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Was nützte es, daß am andern Morgen die Sonne lachend und goldig auf das Dorf niedersah? Sie fiel auf keine fröhlicheren Gesichter, sie erwärmte kein aufgetautes Gemüt. Verdrossen und düster, wie sie sich niedergelegt zum Schlafe, so fand sie sie wieder beim Aufstehn. Es war eine Niedergeschlagenheit in aller Herzen, eine Bangigkeit in den Seelen, als sollte der heutige Tag ihnen noch mehr bringen, als ihnen der gestrige gebracht an Furcht und Entmutigung, an Schreck und Entsetzen.
Warum ihnen allen der bessere Glaube fehlte? Warum sie so gelähmt mitten im Aufbaue eines neuen Lebens standen? Es ist dies einer jener Züge im Charakter von Menschen, denen der tausendjährige Fluch der Bibel wie ein dunkles Gespenst nachgleitet, daß denen, »die überbleiben, soll ein feiges Herz sein in ihrer Feinde Land, daß sie soll ein rauschend Blatt jagen und sollen fliehen davor, als jagte sie ein Schwert, und fallen, da sie niemand jaget.«
Sie hatten das Blatt fallen gesehen und waren davon erschreckt worden; aber es war verrauscht und gefallen – und dennoch war die Furcht nicht gewichen, der verzagte Sinn nicht aufrechter geworden. – Das deutete auf ein tiefinneres Leiden hin, in dessen geheimnisvolle Verstecke selbst die freudigste Sonne wenig Licht schicken konnte.
Nur »das Kind«, wir meinen Tille, schien die angeborene Farbe seines Gemütes auch heute nicht verleugnen zu wollen. Mitten unter den Zubereitungen und Rüstungen zum Öffnen der Kisten und Kasten, die das mitgebrachte Gut der Familie enthielten, hatte sie die Kraft gefunden, aus der Unordnung sich selbst Ordnung zu schaffen. Man hatte ihr eine schwarzbraune Kiste, die versteckt unter den andern lag, herbeilangen müssen, und nun begann sie eine genaue Musterung ihrer eigenen Habseligkeiten zu halten. Aber mit einem Male stand sie gekämmt und gewaschen und in ihrem schönsten Feiertagskleide vor den erstaunten Blicken der andern da. Keiner hatte so etwas erwartet, sie starrten das schöne, in vollem Putze glänzende Kind wie eine fremdartig Erscheinung an.
»Lebendiger Gott,« schrie Nachime, deren weibliches Gefühl das Ungeziemende in Tilles Gebaren zuerst wahrnahm; »ist das Kind von Sinnen? Oder ist heute Jontef (Feiertag), daß du dein schönstes Kleid anziehst?«
»Was ist dir eingefallen, Tilleleben?« sagte auch Rebb Schlome, dessen Augen trotzdem mit väterlichem Wohlgefallen auf dem geschmückten Kinde haften blieben.
»Laß, laß, Vater,« entgegnete das Kind bittend, aber mit einer so bestimmten Gebärde, daß man wohl einsah, keine Drohung würde es heute zum Gehorsam zwingen; »liegt denn etwas daran, wenn man sich einmal außer ›Jontef‹^ schön macht? Wie viel solche Tag' hat man denn?«
»Gut, gut,« sagte beistimmend Rebb Schlome, »aber was ist denn heute für ein besondrer Tag?«
»Was heut' für ein Tag ist?« entgegnete das Kind mit verwundert ernster Miene, »was heute für ein Tag ist?« wiederholte Tille und ließ ihre Augen mitten unter den Ihrigen umhergehen, »mir scheint, ihr wißt es selbst nicht. Heut' sind wir zum ersten Male im Dorfe, und dem Dorf will ich Ehre machen.«
Diese Antwort kam allen unerwartet, aber sie ging ihnen warm auf Herz. Selbst über Nachimes trübes Antlitz flog ein Lächeln.
»Soll ich leben und gesund sein,« rief lachend Rebb Schlome, »das Kind hat wieder Gottes Recht. Gott, der Lebendige, weiß, woher ihm alle die Gedanken kommen. Ich alter Kopf verfall' gar nicht auf so etwas.«
Als Tille ihr sonderbares Tun so von allen Seiten gerühmt und gebilligt sah, ging sie um einen Schritt weiter. Sie griff hastig nach der Türklinke.
»Wohin, wohin?« fragte sie Rebb Schlome.
»Das weiß ich selber noch nicht,« antwortete das Kind ohne Bedenken. »Erst will ich mir unser Haus von oben bis unten besehen; es darf mir aber kein Mensch sagen, wo ich alles find', ich will's selber aufsuchen. Wenn ich mir dann alles ganz genau angesehen, dann mach' ich dem Dorf einen Besuch und laß mich ansehen.«
»Allein willst du gehen?« rief Nachime ängstlich.
»Ist denn nicht hellichter Tag?« entgegnete das Kind lebhaft. »Wär's nur gestern abend nicht so stockfinster gewesen, ich hätt' mich nicht gefürchtet! So hat man die Hand vor dem eigenen Aug' nicht gesehen.«
»Allein laß ich dich nicht gehen,« sagte Nachime bestimmt.
»Gott, Lebendiger!« rief das Kind ängstlich bittend. »Wer soll mir etwas tun? Wer soll sich an mir vergreifen? Werd' ich denn einem etwas zuleid tun? Ihr könnt ganz ruhig sein, nicht ein Federl aus meinem Leib wird weggeblasen werden.«
Nachime schüttelte verneinend den Kopf.
»Weißt du was, Mutter?« rief Tille, ergriffen von einer plötzlichen Eingebung, »ich nehm' den Vetter Koppel mit, und der nimmt wieder seinen ›Mogen Dovid‹ mit, so gehen wir dann beide sicher, und es geschieht keinem von uns etwas.«
Das Kind hatte diese Worte mit einer so leidenschaftlichen Überzeugung gesprochen, so fern von allem Spott, daß sie gerade deswegen bei den andern in ihr Gegenteil umschlagen mußten. Rebb Schlome lachte, wie man es schon lange nicht von ihm gehört hatte.
»Vetter Koppel,« rief er lustig, »wollt Ihr mit meiner Tille gehen?«
Der eisgraue Inhaber des berühmten Schildes aus der Rüstkammer des Königs David saß wie immer in zusammengekauerter Stellung auf einer der herumstehenden Kisten. Als er sich beim Namen gerufen hörte, spielte ein schwaches Licht von Verständnis auf seinem Antlitz. Er sah erst Tille, dann die andern fragend an.
»Ob du mitgehen willst, Vetter?« rief das Kind laut, wie man Tauben gegenüber tut.
»In den dicken Wald?« fragte er mit leiser Stimme, indem er auf Tille aufmerksam, gleichsam lauschend seine Augen richtete.
»Wenn du willst, Vetter Koppel,« rief das Kind schon ungeduldig, »auch in den dicken Wald.«
Darauf erhob sich der Vetter Koppel so rasch, als man es ihm kaum zugetraut hätte, den treuen Begleiter seines umnachteten Lebens, den »Mogen Dovid«, wie immer, gegen seine Brust gepreßt. Das Kind mußte die Zauberformel kennen, die dieser verlassenen Menschenseele von Zeit zu Zeit ein eigentümliches Leben einhauchte.
Als die beiden sich entfernt hatten, war es allen, als sei etwas Lustiges, Leichtes in sie hineingekommen, das sie seit langen Wochen nicht gekannt. Mit größerer Behendigkeit als zuvor griffen sie das Werk des Auspackens an, Kisten und Kasten öffneten sich, und Nachime schien mitten in dem Drange, so bald als möglich Ordnung in das Wirrnis zu bringen, vergessen zu haben, daß jedes Stück Wäsche, das sie in den Kasten legte, jedes Kleid, das sie an die rechte Stelle hing, bestimmt war, an dem Orte getragen zu werden, der sie mit solchen Schrecknissen empfangen hatte. Der Duft einer frischen Kindesseele war über sie alle gekommen.
Merkwürdigerweise war von den Erlebnissen des gestrigen Tages bei keinem die Rede. War es, weil sie sich alle als schwach erkannt? Weil eines dem andern etwas vorzuwerfen hatte? Bei Anschel hatte es noch einen andern Grund; in seinem Innern wogten Gewalten, ineinanderschwimmende, wirre Traumgewalten, die das Wort auf seinen Lippen bannten. Wer den Jüngling gestern morgen sah und sein heutiges Antlitz mit dem gestrigen verglich, der erkannte es fast gar nicht. Es war ein andres geworden; man konnte nicht sagen: wie? Aber in dem Drange des Geschäftes fehlte selbst der treuen Mutter das Auge, diese Veränderung am Kinde wahrzunehmen. Und hatte sie ihn gestern nicht beleidigt?
Mit einem Male begann Rebb Schlome wieder darauf die Rede zu lenken.
»Ich möcht' nur wissen,« rief er heftig, gleichsam aus einem Selbstgespräche heraus, »warum sich keiner aus dem Dorfe blicken läßt. Es ist alles wie ausgestorben, und man könnt', Gott schütz' und bewahre uns, wirklich auf den Gedanken kommen –«
Er sprach die Vermutung nicht aus, aber Anschel war plötzlich aus seiner träumerischen Geschäftigkeit herausgerissen; er hielt inne . . .
»Du meinst,« rief er dann hastig, den Gedanken des Vaters ergänzend, »daß sie uns etwas zuleide haben antun wollen? Das laß dir ja nur nicht einfallen, Vater . . .,« setzte er fast beklommen hinzu.
»Das sagst du,« rief Rebb Schlome beinahe höhnisch, »und ich glaub's auch gern, daß sie uns nichts tun wollen. Wie sollt' dem Bauer so etwas einfallen? Vom Bürger in der Stadt da kann man so etwas sich erwarten; die Elle Tuch, die ich verkaufe, die verkauft er nicht, und darum könnt' er einen vergiften in einem Löffel Wasser. Aber der Bauer? Schad' ich ihm, wenn neben seinem Weizenfeld auch mein Feld Weizen trägt? Oder steh' ich ihm im Weg, oder mein Feld, daß weniger Sonnenschein oder weniger Regen auf seinen Acker fällt? Und doch möcht' ich wissen . . .«
»Was?« wagte Anschel leise zu fragen.
»Ob du recht gesehen und gehört hast? ob das Feuer, das sie gestern angezündet, uns zu Ehren war angezündet? Bauern sollt' so was einfallen? Freuen sollen sie sich noch, daß wir kommen? oder sollt' sich der Bauer so geändert haben? Denn ein Bauer ist und bleibt er doch immer, und wir Juden, leider Gotts, wenn's auch der Kaiser in Wien anbefehlen tut, bleiben doch ein gedrückt Volk.«
Es war offenbar in diesen weit ausgeholten Worten Rebb Schlomes, die in so sonderbarem Widerspruche mit seinem frühern Tun und Reden standen, etwas, was sie alle befremden mußte.
»Wo will er hinaus?« dachte Anschel.
Nachime sah ihren Mann von seitwärts mit einem fast stechenden Blicke an. Hatte sie gestern anders geredet, als er heute redete? Hatte sie nicht die nämlichen Beweisgründe gebraucht? Und wie war ihm das Feuer über den Kopf hinausgestiegen!
»Was hab' ich nur sagen wollen?« rief Rebb Schlome nach einer Weile sich besinnend. »Du hast also recht gesehen, und mit deinen eigenen Ohren hast du gehört, daß sie das Feuer für uns, uns zu Ehren haben angezündet?«
Anschel trug die Gewähr seiner Aussage in sich. Als er jetzt sprechen wollte, war eine so hohe Flammenröte an die Stelle der frühern Blässe in seinem Antlitze getreten, daß sie keinem entging. Nachime sah den Sohn angstvoll an; sie glaubte, sein empörtes, der Lüge beschuldigtes Ehrgefühl werde sich selbst gegen den Vater in schrecklicher Weise aussprechen. Da sagte Elieh, der Bocher, der bis dahin ganz teilnahmlos an dem, was um ihn vorging, seinen Bücherschatz aus der Kiste geräumt hatte:
»Ich war ja auch dabei, und hab's gesehen und gehört.«
Schon gestern hatte diese Bestätigung seiner Lüge aus dem Munde des Bochers Anschels Herz mit allen Schauern der Furcht überkommen. Fast noch mehr jagte sie ihm jetzt Entsetzen ein. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Bruder an. Warum log auch er?
»Still, still,« rief plötzlich Rebb Schlome. »Mir ist's als hör' ich einen vor dem Fenster draußen weinen. Ist das nicht . . .«
»Schmah Jisroel,« schrie Nachime, »das wird doch nicht unsere Tille sein?«
»Um Gottes willen schrei nur nicht so,« rief Rebb Schlome.
»Lebendiger Gott.« schrie dagegen Nachime mit gerungenen Händen, »sind denn deine Schrecken noch nicht aus?«
Mit einem raschen Griffe hatte sie das Fenster aufgerissen. Da saß der Vetter Koppel auf bloßer Erde und weinte bitterlich.
»Wo habt Ihr das Kind gelassen, Vetter? Augenblicklich werdet Ihr's eingestehen!« rief Rebb Schlome.
Der streng gebietende Klang, der aus diesem Befehle tönte, mußte die dämmernden Geister des Verständnisses gewaltig in dem Gehirne des alten Mannes getroffen haben.
»Weiß ich, wo sie ist hingegangen?« rief er mit kindisch unterdrücktem Schluchzen; »wie wir gekommen waren in den dicken Wald . . .«
Vetter Koppel konnte vor Weinen nicht fortfahren.
»Redet, redet, Vetter! und laßt von Eurer Narretei mit dem dicken Wald! es ist ja kein dicker Wald im Dorf,« schrie Nachime in der Angst ihres Herzens. Sie war zum ersten Male vielleicht im Leben ungerecht gegen den Seelenzustand des alten Vetters geworden.
»Wie wir waren in den dicken Wald gekommen,« versuchte der Vetter wieder zu sprechen, »da hab' ich zu Tille gesagt: Gehn wir nicht weiter, sie lauern auf uns dort. Aber hat denn das Kind folgen wollen? Und wie ich's gesagt, so ist's auch eingetroffen. Sie sind auf uns zugesprungen und haben sie fortgeführt, mitten in den dicken Wald hinein. Und auch meinen Mogen Dovid haben sie mitgenommen.«
»Wo habt Ihr ihn denn?« fragte Nachime fast verwirrt von dem Aberwitze, den sie doch sonst so gut zu beurteilen verstand.
»Fort, fort!« weinte der Vetter in kläglichen Tönen.
»Lebendiger Gott!« rief Nachime, »was wird dem Kind geschehen sein?! Möcht' er so reden, wenn ihm nichts zugestoßen wär'?!«
Indessen hatte Rebb Schlome das andere Fenster aufgerissen und seine Blicke nach rechts und links in die Gasse geschickt. Plötzlich rief er freudig:
»Da kommt sie ja! da kommt sie ja!«
»Wo, wo?« rief Nachime.
Da kam Tille wirklich die Gasse herauf; aus der Ferne schimmerten die hellen Farben ihres Feiertagskleides. Sie schien mehr zu laufen, als zu gehen; hinter ihr erblickte man einen Haufen Bauern, die ihr das Geleite zu geben schienen.
Vor Nachimes Augen schwirrte es auf und nieder; eine schwarze Wolke war davorgetreten, daß sie nichts mehr wahrnehmen konnte. Mit dem kreischenden Rufe: »Lebendiger Gott, was ist das? sie führen sie ja ein?« war sie vom Fenster zurückgetreten, die Hände krampfhaft vor das Antlitz gepreßt.
Selbst Rebb Schlome und die zwei Brüder, die sich weit zum Fenster hinausgebogen, waren im ersten Augenblicke von dem sonderbaren Aufzuge, in dem Tille erschien, stark betroffen. Doch Anschel, dessen scharfes Auge das Ganze gleich überschaut hatte, rief:
»Vom Einführen ist keine Rede! Sie lacht ja!«
»Lacht sie?« fragte Nachime, die nicht aufzusehen wagte, mit schwacher Stimme.
In lautloser Erwartung harrten sie nun, was der nächste Augenblick bringen sollte. Anschel hatte recht erkannt; die Bauern, in deren Mitte Tille einherschritt, waren eine Art »Deputation«, die sich zu ihnen verfügte, wahrscheinlich, um über ihr gestriges Tun und Treiben Rechenschaft abzulegen. Ihm war es, als rücke etwas ungekannt Furchtbares mit tausend Schrecken heran; jede Ader in ihm stand auf der Lauer. Rebb Schlome ging mit starken Schritten in der Stube auf und nieder.
»Daß mir jetzt keiner,« rief er mit Nachdruck, »ein furchtsam und erschrocken Gesicht zeigt den Bauern. Wie man ihnen das weist, sind wir alle verloren. Sie sollen sehen, daß wir uns nicht fürchten. Und wovor auch? Haus und Feld und Hof, die sind mein, da soll sich einer unterstehen und mich von da forttreiben.«
Da ertönte draußen Tilles frische Stimme.
»Nun, Vetter Koppel, ist mir in deinem dicken Wald was geschehen? Da hast du mich wieder ganz und auch deinen Mogen Dovid bringe ich dir wieder; es ist nicht das kleinste Stückel davon weggekommen.«
Gleich darauf wurde die Stubentüre aufgerissen, das Kind flog herein; aber hinter ihr schritten eine Anzahl Bauern, so daß sie fast nicht alle Platz hatten in der Stube und einige im Hausgange sich aufstellten.
Vor allen andern ragte ein großer Mann mit harten, fast geschmiedeten Gesichtszügen hervor; er war der erste in die Stube getreten. Wie erschrak Nachime wieder, als grade dieser Mann auf sie zuschritt, sie zuerst bei der Hand ergriff und heftig schüttelte.
»Erst der da,« sagte er mit weithintönender Stimme, »denn aufs Weib kommt alles an, und dann erst dir, Herr Schlome.«
Die Männer schüttelten sich die Hände. Dann nahm der Bauer den breitkrempigen Hut vom Haupte, und hatte schon sein Eintritt alle mit einem gewissen Schauer erfüllt, so blickten sie jetzt mit Ehrfurcht und Staunen auf sein freies, fast mächtiges Löwenantlitz. Es war eines von jenen, wie sie aus ungeschwächter Kraftzeit fast dräuend und zürnend in unsre Tage schauen.
»Und nun,« rief er, indem er seinen Blick über die ganze Stube schweifen ließ, »bewillkommne ich euch im Namen Jesus Christus, unsers Herrn; Gesundheit und Glück in unserm Dorfe mag euch kommen, so viel ihr nur wollt. Wir Bauern wissen, um was man alles den Herrgott bitten muß! Und das mag er euch alles geben, dir und deinem Weib und deinen Kindern.«
»Das wünschen wir alle,« ertönte es ringsum aus dem Kreise der mitgekommenen Bauern.
Es trat darauf eine Stille in der Stube ein, fast als ob sie eine Kirche wäre. Die sonderbare Ansprache, der Ernst, der aus dem ganzen Wesen des Bauers sprach, hatte eine an Andacht grenzende Stimmung über die Herzen unsrer Familie gebracht. Selbst die Anrufung eines Namens, den sie sonst nur als feindliches Losungswort sich entgegengerufen hörten, ging in ihnen verloren und hatte für sie in diesem Augenblick nichts Verletzendes. So tief bewegt war Rebb Schlome, der sonst so starke Mann, von der Anrede, daß er selbst das kleinste Wort einer Gegenrede nicht fand. Tränen strömten ihm über die Wangen, aber er versuchte nicht sie abzuwischen. Er vermochte nur, wie dankend, seine Hand gegen den Sprecher auszustrecken. »Auf gute und lustige Nachbarschaft,« rief dieser kräftig und schlug herzhaft ein.
Was in Nachime vorging in diesem Augenblicke, wer vermöchte das zu sagen? Es war Freude und Weh, Lust und Entsetzen, was durch ihr Gemüt wie ein Wildbach rauschte. Dennoch war das Gefühl der Furcht in ihr das vorherrschende. Hätte sie sprechen und handeln können, sie hätte die Hand, die ihr Mann so herzhaft zum Gegengruße hingab, zurückgerissen, sie hätte geschrien: Rühre sie nicht an. Der Segen, den der Bauer über ihr Haus sprach, hatte sie gerührt, aber wer spricht ihn? fiel es ihr sogleich ein. Haben wir den gestrigen Tag so leicht vergessen?
Als Rebb Schlome sich wieder gefaßt hatte, standen ihm auch die Worte zu Gebote: »Sie sollten sich nicht wundern,« sagte er, »wenn er sich ihnen heute so zeige, den Männern. Aber sie wüßten es nicht, wie es einem auf die Seele falle, wenn man nicht gewiß sei, ob man ihn gern aufnehmen wolle oder nicht. Noch gestern abend bei ihrer Ankunft hätten sie einen Schreck gehabt, sie würden daran denken all ihr lebelang; sie hätten nicht anders geglaubt, als daß das ganze Dorf eine Flamme sei und mitten darin stehe ihr Haus und alle hätten sich verschworen gegen sie. Da sei ihnen der schreckliche Gedanke gekommen: mit der neuen Freiheit, die der Kaiser in Wien gegeben, hätte auch ihr neues Unglück begonnen; bereut hätten sie es im tiefsten Herzen, daß sie ihren Geburtsort verlassen, dort wäre es ihnen doch sicher ergangen, aber hier, – hätten sie nicht anders geglaubt, als man wolle ihr Leben! Und das bißchen Leben sei doch alles, was ein Mensch dem andern nicht mißgönnen solle; man brächte ja sonst nichts in die Welt, ob man nun Christ sei oder ein Jud'.«
Als Rebb Schlome mit diesen Worten sich erleichtert hatte, überkam ihn eine sonderbare Empfindung; er war sich bewußt, daß er sie nicht hätte sprechen sollen, daß sie unschicklich gewählt für Zeit und Leute waren. Sie waren ihm auf die Zunge gekommen, er wußte nicht wie. Aber, wenn ihn einer in diesem Augenblicke gefragt hätte, ob er sie zurücknähme, er hätte es wahrscheinlich mit großer Entschiedenheit verneint. Wunderbar war jedoch der Eindruck. den sie auf Nachime hervorbrachten. Sie drückten sie nicht nieder, sie jagten ihr kein Entsetzen ein. Erhoben fühlte sie sich von ihnen; hatte doch ihr Mann »ihnen« herausgesagt, wozu sie selbst nicht den Mut gehabt hätte. Darum fiel auch aus ihren von Tränen umschleierten Augen ein Blick auf diesen »Mann«, – wie er schon lange nicht aus ihn gefallen war.
»Und das habt ihr euch von uns vorstellen können,« rief nach einer Weile, als Rebb Schlome geendet, der Bauer, und Nachime, die den Eindruck der Rede auf seinem Gesichte ängstlich studierte, bemerkte mit Entsetzen, daß die Stirnader in seinem mächtigen Antlitze anschwoll und der Stecken in seiner Hand heftig zitterte.
»Ja,« sagte Rebb Schlome furchtlos.
»Und du auch, Frau?« wandte sich der Bauer plötzlich zu Nachime, aber seine Stimme war dabei mild, ja weich geworden, wie man es seinem tönenden Organe gar nicht zugetraut.
»Ja, ich auch,« brachte Nachime, erbebend in ihrem tiefsten Wesen, hervor.
Der Bauer schlug den Stock mit schrecklicher Gewalt zu Boden; er schüttelte das Haupt; es glich dem eines gereizten Löwen in diesem Augenblicke.
»Sakrament und Gottes Donner drein,« rief er zornig, »hören denn diese verfluchten Sachen noch nicht auf, daß sich ein Mensch fürchtet vor dem andern? Hat uns der Kaiser in Wien deshalb die Freiheit gegeben, daß sich die Menschen voreinander verstecken müssen, wie vor Räubern und Mördern? Warum fürchten? weil du ein Haus unter uns gekauft hast? und einige ›Strich‹ Feld? Ist dadurch einer ärmer im Dorfe geworden?«
»Ich selbst habe den Schuß abgefeuert auf der Straße,« rief eine Stimme auf dem Kreise der Bauern.
»Und von mir,« rief eine andere Stimme, »von mir, Jan Slawik, ist das Lied gemacht worden.«
»Und wir alle waren beim Feuer, wir habend angezündet, wir haben jeder das Unsrige dazu getan,« ertönte es in wirr durcheinander klingenden Ausrufen.
»Glaubst du's nun, Frau?« wandte sich der Bauer wieder zu Nachime, fast als wollte er nur vor ihr und vor keinem andern gerechtfertigt erscheinen, »und fürchtest du dich noch immer? Sei keine Närrin, Frau,« setzte er hinzu, »ich, der Richter dieses Dorfes, sage es dir: Fürchte dich nicht, es wird dir nichts geschehen.«
Nachime mußte lächeln, als sie sich dieses kräftigen Schutzes so versichert hörte. Aber warum durchzitterte ein leises Beben Anschels ganzes Wesen, als er aus dem Munde des Bauers dessen Würde im Dorfe vernahm? Und warum blieb selbst das Auge des Bochers, der bis dahin fast teilnahmlos dem ganzen Vorgange beigewohnt, von nun an wie forschend auf dem mächtigen Antlitz des Bauers haften?
»Und glaubst du denn,« fuhr er fort, stets an Nachime seine Rede richtend, »wir Bauern wissen nicht, was Kinder sind, und was das heißt, sie haben? Ich hab' auch einen Sohn und eine Tochter.«
Plötzlich sein Auge auf Tille richtend, die neben der Mutter stand, rief er:
»Wie heißt denn da Euer Kind, Frau?«
»Tille,« antwortete Nachime lächelnd.
»Das ist kein Name, der im Kalender steht, der paßt nicht für uns Leute im Dorf. Wir wollen sie ›Terezka‹ heißen. Ist's Euch so recht?«
»Nein, nein,« rief Nachime fast ängstlich und faßte dabei ihr Kind an der Hand. »Laßt ihr lieber ihren alten Namen . . . den sind wir alle gewöhnt.«
»Wirst du's denn verbieten können, Frau?« lachte der Bauer hell auf, »wenn sie in einigen Jahren sich selbst nach einem andern Namen wird umsehen? Da stehen hinter mir ein paar Jungen, die können ihr einmal etwas zu schaffen geben.«
Ein allgemeines Gelächter schloß sich diesem derben Witze an. Aber es klang an Nachimes Ohren, die den Sinn dieses bäuerlichen Scherzes nur zu gut sich zu deuten verstand, wie ein Hohngelächter. Erst war sie in fast mädchenhafter Scheu errötet, dann schnell erblaßt, während Tille selbst unbefangen mit ihren großen Augen vor sich hinsah.
»Laßt das gut sein, Herr Richter,« entgegnete sie, ihre Stimme anstrengend . . . »die Eltern dieses Kindes werden schon dafür sorgen, daß . . . es seinen ehrlichen Namen nicht ablegt.«
Der Richter schien diese mütterliche Bemerkung weiter nicht beachten zu wollen.
»Jetzt, Männer,« gebot er mit lauter Stimme, indem er sich breit und gewaltig in die Mitte der Stube stellte, »jetzt, Männer, gehen wir. Jetzt kein Wort mehr gesprochen. Die da verstehen uns schon, und was sie nicht verstehen, das wird ihnen schon einfallen über Jahr und Tag.«
Tumultuarisch trennte sich die auf so eigentümliche Weise ins Haus gekommene Versammlung. Es war Nachime wohl, als der Bauer aus ihrer Nähe rückte. Sie dankte Gott in ihrem Herzen, daß der ganze Vorgang ein Ende hatte: sie war müde und zerschlagen, fast zum Umfallen.
Der Richter war der letzte der Hinausschreitenden. An der Türe wandte er sich mit einem Male um und kam mit langsamen Schritten wieder auf Rebb Schlome zu.
»Wie heißt das Ding da?« fragte er mit beinahe schämigem Gesicht, indem er auf den auf dem Tische liegenden »Mogen Dovid« des Vetter Koppel hinwies. »Vorhin, wie wir Euer Kind im Dorfe getroffen haben, da hat's der alte Mann unter dem Arme getragen. Ich hab's sehen wollen, da ist er auf und davon, als hätt' ihm einer was Böses antun wollen.«
»Das kann ich Euch nicht sagen, Herr Richter,« entgegnete Rebb Schlome ganz verwundert, »wir brauchen's zu unserm Gebet.«
»Zum Gebet,« sprach der Bauer leise vor sich hin; sie bemerkten aber gleich darauf, wie ein geheimnisvolles Lächeln um seine Lippen spielte. Nach einer Weile, während er das Bild mit großer Aufmerksamkeit betrachtet, sagte er wieder:
»Was geb' ich Euch für das Bild da?«
Für Rebb Schlome hatte der Gedanke, daß der »Mogen Dovid« seines alten Vetters bestimmt sei, in der Stube eines Bauern zu glänzen, etwas so Lustiges, daß er darüber hell auflachte.
»Meinet Ihr denn, Herr Richter,« rief er lachend, »daß darauf die heiligen drei Könige: Christoph, Melchior und Balthasar stehen?«
»Und meinst du, ich kann nicht lesen?« rief dagegen mit beinahe finsterm Ernst der Bauer.
»Aber um Gottes willen,« lachte Rebb Schlome, »es steht ja nichts als ein einziges Wort darauf, und das ist hebräisch.«
»Gerade darum!« sagte der Bauer mit großer Bestimmtheit, »und es steht noch etwas andres darauf.«
Der Richter hatte wieder das geheimnisvolle Lächeln um die Lippen.
»Ich seh' nichts darauf,« murmelte Rebb Schlome, »als den ›Mogen Dovid‹ und die zwei Löwen Judas. Oder sollt' der Bauer etwas ganz Besonderes daran gefunden haben, was uns allen bis jetzt entgangen ist?«
Rebb Schlome nahm das teure Erbstück seines Vetters prüfend in die Hand, vielleicht zum ersten Male überhaupt in seinem Leben, und unterwarf es einer sorgfältigen Beachtung.
»Es ist nichts als der ›Mogen Dovid‹ meines Vetters Koppel,« sprach er halb lachend vor sich hin.
»Nun, Herr Schlome,« sagte nach einer Weile der Bauer, der fast ängstlich den Bewegungen Rebb Schlomes gefolgt war, »gebt Ihr mir's ab oder nicht?«
»Für Geld ist's mir nicht feil,« entgegnete darauf Rebb Schlome lustig, »aber für ein gutes Wort.«
»So laßt Ihr mir's also ab?« rief der Richter mit unverhehlter Freude.
»Der Kauf ist abgeschlossen,« lachte Rebb Schlome und schlug herzhaft in die ihm vom Richter hingestreckte Hand.
Der Bauer hatte mit einiger Hast nach dem Bilde gegriffen. Da begegnete er dem Blicke des Kindes, das angstvoll seinem Vater die Worte zuflüsterte:
»Was wird aber der Vetter Koppel sagen, wenn du's weggibst?«
»Der kann sich einen andern machen,« rief Rebb Schlome ungeduldig. »Und siehst du denn nicht,« sagte er zum Kinde, doch nur ihm verständlich, »daß dem Bauer viel daran gelegen ist? Man kann nicht wissen, wie man ihn einmal braucht. Laß ihm also die Narretei.«
»Bleibt's dabei?« fragte der Richter, der aus den flüsternd gesprochenen Worten auf eine ungünstige Wendung seines Geschäftes schließen mochte. Aber die geschlossene Faust lag wie zu Schutz und Abwehr auf dem Mogen Dovid.
»Es bleibt dabei,« sagte Rebb Schlome bestimmt.
Als der Bauer mit seinem Schatze, wie es schien, strahlend vom Glücke eines guten Kaufes sich entfernt hatte, war unter ihnen eine schwüle, drückende Stille zurückgeblieben. Hatte sie die sonderbare Bewillkommnung der Bauern so ermüdet? Oder war ihnen trotz aller Versicherungen nicht klar geworden, daß sie eine ungefährdete Stätte gefunden? Nur das »Kind« hatte den Mut, kleinlaut auszurufen:
»Gott! Was wird der Vetter Koppel sagen, daß man seinen ›Mogen Dovid‹ weggegeben hat!«
»Mit der Narretei mach mir den Kopf nicht warm!« schrie Rebb Schlome dagegen, »was mir an den Mucken des Vetter Koppel nicht aufliegt!«
In diesem Augenblicke trat der beraubte Parteigänger des Königssohnes Absalom in die Stube. Er schien es nicht zu wissen oder hatte es bereits vergessen, daß mit seinem Gute so gewalttätig verfügt worden war. Still, ohne Tränen, setzte er sich in einen Winkel. Vollständige Nacht der Seele schien über dieses Leben gesunken.
Mit Tränen in den Augen, leise, als ob jeder Laut imstande wäre, die entschlummerten Geister des Schmerzes in ihm zu wecken, rief das Kind:
»Jetzt haben wir keinen ›Misrach‹ mehr im Haus!«
»Leider Gott's!« klang es unhörbar als Bestätigung von Nachimes Lippen zurück.
In der Tat waren die Löwen Judas, war der Schild Davids, das Zeichen, wohin sich das Gebet, als nach Jerusalems Stätte richtet, aus dem neuen Hause Rebb Schlomes hinweggegangen!