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Schon eine Stunde vor Tag stand Anschel am andern Morgen auf; Sorge und Hoffnung hatten abwechselnd sich seiner bemächtigt, und war die eine zu ihm hinangetreten mit dem Lächeln der Mutter, so säumte die andere nicht, ihn an ihre Tränen zu gemahnen, die verzweifelnden Worte ihres Grames ins Gedächtnis zurückzurufen. Auch daß es des Richters Tochter sei, der es vielleicht zu verdanken war, wenn die Mutter aufs Feld ging, war ein Gedanke, der immer und immer wieder kam . . . Wie war es »ihr« eingefallen, Tilles Haupt zu schmücken? Was war vorhergegangen? Anschel hatte jenes neue Leben, wie es sich vom Tage der Ankunft an so geheimnisvoll in ihm entfaltet hatte, bisher vor sich selbst verschleiert; nur von Zeit zu Zeit flogen, wie von einem verdeckten Brande, glimmende Kohlen herum; sein Gesicht, seine Seele brannten dann in hellen Flammen, aber sie erloschen, sobald Gedanken dazwischen traten, die fern ab liegen mußten vom Hause des Richters, nämlich seine eigene Familie.
Die Mutter sollte heute also aufs Feld hinauskommen! Es war ihm, als habe er das in der Nacht geträumt, er glaubte es sich selbst nicht. Sonderbar! Heute umstand ihn öde Hoffnungslosigkeit, wohin er seinen Fuß lenkte. »Und wenn die Mutter nun auf dem Felde gewesen war,« raunten die bösen Stimmen, »was dann? Geht sie doch nur hin, weil sie sich nicht länger von dir mit Bitten quälen lassen will! oder weil ihr Tilles Blumen noch im Kopfe sind! Weiß ich's, warum sie eigentlich geht? Auf der einen Seite tut sie alles, was wir nur wünschen können, aber mit welchem Gemüt geht sie aufs Feld? Ein Feld ist kein Verkaufsgewölb', wo in dem einen Fach die Ware und in dem andern jene Ware aufgehoben liegt, wo alles glänzt und flittert von Bändern und Seidenstoff. Wenn sie nichts als grüne Halme sehen wird, und dazwischen blaue und rote Blumen, wird sie vielleicht fragen: ›Ist das alles, was ihr mir zeigen könnt und was ihr habt?‹ Was kann man ihr darauf antworten? ›Du irrst dich, du bist nicht in einem Gewölb', du bist auf einem Feld, unter Gottes freiem Himmel?‹ Wird man ihr so etwas sagen dürfen, ohne daß man sie aufbringt?«
In dieses wirre Gedankenleben, das die Nacht hindurch bis an den frühen Morgen dauerte, trat mit einem Male ein einziger lebender Gedanke. Plötzlich lag alles entwirrt vor Anschels Dichten und Trachten. Aus Furcht, daß der Mutter das Feld, »wie es geht und steht«, doch nicht genügen könnte, verfiel Anschel darauf, wie man der Mutter eine besondere Freude bereiten konnte. Wojtech sollte die »Britschka« herrichten, die sie erst vor zwei Wochen aus dem Nachlasse des Pfarrers gekauft, die Pferde wollte er selber striegeln und rüsten, daß sie glänzten, wie lauter Gold, daneben wollte er ihnen Schellen anhängen, daß das lustige Klingeln weithin ertöne; auch rote und blaue Bänder sollten von den Köpfen der Tiere flattern, als wenn man zu einer Hochzeit führe. Dann wollte er die Mutter einladen, das also bereitete Fuhrwerk zu besteigen; sie mußte sich dann neben den Vater setzen, Tille und Elieh mußten ebenfalls in den Wagen hinein, er aber selbst ergriff dann die Peitsche und jagte zum Hoftor hinaus, die Gasse des Dorfes hinab. Schellenklingeln, Bänderflattern und Peitschenknall kündigten dann dem Dorfe an, daß die »Judenbäuerin« auf das Feld fahre, von ihrer ganzen Familie begleitet, von ihrem eigenen Sohne geführt!
Das war der Gedanke, der mit aller Lebendigkeit sich Anschels bemächtigt hatte, der ihn vor Tagesanbruch aus dem Bette getrieben. Er wollte sogleich daran; noch ehe der lärmende Tag angebrochen, sollte ein Teil des Werkes vollendet sein. Allen sollte die Überraschung gelten. Aber Wojtech mußte ihm dabei helfen, sonst fürchtete er, nicht fertig zu werden. Voll dieses Gedankens ging er auf Wojtechs Stube los, die neben dem Stalle lag. Als er in den Hof trat, sah er die Stalltüren weit geöffnet, und heraus drang der kräftige Gesang des Knechtes, in welchem Anschel sogleich das Spottlied, das sie in der schrecklichen Nacht ihrer Ankunft begrüßt hatte, erkannte. Wojtech sang:
»Jüdlein schrieb uns einen Brief, Drinnen steht geschrieben: Wohnen möcht' ich jetzt bei euch, Denn ich bin durchtrieben. Wies' und Äcker, die sind nun mein, Möcht' ein Bauer werden! Denn keiner hat es besser jetzt Wie ein Jud auf Erden.« |
Wojtech hatte offenbar an der Urform der Spottmelodie eine wesentliche Veränderung angebracht, die Anschel in diesem Augenblicke keineswegs entging. Sie fiel wie ein eiskalter Tropfen auf sein von den schönsten Plänen pochendes Herz. Er blieb stehen und horchte. Wojtech mochte sein Nahen nicht bemerkt haben; denn er wiederholte das Lied noch einmal, und wie es schien, das zweitemal mit größerer Selbstzufriedenheit, denn er lachte sich zu guter Letzt noch selbst Beifall zu.
Anschel ging jetzt rasch auf den Knecht los. Wojtech putzte beim Scheine einer trüben Stallaterne eines der Pferde; als er Anschels ansichtig ward, hielt er plötzlich in seinem Gesange inne, den er zum dritten Male begonnen hatte.
»Warum singst du nicht weiter, Wojtech?« fragte Anschel mit anscheinend ruhiger Stimme, »es ist ein so schönes Lied, man kann es gar nicht genug hören.«
»Nicht wahr?« meinte der Knecht, jedoch ohne allen Hohn, »man muß aber das Lied so können, bis es jeder Knopf am Rock auswendig pfeifen kann.«
»Und warum singst du es gerade jetzt?« fragte Anschel nach einer ziemlich geraumen Pause, während welcher er überlegte, ob er sich mit dem Knechte »herstellen« solle oder nicht? »In aller Frühe so etwas Schönes zu singen, das muß einem ja im Magen liegen für den ganzen Tag,« setzte er dann mit einem erzwungenen Lächeln hinzu.
»Das verstehst du nicht,« sagte Wojtech mit einem schlauen Seitenblick auf Anschel, während er sich durchaus nicht in seiner Arbeit stören ließ, »das verstehst du nicht, mein junger Herr. So ein Lied ist besser, als ein guter Trunk Bier, oder als die schönste Musik. Ich heb' mir's also auch immer für den Morgen auf.«
Es darf nicht befremden, daß Anschel auf diese und ähnliche Reden des Knechtes kein Wort des Widerspruchs und des Ärgers fand. Wojtechs rätselhafte Natur war für Anschel schon lange nicht mehr ein Gegenstand des Nachdenkens, er nahm sie hin, wie sie sich gab. Bei all seiner wilden Feindseligkeit, aus der der Knecht kein Geheimnis machte, erriet Anschel dennoch ein Wesen von Treue in ihm, die sich gerade für ihn so fruchtbar erwiesen hatte. Noch ein Zweites trat hinzu: Anschel empfand etwas wie Ehrfurcht vor dem rauhen und mürrischen Knecht; es war etwas von dem Grauen eines Schülers vor einem strengen Lehrer darin. Vielleicht schon darum schwieg Anschel.
»Warum bist du schon so früh an den Pferden?« fragte Anschel rasch, um das unliebsame Gespräch so bald als möglich abzuschneiden.
»Weißt ja,« sagte Wojtech, »daß ich nach Brandeis muß, um die Bretter abzuholen. Wenn auch die Leute wissen, daß die Pferde dem Juden gehören, das sollen sie doch nicht sagen, daß Wojtech, sein Knecht, ein liederlicher und nachlässiger Knecht ist. Die Pferde müssen immer wie das Sonnlein am Himmel funkeln.«
»Für heute wirst du wohl die Bretter noch in Brandeis lassen müssen,« meinte Anschel, »die Pferde haben heute etwas anderes zu tun.«
»Wieso?« fragte Wojtech, und richtete sich in seiner ganzen Stärke vor Anschel auf.
Nun erzählte Anschel sein Vorhaben, wie die Mutter heute zum ersten Male aufs Feld hinaus wolle; das sei für sie alle ein Freudentag, er könne nicht wissen, wie viel davon abhänge. Darum hätten sie sich vorgenommen, die Mutter mit etwas, worauf sie nicht vorbereitet sei, zu überraschen. Überhaupt sei das die beste Mutter von der Welt, sie habe ihnen gerade jetzt einen Gefallen getan, wofür sie ihr nicht genug zu danken wüßten. Deswegen sei er auch so frühe aufgestanden, Wojtech möge ihm helfen und raten.
Wie in stummer Verwunderung hatte der Knecht die lange Auseinandersetzung Anschels angehört; als dieser jetzt geendigt, meinte er mit einer häßlichen Grimasse, die sein Antlitz in zwei ungleiche Teile zerschnitt:
»Da kannst du warten bis morgen, und ihr alle dazu.«
Anschel hatte die Grimasse nicht verstanden; er meinte wirklich, Wojtech wolle die Fahrt aufs Feld verschieben, weil die Bretter von Brandeis schon lange zum Abholen bereit lagen.
»Bis morgen können wir nicht warten,« sagte er herzlich, »die Mutter will heute aufs Feld.«
»Sakrament!« rief der Knecht, und der Fluch rollte wie ein Gewitter über seine Lippen. »Was muß die Jüdin in einem Wagen und wie eine Prinzessin aufs Feld fahren? Kann sie nicht so gut wie die andern zu Fuß gehen?«
Im ersten Augenblicke blieb Anschel vor diesem grauenhaften Ausbruche des Knechtes wie erstarrt; dann rief er mit vor Zorn bebender Stimme:
»Wojtech, das war dein letztes Wort! Solch ein Knecht soll in die Hölle gehen!«
»Glaubst du,« lachte Wojtech höhnisch, »ich werd' mich fortschicken lassen wie ein Hund, der nicht beißen kann . . . wie ein Hund, dem man einen Fußtritt gibt? Ich muß hier bleiben in dem Hause, und wenn alle Juden von der Welt kommen und Stricke an mich legen, und mich fortreißen wollen, ich geh' nicht und bleib' euch allen zum Trotz.«
»Wenn du also bleiben willst,« sagte Anschel, noch immer bebend vor Aufregung, »warum beleidigst du deinen Dienstgeber und Leute, die dir doch nichts zuleide getan haben? Und meine Mutter, die du beschimpfst, was hat sie dir getan?«
Die Erinnerung an die Mutter hatte Anschels Worten, namentlich den zuletzt gesprochenen, einen Ausdruck von Weichheit gegeben, die ihn nicht wie den Beleidigten und Erzürnten, sondern fast als Bittenden erscheinen ließen. Wojtech mochte das auch empfinden, es schien, als wenn er sich schäme; denn er wandte sich von Anschel ab und sprach, indem er sich mit dem Pferde beschäftigte:
»Wer spricht denn von deiner Mutter, Narr? Deine Mutter ist ein braves Weib und ist die beste Jüdin, die ich in der Welt noch angetroffen habe. Ich hab' manche darunter gekannt, mehr als du vielleicht glaubst, du junger Herr. Waren alle vom Hochmutsteufel besessen, haben immer Prinzessinnen sein wollen und waren doch bloße Jüdinnen. Sakrament! wenn ich daran denk', was die eine davon mir angetan hat, so möcht' ich, daß man alle Juden auf der ganzen Erde an die Elbe führt, da wo sie am tiefsten ist – –«
»Wojtech, Wojtech,« schrie Anschel entsetzt, »das möchtest du tun?«
Dem sonderbaren Knechte schien es aber mit dieser Drohung nicht Ernst; lachend rief er nach einer Weile:
»Ja, das möcht' ich einmal erleben! . . . Wenn man an einem Morgen hinauskäme auf die Gasse und die Leute sagen möchten: Heute in der Nachtstunde sind alle Juden auf der Welt auf und davon gegangen und keiner ist zurückgeblieben! . . . Hei, wie möcht' ich da die Augen aufreißen!«
»Wenn wir alle tot wären, ich und mein Vater und meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder,« meinte Anschel darauf ruhiger, als sich erwarten ließ, »wen möchtest du denn hernach hassen? Auf wen möchtest du denn dein schönes Spottlied singen? Wojtech, denke nach!«
Auf den sonderbaren Knecht schien diese Einwendung wie ein Keulenschlag auf den Kopf gewirkt zu haben; tief betroffen starrte er »den jungen Herrn« aus einen braunen Augen an; dann fuhr er seufzend mit der Hand über das Gesicht und sagte:
»Der hochwürdige Herr, der dürfte nicht gestorben sein! . . . Ehe der stirbt, muß erst viel vorgehen. Der kann gar nicht sterben. Davon sprich mir nichts, daß der auch sterben könnte! . . . Ich habe ja noch gar nicht mit ihm geredet. Oder glaubst du wirklich, der hochwürdige Herr könnt' nicht mehr gesund werden . . ., daß er noch krank ist?«
Diese Frage und noch mehr der gänzlich veränderte Ausdruck im Angesichte des Knechtes erschütterten Anschel dermaßen, daß er alles vergaß, was ihm Wojtech den Augenblick zuvor an Leid und Herzenskränkung angetan. Er hörte nur die Stimme des bittend Fragenden und sah nur die bekümmerte Miene eines Tiefbetrübten.
»Du meinst meinen Bruder, Wojtech,« sagte er mit dem Tone des Mitleids, »um den sei aber nicht besorgt. Der wird erst jetzt recht gesund werden. Verlaß dich darauf!«
»Hat's der Brandeiser Doktor versprochen?« fragte der Knecht.
»Der gerade nicht,« sagte Anschel darauf, »aber die Doktors verstehen sich auf meinen Bruder nicht; der ist vom Lernen krank geworden, nun aber wird ihn das Feld gesund machen.«
Dem Knechte schien diese in so weite Ferne hinausgerückte Hoffnung wenig tröstlich; traurig meinte er darauf:
»Ich seh' schon, ihr alle wollt nicht sagen, wie krank er ist, der arme, hochwürdige Herr! und ich – ich habe noch nicht mit ihm geredet.«
Dann, als ob dieser Gedanke seiner ganzen Stimmung mit einem Male selbst die leiseste Spur der früheren Gereiztheit genommen hätte, sagte er demütig, wie jemand, der gewohnt ist, Befehle zu hören:
»Herrchen, das mit dem Fahren aufs Feld, geht ja heute gar nicht. Hast du vergessen, daß heute ein heiliger Tag für dich ist, an dem du nicht fahren und nicht reiten darfst? Es ist ja Sabbat.«
Anschel überlief es siedend heiß. Wojtech hatte recht; es war ja heute Sabbat. Das hatte er im Taumel der Empfindungen, die ihn seit dem gestrigen Abend auf und nieder bewegten, vergessen. Der »heilige Tag« wäre so bald entweiht worden! Dann kam eine Hoffnungslosigkeit über ihn, eine plötzliche Öde, ein Gefühl, als sei alles untergegangen; nichts sei mehr übrig von dem, was er aufgebaut; zerschlagen und verwittert lag alles rings um ihn. Daß er die Mutter nicht in dem Aufzuge aufs Feld fahren konnte, wie er ihn geträumt, schien ihm in diesem Augenblicke von so übler Vorbedeutung, daß er alles aufgab, was sich Hoffnungsreiches an diese Fahrt geknüpft hatte.
Der Knecht mochte bemerkt haben, daß in dem Gemüte des »Herrchens« eine verhängnisvolle Wandlung vorgegangen war. Anschels bleich gewordenes Antlitz trug zu deutlich die Spuren davon.
»Ich weiß, es verdrießt dich, junges Herrchen,« sagte er mit demütig weichem Tone, »daß du heute nicht fahren kannst. Aber was willst du tun, wenn heute euer Sabbat ist? So ein heiliger Tag! und du möchtest tun, was du nicht tun darfst? Aber frag' doch den hochwürdigen Herrn, deinen Bruder, der wird dir schon einen Rat geben. Was der dir sagt, das tu! denn der hochwürdige Herr versteht sich gewiß auf alles.«
Anschel schüttelte traurig den Kopf.
»Das geht nicht, Wojtech,« sagte er, »das geht nicht. Ich kann nicht um Rat fragen.«
Ohne ein anderes Wort ferner an den Knecht zu richten, ging Anschel fort. Gesenkten Hauptes, mit langsamen Schritten ging er über den Hof in das Haus zurück. Wojtech sah ihm nach, er ahnte nicht, welch ein beschwertes Gemüt ihn soeben verlassen hatte!
Im Hause waltete indessen noch immer die Morgenstille des Sabbats, denn, wo er hintritt, drückt er dem Leben sein Siegel auf. Wojtech und Anschel waren die einzigen, die wachend umhergingen; die andern benutzten die Regungslosigkeit des Ruhetages und schliefen in den hellen Morgen hinein. Mit einem Gefühle düsterer Ergebung harrte nun Anschel dem vollen Erwachen dieses Morgens entgegen, er war überzeugt, er konnte ihm nichts Gutes bringen.
Merkwürdigerweise war heute Nachime die letzte, die sich der Ruhe entwand. Rebb Schlome und Elieh standen schon im Morgengebet, als Nachime mit einem Male aus der Schlafkammer trat. Wie Anschel ihrer ansichtig ward, überkam ihn ein tiefer Schreck; er hatte das Gefühl eines Schuldners, der plötzlich den harten Gläubiger vor sich sieht, dem er das Versprochene nicht leisten kann.
Aber die Gesichtszüge der Mutter beruhigten ihn sogleich; es schien, sie hatte einen Schlaf getan, der sie erquickt hatte. Eine leise, unmerkliche Röte war über die Wangen gehaucht, sie sah jünger und frischer aus als sonst.
Dennoch wagte Anschel nicht, sie anzureden; zu viel der Enttäuschung lag zwischen gestern und heute. Da sah er, daß ihm Nachime hinter dem Rücken des Vaters und Eliehs, die beide gerade gegen den Osten der Stube gewendet, das »Schmona-Esre« Gebet beteten, mit dem Finger winkte, ihr zur Stube hinaus zu folgen. Pochenden Herzens folgte Anschel diesem Winke.
Nachime erwartete ihren Sohn wieder beim Hoftor, wo gestern so Bedeutendes vor sich gegangen war. In demselben Augenblicke fuhr Wojtech hinaus. Als er Nachime sah, rief er ihr vom Wagen herunter:
»Freu' dich heute, Frau, dein Sabbat ist schön.«
Noch ehe Nachime um die Bedeutung dieses rätselhaften Grußes fragen konnte, war der Knecht ihren Augen entschwunden.
»Was ist das,« fragte sie den nachgekommenen Anschel, »weiß er denn etwas?«
»Verzeih, Mutter . . . .« stammelte Anschel betroffen, »ich hab' ihm etwas sagen müssen.«
»Was liegt daran?« meinte Nachime lächelnd, »die Welt soll's wissen, daß ich aufs Feld geh'. Werd' ich mich vielleicht vor den Bauern schämen?«
»Mutter,« rief Anschel . . . ., »jetzt erst glaub' ich's recht, daß du dein Wort hältst.«
»Mir hast du's also nicht geglaubt, Anschel?« sagte Nachime.
»Nein, Mutter,« rief Anschel, indem er wie beteuernd seine Hand gegen die Mutter ausstreckte, »ich hab' mir's selbst nicht geglaubt.«
»Sag lieber,« meinte Nachime mit einem trüben Lächeln, »du hast's mir nicht glauben können.«
»O, Mutter! wenn ich dir erzählen könnte, was ich seit gestern und heute gelitten, du möchtest meinen, ich übertreibe. Ich hab' dir wollen eine Freude machen, aber es ist nichts daraus geworden . . . Ich hab' dich wollen in einem Wagen aufs Feld führen . . . ich selbst hätt' die Pferd' gelenkt . . . . die Pferd' hätten schöne Bänder angehabt, und es hätt' ausgesehen, als fahren wir alle zu einer Hochzeit. So wären wir durchs Dorf gekommen, und alle Leute hätten mit Fingern auf dich gezeigt und gesagt: Da fährt unsere neue Bäuerin mit ihrer Familie aufs Feld! Aber es ist nichts daraus geworden, weil heut' Sabbat ist, und ich hatt' ganz vergessen daran zu denken. Willst du aber ein andermal?«
»Gott behüt' und beschütz' mich,« rief Nachime erschrocken; »und du hast meinen können, ich wär' in den Wagen gestiegen? Und wenn er mit Gold und mit Sammet wär' ausgepolstert gewesen, hätt' ich auch keinen Fuß darauf gesetzt! Ich, mit meinem beschwerten Herzen sollt' noch eine Parade aus mir machen, sollt' mich da, wie eine, die lustig ist und lustig sein will, hinsetzen und kutschieren lassen? Wie ist dir das eingefallen? Du bist doch sonst so klug! Geh' ich denn mir zu Gefallen aufs Feld? Ich hab' eingesehen, daß ich dir damit einen Gefallen machen könnte, und so geh' ich.«
»Wenn du nur gehst,« sagte Anschel mit einem Tone, der zwischen Wehmut und Freude klang.
»Ich geh',« sagte Nachime mit einer gewissen Bestimmtheit, »aber um das eine bitt' und beschwör' ich dich: mach keinen Lärm davon. Mit dir allein und höchstens noch mit Tille möcht' ich hinaus.«
»Und den Vater willst du nicht dabei haben? auch Elieh nicht?« fragte Anschel, indem er bittend die Augen auf die Mutter richtete.
Nachime sann einen Augenblick nach, dann sagte sie rasch:
»Ich will nur mit dir und Tille gehen!«
Anschel sah ein, daß er in die Mutter nicht weiter dringen durfte; zu viel hatte sie ihm bereits gewährt.
»Nach dem Anbeißen,« sagte noch Nachime, »wirst du so gut sein und wirst mich vor deinem Vater von obenher fragen: ›Mutter, ist's dir recht, so gehen wir ein bissel aufs Feld hinaus, Tille könnt' auch mitgehen‹. Darauf werd' ich sagen: ›Warum nicht? gehen wir, ohnehin ist heut' Schabbes‹. Aber, um Gottes willen, mach mir kein Gelärm damit, Anschel mein Sohn, denn ich weiß, du bist ein gut Kind und möchtest manches anders haben, als es ist. Aber Gott will's nicht anders: laß dir's also nicht beifallen, etwas daran zu ändern.«
Anschel mußte das versprechen, wenn auch mit schwerem Herzen. Daß der Vater nicht dabei sein sollte, wo es galt, die Mutter gleichsam in ihr Eigentum einzuführen, ging ihm nicht ins Gemüt.
Nach dem Frühstück richtete Anschel wirklich die verabredeten Worte an die Mutter. Aber sein Ton klang schwankend und wie mit äußerster Mühe aus der Brust herausgepreßt. Schon das war auffällig; noch mehr was Anschel fragte. Rebb Schlome sah voll Staunens bald auf Anschel, bald auf Nachime; doch diese, als hätte sie sich in der Stille der Nacht für diesen Auftritt vorbereitet, sagte ruhig, fast ohne jede Bewegung:
»Warum nicht? Gehen wir, Anschel! es ist ja heut' Schabbes, Tille könnt' auch mit uns gehen.«
Als Rebb Schlome diese Worte vernahm, die ihm nun keinen Zweifel übrig ließen, daß der ganze Plan mit Nachimes Spaziergang zwischen ihr und Anschel verabredet sein mußte, nahm sein Gesicht einen merkwürdig trotzigen Ausdruck an. Seine Brust hob sich, die Stirnader schwoll ihm an, und es schien, als wollten schwere, zürnende Worte über die Lippen hinaus. Doch hielt er an sich; wohl tat er einen Schritt vorwärts gegen Nachime, aber er sprach kein Wort.
Selbst Tille war von der unerwarteten Aufforderung der Mutter betroffen, daß sie eine Weile sprachlos dastand; Staunen, fast Schrecken war auf ihrem Antlitze zu lesen.
»Ich soll mit dir gehen?« rief sie endlich mit Nachdruck.
»Willst du vielleicht nicht?« fragte Nachime trocken.
»Mutter . . .,« rief Tille und feucht glänzten ihre Augen, »ich sollt' mit dir nicht gehen wollen?«
Nachime sah das Kind an, sie sah es länger an, als vielleicht ihrer Lage angemessen war, oder darum, weil sie den Blick ihres Mannes scheute. Dann sagte sie im gleichgültigsten Tone:
»Also gehen wir, Anschel . . .! Und du, Tille, komm nach, wenn du vielleicht noch nicht fertig bist.«
Sie wandte sich zum Fortgehen . . . kein Blick glitt nach Rebb Schlome rückwärts . . . sie wollte fortgehen, als ob sie einig in sich geworden, ihren Gang aufs Feld ohne alles Mittun von seiner Seite auszuführen. Da rief eine Stimme, die bisher, wie gewöhnlich, keinen Anteil an dem ganzen Vorgange zu nehmen schien, Eliehs Stimme:
»Ich weiß aber gar nicht, Mutter, ob du heute gehen darfst aufs Feld . . . Es ist ja Schabbes.«
Nachime wandte sich an der Türe um, deren Klinke sie bereits aufgedrückt hatte. Mit fester, sicherer Stimme sagte sie:
»Das hättest du mir früher sagen können, Elieh, jetzt ist es zu spät. Aber warum soll ich nicht gehen dürfen? Geh' ich denn an zwei Stunden weit? Ich will aufs Feld hinaus, das ist draußen vor dem Dorf. Sollt' denn das eine gar so große Sünde sein?«
»Ich weiß nicht . . .,« meinte Elieh unsicher und mit gesenkten Augen, »ob es irgend wo geschrieben steht, was man zu tun hat, wenn man zum ersten Male auf ein Feld geht. Laß mich in meinen Büchern wenigstens nachsehen.«
In Anschel regte sich ein gewaltiger Zorn gegen den »Bocher«. Was hatte dieser mit seiner Thora in einem solchen Augenblicke zu kommen und sie wie einen Riegel vor den Entschluß der Mutter zu schieben? Nachime aber, nachdem sie eine Weile nachgesonnen hatte, sagte dann ruhig:
»Ich bin keine Gelernte, Elieh, und weiß auch nicht, ob so was in deinen Büchern geschrieben stehen kann oder nicht! Aber laß die Sünde mich auf meinen Kopf nehmen. Ich kann mir nicht denken, daß deine Bücher sollten das vorausgesehen haben, wenn Nachime Hahn zum erstenmal an einem Schabbes ihr Feld besuchen will. Ich geh'!«
Elieh wollte noch reden, aber das Wort ward ihm abgeschnitten, da Nachime mit Anschel und Tille rasch zur Türe hinausging. Nachime hatte wirklich kein Wort des Abschieds.
Als sie fort waren, bot das Antlitz Rebb Schlomes einen eigentümlich erschreckenden Ausdruck dar. Es schien, als wäre alle Kraft, alle Spannung der Muskeln daraus entschwunden; das Auge blickte hohl und unverwandt nach der Türe, durch die Nachime mit ihren Kindern gegangen war.
Dann mußte er sich, als hätte ihn eine ungeheure Müdigkeit überfallen, auf einen Sessel niederlassen. Gebrochen in seinem innersten Marke saß er eine Weile da; er schien nicht zu wissen, daß er einen Zeugen seiner Zaghaftigkeit, seiner verzweifelten Lage habe. Endlich hörte Elieh, wie sich schwer und drangvoll, fast schluchzend, die Worte seiner Brust entrangen:
»Nachime, Nachime, hab' ich dir denn so viel getan?«