Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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4. Die erste Nacht im Dorf.

Anschel war nicht zum Brande hinausgegangen; in traumhafter Gedankenlosigkeit lenkte er seine Schritte zum Dorfe hinaus und gelangte wieder auf die Straße. Bei dem letzten Hause schreckten ihn plötzlich eilige Schritte, die ihm zu folgen schienen, auf. Als er sich umsah, erkannte er in der ungewissen Helle des noch immer nicht verlöschten Brandes seinen Bruder Elieh, »den Bocher«.

»Elieh,« rief er erschrocken, »wo kommst du her?«

»Und du?« fragte dieser lautlos.

»Ich,« – sagte Anschel bebend und stockte – »ich komme vom Feuer.«

»Von dort komm' ich auch,« meinte der Bocher.

Schweigend gingen sie nebeneinander. Hatten sie einander um nichts zu fragen?

Nach einer Weile begann wieder Anschel:

»Hast du die Bauern gesehen, wie prächtig sie die Felder beleuchtet haben, weil wir kommen? Es ist nicht anders, als ob ein Kaiser käm' und nicht ein paar Juden.« –

»Sag lieber,« entgegnete Elieh tonlos, »daß sie imstande sind, in dieselben Flammen uns zu werfen, und sie haben sie doch uns zu Ehren heut' angezündet.«

»Fällt dir was ein!« rief Anschel erhitzt. »Die Bauern wären das imstande? Die werden uns auf den Händen tragen.«

»Dich vielleicht,« entgegnete Elieh in demselben trocknen, durch nichts gehobenen Tone.

Anschel fühlte einen heftigen Grimm in sich entstehen, und als wollte er ein verhängnisvolles Wort, das nicht ausgesprochen werden durfte, rascher abschneiden, hob er die Hand gegen den Bruder auf. Dann aber sagte er mit einem Lächeln, das nur der helle Tagesschein in seiner Bedeutung erkannt hätte:

»Bin ich etwas anderes, als ihr? Bin ich nicht des Vaters Sohn!«

»Und ich sag' dir, Anschel,« meinte der Bocher düster, »hüt' dich vor den Bauern.«

Es mag sonderbar klingen. Wie weit Anschel zurückdenken konnte in die vergangenen Jugendtage, nie hatte er mit seinem Bruder ein Gespräch von so langer Dauer geführt, wenigstens hatte sich dieser nie so unmittelbar zu ihm ausgesprochen. Darum ergriffen ihn auch die wenigen Worte mit solcher Gewalt, zugleich beengend und beängstigend . . . Schweigend ging er neben dem Bruder her durch die stille Nacht. Daß sich über die Straße noch immer die Lichter des Feldbrandes warfen, schien sie beide nicht zu kümmern.

Sie fanden die Eltern ihrer harrend auf derselben Stelle, woher sie in blinder Hast ausgegangen. Nachime saß mit Tille und dem Vetter Koppel noch immer auf dem Fuhrwerk, während Rebb Schlome unverwandten Blickes nach der Gegend des Himmels schaute, an dem sich ein blaßroter Schein noch nicht verloren hatte.

Als die beiden Brüder sich nahten, erscholl ihnen kein Wehklagen, kein lauter Schrei entgegen. Hastig ging ihnen Rebb Schlome entgegen.

»Nun, wie steht's?« fragte er leise, als wolle er die Schreckenskunde nur unter vier Augen vernehmen. »Man kann ja ganz grau werden vor lauter Warten . . . und Schrecken.«

»Es steht alles gut, Vater . . .,« entgegnen Anschel laut; »es ist nichts geschehen.«

»Red nicht so hoch . . . vor ihr,« rief Rebb Schlome mit fast ängstlicher Stimme, indem er mit einem bedeutsamen Blicke nach dem Fuhrwerk sah. »Sie kann, Gott behüt', den Tod davon haben.«

Anschels Stimme sank fast zum Flüstern herab.

»Du meinst, sie haben uns das Haus angezündet,« sagte er hastig und überstürzt, »oder sie haben uns am Leib schaden wollen? Da irrst du dich gewaltig. Nicht ein Federl ist uns abhanden gekommen; im Gegenteil, die Bauern haben uns gern . . . und weil sie uns das zeigen wollen, haben sie die Felder beleuchtet, daß es Gotteswunder aussieht, und als sollt' ein Kaiser einziehen . . . Nichts wird uns in dem Dorf geschehen.«

War es die sonderbare Weise, in der Anschel ein so verhängnisvolles Ereignis erzählte, das zerstreute Wesen, dadurch die bald stockende, bald hastige Rede durchblickte, oder der frische Eindruck des empfundenen Schreckens – Rebb Schlome schüttelte ungläubig das Haupt. Er, der die Nachricht Anschels freudig hätte willkommen heißen sollen, er konnte seinen Zweifel an die Wahrhaftigkeit derselben nicht unterdrücken.

»Kann denn das wahr sein?« rief er fast überlaut, »wahr und umstößlich? Umsonst sollten wir uns alle geängstigt und gefürchtet haben? und zuletzt kommt heraus, daß sie sich nur einen Spaß mit uns gemacht haben? Hast du dich denn auch gehörig umgesehen?«

»Wenn ich dir's aber sage, Vater – –« beteuerte Anschel mit unsicherer Stimme.

»Glaub ihm nicht, glaub ihm nicht,« schrie Nachime vom Wagen, die mit dem feinen Gehör der Angst das leise geführte Gespräch vernommen hatte. »Das Wort, das ihm aus dem Munde herausgeht, ist Lüge! Er wird dir noch einreden wollen, die Bauern wollen dich zum König ausrufen, und sie wollen doch nichts anderes, als dich und mich und uns alle verderben und unglücklich machen.«

»Mutter . . .,« rief Anschel aus der Tiefe seiner Seele und mit einem solchen Entsetzen, als wäre ihm das Ungeheuerlichste in den Weg getreten. Nur ein einziger in diesem bewegten Kreise hätte diesen Aufschrei eines an seiner Wurzel getroffenen Gemütes deuten können; aber dieser eine schwieg!

Sonderbare Widersprüche der menschlichen Seele. Er, der den starken Zweifel an die Wahrhaftigkeit dessen, was Anschel über die Veranlasser der Brandes berichtet hatte, in sich nicht unterdrücken gekonnt, war sogleich bereit, ihn zu bannen, als er die heftige Anklage Nachimes gegen den eigenen Sohn vernahm.

»Warum,« rief Rebb Schlome ergrimmt, »warum soll er lügen? Soll es vielleicht wahr sein, daß die Bauern uns Hab und Gut angezündet und zugrund' gerichtet haben? Man soll vielleicht sagen, Rebb Schlome Hahn ist wie ein geschorener Hund auf und davon vom Dorfe? Weib und Kinder gehn jetzt betteln für ihn? Nicht erleben sollen das meine Feind'! Ich geh', und wenn ich wüßt', die Bauern wollten mich gleich ins Feuer werfen. Sie sollen's sich aber unterstehen.«

Dieser zornige Ausbruch eines mit Mühe unterdrückten Gefühls schien dem starken Manne die ganze Gewalt über den Augenblick zurückgegeben zu haben. Mit sicherer Stimme gebot er dem Fuhrmann, den Weg zum Dorfe einzuschlagen und sich weiter um nichts zu kümmern. Und wunderbar war es anzusehen, wie dieses rasche Eingreifen in die nur zu lange anhaltende Verwirrung einen plötzlichen Umschwung in den Gemütern aller hervorbrachte.

»Ja, ja, Vater . . . .« rief Tille von der Höhe des Wagens, wo sie sich während des ganzen Vorgangs still und in sich gekehrt befunden hatte, »ja, Vater, du hast recht, wie immer! Kann man denn auf offener Straße bleiben?«

Diese Bestätigung seines Rechtes aus dem Munde des Kindes tat Rebb Schlome unendlich wohl. Mit den weichsten Tönen eines väterlichen Gefühls rief er gegen den Wagen:

»Gott mach dich glücklich, mein gut und teuer Kind; das kleinste bist du, aber die größten könnten sich ein Beispiel an dir nehmen.«

Fast lustig geworden, weil sich sein Herz mitten unter dem Drangsal des gegenwärtigen Augenblicks wieder auffrischen durfte an der Zustimmung seines Kindes, rief er noch:

»Vetter Koppel, und was sagt Euer ›Mogen Dovid‹? Soll man gehen?«

Weinerlich tönte es nach einer Weile aus dem Innern des Wagens:

»Drei Stern' stehen am Himmel; es ist Zeit zum Anbeißen.«

»Seht ihr, seht ihr?« rief Rebb Schlome lachend, »selbst dem Vetter Koppel gelüstet's nach einem warmen Bissen! Ihr sollt ihn auch bekommen, Vetter Koppel, wenn auch heute nicht Jom Kippur ist.«

Ein so gewaltsames Aufdrängen der lustigen Stimmung hat sonst den Vorteil, daß es in der Tat wie ein Gewitter die schlechten Dünste aufjagt und vertreibt; trotzdem blieb Rebb Schlome vereinzelt. Die Pferde setzten sich wieder in Bewegung, der Wagen rollte mit seiner Last tief in die sinkende Nacht des Dorfes hin; aber die darauf saßen, waren freude- und lichtverlassen, glaubten fast nicht, daß sie jemals ankommen würden, sondern daß sie mitten in ein Meer voll Gram und Kummer hineinführen.

Das Dorf war noch immer so schweigsam, wie es Anschel verlassen hatte; ein blasser Abglanz des Brandes färbte beinahe schon unsichtbar den Himmel. Waren sie, die eine so bittere Ankunftsstunde ihnen bereitet, schon zurückgekehrt? Lauerten sie hinter dem sichern Versteck der unbeleuchteten Fenster? . . .

Dieses tiefe Schweigen fiel beängstigend selbst auf Rebb Schlomes Brust.

»Kommen wir bald zum Haus?« fragte Tille mit unsicherer Stimme. Die Erlebnisse des heutigen Tages hatten dem Kinde den Mut der kecken Freudigkeit benommen.

»Dort, dort liegt es ja,« rief Rebb Schlome und wies mit dem Finger nach einem dunklen Punkte in der Gasse.

Tille beugte sich hinaus, aber sie erblickte nichts. In Nacht und Dunkel lag die künftige Stätte dieser jungen, fliegenden Seele.

»Wo? wo?« fragte sie noch einmal.

»Laß, laß,« entgegnete er, der sonst seinem Kinde keine Frage unerwidert ließ, verdrießlich; »es läuft dir ja nicht fort.«

Sie waren endlich an jenem Hause. Aber als nun die Pferde auf den Ruf stille standen, und es vor ihnen dalag, das unbetreten und unberührt sich so schneidend in ihr aller Leben gedrängt hatte, da überkam es sie mit doppeltem Grauen. Nicht ein Willkommruf entrang sich einer Brust. Sie sagten es sich nicht, aber die scheuen Blicke, die sie hinter sich und vor sich in die lichtleere Gasse des Dorfes sandten, zeigten, daß mitten zwischen Furcht und Beängstigung die Seele keinen Raum zu einem Lächeln gewinnt. Selbst »das Kind« schaute nicht neugierig um sich; und es hatte doch so viele Fragen für diesen Augenblick auf den Lippen!

Nun wurde der Wagen entladen; aber schweigend und mit so scheuer Hast, als gelte es gestohlenes Gut in sichere Hut zu bringen. Wie von unsichtbaren Kräften, lautlos und ohne Zuruf ward der mannigfaltige Hausrat in die Stuben befördert, die keiner beachtete. Ordnungslos und verwirrt wurde das Hausgeräte hingestellt; wer und wozu sollte jemand ordnen? Umkreiste sie nicht alle der schauerliche Gedanke: Wie können wir hier bleiben? Was kann im Schatten äußerer und innerer Unruhe gedeihen?

Als das Hausgerät geborgen, war der Bauer mit seinem Fuhrwerk davon gefahren, Stille lag über dem Hof, in den doch Menschen eingezogen waren, da bemächtigte sich aller eine Sehnsucht nach Ruhe, eine Abspannung aller Kräfte, wie sie nach einem solchen Tagwerk notwendig eintreten mußte. Rebb Schlome hatte wohl gefragt, ob keiner an »seinen Magen denke«; aber niemand wollte genießen, und selbst der Vetter Koppel trug keine Gelüste nach dem ihm versprochenen »warmen Bissen«.

»Wer heute nichts ißt, wird morgen essen,« tröstete sich Rebb Schlome; aber auch er verschmähte jeden Bissen und war der erste, der sich auf das in der Eile auf bloßer Erde bereitete Lager hinwarf. Bald folgten die andern, nur Nachime und Anschel hatten am längsten gezögert.

Wen wird es wundern, wenn in dieser Nacht die heiligen Gewalten des Schlafes sich ungerufen über aller Augen senkten; wenn selbst die Mutter des Hauses ihnen nicht widerstehen konnte! Aber es währte nicht lange, so hatten Gram und Kummer das dünne Gewebe zerrissen und brachen wieder in ihrer unbezwinglichen Kraft durch. – Nachime wachte plötzlich aus dem kurzen Schlummer mit einem Angstschrei auf. Sie hatte einen schweren Traum geträumt, und da sie sich in der finstern ungewohnten Stube allein fand, waren auch plötzlich alle Erlebnisse des heutigen Tages vor ihr Auge getreten. Sie fürchtete sich.

»Ist dir was, Mutter?« fragte eine sanfte Stimme neben ihr. Es war Anschel, der so fragte; auch über ihn hatte der Schlaf keine lange Gewalt. Nachime hatte sich zu erinnern, daß ihr Kind es war, von dem die Stimme ausging.

»Bin ich denn bei dir?« fragte sie dann unsicher, noch unter dem Eindrucke des Traumes.

»Du bist in deiner Stub', in deinem Hause, Mutter . . .,« entgegnete Anschel leise.

»In meiner Stub'? in meinem Haus?« gab sie zweifelnd zur Antwort. Dann sich völlig ermannend, schrie sie fast: »Ich hab' geglaubt, ich bin mutterseel allein in einem finstern Wald.«

»Sei still, Mutterleben,« bat sie Anschel, der in der Tat glaubte, die Besinnung der Mutter habe unter dem Eindrucke des verlebten Tages eine augenblickliche Störung erlitten; »sei still! siehst du denn nicht, daß du dich neben deinem Anschel befindest?«

Wirklich schien sich Nachime für eine Weile beruhigt zu haben; dann aber brach sie in ein krampfhaftes Schluchzen aus, das sie trotz allen Bemühens nicht zu unterdrücken imstande war.

»Wein' nicht, Mutter!« tröstete sie wieder Anschel; »es kann ja noch alles gut werden. Du stellst dir's nur zu arg vor. Erinner' dich dran, was ich dir gesagt habe: Du wirst noch gern auf dem Dorf bleiben!«

»Wie soll es mir gut gehen,« rief Nachime mit verzweiflungsvollem Tone, »wenn ich mein liebstes Kind so beleidigt habe, daß ich mir es nimmer und nimmer verzeihen kann! Hab' ich dich nicht einen Lügner gescholten? einen widerspenstigen, schlechten Sohn? Und warum hab' ich dich so gescholten? Weil ich nicht hab' gewußt, was ich tu', weil mir mein Unglück in den Kopf war gestiegen. Da war ich außer mir, und da hätt' ich selbst gegen Gott im Himmel mich versündigt.«

So sprach sie unter Schluchzen und Weinen noch lange fort, und jedes dieser Worte, wie es sich aus ihrem gepreßten Herzen mühsam herausrang, schnitt dem Sohne durch die Seele. Er wollte sie beschwichtigen, aber er fand kein Wort dafür.

Dieser Selbstanklage der Mutter, diesen Tränen, die glühend auf ihn niederfielen, was hätte er entgegensetzen können? Hatte er nicht gelogen? Trug er nicht die Lüge noch unausgesprochen und ungelöst auf der Brust?

»Du hast ja doch recht gehabt, Mutter . . .,« rief er endlich mit überströmendem Schmerz, »ich hab' dich ja belogen.«

In diesem Augenblicke regte sich jemand auf dem Lager in einem Winkel der Stube.

»Sei still, sei still!« flüsterte Nachime, die zauberähnlich in ihrem Schluchzen innehielt.

Anschel schwieg.

Es wurde zwischen Mutter und Sohn in dieser Nacht nichts mehr gesprochen.


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