören.

Aber fast fällt es uns schwer. Der Augenblick des Scheidens ist eben kein günstiger, um sich Haus und Leute näher zu besehen. Nicht die alten Geschirre und Geräte sind bloß von Ort und Stelle gerückt, auch die Seelen schwanken auf den verlassenen Stätten langgewohnten Daseins auf und nieder; tausend Fäden sind mit einem Male zerschnitten worden, und doch will der eine Gedanke sie stets ergänzen und wieder knüpfen: Wie wird das Neue sein? Wer steht uns dafür, daß dieselben Personen, denen wir jetzt von Angesicht ins Angesicht sehen, die wir mit den Händen greifen können, nicht morgen oder übermorgen, unter anderen Erschütterungen und Verhältnissen auch ein anderes Bild gewähren werden? Wer wird die alten Züge dann herausfinden wollen? . . .

Es war wieder Frühling geworden. Millionen schlagender Herzen hatten sein Kommen nicht mehr erwartet, den leisen Flügelschlag seines Nahens nicht vernommen. Für sie schien alles, Natur und Leben, Freude und Hoffnung in dem blutigen Schnee des vergangenen Winters vergraben und verloren. Eine Öde, grauenhaft und unheimlich, wie sie über zerstampfte Walstätten sich lagert, hatte die Herzen ergriffen, daneben Trauer und Zaghaftigkeit, daß es auch in Zukunft nicht besser werden könne. Haben wir noch umständlicher zu sagen, was sich Millionen Lippen im Frühlinge des Jahres neunundvierzig zulispelten . . . und noch mehr verschwiegen?

Aber mitten unter diesem Fürchten und Bangen war nicht nur der Frühling wiedergekommen; mit ihm war ein weißes Blatt niedergeweht worden, ein weißes Blatt Papier mit der Namensunterschrift eines kaiserlichen Jünglings. In alle Ghettos war es eingekehrt, an die unscheinbarste Hütte kam es gerauscht, zu allen Fenstern hinein hatte es seinen Gruß getragen. Wie milder Tau war es niedergefallen; was geknickt war, hob sich wieder, war schwach geworden, streckte und dehnte wieder die Sehnen. Stand doch zwischen den schwarzen Zeilen jenes Blattes fast obenan, daß die Scholle frei sei; daß sich auch für die Leute in den »Gassen« die Gemeinde erschlossen habe, und dem Gesetzbuche das Recht und nicht mehr das Unrecht war einverleibt worden.

Das Blatt war auch in das Haus gekommen, vor dem wir jetzt stehen, in das Haus Rebb Schlomes, des »Kleinschnittwarenhändlers«.

Guter Rebb Schlome! Wenn ich daran denke, wie diese Botschaft deine Seele mit freudigen Schauern überschüttete. wie sie sie erbeben machte unter dem innigsten Danke für das kaiserliche Geschenk, – dann ist es mir, als hätte ein höherer Geist sich mir geoffenbart; als drängte er mich gewaltsam, an die Lösung deines Lebens zu schreiten, wie schwach auch immer der Versuch ausfallen möge.

Es war eine merkwürdige Erscheinung eingetreten. Als der erste Eindruck vorüber, hatte sich vieler eine Art peinvoller Unruhe bemächtigt; auf dem plötzlich gebahnten Wege konnten sie die Straße nicht finden. Wie aufgeschreckte Hummeln flogen Pläne und Entwürfe durch die Ghettos; wie junger Wein war es ihnen in die Köpfe gestiegen.

In den Pulsen hämmerte es und wollte heraus und sich zur Tat gestalten. Aber zu welcher? Da griffen Hunderte in der Unstete ihres Herzens zum Wanderstabe und zogen über die große See nach dem Westen; andere traten, nachdem sie diese unbehagliche Stimmung überwunden, frisch und mutig in den Kreis der neuen Rechte ein. Sie brachen die alten Verhältnisse ab, und mit einer Leichtigkeit, die Erstaunen einflößte, hatten sie bald neue gefunden. Wer dem allem so aus der Ferne zuschaute, dem mußte es oft die Seele durchschneiden, wenn er in die atemlose, wirbelnde Hast blickte, mit der auf allen Seiten altes Mauerwerk eingerissen, neues gebaut ward. Die Schwalbe bleibt treu . . . aber hier sah man Menschen, untreu sich selbst, untreu der heimatlichen Scholle, selbst verleugnend den Staub, der ihre Toten barg! Gebietet das so dein Wesen, Geist der Neuzeit? . . .

Auch in Rebb Schlomes »Schnittwarenhandlung« war diese Unruhe eingekehrt, und die Gemüter bebten vor innerster Aufregung. Ein Unheimliches, Unbehagliches schlich seitdem wie auf leisen Socken durch das Haus; sie fühlten sich wie von einem kalten Hauche angeweht, aber sie wußten nicht, woher er kam. Das »Geschäft« ging gut; die Kunden hatten nicht abgenommen; dennoch waltete eine Unlust vor, die sich oft in Ekel verkehrte gegen das, was ihnen doch allen Nahrung und Stellung gab. »Was werfe das Geschäft ab,« hieß es jetzt bald hier, bald dort, »die ›Gewölber‹ wüchsen in der Gasse über Nacht hervor, und bald würde es mehr Kaufleute als Kunden geben; alles wolle ›handeln‹, wo aber das hinaus kommen werde? Man werde zuletzt zufrieden sein müssen, wenn man am Schlusse des Jahres nur ›sein Leben heraus gebracht hätte‹«.

Wenn solche Stimmen ertönen, da krankt etwas am Leibe einer Familie. Denn solches Gebreste, innerlich und unergreifbar, ist wie tückisches Gewässer, das heimlich die Stützen unterwühlt, bis sie mit einem Male schauerlich zusammenkrachen.

So weit war es freilich noch nicht gekommen. Die Familie hatte einen gesunden Organismus, dem solche Störungen nicht so leicht etwas anhaben mochten. Aber um so ungeduldiger werden solche Leiden von kräftigen Naturen ertragen. Merkwürdigerweise kam die Lösung der so drückenden Lage von einer Seite, von der sie nicht geahnt wurde . . . von Tille nämlich!

Das »Kind« nämlich, wie es von Eltern und Brüdern genannt wurde, war als das letzte Röslein der Familie ein Gegenstand der zärtlichsten Liebe und Pflege. Auf das Kind ließ man nichts »kommen«; das unbedeutendste Wort in seinem Munde hatte Geltung und Sinn. Während die älteren Brüder, der hochaufgeschossene, dunkeläugige Anschel, ja selbst der blasse »Bocher« Elieh mit scheuer Befangenheit ein Urteil vor den Eltern aussprachen, hatte man nichts dagegen, daß »das Kind« mitsprach. Es war im warmen Dunstkreis der Liebe groß und gezeitigt worden, und was an körperlicher Reife fehlte, ersetzte das vergrößernde Auge der Familie.

Schlome hatte einmal in düsteren Worten die Unbehaglichkeit seiner Stimmung kundgegeben. Es war kurz nachdem einige Gemeindemitglieder fortgezogen, um neue Heimaten sich zu gründen. Briefe waren eingelaufen, die alle vom glücklichen Erfolge sprachen.

»Gott, großer Gott, schenk' uns doch deine Hilfe,« rief er fast verzweifelnd. »Warum soll ich und mein Weib und meine Kinder hier sitzen bleiben und alles, was Füß' hat, macht sich auf und geht in die weite Welt? Soll denn der Kaiser in Wien umsonst das Gesetz gegeben haben, und keiner von uns macht sich's zunutz?«

»Der Kaiser! der Kaiser!« hatte Tille ganz begeistert und flammend vor innerer Aufregung ausgerufen. »Wie dankt man nur dem Kaiser? Du hast dich ja noch gar nicht bei ihm bedankt, Vater . . . und ich mein' doch, es schickt sich« . . .

»Ich?« stammelte Schlome, lebhaft getroffen von der Bemerkung des Kindes.

»Wenn ich was zu sagen hätt',« bemerkte dagegen der stämmige Anschel mit fast trotziger Scheu, »ich wüßt' schon, was wir alle zu tun haben« . . .

»Laß das Kind reden,« herrschte ihm Schlome zu. »Die Weisheit, die nicht aus deinem Kopfe kommt!«

Anschel mußte solche Demütigungen zugunsten des »Kindes« gewohnt sein; denn er schwieg, ohne im geringsten gekränkt zu scheinen.

»Du wirst mich auslachen, Vater,« sagte das Kind, zum ersten Male vielleicht gedemütigt von dem Rechte, das man ihm vor dem älteren Bruder einräumte . . . »Ihr werdet mich alle auslachen. Aber wär' ich der Vater . . . so möcht' ich Bauer werden!«

»Großer Gott!« schrie jetzt ohne alle Scheu, fast außer sich der stämmige Anschel. »Bist du in meinem Gehirn drin gewesen, Tilleleben, daß du weißt, was in mir vorgeht? Das ist es ja, was ich hab' sagen wollen.«

Rebb Schlome antwortete nichts. Aber in diesem Augenblicke war's ihm, als flammte die Stube wie lauter Licht, und mitten aus diesen Flammen heraus ertönten Stimmen, Offenbarungen eines plötzlich erschlossenen Sinnes, . . . die Äußerung des »Kindes« war in seine Seele gesunken, und er fühlte es, nicht alle Mächte der Erde waren mehr imstande, es aus dieser Tiefe zu holen. Es war eines jener entscheidenden Worte gesprochen worden, die unser Leben anders gestalten und wie mit der Kraft riesiger Fabelgeister es auf unbekannte Höhen heben, oder in bodenlose Abgründe stürzen.

Es war merkwürdig zu beobachten, wie die vom »Kinde« hingeworfenen Gedankenfäden in jenes unbestimmte Gewebe übergingen, das plötzlich als Tat dasteht. Es ließ sich nicht sagen, wer sie am gierigsten ergriffen; wie ein Netz waren sie über alle Ein- und Ausgänge des Hauses gespannt, und über diese enge Begrenzung konnte nichts hinaus.

In Rebb Schlome rang es am heftigsten. Während er mit keinem Worte verriet, daß er zu irgend einem Entschlusse gekommen, brach es doch zuweilen aus ihm hervor, in unzusammenhängenden Äußerungen, die zusammengefaßt dennoch ein vollständiges Bild seiner Seelenlage geben.

»Es ist ja wahr,« sagte er einmal aus tiefem Nachdenken erwachend, »hat einer von uns schon dem Kaiser gedankt für das, was er uns gegeben? Gott! Lebendiger! Ich, Schlome Hahn, über den Pawel und Honza weggespien haben, weil sie in die Kirche gehen, ich, Schlome Hahn, darf jetzt Bürgermeister werden, ich darf mir mein »Gewölb« aufmachen wo ich will, ich kann mir ein Haus neben dem ersten Stadtrat hinbauen, und wenn ich ein Feld kaufen will, kann ich von meinem eigenen Felde essen! Gott, Lebendiger! Wie dankt man nur dem Kaiser dafür!?«

Durch einen natürlichen Gedankengang kam er hierauf zu einer andern Schlußfolgerung.

»Sagen sie nicht immer,« meinte er, »daß der Jud' nicht hinaus aufs Feld will und lieber mit dem Hausiersack sich schleppt, als hinter dem Pflug die Ochsen antreibt? Leider Gottes! ist es denn nicht wahr, was sie uns vorwerfen? Jetzt geben sie's einem an die Hand und alles schreit: Versündig' dich nicht an Gott und am Kaiser? Aber so wahr als der Kopf auf mir lebt und ich Schlome Hahn heiße, ich will's dem Kaiser beweisen, was ich kann. Tilleleben hat ganz recht. Gott soll das Kind gesund lassen.«

Was sollten diese Worte bedeuten? Lag ihnen bereits ein fertiger Plan zugrunde? War Rebb Schlome bereits mit sich selbst einig geworden, wie er seinem Danke gegen den Kaiser den besten Ausdruck gab?

Rebb Schlome gehörte zu jenen straffen, selbständigen Naturen, die es beirrt, wenn sie sich in irgend einer Angelegenheit des fremden Rates bedienen sollen. Er tat gern alles »allein«; niemand sollte sich »darein mischen«, nicht einmal diejenigen, die ihm zunächst standen . . . . Weib und Kinder.

Nachime, Schlomes Ehefrau, war dagegen eines jener demütig schweigsamen Weiber, die oft ein ganzes Leben lang eine gewisse Schüchternheit gegen den Mann nicht ablegen.

Fast unbeachtet, nie eingreifend, nie widersprechend ging die stille Frau neben dem breitspurigen Manne einher, und war es, daß sie auf seine höhere Einsicht stolz, oder von seinem Wesen sich gedrückt fühlte . . . während eines fünfundzwanzigjährigen Beisammenseins war Nachime gerade dieselbe geblieben, die sie in den ersten Monaten ihrer Ehe war . . . sie ging nur neben, nicht mit ihrem Manne!

Auch jetzt blieb dieses Wesen sich treu; sie gab kein Urteil ab, weil »er« es nicht leiden mochte; kaum daß sich die dünnen Lippen einmal zu irgend einer unwesentlichen Frage öffneten.

Noch ein anderes Wesen schien dieser innern Geschichte des Hauses fremd gegenüberzustehen. Es war dies Elieh, der »Bocher«. Gleich seiner Mutter schien der kränkliche Jüngling von Jugend auf kein anderes Recht geltend zu machen, als daß man ihn im Hause dulde und in seinen Studien nicht störe. Es vergingen oft Tage und Wochen, daß man sich nicht erinnern konnte, einen andern Ton aus seinem Munde gehört zu haben, als jenen eigentümlich einförmigen Gesang, der das »Lernen« aus den gelehrten Büchern begleitet.

Nur Anschel hielt es mit schwerer Mühe an sich, die gewohnte Scheu vor dem Vater zu bewahren. Kein Blick, kein leiser Gedankenzug entging seinen forschenden Augen, man konnte sagen, er sah, wie in einem durchsichtigen Gehäuse, das Räderwerk des Planes, der fertig und abgeschlossen aus dem Gehirne Rebb Schlomes hervorgehen sollte. Er kannte den Vater durch und durch; aber wiewohl er aus Erfahrung wußte, daß er das »Hineinschauen« nicht liebe, brannte und zehrte es an ihm, daß der Vater auch diesmal jede Frage, jedes Vordrängen streng von sich wies.

»Warum ist er so?« grollte es in ihm, »warum muß ich ›kuschen‹ wie ein Hund? Will ich denn nicht so gut wie er ein Bauer werden und aufs Feld hinaus? Er weiß ganz wohl, daß ich fürs ›Geschäft‹ nicht bin, und doch hält er sich meilenweit von mir, als wär' ich gar nicht das leibliche Kind, und könnte ihm auch raten und helfen!«

Anschel hatte es bald herausgefunden, durch wen er sich am besten dem verborgenen Plane seines Vaters nähern könnte. Rebb Schlome war auf zwei Tage nach einem nahen Dorfe gegangen, um, wie er mit gewohnter Kürze sagte, »sich etwas anzusehen«. Dieser Weggang fachte das unterdrückte Leiden in Anschels Seele zur furchtbarsten Pein an. Widerstrebenden Herzens verabredete er mit Tille, sie solle, wenn der Vater zurückgekommen, ihn ausforschen, was er »ausgerichtet«. Es sei ganz gewiß etwas vorgegangen!

»Denn dir sagt er's eher,« rief er schmerzlich, »du darfst mit ihm reden, aber ich nicht. Mir stellt er sich wie Gott vor, und bin doch schon neunzehn Jahre alt und kein Jüngel mehr. Ich frag' dich, Tilleleben, hab' ich das um ihn verdient?«

Tille versprach ihm, nach Kräften den Vater auszuforschen; und in der Tat, als Rebb Schlome nach zwei Tagen wieder zurückgekommen, klang die erste Frage aus Tilles Munde, kaum, daß der Vater noch Zeit gehabt, die»Mesuseh« an der Türpfoste zu küssen:

»Nun, Vater, hast du Gutes ausgerichtet?«

»Ich bin zufrieden, mein Kind,« entgegnete Schlome in lustiger Stimmung. »Gott sei gelobt und gepriesen dafür.«

Nach einem Augenblicke Nachdenkens sagte Tille:

»Ist es schön . . . dort?«

»Wo?« entgegnete Rebb Schlome, der diese Frage nicht verstand.

»Nun dort . . . wo du gewesen bist,« meinte das Kind mit großer Unbefangenheit.

»Jedes Judenkind kann seinem Gott danken, wenn man's überall so hätt', wie es dort ist,« erwiderte Schlome sich besinnend.

»Und . . . hast du's?« fragte Tille mit gedrückter Stimme, denn sie fühlte, wie Anschels Augen brennend auf ihr lagen.

»Ich hab's,« . . . sagte Schlome kurz.

Erkannte Tille mit dem feinen Sinne eines geliebten Kindes, daß sie für jetzt nicht weiter gehen dürfe? Oder regte sich etwas in Schlome, was ihm als ungeziemend darstellte, daß er einem Kinde und nicht dem ganzen Hause Rechenschaft über eine entscheidende Angelegenheit zu geben im Begriffe stand? Genug, Schlome schwieg, und an diesem Tage kam nichts zur Sprache.

»Wenn er auch heut' nichts redet,« sagte Anschel am Morgen des folgenden Tages zu seiner Schwester, »so weiß ich nicht, ob ich's länger in mir verhalt'! Es drückt und zehrt mir mein Herz herunter.«

Der Tag verging; er brachte für die Harrenden keine Lösung. Wie wundersam gestaltet ist's doch in den Gemütern der Menschen! Während Anschel an diesem Tage, von allen Geistern der Unruhe gefoltert, fast verging, hundertmal hervorbrechen wollte und an sich ebensooft mit schmerzlicher Gewalt halten mußte, weil der Vater nichts sprach, zitterte das Herz Nachimes in namenloser Bangigkeit, daß ihr Mann überhaupt sprechen werde. Vor dem Unbedeutendsten, das aus seinem Munde kam, schreckte sie zusammen, es ging ihr wie »ein Stich« durch die Seele.

Elieh, der Bocher, war an diesem Tage noch schweigsamer als sonst; er »lernte« mehr als je.

Erst kurz vor dem Schlafengehen trat der mächtige Moment ein. Nachimes Herz stand still, als ihr Mann plötzlich, ohne daß irgend ein Wort als Einleitung vorangegangen, von dem längst Gefürchteten zu reden anfing. In diesem Augenblicke war es ihr, als hörte sie den schrillen Ton einer scharfen Schere, die mitten durch ein Gewebe schnitt.

Rebb Schlome begann damit, daß er es von jeher gewohnt sei, sich in »nichts« dreinreden zu lassen. So habe er es auch diesmal gehalten, und es sei das beste. Wer das Brot ins Haus schaffe, habe auch das Recht zu verlangen, daß man sich ihm füge; er habe es bei seinem Vater auch nicht anders gesehen. Das würden hoffentlich alle längst erkannt haben, daß es mit dem »Geschäfte« nicht vorwärts wolle; es sei alles »tot« und matt, und die höchste Zeit gekommen, zu etwas anderem zu greifen, bevor der Bettelstab sie abhole!

»Geht denn das Geschäft so schlecht?« wagte Nachime aus der Tiefe ihrer Angst zu fragen. »Es kommt mir doch vor, als könnten wir zufrieden damit sein.«

Das solle sie ihn nicht lehren. entgegnete er darauf herb, ob das Geschäft gut gehe oder nicht. Das sei heute so, und vielleicht noch morgen; wer aber für den Übermorgen stehe? Es sei eine schwere Versündigung an sich selbst und den Kindern, wenn man nicht auch die Zukunft ins Auge fasse. So täten liederliche, gottvergessene Leute, zu denen er aber nicht gehöre. Jetzt, wo alles »offen« sei, wo der Kaiser selbst gesagt: Greift zu! Jetzt müsse man einen Stand wählen, der ein sicheres Brot abwirft, nicht einen, der auf tausend Zufälle gebaut ist. Von Kindesbeinen an habe er immer gehört, daß sich der Bauer am besten stehe; sei das Jahr schlecht, so verkaufe er das Getreide teuer, sei es gut, nun so schwimme er in seinem eigenen Fett. Aufs Dorf müsse man hinaus, die Schnittwarenhandlung von sich werfen wie einen wurmigen Apfel, und Bauer werden. Schon um des Kaisers wegen müsse man das tun, damit der sehe, was man zu tun imstande sei.

Ein schmerzliches Lächeln glitt bei diesem letzten Beweggrunde über Nachimes blasse Lippen. Aber sie sprach kein Wort.

Als Rebb Schlome von keiner Seite eine Einrede hörte, kam er zum eigentliche Kerne der Sache. Sie sollten es ihm verzeihen, sagte er fast mit Überwindung, daß er sie nicht um Rat gefragt, aber er sei so und nicht anders. Eine Änderung im »Stand« müsse aus einem Kopfe kommen, zwei seien schon zu viel, und erst eine ganze Familie fragen, das trüge gar nichts ab. Kurz und gut, das »Geschäft« mit allem, was dazu gehöre, sei verkauft, das Haus auch und zwar um den höchsten Preis. Dafür habe er in dem sechs Stunden entfernten Dorfe Wobrub ein Bauerngut gekauft mit zwanzig »Strich« Feldern; etwas Schöneres habe man noch nicht gesehen. Da werde man sehen, was alles in »so« einem Bauernhause stecke, von der Kuh im Stalle an bis zur kleinsten Henne auf dem Hofe. Überall liege Gottes Segen und das Brot wachse einem zum Munde nur hinein. Das Herz werde ihnen aufgehen vor Lust und Freude, wenn sie das alles zu Gesicht bekommen würden. Beneiden würden sie die Leute wie um ein »Terno« aus der Lotterie. Aber man müßte sich sputen und hasten, daß man in vier Wochen fertig sei; denn das Frühjahr sei da, und die beste Zeit, wo der Bauer zu seinem Eigenen sehen könne.

Lautlos hatten diese lange Erörterung Weib und Kinder angehört. Als er geendigt, sagte Anschel mit hochgerötetem Antlitz:

»Gott soll dir's zahlen, Vater, was du da an uns allen gemacht hast. Du hast wie der größte Weise getan; es gibt gar nichts Besseres, als hinaus aufs Feld! Mein Sinnen und Trachten ist auf gar nichts anderes gerichtet. Gott soll dir's zahlen.«

»Ich soll also eine Bäuerin werden?« sprach es tief, tief, wo man es nicht hören konnte, in Nachimes Seele. Die Lippen zuckten . . . aber sie brachten keinen Laut hervor.

Mitten unter den Zubereitungen, die nun getroffen wurden, in der Stille der Nacht, im Geräusche des Tages, immer glitt diese Frage ihr nach. Wie dunkler Karmin, von dem ein Weniges genügt, um einer großen Wassermenge seine Farbe zu geben, war alles Denken, Fühlen und Wollen der armen Frau von dem einen Gedanken durchzittert: »Und ich soll eine Bäuerin werden!« –

Der Wegzug unserer Familie aus dem Ghetto hatte dort übrigens nur einen geringen Eindruck gemacht. In jenem Frühjahr bot sich den Leuten die tägliche Erscheinung dar, daß nicht nur die Vögel, sondern auch die Menschen flügge wurden. Die Zurüstungen zur Abreise konnten daher auch in aller Stille geschehen; niemand störte, niemand drängte sich auf. Aber dieses lautlose Hämmern und Packen hatte eben darum etwas grauenhaft Beengendes, und mitten in der Arbeit schreckte Nachime öfters zusammen. Es überschlich sie der Gedanke, sie rüste bei lebendem Leibe ihre und ihrer Familie Totenkleider.

Um so ungestümer gebärdeten sich Rebb Schlom, Anschel und Tille. Die drei konnten die Stunde kaum erwarten, wo sie »Schiff und Geschirr,« Haus und Geschäft gegen das Dorf und dessen lachende Zukunft vertauscht hatten.

Jene Stunde war gekommen . . .

Draußen auf der Gasse steht seit dem frühesten Morgen ein mit allerlei Hausrat hochauf belasteter Wagen. Die Luft ist kalt und der Fuhrmann gibt durch ungeduldiges Schnalzen mit der Peitsche seine unlustige Stimmung kund. Vom Himmel fällt es in leisen, leisen Tropfen . . . .

Drin aber in der Stube scheint niemand an ein Weggehen zu denken. Anschel und Elieh stehen im tiefen Gebet; die Tefillin (Gebetriemen) um Arm und Kopf geschlungen. Aber die Wand, woran sonst der Misrach hing, war leer wie die andern Wände, und an dessen Stelle scheint eine große Spinne ihr seines Fadenhaus anlegen zu wollen.

Alles, was den Raum in dieser Stube einst verengte, war hinweggeräumt; nichts steht im Wege; es ist, als ob die Wohnung sich erweitert und ins Zweifache ausgestreckt hätte. Rebb Schlome geht ungehindert, die Hände auf dem Rücken, in dem leeren Raume auf und nieder. Auf seinem Gesichte erblickt man das Ringen eines schweren Gedankens . . . Wie mochte der lauten? . . .

Nachime kramt noch immer in einem Wandschrank herum, in dem auch nicht ein Stäubchen wegzublasen ist. Will sie sich beschäftigen? ihr Gemüt beruhigen? Oder ist das so die Frauenweise?

Plötzlich, bei einer raschen Wendung bemerkt Rebb Schlome, daß Nachime in das unterste Fach des Schrankes etwas hineinzwänge, was sie mit fieberhafter Eile hinter ihrem Busentuche hervorgeholt hatte. Die Lade zog sie dann rasch ein.

»Was hast du da versteckt, Nachime?« fragte er, anscheinend mit großer Neugier.

»Versteckt? . . . Nichts, nichts,« antwortete die zu Tode erschrockene Frau, und hielt mit beiden Händen fest zu. »Ich hab' nichts versteckt.«

»Ich hab's aber doch gesehen!« rief er ungeduldig, »mit meinen eigenen Augen. Bin ich denn blind?«

»Was hast du davon?« erwiderte Nachime, die einsah, daß ihr das Lügen nichts half. »Was hast du davon? du wirst mich nur auslachen!«

»So sag's oder laß es mich selbst sehen.«

»Ich will dir's selbst sagen,« rief Nachime, aber mit einer Anstrengung in Stimme und Gebärde, als müßte sie das Ungeheuerste verraten. Ihre Brust war dem Zerspringen nahe. »Ich will dir's selbst sagen,« rief sie noch einmal. »Ich hab' von meiner Mutter (der der Friede sei!) immer gehört: Wenn man einen Ort verläßt, und denkt einmal wieder dahin zurückzukommen, so soll man nur etwas Liebes von sich da verstecken. Ich hab' ein Korallenschnürchen da hineingegeben . . . du hast mir's vor fünfundzwanzig Jahren geschenkt.« . . .

»Denkst du denn wieder zurückzukommen?« sagte Schlome, wie verwundert.

Nachime antwortete nichts. Ein Krampf in der Brust, der sie zu ersticken drohte, gönnte keinem Worte den Ausgang. Sie glaubte, ihr letzter Augenblick sei gekommen.

»Mir scheint, du gehst nicht gern mit, Nachime,« setzte er nach kurzer Weile hinzu.

Da kam ein Laut hervor aus Nachimes gepreßtem Herzen, wie er in dieser Stube noch nie gehört worden. Es war kein Angstschrei, denn er klang gar nicht menschlich. Der Jäger, der auf steilen Alpenhöhen jagt, will solchen Schrei oft entsetzt vernommen haben, wenn sein tödliches Geschoß in ein frisches Leben die Kugel gejagt hat.

»Hast du mich denn gefragt, ob ich gehen will?« so rang es sich dann allmählich aus dieser gedemütigten, gekränkten Frau heraus, »hast du mich gefragt?«

»Mutter, Mutterleben,« rief Anschel mitten aus dem Gebete, »um Gottes willen, nur jetzt nicht.«

»Red' ich denn etwas?« . . . sagte sie schwach; denn schon war sie ruhiger geworden.

Rebb Schlome sprach kein Wort. Er ging heftig im Zimmer auf und ab. Woran dachte er? Nachime schloß den Wandschrank und stellte sich ans Fenster hin. Sie konnte nicht weinen.

Als sei nichts vorgegangen, setzten Anschel und Elieh ihr Gebet fort. Sie hatten es nun beendigt und zogen die Tefillin vom Arm und Kopf.

»Seid ihr fertig?« sagte Rebb Schlome. »Nun so gehen wir.«

Rebb Schlome schritt zuerst hinaus, dann kamen Anschel und Elieh; Nachime verließ, die letzte, die Wohnung. Ehe sie hinaustrat, warf sie noch einen Blick nach dem Wandschrank mit der Korallenschnur . . . .

Als schon alle auf dem Wagen saßen, mitten unter dem übereinander geschichteten Hausrat, rief Tille plötzlich:

»Gott, der Vetter Koppel. Wir haben ihn ja ganz vergessen.«

Leise kam dieser herbeigeschlichen, den »Mogen Dovid« vorsichtig an sich gedrückt. Anschel räumte ihm seinen Platz neben Tille ein, und so saß er da, eingeklemmt zwischen dem alten Hausrat, über seinem Haupte einen wackelnden Kasten und in seinen Händen den treuen, im Wald Palästinas gefundenen »Mogen Dovid« . . .

Anschel schloß noch die Haustür. Dann setzte sich das schwere Fuhrwerk in Bewegung . . .

Sprechen wir mit den Frommen der »Gasse« den Dahinziehenden den alten Segen der Priester nach:

»Der Herr segne euch und behüte euch! Der Herr lasse leuchten sein Antlitz euch und sei euch gnädig! Der Herr richte seinen Blick zu euch und gebe euch seinen Frieden.«


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